Dr. Hans Günter Holl

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Hans Günter Holl
Subjekt und Rationalität.
Eine Studie zu A. N. Whitehead und Th. W. Adorno
Dissertation,
vorgelegt am Fachbereich Philosophie der
Johann Wolfgang Goethe Universität
Frankfurt am Main 1975
Revidierte Fassung Juni 2010
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„Der gesellschaftliche Fortschritt jedoch geht über den Einzelnen hinweg, damit wird das von
Kant anvisierte Zensoramt frei. Es geht an die Verwaltung über. Die Vernunft als das ordnende
Moment geht unter in der Rationalität des Geordneten, wird wieder Natur.“
Horst Hermann
„Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft.“
Oskar Panizza
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Inhalt
Einleitung 4
Moderne Philosophie und Aufklärung 7
Die Krise der Vernunft 7
Whiteheads organismische Kosmologie 14
Krise der Theorie und Theorie der Krise 14
Die Einheit der Natur 17
Emanzipation des Kosmos. Abermalige Wendung der kopernikanischen Wende 20
Rationalität und Erfahrung 24
Rationalität und System 29
Atomismus und Kontinuität. Logik und Dialektik 31
Wahrheit und Methode 36
Kritik und Krise 39
Rationalität und Wahnsinn 41
Die kritische Philosophie Th. W. Adornos 48
Das Movens negativer Dialektik 48
Subjekt und Objekt als der Rationalität unterworfene 51
Subjektivität und negative Rationalität 56
Subjekt und Rationalität der Massenkultur 58
Negative Rationalität und Sprache 62
Die Überwindung von Subjektivität 67
Schluss 72
Bibliographie 76
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Einleitung
Es ist nicht unmittelbar einsichtig, in einer philosophischen Arbeit, wie der hier vorgelegten, zwei
Denker miteinander zu konfrontieren, die nach den sie prägenden Traditionen wie nach den
Generationen, denen sie angehörten, nicht eben direkt vergleichbar sind. Ihr Gemeinsames und
damit der Grund, aus dem ich sie hier einander gegenüberstelle, liegt in ihrer Relevanz für das
Denken des 20. Jahrhunderts und damit in der Kritik, die sie zumindest implizit aneinander geübt
haben. Was diese Kritik angeht, so steht naturgemäß die Darstellungsform, in der das
philosophische Denken auftritt, im Vordergrund der Auseinandersetzung.
Whitehead, dessen Zugang zur Philosophie wesentlich durch moderne Mathematik und Naturwissenschaften vermittelt war,1 sah – auch nach der später von Adorno diagnostizierten
„gesellschaftlichen Verwirklichung des Hegelschen Systems“2 – die Aufgabe spekulativer
Philosophie darin, die Vielfalt der Erfahrungen systematisch zu erfassen:
„Spekulative Philosophie ist das Bemühen, ein kohärentes, logisches und notwendiges System allgemeiner Ideen zu
entwerfen, auf dessen Grundlage jedes Element unserer Erfahrung interpretiert werden kann. Mit diesem Begriff der
,Interpretation’ meine ich, dass alles, dessen wir uns als Erlebnis, Wahrnehmung, Wille oder Gedanke bewusst sind,
den Charakter eines besonderen Falles im allgemeinen Schema haben soll.“3
Adorno dagegen, der sein Philosophieren ganz der nachhegelianischen Tradition über Schopenhauer, Nietzsche und Freud verpflichtet wusste, richtete sein Denken, kulminierend in der
Negativen Dialektik, stets gegen alles Kategorisieren und Systematisieren, wendete es statt dessen
dem verdrängten Nichtbegrifflichen zu:
„Nicht ist es an Philosophie, nach wissenschaftlichem Usus zu erschöpfen, die Phänomene auf ein Minimum von
Sätzen zu reduzieren; Hegels Polemik gegen Fichte, der von einem ,Spruch’ ausgehe, meldet das an. Vielmehr will sie
buchstäblich in das ihr Heterogene sich versenken, ohne es auf vorgefertigte Kategorien zu bringen.“ 4
So heftig selbst die Polemiken der beiden „Denkhaltungen“ gegeneinander sich gebärden – „Im
Großen und Ganzen sprechen die Umstände so massiv gegen jedwede Propheten, dass wir sie,
anstatt ihre Rezepte auszuprobieren, vielleicht besser auf irgendeine barmherzige Weise steinigen
Vgl. etwa Johnson, Whitehead’s Theory of Reality, S. 201 ff.
Whitehead selbst behauptete, nie Hegel gelesen zu haben, kannte seinen Ansatz jedoch durch die Vermittlung des
englischen Neuhegelianismus. Näheres dazu bei Whittemore, Hegel’s „Sience“ and Whitehead’s „Modern Word“, S. 36.
3 Whitehead, Prozess und Realität, S. 31.
4 Adorno, Negative Dialaktik, S. 22.
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sollten“5 und „Anders nicht als durch Subjekt ist das vollziehbar. Würde es liquidiert, anstatt in
einer höheren Gestalt aufgehoben, so bewirkte das Regression des Bewusstseins nicht bloß,
sondern eine auf reale Barbarei“6 –, so wenig ist die zwischen ihnen bestehende Kluft einfach zu
ignorieren. Modernes Denken muss sich angesichts der Originalität und Überzeugungskraft der
Whiteheadschen Kosmologie sowie der Dringlichkeit und Evidenz des Adornoschen Protestes
dem von ihnen markierten Problem stellen, schon weil sich im Niedergang der bürgerlichen
Kultur, für den sie beide Zeugnis ablegen, drohend die Gefahr einer neuen Rationalität über die
Köpfe der Menschen hinweg abzeichnet.
Wenn oben von der Relevanz der beiden Philosophen die Rede war, so dürfte diese Einschätzung, was Th. W. Adorno angeht, wenigstens in Deutschland nicht als unbotmäßige Übertreibung aufgefasst werden. Anders verhält es sich dagegen mit A. N. Whitehead. Dass dieser es
bisher in deutschen Gelehrtenkreisen zu großer Bekanntheit nicht bringen konnte, hat verschiedene Gründe, die hier kurz zu erörtern sind. Zunächst ist Whiteheads Hauptwerk – um mit dem
formalsten einzusetzen – bisher nicht ins Deutsche übersetzt.7 Außerdem benutzt es eine
gegenüber der rezenten deutschen Philosophie fremdartige und widerspenstige Begrifflichkeit,
deren genaue Durchdringung ziemlich mühselig sein kann. Des Weiteren entspricht es nicht
unmittelbar den hiesigen geisteswissenschaftlichen Interessen. Whitehead verschmilzt in seinem
erkenntnistheoretischen Modell die Ergebnisse der modernen Natur- und Geisteswissenschaften
zu einem umfassenden kosmologischen System, das sich zur Aufgabe stellt, dem
Selbstverständnis der verschiedenen Disziplinen sowie den darin angelegten „Weltanschauungen“
zu kohärentem, logischem und notwenigem Ausdruck zu verhelfen.8 Aus diesem, Whiteheads,
Verhältnis zu der Aufgabenstellung spekulativer Philosophie und deren Indienstnahme für die
historisch mögliche Interpretation des Charakters einer „Epoche“9 erhellt, dass die Zielsetzung
seiner Theorie, politische „Propaganda“ zu betreiben, hinter derjenigen zurückstehen muss, zur
wertenden Analyse und Bestandsaufnahme in einem historischen Kontext zu gelangen. Deshalb
ist es weniger der Prophet und zersetzende Kritiker, der da schreibt, als der alternde Archivar, der
noch Lust hat, seine ganze Energie dem nur eingeschränkt beachteten Neuen zu schenken, um
ihm in einem großen Gesamtkomplex Beachtung zu verschaffen. Unter dem Bekannten wird das
noch nicht Erkannte zum Sprechen gebracht. Die Fundamente und Pfeiler des Systems legen
davon Zeugnis ab. Sie korrespondieren dem Unterfangen, durchgängig auch veränderte
Whitehead, Die Funktion der Vernunft, S. 55 (Übersetzung geändert).
Adorno, „Zu Subjekt und Objekt“, in: Stichworte, S. 153.
7 Eine Übersetzung von Adventures of Ideas liegt seit 1971 vor. Sie ist, freilich gegen das Programm des hermeneutischen Werkverständnisses, bemüht, Whitehead für die Hermeneutik zu vereinnahmen. Vgl. Abenteuer der Ideen,
mit einer Einleitung von Reiner Wiehl, Frankfurt am Main 1971. (Inzwischen stehen auch die anderen Hauptwerke
Whiteheads und das Frühwerk Der Begriff der Natur in deutschen Übersetzungen zur Verfügung.)
8 Wie oben (Fn. 3) ausführlich zitiert.
9 Whitehead, Denkweisen, S. 56.
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Anschauungsweisen aufzufassen und ins Spiel zu bringen. Dass in dem System ein Gottesbegriff
notwendig ist – wie etwa in der modernen Transzendentalphilosophie die „transzendentale
Forschergemeinschaft“ –, sagt wenig aus über Whiteheads Religiosität, dafür aber viel mehr über
das allgemeinste Korrektiv, das allem Bemühen der modernen Wissenschaften – freilich gegen
deren Anspruch – nach wie vor zugrunde liegt.
Im Folgenden sollen die beiden in Frage stehenden Denkmodelle weder nur expliziert noch
„ideologiekritisch“ unter die Lupe genommen werden. Zum einen ist, wie Adorno zu Recht
betonte, Philosophie ihrem Wesen nach nicht durch Kurzfassungen anzueignen.10 Zum anderen
aber scheint es der Sache dienlicher, wenn man sich bemüht, Denkanstrengungen durch
Anverwandlung gerecht zu werden, anstatt ihnen vorab ein Schema überzustülpen. Whitehead
hatte gesehen, dass Theorien sich in dem Moment überschreiten, zu ihrem eigenen „Falschwerden“ beitragen, in dem sie – gleichsam vervollständigt – als fertige Konzepte auf den Plan
treten. Sein „Widerlegt zu werden ist der höchste Triumph“ sollte nicht nur als ein von Kritik
verängstigtes Motto verstanden werden; vielmehr verändert das als Theorie auftretende Denken
unmittelbar schon seine eigene Rationalität und im Zusammenhang damit auch diejenige der
darin erfassten Epoche. Auf dieser Grundlage lässt es sich weiter denken. Whitehead und
Adorno haben breiten Raum für neue produktive „Irrtümer“ geschaffen.11
„Daher ist Philosophie wesentlich nicht referierbar. Sonst wäre sie überflüssig; dass sie meist sich referieren lässt,
spricht gegen sie“, Adorno, Negative Dialektik, S. 42.
11 Frei nach Whiteheads Einsicht: „Irrtum ist der Preis, den wir für jeden Fortschritt zahlen“, in: Prozess und Realität,
S. 348.
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7
Moderne Philosophie und Aufklärung
Die Krise der Vernunft
Eine erste Schwierigkeit, in die man bei der Auseinandersetzung mit zwei disparaten Denkmodellen wie dem Whiteheadschen und dem Adornoschen gerät, liegt darin, dass man sie kaum
ein und derselben Ära zuordnen kann. Selbst der formalste Hinweis, derjenige nämlich auf den
gemeinsamen Zeitrahmen des 20. Jahrhunderts, hilft uns nicht aus einer Paradoxie, die
keineswegs lediglich formale Gründe hat. Man kann die verschiedensten historischen Bezugspunkte oder gar Bezugssysteme wählen: Immer ergibt sich in der Gegenüberstellung ein
Sprung, der nicht durch die wenigen Jahre, die zwischen Wissenschaft und moderne Welt1 und der
Dialektik der Aufklärung2 liegen, allein erklärbar ist. Gewiss fällt hier am schwersten ins Gewicht,
dass jene wenigen Jahre mit dem Holocaust so etwas wie ein historisches „schwarzes Loch“
enthalten. Ein weiterer Grund muss jedoch im Verhältnis von Rationalität und Zeit gesucht
werden – derjenigen Rationalität, die aus den Werken resultiert, und damit der Tradition, in die
sie sich selbst stellen.3 Darin ist bereits ein Widerspruch angelegt, erwächst doch für die
Philosophie Adornos und vieler seiner Zeitgenossen aus der Einheit der Tradition – und gerade
jener, die sich der Dialektik der Aufklärung zufolge im Holocaust auf grausame Weise vollendete –
eine Verbindlichkeit,4 die ein Whitehead noch kaum unterstellen mochte,5 was es ihm freilich
erlaubte, dort in der Philosophiegeschichte anzusetzen, wo noch Möglichkeiten offen zu sein
schienen, die mit der folgenden Entwicklung außer Acht gelassen und übergangen wurden.6
Zunächst gilt es daher, für diese Untersuchung ein Fundament zu legen, das sich dazu eignet, den
beiden Werken in ihrem Anspruch, Protest einzulegen und Alternativen zu schaffen,
Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ohne sie vorab zur Funktion einer linearen Entwicklung zu
degradieren. Eine solche Konsequenz würde zweifellos in der unhinterfragten Annahme des
historisch-materialistischen Ideologiebegriffs folgen, der – wenigstens was die organismische
Philosophie Whiteheads anbetrifft – nicht ohne Weiteres akzeptiert werden kann.7 Man muss also
vielmehr der historischen Entwicklung Rechnung tragen, wie sie sich für die beiden Denker
Erschienen 1925.
Erschienen 1945.
3 Siehe dazu Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 265.
4 „Während jedoch subjektiv Tradition zerrüttet ist oder ideologisch verdorben, hat objektiv die Geschichte weiter
Macht über alles, was ist und worin sie einsickerte“, Adorno, „Über Tradition“, in: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, S.
33.
5 Siehe dazu Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S. 201, mit dem Hinweis, dass die Geschichte, „metaphysisch
gesprochen, auch anders hätte verlaufen können“.
6 Op. cit., S. 163. Hier nennt er als Beispiel, dass der deutsche Idealismus praktisch folgenlos blieb, was die weitere
Entwicklung der Naturwissenschaften anging.
7 Vgl. dazu op. cit., S. 239, wo sich Whitehead ausführlich mit den Grundannahmen des historischen Materialismus
auseinandersetzt.
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selbst dargestellt hat, ohne jedoch zu vergessen, dass ihre Werke ihrerseits ein Stück Geschichtsschreibung verkörpern, in die wir als die Nachgeborenen notwendigerweise mit einbezogen sind.8 Mit anderen Worten muss man sich von den zugrunde liegenden Problemen leiten
lassen, die in angemessener Abstraktion auf ein einziges Problem verweisen: das Verhältnis von
Subjekt und Rationalität.9
Immerhin gibt es zumindest einen Philosophen, dessen Werk für Adorno und Whitehead eine
ähnlich zentrale Rolle spielt: Kant.10 Doch so wenig sich diese Behauptung angesichts ihrer beiden Hauptwerke, Prozess und Realität und Negative Dialektik,11 bestreiten lässt, so problematisch ist
sie auch zugleich. Adornos Kant-Rezeption steht ganz im Zeichen der Vermittlung durch Hegel
und Nietzsche,12 während Whitehead gerade diese Entwicklung unterläuft, mit dem Programm,
von Kant ausgehend an die Denkweisen seiner Vorläufer anzuknüpfen.13 Ein solcher Versuch der
Geschichtsrevision mutet fast lächerlich an, gemessen an dem Erfolg, mit dem die „offiziellen“
Nachlassverwalter des deutschen Idealismus sich als seine wahren Vollstrecker inthronisieren.
Dennoch sollte man ihm Beachtung schenken, schon weil das Unzureichende, ja sogar
Unheilvolle jener ersten Entwicklung auch unter ihren jüngsten Erben die Notwendigkeit neuer
Denkansätze heraufbeschworen hat.14 Sehen wir also in der kritischen Philosophie Kants das
Scharnier für die hier untersuchten philosophischen Modelle, zugleich aber auch die in ihr
angelegten vielfältigen Möglichkeiten.
Für das hier gestellte Problem interessiert zunächst das Kants Kritik der reinen Vernunft prägende
Charakteristikum, die für das ganze Werk bestimmende Funktion der erkenntnistheoretischen
Fragestellung, seine „reductio ad hominem“15 bereits im Anfangsgrund des Denkens. Die
implodierende Gewalt der Frage, „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“,16 ist ihrer
Ausformung und Auswirkung nach in der Philosophiegeschichte einzigartig. Dennoch lässt sich
ihre Notwendigkeit und Relevanz nicht aus der Rationalität der Kantschen Philosophie selbst
ableiten.17 Vielmehr steht die Fragestellung selbst zur Debatte: Sie muss auf ihre Grundlagen hin
befragt werden, soll sich die Antwort überzeugend erschließen. Whitehead sieht in ihr – darin mit
Wie sich im Weiteren ergeben wird, sind daraus eher konsequenzlogische als hermeneutische Schlussfolgerungen
zu ziehen.
9 Insbesondere für Whitehead geht es dabei auch um das Verhältnis von Rationalität und Struktur, womit er nicht
den quasi ontologischen Strukturbegriff des französischen Strukturalismus meint, sondern ein mathematisch darstellbares Entwicklungsmuster, das er wie später auch der ihm geistig verwandte Biologe und Anthropologe Gregory
Bateson als „pattern“ bezeichnet: das verbindende Muster.
10 Siehe dazu Adorno, Zu Subjekt und Objekt, S. 151, und Whitehead, Prozess und Realität, S. 248.
11 Erstauflage 1929 respektive 1966.
12 Vgl. dazu Schmidt, Adorno – ein Philosoph des realen Humanismus, S. 71.
13 Whitehead, Prozess und Realität, S. 22.
14 So zum Beispiel bei Krahl, „Bemerkungen zum Verhältnis von Kapital und Hegelscher Wesenslogik“, S. 139.
15 Diese Einschätzung findet sich bei Adorno, Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie, S. 215.
16 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 19.
17 Vgl. dazu Delekat, Immanuel Kant, S. 12.
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dem Gros der Sekundärliteratur übereinstimmend18 – eine „Reaktion auf die Hume-NewtonSituation“19 und spricht insofern genau das Problem an, das Kant jedenfalls bewusst vor Augen
hatte.20 Man kann es in folgender Form rekonstruieren: Wie sind nach Humes rationalistisch
vorgetragener Kritik am Rationalismus sowie an dem das Ganze stützenden Gottesbegriff
verbindliche Aussagen über die Welt im Sinne von Newtons Philosophiae naturalis principia
mathematica überhaupt noch möglich?21 Whitehead selbst stellt, zweifellos vornehmlich
wissenschaftsgeschichtlich interessiert,22 die Frage präziser und bringt damit diejenigen
Voraussetzungen in die Diskussion, die Kant nicht beunruhigten, sondern in seiner
Grundproblemstellung schon selbstverständlich angelegt sind, nämlich die Vorstellungen von
Raum und Zeit und die Subjekt-Objekt-Struktur der Erkenntnis.23 Man kann dahingestellt sein
lassen, ob solche Voraussetzungen für Kant wirklich unbefragt hinnehmbar waren. Entscheidend
ist vielmehr, dass Whitehead seinerseits Kants Philosophie nicht als eine weltanschaulich
bedingte Konstruktion auffasste, sondern als den Versuch, die in seiner Zeit herrschenden
wissenschaftlichen Konzeptionen systematisch aufeinander abzustimmen.24
Damit ist er verwiesen auf die seit Aristoteles die Metaphysik beherrschende Vorstellung von
Substanz und Akzidenz, deren logische Aussageform, die einem gänzlich unbestimmten Subjekt
Prädikate zuordnet, und die daraus folgende epistemologische Konsequenz, die seit Descartes alle
neuzeitliche Philosophie heimsuchte – namentlich die Subjekt-Objekt-Struktur der Erkenntnis.25
In dieser fand sich die Rationalität von Anfang an als Postulat, als göttliche Instanz oder – wie
gerade das Werk Kants zeigt – vor eine radikale Alternative gestellt und trug wegen der
unüberwindlichen Kluft zwischen den beiden Polen immer ein Element des Irrationalen in sich.26
Whiteheads Kant-Interpretation gibt Anlass dazu, die unbestrittene Wucht, die dessen Werken
innewohnt, nicht nur im Gelingen der Systemkonstruktion, sondern vielmehr auch in der ironischen Distanz zu suchen, mit der dieses irrationale Element bis in die äußersten Konsequenzen
hinein verfolgt und aufgewiesen wird. Sicherlich hat auch diese Beobachtung Whitehead dazu
veranlasst, in der Kantischen die letzte mögliche Philosophie der Subjekt-Objekt-Epoche zu
sehen.27 Doch den Hauptgrund für seinen Entschluss, die daraus folgenden Entwicklungen nicht
mitzuvollziehen, sich ihnen sogar systematisch entgegenzustellen, bildete die damit herbeigeführte Reduktion auf den Geist, die Hegel in der Enzyklopädie als Programm verkündet hat:
Op. cit., S. 13, mit weiteren Nachweisen.
Whitehead, Denkweisen, S. 179.
20 Delekat, wie Fn. 17, S. 376.
21 Siehe Martin, Allgemeine Metaphysik, S. 253 f.
22 Vgl. dazu Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S. 7.
23 Op. cit., S. 177.
24
Op. cit., S. 46 f.
25 Whitehead, Prozess und Realität, S. 260 f.
26 Süffisant dazu Derrida, „Cogito und Geschichte des Wahnsinns“, in: Die Schrift und die Differenz, S. 56 und 100.
27 Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S. 164.
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„Die absolute Freiheit der Idee aber ist, dass sie nicht bloß ins Leben übergeht, noch als endliches Erkennen dasselbe in sich scheinen lässt, sondern in der absoluten Wahrheit ihrer selbst sich entschließt, das Moment ihrer Besonderheit oder des ersten Bestimmens und Andersseins, die unmittelbare Idee als ihren Widerschein, sich als Natur
frei aus sich zu entlassen.“28
Hegel und Marx haben, so lautet der Tenor von Whiteheads Kritik, Kant nicht wirklich überwunden, indem sie die Verbindung der Philosophie mit den Naturwissenschaften einseitig aufkündigten.29 Sie sind vielmehr, das Transzendentalsubjekt als archimedischen Punkt nicht aus den
Augen lassend, rückwärts gewandt in die Zukunft gelaufen und haben dabei auf der Strecke ein
Stück Geschichte verloren. Insofern kann einem heute die verwirrende, überragende Größe, die
man der Kantischen Philosophie bis in die jüngste Moderne hinein zuschreibt, sowie das
Wiederaufkommen der Transzendentalphilosophie im akademischen Betrieb, als eine Folge
dieses Geschichtsverlustes erscheinen.
In Bezug auf Adornos Rezeption der Kantischen Philosophie ist voranzustellen, dass Whitehead
dessen Auffassungen keineswegs rundheraus abgelehnt hätte. Allerdings empfiehlt sich hier eine
Beschränkung auf diejenigen Aspekte von Kants Werk, die den unterschiedlichen, sich daraus
herleitenden Entwicklungen entsprechen. Der über Jacobi, Fichte, Hegel, Schopenhauer und
Nietzsche zu Adorno verlaufende Strang, der nicht nur die Kritische Theorie, sondern das
gesamte moderne Denken entscheidend geprägt hat, blieb zwar stets an Kants Idealismus orientiert, überschritt ihn dann aber in seinem höchsten Punkt30 – dem transzendentalen Ich, das
der Welt seine Gesetze vorschreibt –, ohne dabei jedoch die zugrunde liegende
Erkenntnisstruktur zu verlassen. Nicht diese selbst, sondern das Vernunftproblem stand im
Vordergrund des Interesses,31 so dass im Hinblick auf die grundlegende Subjekt-ObjektProblematik nicht die Gretchenfrage gestellt werden konnte. Vielmehr begnügte man sich mit
dem Modus ihrer Vermittlung, mit den Bedingungen der Möglichkeit von Rationalität in der geistigen Welt.32
Hegel hat nicht, indem er die Geschichte im Preußischen Staat enden ließ,33 sondern indem er
mit dem Ziel, die Verwirklichung der Vernunft in der Welt zu rekonstruieren, von der prägenden
Grundstruktur seines Denkens ausging – zugespitzt in der bekannten Losung aus der Vorrede
zur Philosophie des Rechts: „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist
vernünftig“ –, zur praktischen Beantwortbarkeit der Frage die entscheidende Vorarbeit geleistet,
Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 244.
Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S. 164.
30 Vgl. dazu Liebrucks, Sprache und Bewusstsein, Bd. 4, Die erste Revolution der Denkungsart, S. 690.
31 Grundsätzliches dazu bei Hegel, Enzyklopädie, § 6.
32 Dazu Kant selbst in: Kritik der reinen Vernunft, B V.
33 So Adorno in: Drei Studien zu Hegel, S. 273.
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und bereits damit eine rein theoretische Lösbarkeit ausgeschlossen. Darin liege, wie die
Sekundärliteratur unermüdlich wiederholt, das sprengende und zugleich beschwichtigende
Moment seines dialektischen Denkens.34 Allerdings führt von da ein direkter Weg zur „Zerstörung der Vernunft“, mit der von Whitehead diagnostizierten Konsequenz der „Romantischen
Reaktion“.35 Sobald diese, wie etwa im Marxschen Fundamentalismus, wirkmächtig vollzogen ist,
erscheint alle Philosophie, die noch mit Rationalität im Rahmen begrifflicher Konstruktionen
ringt, obsolet und anachronistisch. In einer barocken Variante der kritischen Philosophie
entspringt dieser historischen Ohnmacht ein „Geist der Utopie“, der sich durch Besinnung,
zweite Reflexion, vom Objektivitätsanspruch der gesellschaftlichen Realität abhebt.36 In ihm
erscheint die dem bürgerlichen Denken unverzichtbare Objektivität der Vernunft als eine bloße
Projektion und verweist insofern zurück auf das sie hervorbringende Falsche. Wie nämlich
Denken immer Denken von etwas ist, so muss es auch die Befreiung sein.37
Die in Geschichte überführte Vernunft sei keine andere gewesen als die des kapitalistischen
Systems: Soviel schloss Adorno aus der Versteinerung des Marxschen Materialismus in den Händen seiner martialisch doktrinären Nachfolger und aus der nationalsozialistischen Machtergreifung.38 So wenig jedoch zu bezweifeln ist, dass ein wesentliches Leitmotiv von Adornos
Denken in der Barbarei des Nationalsozialismus und des Holocaust, aber auch der ganz „normalen“ gesellschaftlichen Realität des Spätkapitalismus keimte, so deutlich liegt auch auf der
Hand, dass er sich dadurch nicht zwingen ließ, aus der durch Kant begründeten Tradition auszubrechen.39 Hatte sein transzendentaler Idealismus sich der Autonomie als seinem wesentlichen
Grundprinzip und seiner Haupttriebkraft verschrieben,40 so blieb die in der Gesellschaft zu
verwirklichende Freiheit notwendigerweise an dieses Ideal zurückgebunden.41
Doch jene Vernunft, die das Postulat der Autonomie als ein verbindliches Korrektiv ausgab, war
der Marxschen Lehre zufolge eine gesellschaftlich vermittelte Instanz42 und trug daher den Keim
Becker, Hegels Phänomenologie des Geistes, S. 140, mit weiteren Nachweisen.
Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S. 93 ff.
36 Siehe dazu Bloch, Der Geist der Utopie, passim.
37 Dazu Adornos Kommentar: „Sein [Blochs] Materialismus verhindert die bruchlose Hegelsche Konstruktion einer
wie auch immer vermittelten Identität von Subjekt und Objekt, die verlangt, dass schließlich doch alle Objektivität
ins Subjekt hineingenommen, zu bloßem ,Geist’ reduziert werde. Während Bloch ketzerisch die Grenze leugnet,
beharrt er indessen, wider Hegels spekulativen Idealismus, auf dem unversöhnten Unterschied von Immanenz und
Transzendenz, im großen Entwurf so wenig zu Vermittlung geneigt wie in der Einzelinterpretation. Das Hier wird
historisch-materialistisch bestimmt, das Drüben gebrochen nach seinen Spuren, die hier sich fänden. Ohne zu
glätten, philosophiert Bloch utopisch und dualistisch zugleich. Weil er die Utopie nicht in der metaphysischen
Konstruktion des Absoluten, sondern in jener theologischen Dialektik konzipiert, um welche das hungernde
Bewusstsein der Lebendigen durch den Trost der Idee nur betrogen sich fühlt, kann er sie anders nicht als scheinhaft
ergreifen“, „Blochs Spuren“, in: Noten zur Literatur II, S. 140.
38 Adorno, Marginalien zu Theorie und Praxis, S. 189.
39 Adorno, Zu Subjekt und Objekt, S. 162.
40 Vgl. dazu Adorno, „Freiheit. Zur Metakritik der praktischen Vernunft“, in: Negative Dialektik, S. 209 ff.
41 Adorno, Negative Dialektik, S. 280.
42 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, S. 20.
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der Unfreiheit bereits von Anfang an in sich. Deren Ausbreitung in allen Lebensbereichen,
vorangetrieben durch dieselbe Kraft, die dem Zwang und der Repression entgegenwirken sollte:
die aus der Naturforschung hergeleitete Rationalität des Gesetzmäßigkeiten, bildet zugleich die
initiierende Aporie und den Hauptgegenstand der Adornoschen Auseinandersetzung mit Kant.43
Schon in der Dialektik der Aufklärung figuriert sie als die Selbstzerstörung der Vernunft oder deren
Umschlagen in Mythologie.44 Aus der grundlegenden Einsicht in diesen Zusammenhang leitet
sich später bei Adorno die tragende Konzeption ab, namentlich jene der negativen Dialektik als
Leitmotiv einer kritischen Theorie, die zwar das Vernünftige im Blick behalten, sich aber nicht
länger aus Vernunft entfalten kann, was auf eine systematische Zurückweisung systematischen
Denkens hinausläuft. In ihrer auf das Transzendentalsubjekt gegründeten Allmacht hatte die
Vernunft im Sinne Kants sich vom Verstand abgegrenzt und ein Neues, über sich selbst
Hinausweisendes hervorgebracht. Den damit verbundenen Totalitätsanspruch als Rückfall in die
Mythologie zu bezeichnen, reflektiert bereits das Ende dessen, was die Aufklärung als Autonomie
verhieß. Wie sich zeigt, ist eine vernünftige Welt nicht konstruierbar, sondern vielmehr ebenso
irrational begründet wie eine unvernünftige. Doch das gebrochene Vertrauen ihr gegenüber,
prägnant formuliert in Kants „Übrig bleibt allein der kritische Weg“, weist unmittelbar schon
über sich hinaus auf eine Welt, in der die Vernunft eine Funktion haben könnte, die nicht in der
Funktionalität des Vernünftigen aufgehen müsste.
Die vorläufige und notgedrungen noch grobe Gegenüberstellung der Kant-Rezeptionen Adornos
und Whiteheads hat in der bisherigen Untersuchung zumindest dazu beigetragen, den oben
skizzierten historischen Bruch zwischen den beiden nicht nur dramatisch, sondern auch
theoretisch etwas verständlicher zu machen. Adorno reflektiert in seiner kritischen Philosophie
die unüberwindliche Spaltung von Subjekt und Objekt in der spätbürgerlichen, vom Holocaust
zerrissenen Gesellschaft.45 Whitehead strukturiert in seinem System, gestützt auf die
mathematisch verfassten und experimentell verfahrenden modernen Naturwissenschaften, das
Bild einer „atomistischen“ Epoche.46 Allerdings langt diese eher formale Gegenüberstellung nicht
hin: Hat sich doch mit der Loslösung der neueren Philosophie von den „strengen“
Naturwissenschaften eine fast ausschließlich gesellschaftlich orientierte Geschichtsbetrachtung
durchgesetzt, der es wahrscheinlich nicht schwer fiele, Whiteheads Philosophie ohne Weiteres
dem Ideologieverdacht zu unterwerfen und als Ausdruck eines zwangsläufig falschen
Vgl. Adorno, Negative Dialektik, S. 20.
„Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte sich tiefer in Mythologie“, Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 22.
45 Vgl. dazu Adorno, Zu Subjekt und Objekt, S. 152.
46 Pointiert dazu Whitehead, Prozess und Realität, S. 53.
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Bewusstseins darzustellen.47 Allerdings widersetzt sich die organismische Philosophie einer
solchen Zurichtung von innen heraus, was einer der Gründe dafür sein dürfte, dass sie in
Deutschland nicht wirklich rezipiert wurde.
So sehr die Kosmologie Whiteheads bisher von der Philosophiegeschichte marginalisiert wurde,
so sehr geht sie inhaltlich auch über diese hinaus und reflektiert sie die herrschenden Tendenzen
in ihrer Randstellung. Gerade weil sie versucht, auch die Naturwissenschaften einzubeziehen und
in ihr Recht zu setzen, greift jede Interpretation zu kurz, die sie der quasi linearen, rein
geisteswissenschaftlich geprägten Geschichtsschreibung zu integrieren versucht – der Whitehead
selbst, ihre verkümmerte Gestalt überschreitend, unverbrauchte Möglichkeiten nachliefern
wollte.48
Die beiden in Rede stehenden Denkmodelle greifen also wechselseitig übereinander hinaus, ohne
sich zu durchdringen, und wo die kaum zu kittenden Risse und Brüche des Ganzen, etwa in den
unterschiedlichen Grundstrukturen von Spätkapitalismus und Industriegesellschaft, zwar den
soziologischen Analysen, aber nicht den philosophischen Entwürfen ihrer Zeit entsprechen, da
neigen sie zu der Ausflucht, einander des historischen Provinzialismus49 respektive des erkenntnistheoretischen Anachronismus50 zu verdächtigen.
Ein Paradebeispiel für diese Praxis liefert Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit, S. 204.
Programmatisch dazu: „Ich bin vor allen Dingen fest davon überzeugt, dass die Tendenz, losgelöste Probleme
einer historisch-kritischen philosophischen Betrachtung zu unterziehen, die alles in allem das Denken der letzten
beiden Jahrhunderte beherrschte, ein Ende haben und durch eine intensivere Bemühung konstruktiven Denkens
egänzt werden muss“, Whitehead, Prozess und Realität, S. 26.
49 So Whitehead in Wissenschaft und moderne Welt, S. 7: „Man kann nicht nur dem Ort, sondern auch der Zeit nach proiniell sein.“
50 Adorno, Negative Dialektik, S. 111: „Nicht anders ist aus Geschichte auszubrechen als durch Regression.“
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Whiteheads organismische Kosmologie
Krise der Theorie und Theorie der Krise
Wollte man die treibende Kraft hinter Whiteheads Philosophie in wenigen Worten
charakterisieren, so böte sich dafür ein Zitat aus Chestertons Das Abenteuer des Glaubens an:
„Angenommen, wir fänden uns etwas Trostlosem gegenüber – etwa dem Vorort Pimlico. Wenn wir uns überlegen,
was wirklich das Beste wäre für Pimlico, so werden wir bemerken, dass der Gedankenfaden zum Mystischen und
Willkürlichen führt. Es genügt nicht, Pimlico einfach nur zu missbilligen: In diesem Fall würde man sich vielleicht
kurzerhand die Kehle durchschneiden oder nach Chelsea umziehen. Noch genügt es andererseits, Pimlico in seinem
Sosein anzuerkennen, denn dann würde es bleiben, wie es ist, und das wäre schrecklich. Der einzige Ausweg scheint
darin zu liegen, Pimlico zu lieben – es mit rein transzendentaler Bindung und ohne jeden irdischen Beweggrund zu
lieben. Wenn ein Mensch aufstünde, der Pimlico derart lieben würde, dann stiege der Vorort empor und bekäme
elfenbeinerne Türme und goldene Zinnen: Pimlico würde sich herausputzen wie eine geliebte Frau. Der der
Schmuck dient nicht dazu, Grässlichkeiten zu verdecken, sondern er soll Dinge zieren, die insgeheim an sich schon
wunderbar sind.“1
Die hier auffallende Loyalität einer Welt gegenüber, deren Brüche und Antagonismen keineswegs
geleugnet werden, verdankt sich nicht zuletzt einer Aufgeschlossenheit aufklärerischen Impulsen
gegenüber, in der sich die „Krise der Vernunft“ weder als eine verfestigte, in sich abgeschlossene
Epoche2 noch als Abfolge sozialer Unruhen und Katastrophen darstellt, sondern als eine Phase
der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung. Darin liegt, das wurde oben bereits angedeutet,
der maßgebliche Unterschied zwischen den philosophischen Ansätzen Whiteheads und Adornos.
Doch war auch Whitehead nichts weniger als unreflektiert, was den gesellschaftlichen Kontext
seines Denkens betraf. Trotz der Monotonie, mit der man ihn in weiten Teilen der
Sekundärliteratur ganz der Naturphilosophie zuordnet,3 kann man angesichts der klaren Aussagen
in Wissenschaft und moderne Welt – das nur vier Jahre nach dem Hauptwerk herauskam – nicht
übersehen, dass Whiteheads Kosmologie zwar ganz entscheidend insbesondere von der
modernen Physik inspiriert war,4 diese aber in einen kulturgeschichtlichen Rahmen stellt, den
man schwerlich außer Acht lassen darf.5 Dabei sind es freilich nicht allein die gegen den
Materialismus des 19. Jahrhunderts gerichteten Passagen,6 die unser Hauptaugenmerk verlangen,
sondern auch die verschiedenen Hinweise darauf, wie sich in allen Einzelwissenschaften der
Chesterton, Das Abenteuer des Glaubens, S. 112 f.
Zu diesem historischen Epochebegriff siehe Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung.
3 Siehe dazu etwa Leclerc, Whitehead’s Metaphysics, S. 12, Lowe, Understanding Whitehead, S. 220, und Christian, An
Interpretation of Whitehead’s Metaphysics, S. 2.
4 Vgl. dazu etwa Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S. 80 f.
5 Siehe dazu insbesondere das Kapitel „Bedingungen des sozialen Fortschritts“ in Wissenschaft und moderne Welt, S. 224
ff.
6 Op. cit., S. 238.
1
2
15
durch die Krise des Subjekts ausgelöste Identitäts- und Rationalitätsverlust reflektierte.7 Wenn die
„offiziellen Philosopheme“8 seit Descartes anstrebten, entweder den weit über das Theoretische
hinausreichenden Bruch mit wissenschaftlichen Mitteln zu kitten oder aber die fehlende Einheit
wissenschaftlich zu begründen, so kam durch den Neuhegelianismus die Krise auch in England
an.9 In diesem Zusammenhang muss man nicht näher auf die Entwicklung der Tiefenpsychologie
seit Wundt und Helmholtz eingehen, die das Fundament des bürgerlichen Rationalismus
erschütterte, indem sie ihn als „Rationalisierung“ gerade im Irrationalen wurzeln ließ.10 Ohnehin
liegt ja die Relevanz großer Philosophie nur zum Teil in ihren begrifflichen Konstruktionen,
sondern in viel höherem Maße darin, dass sie die wesentlichen Fragen einer Zeit anspricht.11 Und
so folgt auch die Erschütterung, die philosophische Modelle hervorrufen können, vielfach daraus,
dass nun eine Frage möglich war, die, sobald sie bewusst und hörbar ausgesprochen wird,
unmittelbar schon eine veränderte Rationalitätsgrundlage erkennen lässt, also ein Aufbrechen
dessen, was man vorher selbstverständlich und stillschweigend vorausgesetzt hatte.
Was könnte besser die Krise des Subjekts, an dessen Autonomie im Klima des deutschen
Idealismus kaum noch ein Zweifel bestand, philosophisch reflektieren als die von William James
angesprochene Frage: „Gibt es Bewusstsein?“12 In ihr kommt eine tiefe Verunsicherung des
Subjekts zum Ausdruck, das sich mindestens ebenso sehr von den unerbittlichen Strukturen der
Realität beherrscht fühlte wie diese kraft seiner Intelligenz zu beherrschen. James’ Antwort, es
gebe das Bewusstsein nur als Funktion, jedoch nicht als Wesenheit,13 kann danach kaum mehr
überraschen. Schon, dass diese Frage überhaupt möglich ist, zeige ja, dass es Bewusstsein geben
müsse. Allerdings wird dieses damit inhaltlich bereits zur Funktion der Frage selbst und damit
jener Realitätsstrukturen, die es ermöglichten, danach zu fragen.
Eine weitere Etappe der Verunsicherung, die Whitehead ausführlich beschreibt, bildet Bradleys
Theorie der Relationen. Die Erfahrung des Subjekts analysierend versucht er, anhand der darin
zu unterscheidenden Relationen die ihr zugrunde liegende objektive Realität zu erfassen. Doch
gerade das Ausgehen von einem relationalen Erfahrungsbegriff löst letzten Endes die Identität
des Erfahrenen auf:
„Erinnern wir uns daran, dass eine wirklich bestehende Relation ein ,Zusammen’ mit einem ,Zwischen’ verbinden
muss und keine Relation mehr ist, falls eines der Elemente fehlt. Daher könnten unsere Pole keine Relation bilden,
Vgl. dazu op. cit., S. 237, und Kosellek, Kritik und Krise, S. 9.
So Strindberg in „Was ist Philosophie?“ in: Lesebuch für die niederen Stände, S. 94.
9 Siehe dazu Moore, Die Widerlegung des Idealismus, S. 56.
10 Wie Foucault in Psychologie und Geisteskrankheit (S. 131) zeigt.
11 Adorno behauptet sogar, „in Philosophie schließt stets fast die authentische Frage in gewisser Weise ihre Antwort
ein“, Negative Dialektik, S. 69.
12 „Does consciousness exist?“, zitiert nach Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S. 168 f.
13 James verwendet hier die Begriffe „Funktion“ und „Entität“, ebenda S. 168.
7
8
16
indem sie körperlich in diese einträten, denn damit verlören sie ihre Individualität, und auf diese Weise ginge ihnen
das erforderliche ,Zwischen’ abhanden. In diesem Fall bliebe uns nur eine andere Form von Erfahrung übrig, die
nun nicht mehr relational wäre, da es in ihr keine Bezugspunkte gäbe.“ 14
Sowohl das Subjekt als auch das Objekt und die beiden zugrunde liegende Rationalität gehen
nicht erst aus Bradleys Untersuchung, sondern bereits aus seiner Fragestellung – „Gibt es
Relationen, wenn ich nichts Festes voraussetzen kann?“ – als Aufgelöste hervor. Derart gelangt
Bradley notwendigerweise dazu, die Einheit der Erfahrung im Überrelationalen zu fundieren, das
heißt in der Totalität des Universums, aus der er letzten Endes mit Subjekt und Objekt auch die
Möglichkeit von Rationalität selbst ableiten muss.15
Kommen wir nun zu Bergson, dessen Philosophie Whitehead erheblich beeinflusst hat,16 indem
er mit seiner „Metaphysik der Zeit“17 aufwies, wie sich eine wichtige Perspektive des Idealismus
verdunkelte. Entscheidend ist hier, dass Bergson für die ins philosophische System
eingeschlossene Rationalität das Bild der Insel mit idealen Bedingungen fand18 und auf diese
Weise erkannte, wie das neuzeitliche Denken die Spannung von Immanenz und Transzendenz
ins Räumliche verlagerte und dadurch entschärfte.19
Whitehead fasste Bergsons „Protest gegen die ,Verräumlichung’“20 als Einspruch dagegen auf,
das Newtonsche Weltbild zu verabsolutieren, und im gleichen Sinne verstand er sein Beharren
auf der „Intuition“ als Kritik an der Verdinglichung abstrakter Naturgesetze.21 Ich möchte noch
einen Schritt weiter gehen und Bergsons Protest in der Richtung interpretieren, dass er der sich
ausbreitenden instrumentellen Rationalität Einhalt gebieten wollte, da sie dem Subjekt, das sie
nicht als ihm eigene, sondern als übermächtige Gewalt verselbständigter Strukturen erlebt, keinen
Platz mehr lässt.22 Bergson weicht dieser Krise in die Intuition aus, das heißt er versucht, die als
System etablierte Rationalität durch Besinnung auf qualitative und intensive Zeiterfahrungen zu
überwinden.23
So viele Krisen, so viele Fragen. Bisher ging es nur um die unmittelbaren philosophischen
Einflüsse, die Whitehead zu seiner Kosmologie inspirierten und hier als ein Reflex tiefer
Bradley, „Relations“, S. 644.
Vgl. dazu Schaaf, „Beziehung und Beziehungsloses“, S. 284 ff.
16 Wie er selbst in Wissenschaft und moderne Welt bekennt, S. 173.
17 So Horkheimer in Kritische Theorie I, S. 175 ff.
18 In Anlehnung an Morus, Utopia, S. 15.
19 Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S. 161,
20 Ibid.
21 Ibid.
22 So auch Horkheimer (wie Fn. 17), S. 180 f.
23 Dazu Adorno: „Bergson hat dem Nichtbegrifflichen zuliebe, mit einem Gewaltstreich, einen anderen Typ der
Erkenntnis kreiert. Das dialektische Salz wird im unterschiedslosen Fließen von Leben weggeschwemmt; das
dinghaft Verfestigte als subaltern abgefertigt, nicht samt seiner Subalternität begriffen. Hass gegen den starren
Allgemeinbegriff stiftet einen Kultus irrationaler Unmittelbarkeit, souveräner Freiheit inmitten des Unfreien“,
Negative Dialektik, S. 18.
14
15
17
Verunsicherungen gedeutet wurden, zumal sie ihr Pendant nicht zuletzt auch in den
Sozialstrukturen fanden. Allerdings hatte ich Whiteheads Philosophie nicht in wesentlicher
Hinsicht als ein Modell des gesellschaftlichen Krisenmanagements angekündigt, sondern eher als
ein weit ausholendes, raumgreifendes Überschreiten durch die konstitutive Integration von
moderner Mathematik und Naturwissenschaft. Diesen zentralen Aspekt möchte ich jetzt
erörtern.
Die Einheit der Natur
Die ganz auf Harmonisierung bedachte Sekundärliteratur hebt Whiteheads Kosmologie
vollständig aus dem Sozialzusammenhang heraus, vielleicht um sie nicht von dessen
Krisenanfälligkeit infizieren zu lassen.24 Der systematische Anspruch von Prozess und Realität wird
damit auf der Basis der neuen mathematisch-physikalischen Grundbegriffe interpretierbar,
ähnlich wie er auf der anderen Seite den primär gesellschaftlich orientierten Rezeptionen mühelos
in die Ideologieschublade passte. Beide Auffassungen haben etwas für sich, sofern man bei einer
vorgefertigten Systemanalyse stehen bleibt.25 Doch in dem Maße, wie prinzipiell kein System
seine Grundlagen aus sich selbst heraus schaffen kann, sondern ein jedes zwangsläufig über sich
selbst hinaus verweist auf die vorgefundenen Problemlagen, treffen sie beide nicht ganz zu. Dies
verdankt sich zum Teil der Gewohnheit, von prägenden Einflüssen zu reden, ohne diese dann
wirklich ernst zu nehmen. Der Schlüssel zu Whiteheads System liegt in Wissenschaft und moderne
Welt, also auch in der Moderne selbst, zu deren Modernität Whitehead einiges beigetragen hat.26
Um es vorwegzunehmen: Whitehead fand keine neuen Grundlagen vor.27 Die Krise der
philosophischen
Grundbegriffe
ereilte
in
ähnlicher
Weise
nämlich
auch
die
der
Einzelwissenschaften, die er sich zum Modell nahm.28 Zwar schufen diese anhand anfangs höchst
verwirrender Beobachtungen neue Verallgemeinerungen, die sich als deskriptiv wertvoll und für
die weitere Entwicklung hilfreich erwiesen. Es fehlte jedoch – und fehlt nach wie vor – das
unserem Sicherheitsbedürfnis Allerwichtigste: ein tragfähiges neues Fundament.
Die Mathematik hatte in einer grundlegenden Selbstreflexion, an der Whitehead selbst
maßgeblich beteiligt war,29 den für sie zentralen Zahlbegriff in Frage gestellt, der dann in der
deskriptiven Verallgemeinerung der „Menge“ aufging, ohne dass man diese als erstes Prinzip im
Dazu Reiner Wiehl: „Die Auflösung der Einheit von Philosophie und Wissenschaft und die zunehmende Kluft
zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften lassen sich daher als irgendwie zusammengehörige
Erscheinungsweisen des Einheitsverlustes der Vernunftidee verstehen. […] Wenn Whitehead also die Systemform
und die spekulative Methode als Instrumentarium der Philosophie neu belebt, so kann dies als ein Versuch begriffen
werden, die Einheit der Vernunft neu zu bestimmen, „Einleitung in die Philosophie A. N. Whiteheads“, S. 15.
25 Vgl. dazu Jung, „Über Whiteheads Atomistik der Ereignisse“, S. 406 ff.
26 So Martin, „Neuzeit und Gegenwart in der Entwicklung des mathematischen Denkens“, S. 155.
27 Das betont er selbst in Wissenschaft und moderne Welt, S. 82.
28 Op. cit., S. 95.
29 Siehe dazu Martin (wie Fn. 26), S. 160.
24
18
traditionellen Sinne inthronisieren konnte.30 Vielmehr hatte Bertrand Russell mit seinem
berühmten Paradoxon gezeigt, dass hypostasierte Grundlagen mit sich selbst in Widerspruch
geraten können.31
Der modernen Physik erging es kaum besser. „Die moderne wissenschaftliche Annahme lautet
also: Wenn etwas in Bezug auf irgendeine Bedeutung von Raum und Zeit die Geschwindigkeit
des Lichts hat, dann hat es dieselbe Geschwindigkeit auch hinsichtlich jeder anderen Bedeutung
von Raum und Zeit.“32 Zu dieser Erschütterung der klassischen Vorstellungen von Raum und
Zeit gesellte sich noch das Erdbeben der Quantentheorie, das die beiden Stützpfeiler der
Kontinuität und der Kausalität von Naturprozessen ins Wanken brachte.33 Man muss nicht
Naturwissenschaftler sein, um zu erkennen, dass der eilfertige Beschwichtigungsversuch, das
betreffe nur jene Bereiche, die für unsere normale Alltagserfahrung ohnehin keine Rolle spielen,
durchaus unangemessen ist.
Vielmehr müssen wir die Krise der Grundbegriffe, das Auseinanderdriften von Alltagserfahrung
und wissenschaftlicher Erkenntnis, bewusst zur Kenntnis nehmen und uns ihr stellen. Whitehead
hat sie pointiert umrissen in dem Satz: „Die neuartige Situation für das heutige Denken ergibt
sich daraus, dass die wissenschaftliche Theorie weiter geht als der gesunde Menschenverstand.“ 34
Zeugt nicht gerade diese Diagnose von der Krise des Subjekts, für die ich Whiteheads
Kosmologie als Beleg ins Feld führen möchte?35 Aus der Sicht des deutschen Idealismus wäre
eine solche Konsequenz überhaupt nicht denkbar gewesen, galt ihm doch alle Erkenntnis als
durch das Subjekt vermittelt, so dass eine Theorie, die das subjektive Vorstellungsvermögen
überschreitet, als reiner Nonsens erschiene, wie Adorno bemerkt:
„Für den Vorrang des Objekts spricht wohl ein mit Kants Konstitutionslehre Unvereinbares: dass die Ratio in den
modernen Naturwissenschaften über die Mauer blickt, die sie selbst errichtet; ein Zipfelchen dessen erhascht, was
mit ihren eingeschliffenen Kategorien nicht übereinkommt. Solche Erweiterung erschüttert den Subjektivismus.“ 36
Siehe dazu Whitehead, Prozess und Realität, S. 39.
Wie Whitehead kommentiert: „Aber die akkurate Formulierung der allgemeinsten Prinzipien ist das Ziel der
Diskussion und nicht ihr Ausgangspunkt. Die Philosophie hat sich durch das Beispiel der Mathematik irreführen
lassen; und selbst in der Mathematik stehen der Darlegung der elementaren logischen Prinzipien bisher
unüberwindliche Schwierigkeiten im Wege“, op. cit., S. 39 f., mit einem Hinweis auf die Principia mathematica.
32 Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S. 142 f.
33 Op. cit., S. 162.
34 Op. cit., S. 137.
35 Dieser selbst sieht freilich in der Krise vor allem eine Chance: „Jede Tätigkeit reicht über das Ich in die bekannte
transzendente Welt hinaus. Genau hier sind Zielsetzungen von Bedeutung. Denn es ist keine rücklings gedrängte
Tätigkeit, die in die verschleierte Welt des gemäßigten Subjektivisten hinausreicht. Vielmehr eine solche, die sich auf
festgelegte Ziele in der bekannten Welt richtet; dennoch transzendiert diese Tätigkeit das Ich und verbleibt zugleich
innerhalb der bekannten Welt. Daraus folgt, dass die Welt, wie wir sie kennen, das erkennende Subjekt
transzendieren muss“, op. cit., S. 110.
36 Adorno, „Zu Subjekt und Objekt“, S. 158.
30
31
19
Im Übrigen unterscheidet Whitehead bei seiner Diagnose keineswegs zwischen Laien und
Spezialisten mit ausgeprägten Fachkenntnissen in den einschlägigen Theorien der modernen
Naturwissenschaften. Denn auch Letztere können die fälligen Konsequenzen nicht zwangsläufig
anschaulich nachvollziehen, sondern erfassen sie in der Regel lediglich mit mathematischen
Formeln. Die hier beschriebene Krise reflektiert sich also auch im Verhältnis von Begriff und
Anschauung, und zwar dergestalt, dass der Begriff seine innere Widersprüchlichkeit nur
überwinden kann, indem er die Assoziation mit möglichen Anschauungen auflöst. Dieser
Konsequenz gilt es weiter nachzugehen, da sie zur realen Entmachtung des Subjekts in der
Moderne führt und Aufschluss über die tragende Konzeption der Whiteheadschen Kosmologie
erteilt.
Betrachten wir die Entwicklung der wissenschaftlichen Grundbegriffe, so erschließt sich daraus
der enge Zusammenhang mit der oben konstatierten Krise des Subjekts. Dies lässt sich gerade
am Beispiel des Russellschen Paradoxons zeigen,37 wenn man es in dem Sinne deutet, dass der
mathematische Mengenbegriff insofern mit sich selbst in Widerspruch gerät, als er eine
objektivierte Zahl darstellen soll, der damit die vom Subjekt gesetzten Grenzen fehlen, also die
Abhängigkeit der Zahl vom Zählenden. Die Funktion des Zählens oder Zusammenfassens,38 die
den klassischen Zahlbegriff auszeichnete, ist an die Menge selbst übergegangen: Sie und nicht das
Subjekt bildet eine Gesamtheit von Elementen.
Etwas Ähnliches vollzog sich in den vom Kantschen „Ding an sich“ beeindruckten und
provozierten Naturwissenschaften. Stets sind ihre Versuchsaufbauten so angelegt, dass es in
erster Linie darauf ankommt, was mit den Apparaten und nicht, was im Bewusstsein des
Beobachters vor sich geht.39 „Es ist völlig legitim, den Beobachter mit einzubeziehen, sofern
dadurch Erklärungen erleichtert werden. Aber wir brauchen den Körper des Beobachters und
nicht seinen Geist.“40
Demnach findet sich bestätigt, dass der Fortschritt der modernen Naturwissenschaften mit einer
Krise einherging, deren Ursprünge in Veränderungen der Sozialstrukturen zu vermuten sind –
einer Krise, die an der Autonomie des Subjekts zehrte und so weite Kreise zog, dass auch die
„Es sei M die Eigenschaft, eine Menge zu sein. Dann wäre A = (x: M(x)) die Menge aller Mengen. Und weil dann
A selbst eine Menge wäre, würde AA gelten. Man könnte dann auch die Menge B = (x: xx) bilden. Sie wäre die
Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten. Für diese Menge müsste jedenfalls gelten BB oder
BB. Nimmt man BB an, so würde aus der Definition von B folgen, dass BB gelten müsste. Umgekehrt aber
würde die Annahme BB ihrerseits BB zur Folge haben. In jedem Fall würde ein Widerspruch folgen“, Kowalsky,
Einführung in die lineare Algebra, S. 14.
38 Siehe dazu Whitehead: „Der erste Mensch, der die Ähnlichkeit zwischen einer Gruppe von sieben Fischen und
einer Gruppe von sieben Tagen bemerkte, vollzog einen beachtlichen Schritt in der Geschichte des Denkens“,
Wissenschaft und moderne Welt, S. 33.
39 Siehe dazu Whitehead, op. cit., S. 143.
40 Ibid.
37
20
Rationalität der Subjekt-Objekt-Struktur selbst in Frage gestellt war.41
Was Whitehead angeht, so lässt sich zusammenfassend sagen, dass er sein System nicht auf neu
gefundene Grundbegriffe stützen konnte, die ihm von der Mathematik oder Physik zugewachsen
wären. Vielmehr nährt sich sein Denkmodell von der Erschütterung der Fundamente, die ihn dazu veranlasste, die selbstverständlichen Voraussetzungen der klassischen Philosophie unbefangen
zu überprüfen. Allerdings konnte sich die Philosophie dabei nicht die Rolle anmaßen, im Rahmen
ihrer Verallgemeinerungen wieder weltanschauliche Sicherheit zu gewährleisten, zumal Whitehead
dies gar nicht anstrebte: „Der Pessimismus des Mittelstandes bezüglich der Zukunft der Welt entspringt daraus, Kultur mit Sicherheit zu verwechseln.“42 Im Gegenteil betonte er: „Meine Absicht
war zu zeigen, dass sich philosophisches Denken letzten Endes nicht auf die Exaktheit gründen
lässt, welche die Naturwissenschaften für sich in Anspruch nehmen, denn diese Exaktheit ist ein
Schwindel.“43 Obwohl Whitehead also von der Mathematik und den Naturwissenschaften her
dachte, teilte er nicht deren oft fetischisiertes Ideal. Allerdings stützte er diese Einstellung nicht
auf eine erschlichene Gewissheit – wie zum Beispiel eine verabsolutierte Kopenhagener Deutung
der Relativitätstheorie –, sondern schöpfte den Glauben an die Notwendigkeit einer neuen, konstruktiven Philosophie aus der allgemeinen – nicht nur wissenschaftlichen – Verunsicherung.
Emanzipation des Kosmos. Abermalige Wendung der kopernikanischen Wende
Wer nach dieser Überschrift erwartet, dass Whitehead sich in seiner Kosmologie bemüht hätte,
die Transzendentalphilosophie stringent zu widerlegen, wird seine Vorahnung nicht bestätigt finden, da Whitehead ein eher spielerisches Verhältnis zur Philosophiegeschichte pflegte. Insofern
neigte er weder dazu, persönliche Einstellungen zu verteidigen, noch seine Schriften als ein
öffentliches Forum für die Verarbeitung von Machtphantasien zu missbrauchen. Seine
spekulative Philosophie kreist vielmehr darum, grundlegende Fragestellungen zu erarbeiten,44 und
Möglichkeiten für einen nachhaltigen Fortschritt auszuloten.45 Man darf sogar annehmen, dass
Whitehead die Philosophie Kants im Sinne ihrer eigenen Rationalitätskriterien nicht für
widerlegbar hielt – was ihn allerdings nicht dazu veranlasste, ihrer Tendenz zu huldigen, sich
gegen eine historische Deutung und Auflösung ihrer Grundbegriffe abzuschotten.46 So liest er
„Die Analyse der Herkunft führt zur Auflösung des Ich und lässt an Orten und Plätzen seiner Synthese tausend
verlorene Ereignsse wimmeln“, Foucault, Von der Subversion des Wissens, S. 89.
42 Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S. 241.
43 Whitehead, „Unsterblichkeit“, S. 33.
44 Vgl. dazu Wiehl (wie Fn. 24), S. 22.
45 Zu diesem Problemkomplex siehe Ludwig Herdt, Immanenz und Geschichte. Zum Begriff der Kreativität in der
Metaphysik A. N. Whiteheads, Diss., Frankfurt am Main 1975.
46 Siehe Whitehead, Prozess und Realität, S. 44 f.
41
21
Kant gegen den Strich, unterwirft sich nicht seiner systematischen Einheit,47 sondern spürt darin
auch etwas vom „aphoristischen“ Geist Lichtenbergs auf. Selbst wenn Kants Philosophie
„stimmen“ würde, wenn sich also noch die Rationalität des 20. oder 21. Jahrhunderts mit ihr
erklären ließe, sie wäre jedenfalls zu eng geworden,48 und Whitehead war nicht so borniert, die
Realität der Philosophie respektive die Philosophie der Realität unterordnen zu wollen.49
Schließlich ist Philosophie ja ihrerseits eine mögliche Form von Aktualität, die man kaltstellen
würde, indem man ihr das Joch des Faktischen aufzwänge.50
Die „abermalige Wendung der kopernikanischen Wende“51 wird bereits in Wissenschaft und moderne
Welt als ein „provisorischer Realismus“ angekündigt52 mit der Konsequenz, dass „wir vom
Ereignis als der Grundeinheit des Naturgeschehens ausgehen müssen“.53 Das event, später in
Prozess und Realität das actual entity, sollte also die in der wissenschaftlichen Entwicklung brüchig
gewordene epistemologische Grundstruktur von Subjekt und Objekt ablösen.54 Allerdings erhebt
sich gegen diese neue „Kategorie“55 ungeachtet ihrer näheren Bestimmungen ein Einwand, der
am Ende die gesamte Whiteheadsche Kosmologie treffen könnte. Sinngemäß lautet er: Wir
müssen nicht nur aus Gründen der Denkökonomie, sondern auch aus ethisch-politischen
Motiven an der Subjekt-Objekt-Struktur festhalten, denn einerseits ist Erkenntnis, also auch
Theoriebildung, eine kreative Leistung des Subjekts,56 und andererseits verbietet es sich, das
Subjekt als moralische Instanz des gesellschaftlichen Widerstandes und der Verteidigung
demokratischer Prinzipien einfach zu kassieren.57
Daraus ergibt sich eine besondere Konstellation, in der ein pragmatischer Aspekt mit einem
ontologisch-transzendentalen zusammentrifft. Die notwendigen Prioritäten lassen sich indes
nicht apriori setzen, sondern erst die einschlägige Analyse der Whiteheadschen Kosmologie muss
erweisen, welcher Platz dem Einzelnen angesichts der Rationalität verselbständigter Strukturen
zukommt.
Die Adorno hervorhebt, wenn er schreibt, „die gesamte Philosophie Kants [steht] im Zeichen von Einheit“,
Negative Dialektik, S. 230 f.
48 Vgl. dazu Whitehead, Prozess und Realität, S. 264.
49 Vielmehr mahnte er: „In der philosophischen Diskussion ist das leiseste Anzeichen von dogmatischer Sicherheit
über die Endgültigkeit von Behauptungen ein Ausdruck von Torheit“, Prozess und Realität, S. 27.
50 Darauf weist Hermann in seiner Kantstudie hin: „Wahrheit, klassisch definiert als die Entsprechung von Denken
und Sein, ist faktisch diejenige der Unterwerfung des Denkens unter das Sein“, in: „Geschichte, Glück und
Gleichheit in Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 454.
51 Die übrigens auch Adorno forderte: „Das philosophische Konstitutionsproblem hat sich spiegelbildlich verkehrt;
in seiner Verkehrung jedoch drückt es die Wahrheit über den erreichten geschichtlichen Stand aus; eine Wahrheit
freilich, die durch eine zweite kopernikanische Wende theoretisch wieder zu negieren wäre“, „Zu Subjekt und
Objekt“, S. 155.
52 Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S. 111.
53 Op. cit., S. 125.
54 Ausführlich dazu Jung, „Whiteheads Atomistik der Ereignisse“, S. 409 f.
55 In Prozess und Realität (S. 63) als die erste Kategorie der Existenz eingeführt.
56 So Wiehl (wie Fn. 24), S. 22.
57 Darauf pocht Schweppenhäuser in „Spekulative und negative Dialektik“, S. 88.
47
22
Zunächst aber ist zu klären, was Whitehead unter einer „wirklichen Entität“ versteht, die oben
emphatisch als ein Vehikel zur Emanzipation des Kosmos angekündigt wurde. Ähnlich wie die
nachkartesische Philosophie ontologisch gesprochen in Gottes Schöpfung nur Subjekte und Objekte unterschied, so kennt die Whiteheadsche Kosmologie nur wirkliche Entitäten oder
Ereignisse, die in einer fortwährenden Schöpfung Gott immer wieder neu erschaffen.58 Das folgt
aus seiner festen Integration in System, denn: „Vor allen Dingen darf man Gott nicht als eine
Ausnahme von sämtlichen metaphysischen Prinzipien behandeln, die man einführt, um deren
Zusammenbruch vorzubeugen. Er ist vielmehr ihre wichtigste Exemplifikation.“59 Historische
Vorbilder dafür finden sich in den Denkmodellen, auf die Whitehead beim Aufbau seines
Systems bevorzugt zurückgriff, nämlich in den Hauptwerken von Descartes, Leibniz und Locke.60
Bei Descartes findet die wirkliche Entität ihr Pendant in der res vera,61 jedoch mit einer
Modifikation, die bereits in Leibnizens Monadologie angelegt war: Über ihre innere Beschaffenheit
entscheidet nicht das Qualitative, sondern das Relationale. Kurz, nicht was man oder etwas ist,
gibt den Ausschlag, sondern die Stellung im System.62
Auch wenn es nicht in erster Linie diese raffinierte Widerspiegelung der feudalen
Gesellschaftspyramide gewesen sein dürfte, die Leibniz für Whitehead so interessant machte,
bildet die Monade als Grundkategorie einer kosmologischen Sozialanalyse das direkte Vorbild für
die wirkliche Entität. Um sich das zu veranschaulichen, muss man lediglich ihren
Substanzcharakter und ihre feste Identität ins Prozessuale auflösen. Die wirkliche Entität
konstituiert sich – und gerade darin erkennen wir die Anklänge an Locke und Hume – durch das
Erfassen von empirischen Daten.63 Kategorial gesprochen bedeutet dies, „dass die erste Analyse
einer wirklichen Entität, nämlich bezogen auf ihre konkreten Elemente, sie als eine
Konkretisierung von erfassten Informationen ausweist, die in ihrer Herausbildung entstanden
sind“.64 Sie besitzt die augenblickliche Identität eines Erlebnisses, aber auch dessen innere
Widersprüchlichkeit.65
Ihre Doppelnatur ergibt sich daraus, dass sie einerseits als Subjekt dem Erfahrenen unterworfen
und von ihm abhängig ist,66 andererseits aber auch über dieses hinausgeht und sich in ihrem
Werden als „Superjekt“ selbst erschafft,67 darin Wirkliches mit nur Möglichem verbindet68 und in
Whitehead, Prozess und Realität, S. 614.
Whitehead, Prozess und Realität, S. 613.
60 Programmatisch dazu op. cit., S. 91.
61 Siehe dazu op. cit., S. 63 und 75.
62 Martin, Leibniz. Logik und Metaphysik, S. 177.
63 Whitehead, Prozess und Realität, S. 63.
64 Op. cit., S. 66.
65 Näheres dazu bei Cesselin, La philosophie organique de Whitehead, S. 28.
66 Siehe Jung (wie Fn. 54), S. 409.
67 „Eine wirkliche Entität ist zugleich das erfahrende Subjekt und das Superjekt ihrer Erfahrungen. Sie ist SubjektSuperjekt, und man darf keine der beiden Hälften auch nur einen Moment lang außer Acht lassen. Den Terminus
58
59
23
dieser Spannung ihre Freiheit findet.69 Wenn wir in unserer alltäglichen Erfahrung nicht
Ereignissen, sondern festen Gegenständen und materiellen Körpern den Vorrang einräumen, so
leitet Whitehead diese „handfesten“ Dinge als komplexe Objekte oder „Nexūs“ aus den
wirklichen Entitäten ab, das heißt er erkennt ihre Existenz nur im Zusammenhang mit oder als
Abstraktion von Ereignissen an.70 Ähnlich konstruiert er die Identität der Person oder des
Bewusstseins als eine „personale Gesellschaft“,71 die sich in der Kontinuität des Erlebens
herausbilden und verfestigen kann, aber jedenfalls kein ontologisch Erstes oder Vorrangiges ist.72
Wenn diese Skizzierung des Ereignisbegriffs etwas befremdlich wirkt, so in erster Linie deshalb,
weil er unseren Denkgewohnheiten zuwiderläuft. Und gerade in der Philosophie ist es ja nicht
üblich, sich mit der niederen Sphäre des Wirklichen zu befassen, wo doch das Mögliche viel
höhere Einsichten verheißt. Wie dem auch sei: Ich hatte die wirkliche Entität als Vorgriff auf eine
Emanzipation des Kosmos angekündigt, und dieser Befreiung möchte ich mich nun zuwenden,
um dem nachzugehen, was in der Kosmologie Whiteheads kein Eigenleben und keinen quasi
objektiven Status annimmt, sondern immer nur das Prädikat des Möglichen erhält, nämlich die
Rationalität von Organisationsstrukturen.
Mit seinem kosmologischen Programm zielt Whitehead nicht zuletzt auch auf den Kosmos in
uns, auf unser Naturerleben, das von Bewusstsein begleitet sein kann oder auch nicht.73 Doch im
Hinblick auf diese Erlebnisse verbietet das Whiteheadsche Realitätsprinzip, ohne Weiteres Sätze
wie den zu formulieren: „Ich sehe einen Sonnenuntergang.“ Problematisch daran ist, dass hier
das Subjekt einem Objekt, in diesem Fall einem Vorgang, gegenübergestellt wird, dem es doch
selbst angehört. Da Whitehead die Subjekt-Objekt-Struktur unterlaufen will, wählt er zunächst
die Variante „Das Auge sieht einen Sonnenuntergang“, mit der er auf eine empiristische
Provokation Humes zurückgreift.74 In der Reflexionsphilosophie kam für die Deutung dieser
Aussage allein die Alternative Subjekt oder Objekt in Betracht, und da man Objekten keine aktive
Erkenntnisfunktion zuschrieb, blieb als Instanz des Sehens nur das Subjekt, also das
wahrnehmende
Bewusstsein
übrig.
Whitehead
erschloss
jedoch
eine
andere
Interpretationsmöglichkeit, die nicht auf dem Subjekt-Objekt-Modell basierte. Ihm zufolge
könnten der besagte Satz und andere Aussagen dieses Typs darauf hinauslaufen, den Kosmos
und mit ihm den menschlichen Körper – im Sinne seiner Erlebnisse – aus der Verdinglichung zu
,Subjekt’ verwende ich meist dann, wenn es um ihre eigene reale innere Beschaffenheit geht“, Whitehead, Prozess und
Realität, S. 76.
68 Jung (wie Fn. 54), S. 416.
69 Whitehead, Prozess und Realität, S. 73.
70 Siehe dazu Abenteuer der Ideen, S. 363.
71 Op. cit., S. 342.
72 Ibid.
73 Whitehead, Prozess und Realität. S. 52.
74 „In jedem dieser Zitate behauptet Hume ausdrücklich, dass das Auge sieht“, Whitehead, Prozess und Realität, S. 226.
24
entlassen und damit zu emanzipieren.75 Gegen eine solche Befreiung führte sowohl die Kantsche
als auch die spätere Transzendentalphilosophie ein schlagendes Argument ins Feld: das
„Apriori“,76 das neuerdings, nicht zuletzt unter dem Einfluss des Existenzialismus, der
Psychoanalyse und der Entwicklungspsychologie sogar den Körper einbeziehend zum „Leibapriori“ ausgebaut wurde.77
Nicht nur, dass dieses Begriffsmonstrum in der Tat so klingt, als ob es direkt einer körperlichen
Ausscheidung entstammte,78 betrachten wir es näher und bedenken, dass der Körper nichts
Anderes ist, als seine Erlebnisse, so ergäbe sich als Konsequenz ein Erlebnisapriori – das
allerdings mit den Prinzipien der Transzendentalphilosophie nicht mehr vereinbar zu sein
scheint.
Whiteheads Emanzipation des Kosmos entspricht also einer Emanzipation des körperlichen
Erlebens, das heißt sie richtet sich gegen die Verabsolutierung des Geistes und die damit
verbundene philosophische Leibfeindlichkeit. An dieser Befreiung erstaunt zumindest, dass sie
offenbar erst auf der Basis der gesellschaftlichen Entmachtung des Subjekts möglich war. Doch
ob dabei auch der Intellekt zu seinem Recht kommt?
Rationalität und Erfahrung
Wie gesehen überhöht die Subjekt-Objekt-Metaphysik das begriffliche Denken zu einer idealen
Realität,79 die Priorität gegenüber der Empirie besitzt, und schleppt bis in ihre neueste
Entwicklung hinein den Körper lediglich als ein leidiges Ingredienz mit. Zwar werden Erfahrung
und Reflexion im Hegelschen Modell des Begriffs als dialektisch vermittelt gedacht,80 doch
erscheint der Denkprozess, in dem diese Bewegung stattfindet, durch das Einsetzen beim Begriff
entscheidend prädeterminiert. Adornos Polemik gegen Hegel, er hätte die große Logik anstatt mit
dem Sein mit dem Einzelnen eröffnen müssen,81 bezieht sich ihrerseits nicht auf die Erfahrung,
sondern bereits auf das begrifflich gefasste Einzelne. Das Sichversenken in die Empirie riecht der
Vgl. dazu Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit, S. 54.
Wie Adorno konstatiert: „Die ideologische Unwahrheit in der Konzeption von Transzendentalphilosophie ist die
Trennung von Leib und Seele, Reflex von Arbeitsteilung. Sie führt zur Vergötzung der res cogitans als dem Prinzip der
Naturbeherrschung“, Negative Dialektik, S. 390 f.
77 Apel, Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik, S. 11.
78 Oder einem Reflex im Sinne Nietzsches: „Nachdem ich lange genug den Philosophen zwischen die Zeiten und auf
die Finger gesehen habe, sage ich mir: Man muss doch den größten Teil des bewussten Denkens unter die InstinktTätigkeiten rechnen und sogar im Falle des philosophischen Denkens; man muss hier umlernen, wie man in betreff
der Vererbung und des ,Angeborenen’ umgelernt hat“, Jenseits von Gut und Böse, S. 569.
79 Schön formuliert bei Adorno, Negative Dialektik, S. 154.
80 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 38.
81 „Die Kosequenz aus dem Grundsatz negiert diesen zugleich und bricht seinen absoluten Vorrang. Daher durfte
Hegel in der Phänomenologie sowohl vom Subjekt ausgehen und in der Betrachtung von dessen Selbstbewegung alle
konkreten Inhalte ergreifen, wie umgekehrt, in der Logik, die Bewegung des Gedankens mit dem Sein einsetzen
lassen“, Drei Studien zu Hegel, S. 260.
75
76
25
Reflexionsphilosophie zu sehr nach einem Paktieren mit der chaotischen Welt.82 Demgegenüber
stellt Whitehead seinen provisorischen Realismus unter das Motto: „Philosophie kann nichts
ausschließen.“83 Für ihn bedeutet spekulatives Denken nicht, eine schon durch normative
Begriffe gefilterte Realität zu untersuchen, sondern mit einer breit gefächerten Stoffsammlung zu
beginnen, die in einem oszillierenden Interpretationsprozess zur Theorie- und Systembildung
überleitet.
„Die wahre Forschungsmethode gleicht einer Flugbahn. Sie hebt ab von der Grundlage einzelner Beobachtungen,
schwebt durch die dünne Luft phantasievoller Verallgemeinerung und versenkt sich dann wieder in neue
Beobachtungen, die durch rationale Interpretation geschärft sind. Der Grund für den Erfolg dieser Methode der
phantasievollen Erkenntnis liegt darin, dass die immer gegenwärtigen Faktoren auch dann unter dem Einfluss
imaginativen Denkens betrachtet werden können, wenn die Unterscheidungsmethode versagt.“84
Auch wenn die in diesem Zusammenhang geforderte Demut vor den Erfahrungstatsachen mit
spekulativer Kühnheit einhergehen soll,85 legt die kritische Philosophie gegen jede Anerkennung
des Bestehenden ihr schärfstes Veto ein.86 Also soll sich die Rationalität des Realen nach den
Bestimmungen des Begriffs richten, zumal dieser ihr eingreifend immer schon voraus ist und
damit gleichsam alle Realität aus sich entlässt.
Gewiss redet Whitehead nicht der uninterpretierten, puren Erfahrung das Wort, sondern
postuliert vielmehr, das jedes Erleben einem „subjektiven Ziel“ folgt87 und ein wertendes
Element enthält; doch muss diese Wertung nicht das Ergebnis einer begrifflichen Reflexion sein,
allein schon deshalb, weil sie von Natur aus in Interpretationen wurzelt. „Unsere alltägliche
Erfahrung ist ein Komplex von Fehlschlägen und Erfolgen beim Geschäft der Interpretation.
Wenn wir eine Darstellung uninterpretierter Erfahrung wünschen, müssen wir einen Stein nach
seiner Autobiographie fragen.“88 Bewusste Erfahrung finde sich in allen Bereichen der belebten
Natur, doch erst beim Menschen gelange sie zum Selbstbewusstsein, was an das reflexive
Verhältnis von Perzeption und Apperzeption in Leibnizens Monadenlehre erinnert.89 Daraus
folgt, dass der Begriff bei Whitehead jedenfalls nicht die Funktion wahrnehmen kann, die Kluft
Vgl. dazu Adorno, Negative Dialektik, S. 46.
Whitehead, Denkweisen, S. 5.
84 Whitehead, Prozess und Realität, S. 34.
85 „Spekulative Kühnheit muss durch absolute Demut vor der Logik und vor den Tatsachen ausgeglichen werden. Es
entspricht einer Krankheit der Philosophie, wenn sie weder kühn noch bescheiden ist, sondern lediglich die
eigenwilligen Voraussetzugen außergewöhnlicher Persönlichkeiten widerspiegelt“, Whitehead, op. cit., S. 56.
86 „Etwas so empfangen, wie es jeweils sich darbietet, unter Verzicht auf Reflexion, ist potenziell immer schon: es anerkennen, wie es ist, dagegen veranlasst jeder Gedanke virtuell zu einer negativen Bewegung“, Adorno, Negative
Dialektik, S. 46.
87 Siehe dazu Whitehead, Prozess und Realität, S. 68 f.
88 Op. cit., S. 52.
89 Vgl. Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade, § 4, S. 9.
82
83
26
zwischen Erfahrung und Erkenntnis zu überbrücken, worin das Erklären oft darauf hinausläuft,
störrische Erfahrungen beiseite zu schaffen.90 Vielmehr begreift er Erkenntnis selbst als eine
Form von bewusster Erfahrung, deren Gegenstand die subjektiven Ziele vorausgegangener
wirklicher Entitäten sind, zum Beispiel im Fall der Theoriebildung.91 Da Erfahrungen aber in sich
widersprüchlich, vielfältig und ungeordnet sind, stellt sich für ihre Interpretation, die ja ebenfalls
empirisch verankert sein soll, ein schier unüberwindliches Problem: Wie kommt die Rationalität
der Erfahrung zustande und, mehr noch, was macht diese eigentlich aus? In der
nachkartesianischen Philosophie, die das Modell der Übereinstimmung von Sache und Intellekt
(adaequatio rei et intellectu) zwar kritisierte, aber nicht wirklich überwand, sondern lediglich den
Vergleichsmaßstab ins Bewusstsein selbst verlegte,92 reduzierte sich die erste Frage auf den
Modus der Vermittlung von Subjekt und Objekt, während für die zweite galt: Rationalität =
Identität. An der prinzipiellen Geltung dieser Gleichung hat sich auch mit Hegel für diese
philosophische Tradition nichts geändert. Marx zufolge soll die rationale Gesellschaft die
klassenlose, also die vom Grundwiderspruch befreite sein. Wenn Identität für die Rationalität der
Erkenntnis bürgt, dann ist die „Dialektik die Ontologie des falschen Zustandes“.93
Whiteheads provisorischer Realismus geht diese Frage vorsichtiger an – notwendigerweise, denn
die Vielfalt der Erfahrungen verrät nichts über ihren Rationalitätsmaßstab, und so stellt sich
dieser selbst als ungelöstes Problem dar. Die Krise des Subjekts hat offenbar so weite Kreise
gezogen, dass man – metaphysisch gesprochen – nicht einmal mehr den Primat der Ordnung
gegenüber dem Chaos postulieren können. „Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Konfusion
ein weniger fundamentales Phänomen ist als Ordnung.“94 Soziologisch betrachtet kommt darin
lediglich zum Ausdruck, dass sich dem Subjekt unter den Bedingungen einer anarchischen
Warenproduktion weder von innen noch von außen her eine plausible Ordnung aufdrängt.95
Doch gerade die Warenproduktion hat Identität von Anfang an torpediert96 und höhlt durch die
Spaltung der Gesellschaft zunehmend auch die Identität des Subjekts aus. Die Frage nach dem
Wesen der Rationalität lässt sich also nicht mehr durch Rückgriff auf eine wie auch immer
geartete traditionelle Ordnung beantworten, sondern – und das ist entscheidend – muss sich
heute auf ungeahnte Weise selbst problematisieren. Damit fehlt dem Denken ein Kanon, eine
Richtlinie oder, wie Adorno in einem kleinen Essayband schrieb, ein „Leitbild“.97 Aus dieser Sicht
Vgl. dazu Whitehead: „Die Philosophie verliert jeden Nutzen, wenn sie sich auf glorreiche Glanztaten des
Wegerklärens einlässt“, Prozess und Realität, S. 55.
91 Op. cit., S. 203.
92 Siehe dazu Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 15.
93 So Adorno, Negative Dialektik, S. 20.
94 Whitehead, Denkweisen, S. 62.
95 Dazu Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit, S. 30.
96 Näheres dazu bei Marcuse, Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesedllschaft, S. 55 f.
97 Siehe Adorno, Ohne Leitbild. Parva Aesthetica.
90
27
stellt sich Whiteheads Kosmologie in ihrem provisorischen Charakter abermals als Resultat einer
tiefen Verunsicherung dar: Es scheint, als liege ihr Novum darin, sich zum ersten Mal einer Welt
ausgesetzt zu fühlen, in der weder durch Gott noch durch eine säkulare Existenzgrundlage
irgendeine Form von Rationalität oder Identität verbürgt wäre. Allerdings gilt es, diese Aussage
angesichts des folgenden Zitats ein wenig zu relativieren:
„Als weiteres Element der metaphysischen Situation brauchen wir ein Prinzip der Begrenzung. Ein besonderes Wie
ist erforderlich, und ebenso auch eine Partikularisierung im Was des Sachverhalts. Die einzige Alternative hierzu läge
darin, die Realität der wirklichen Ereignisse zu leugnen. Ihre scheinbar irrationale Begrenzung würde als Beweis für
ihre Scheinhaftigkeit dienen, und wir müssten die Realität hinter der Szene suchen. Wenn wir diese Alternative eines
Dahinter ablehnen, gilt es eine Grundlage der Begrenzung zu schaffen, die zu den Attributen der substanziellen
Aktivität gehört. Dieses Attribut schafft die Begrenzung, die sich nicht begründen lässt, da alle Gründe aus ihr
hervorgehen. Gott ist die letzte Begrenzung und seine Existenz die grundlegende Irrationalität, da man keinen
Grund für gerade die Begrenzung angeben kann, die er seinem Wesen nach vollzieht. Gott ist zwar nicht konkret,
bildet aber die Grundlage der konkreten Wirklichkeit. Die Natur Gottes ist deshalb nicht rational begründbar, weil
sie selbst die Grundlage der Rationalität bildet.“98
Bei näherer Betrachtung dieses Zitats fällt auf, dass Gott darin zwar nicht als principium identitatis,
sondern eher als principium individuationis figuriert, aber auch das nicht im klassischen Sinne. Gott
erscheint vielmehr als principium limitationis und stiftet so eine Rationalität, die in ihm ebenso wie
in der Erfahrung auf irrationale Weise fundiert ist. Ferner zeigt sich hier eine gewisse Sensibilität
für die nachhegelsche Philosophie, die der Erfahrung Wirklichkeit im emphatischen Sinne
abspricht, um ihr das begrifflich reflektierte Geistige als objektives Pendant gegenüberzustellen.99
Auf diese Weise wird Rationalität historisch als Antizipation konstruiert. Schließlich zeichnet sich
noch eine Parallele zur kritischen Hermeneutik ab, in der es unerlässlich erscheint, ein objektives
Korrektiv für eben diese theoretische Antizipation, in diesem Fall von gelungener oder rationaler
Kommunikation, zu setzen: die transzendentale Forschergemeinschaft. Allerdings reicht diese
Parallele nicht sehr weit, denn das besagte Konstrukt steht für eine Objektivität der reflektierend
vorweggenommenen Einheit, gründet also wiederum im Identitätsprinzip und damit letzten
Endes auf der Verdrängung sinnlicher Vielfalt. Zwar führt auch Whitehead mit seinem
Gottesbegriff ein solches Korrektiv ein, um die Konkretisierung von Ereignissen und damit die
Interpretierbarkeit der von ihnen gebildeten Strukturen zu erklären. Wenn es aber eine Funktion
gibt, die sein Gott nicht hat, so ist es die traditionelle, die Einheit der Welt rational zu begründen.
Damit ist klar bestimmt, an welcher Stelle Whiteheads Kosmologie einen Gottesbegriff benötigt,
um bei der Analyse der Erfahrung zu einer rationalen Theoriebildung gelangen zu können. Doch
98
99
Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S. 208.
Vgl. Adorno, Negative Dialektik, S. 16.
28
sind vorerst die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit den Fragen „Wie entsteht Rationalität?“
und „Was heißt Rationalität im Hinblick auf die Realität der Erfahrung?“ noch nicht annähernd
gelöst. Bisher steht nur eines fest: Rationalität selbst lässt sich nicht rational erklären. Vielmehr
muss sie sich aus der deskriptiven Verallgemeinerung des Erfahrungswissens ergeben.100 Im
Unterschied zur Verwirklichung des Weltgeistes bei Hegel, die sich begrifflich in seiner
Hierarchie der Denkkategorien manifestiert, bleibt Whiteheads Rationalismus immer einer auf
Probe:
„Der Rationalismus wird immer ein auf Erfahrung gegründetes Abenteuer bleiben. Der gemeinsame Einfluss von
Mathematik und Religion, der so großartig zum Aufstieg der Philosophie beigetragen hat, führte leider auch dazu, sie
mit starrem Dogmatismus zu durchsetzen. Der Rationalismus ist ein fortschreitendes und niemals abgeschlossenes
Abenteuer in der Aufklärung des Denkens. Aber er ist ein Abenteuer, bei dem schon Teilerfolge zählen.“ 101
Wenn sich Whitehead damit begnügen muss, deskriptive Kategorien für die Analyse der
Erfahrung zu bilden,102 so kann das Denken auch nicht viel darüber aussagen, aus welchen
Gründen Rationalität entsteht,103 denn sobald das Denken auf den Plan tritt, ist die Abstraktion
bereits vollzogen und damit immer schon ein Ordnungsschema vorausgesetzt. Allerdings werden
die Ordnungen im fortschreitenden Entwicklungsprozess Stück für Stück wieder überwunden
und zerstört, weshalb man nicht ohne Weiteres aus einem einmal festgelegten Schema endlos
weiter Strukturen „ableiten“ kann.104 Das Überschreiten von Ordnung findet nur im wirklichen
Ereignis statt, das damit eine neue Realität begründet. Auch wenn dieses – bewusst oder
unbewusst – rationale Strukturen der vorausgegangenen Ereignisse erfassen kann, ist es selbst als
ein Erfahrungsprozess niemals rational zu nennen. Verglichen mit der Ordnung von Theorien
zum Beispiel erscheint das wirkliche Ereignis anarchisch,105 was auch für Theorien über wirkliche
Ereignisse gilt. Rationalität ist in Whiteheads Kosmologie nie real; sie charakterisiert den Bereich
des Möglichen und kann daher im günstigsten Fall für die Realisierung von Ereignissen eine
bedeutende Rolle spielen.106
Nach alledem lässt sich nun die Frage nach dem Was in dem Sinne beantworten, dass Rationalität
nichts anderes als Strukturiertheit ist. „Die Philosophie ist der Dichtung verwandt, und beide
Vgl. dazu Whitehead, Prozess und Realität, S. 42 f.
Op. cit., S. 42.
102 „Alles, was man in der ,Praxis’ vorfindet, muss in Reichweite der metaphysischen Beschreibung liegen. Wenn die
Beschreibung dabei scheitert, die ,Praxis’ einzubeziehen, ist die Metaphysik unangemessen und revisionsbedürftig“,
op. cit., S. 48.
103 Vgl. auch dazu die Arbeit von L. Herdt (wie Fn. 45), mit einer gründlichen Analyse des in diesem Zusammenhang
zentralen Begriffs der „appetition“.
104 Vgl. Whitehead, Prozess und Realität, S. 51.
105 Op. cit., S. 97.
106 Op. cit., S. 51.
100
101
29
streben an, jene höchste Finesse auszudrücken, die wir als Zivilisation bezeichnen. Jedenfalls
verweisen alle Wörter über ihre direkte Bedeutung auf ein Formprinzip. Wie die Dichtung sich
mit der Metrik verbündet, so die Philosophie mit mathematischen Mustern.“107 In diesem
Bündnis baut die Philosophie eine Brücke zwischen den reinen Potentialen wie Farben und
Formen, die keine Gesellschaftsanalyse aufzulösen vermag, und den unreinen Möglichkeiten, die
sich in Theorien, Organisationsformen usw. niederschlagen.108
Dabei fällt zunächst die Ähnlichkeit der „ewigen Objekte“109 mit den platonischen Ideen auf, die
tatsächlich als ihr historisches Vorbild gelten können, auch wenn sie nicht unverändert in die
organismische Philosophie eingegangen sind. Das zeigt sich vor allem in ihrer Ausgestaltung als
„Potenziale“, die ihren ontologischen Status veranschaulicht. Wirklich sind nicht die allgemeinen
Ideen und Begriffe, sondern die Ereignisse, was Whitehead wie folgt resümiert: „Mit dieser
Anerkennung des göttlichen Elements bleibt Aristoteles’ allgemeines Prinzip gewahrt, dass es
abgesehen von wirklichen Dingen nichts gibt – nichts, weder als Tatsache noch als
Wirkungskraft.“110 Jede Aussage über die in der Welt verwirklichte Rationalität muss sich also
konstitutiv auf die Erfahrung berufen; Metakritik, das heißt theoretische Kritik an Theorien,
sollte
stets
dessen
eingedenk
bleiben,
dass
sie
sich
in
ihrer
Abhängigkeit
von
Erfahrungsprozessen nur auf den Bereich des Möglichen und nicht des Wirklichen bezieht.
Allerdings darf man nicht vergessen, dass sich auch Theorien verwirklichen, dass sie Gegenstand
unendlich vieler Erfahrungsprozesse werden und dass ihre Strukturen sich zum Beispiel in
gesellschaftlichen Institutionen verfestigen können. Keineswegs hat Whitehead dieses Problem
übersehen, sondern es bildet einen wichtigen Anlass und Impuls seiner eigenen
Denkanstrengung.111 Zunächst einmal sind Theorien keine bloßen Metastrukturen, sondern
gehören direkt der Welt an.112 Das hat weit reichende Konsequenzen und vor allem die, dass
Theorien den Strukturen der Ereignisse entsprechen, die ihre logischen Subjekte bilden.
Allerdings sind Theorien selbst keine Ereignisse und daher ebenso wenig wirklich wie die ewigen
Objekte.
113
In ihnen spiegeln sich die von den Ereignissen verwirklichten rationalen Strukturen
als historische Möglichkeiten wider.
Diesen historischen Charakter der Rationalität spricht Whitehead an, wenn er den
Wirklichkeitsbegriff als grundlegend für die Theoriebildung darstellt. Die strukturierte Welt der
Whitehead, Denkweisen, S. 216 f.
Whitehead, Prozess und Realität, S. 350 f. Siehe dazu Sherburne, A Key to Whitehead’s Process and Reality, S. 59 ff.
109 Im Original „eternal objects“, siehe Prozess und Realität, S. 63, die fünfte Kategorie der Existenz.
110 Op. cit., S. 93.
111 Vgl. dazu Jung (wie Fn. 54), S. 427.
112 Dazu Whitehead: „Dem ontologischen Prinzip zufolge muss jede Aussage irgendwo sein. Der ,geometrische Ort’
einer Aussage besteht aus denjenigen wirklichen Ereignissen, deren wirkliche Welten die logischen Subjekte der
Aussage enthalten“, Prozess und Realität, S. 347.
113 Op. cit., S. 60.
107
108
30
Erfahrung ist wirklich und erzeugt in ihrer Wirklichkeit das hier in Frage stehende Moment des
Rationalen. Allerdings ist ihre Rationalität nicht vorab verbürgt, sondern muss sich in jeder
einzelnen Erfahrung verwirklichen, kann indes auch in jeder einzelnen zusammenbrechen.
Rationalität und System
Der Beschuss, unter dem im kritischen Nachkriegsdeutschland philosophische Systeme als solche
stehen, lässt es fast abwegig erscheinen, einen Denker ernsthaft in Erwägung zu ziehen, der nicht
vor dem Anachronismus zurückschreckte, im 20. Jahrhundert noch ein förmliches
Begriffsschema sogar mit Kategorientafeln vorzulegen.114 Gilt doch das System als Prototyp der
willkürlichen Konstruktion von Einheit und der Vergewaltigung des Einzelnen, kurz, als Folie
der Disziplinierung. Allerdings fällt es schwer, diese Vorwürfe bei Whitehead einleuchtend zu
verifizieren, da er mit seinem Ansatz, wie dargelegt, emanzipatorische, demokratische, ja
freiheitliche Ziele verfolgt und es nicht so scheint, als wolle er, gleichsam als Wolf im Schafspelz,
im Namen des Guten das Böse einführen.
Whitehead selbst nennt als ersten Grund für die systematische Ausgestaltung seiner Kosmologie,
dass die prägenden Vorurteile einer Zeit immer als schematisches System auftreten,115 so dass man
die Struktur einer Epoche genauso gut durch die ihr unbemerkt zugrunde liegenden Denkmuster
charakterisieren könnte wie durch die bewusst formulierten Weltenwürfe.
„Es wird immer einige Grundannahmen geben, die von den Anhängern aller abweichenden Systeme innerhalb der
Epoche unbewusst vorausgesetzt werden. Solche Annahmen erscheinen als so offensichtlich, dass die Menschen
nicht wissen, was sie annehmen, weil ihnen noch nie eine andere Weise, die Dinge auszudrücken, auch nur in den
Sinn gekommen ist. Aufgrund dieser Annahmen ist eine begrenzte Anzahl von Typen philosophischer Systeme
möglich, und diese Systemgruppe begründet die Philosophie der Epoche.“ 116
Der hier zuletzt angesprochene Epochenbegriff korrespondiert direkt dem des Systems, das ja
stets anstrebt, die Rationalität oder Irrationalität einer Epoche in Kategorien zu fassen, um die
gemeinsame Grundlage von Erfahrungen und Theorien, aber auch des Ausdrucksbedürfnisses
der Kunst darzustellen – allerdings nicht, um sie zu konservieren und gegen historische
Tendenzen abzuschotten, sondern um die so aufgezeigten Grundstrukturen kritisieren und damit
Siehe dazu etwa das Urteil Adornos: „System ist die negative Objektivität, nicht das positive Subjekt“, Negative
Dialektik, S. 29 und 33.
115 Vgl. das dritte Motiv im Vorwort zu Prozess und Realität, „dass alles konstruktive Nachdenken über die
verschiedenen Spezialthemen von wissenschaftlichem Interesse einem solchen Schema unterliegt, das zwar
unerkannt bleiben mag, aber deshalb unsere Vorstellungen nicht weniger nachhaltig prägt. Die Bedeutung der
Philosophie liegt in der nicht nachlassenden Anstrengung, solche Schemata sichtbar und sie dadurch der Kritik und
der Revision zugänglich zu machen“, S. 26 f.
116 Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S. 63 f.
114
31
überwinden zu können.117 Genau deshalb sah Whitehead den höchsten Triumph darin, von der
Geschichte selbst, also durch epocheüberschreitende Einsichten, widerlegt zu werden.118 Dieser
freiheitliche Impuls weist gewisse Parallelen zum Werk von Karl Marx auf, das die Grundstruktur
der kapitalistischen Epoche theoretisch erfassen sollte, um Wege zu ihrer Überwindung
aufweisen zu können. Hier endet aber auch schon die Gemeinsamkeit mit dem primär politisch
motivierten Denker, der die Welt – theoretisch zumindest – nicht nur interpretieren, sondern
verändern wollte: Whiteheads Philosophie geriet ja gerade deshalb in den Ideologieverdacht, weil
er in der systematischen Bestimmung der Rationalität seiner Epoche auf ökonomische Fragen
nur am Rande eingeht, Begriffe wie „Ware“, „Kapital“, „Tauschwert“ oder „Klassenbewusstsein“
ganz außer Acht lässt. Nicht einmal das handelnde Subjekt spielt in dieser Struktur eine tragende
Rolle. Vielmehr zeichnet Whitehead in Prozess und Realität das Bild einer atomistischen,
„elektromagnetischen“
Epoche,
deren
Rationalität
eine
Synthese
geistes-
und
naturwissenschaftlicher Konzepte erfordert, um die Widersprüchlichkeit ihrer Erfahrungen zu
beschreiben, ohne dass sie jedoch den Menschen als das Maß aller Dinge voraussetzen würden.
Demgegenüber ist die Perspektive verschoben, zumal sie nicht die Terminologie der ersten und
zweiten Natur aufgreift, sondern die Natur ebenso wie die Kultur historisch betrachtet.119 Ist die
„Gabelung der Natur“ (bifurcation of nature) erst einmal theoretisch überwunden, so kann der
Mensch nicht länger das Privileg für sich in Anspruch nehmen, als Subjekt ein einzigartiges
geschichtlich bestimmtes Wesen zu sein. Also hat die universelle Epochenstruktur auch die
Rationalität der Natur in sich aufgenommen, bleibt sie uns nicht als eine zugrunde liegende
Garantie erhalten, zu der wir, wenn erst die Kindheitsjahre der Zivilisation hinter uns liegen,
getrost zurückkehren könnten.120
Damit zeichnet sich ab, dass Whiteheads System strukturell nichts anderes ist als die theoretische
Ausgestaltung des Verhältnisses von Rationalität und Epoche.121 Doch geht es ihm gewiss nicht
darum, eine eingespielte Rationalität um des pragmatischen Aspekts der Kommunizierbarkeit
willen als festen Bezugsrahmen anzuerkennen. Vielmehr liegt es im Wesen der Erfahrung,
gegebene Strukturen zu überschreiten und hinter ihrer Bekanntheit das Fremde zu erkennen. Die
durchaus im Zentrum der Whiteheadschen Kosmologie stehende Forderung nach neuen
Perspektiven lässt aber, trotz ihres freiheitlichen Impulses und ihres Widerspruchsgeistes eine
Whitehead, Prozess und Realität, S. 26.
Essays in Science and Philosophy, S. 87.
119 „Natur selbst wird, das ist ein Kernstück von Prozess und Realität, nach dem historischen Modell gedacht“, Jung,
„Ivor Leclerc: Whitehead’s Metaphysics“, S. 186.
120 Das Bild stammt aus H. Hermanns Kant-Exegese: „Obgleich Kant systematisch am überkommenen
Vernunftbegriff festhält, der sie als intellectus ectypus mit der göttlichen (intellectus archetypus) zusammensieht, also jeder
Zeit enthoben, kommt ihm der Gedanke, dass die Vernunft selbst geschichtlich sei, mit einem Kindesalter
beginnend, wachsend in der Pubertät, reifend zum Mannesalter“, wie Fn. 50, S. 463.
121 Vgl. Whitehead, Prozess und Realität, S. 167 f.
117
118
32
Frage unbeantwortet: Wo findet der Einzelne seinen Platz im System? Die Antwort lautet
nirgends. Das System erfasst lediglich, die abstrakte Struktur seiner Erfahrungen, und diese gilt es
immer wieder neu zu überwinden.122
Atomismus und Kontinuität. Logik und Dialektik
Whitehead betrachtet Logik und Dialektik so wenig als miteinander konkurrierende
Denkmethoden wie er in seinem System ein atomistisches Weltmodell dem kontinuierlichen
Fließen der Dinge gegenüberstellt. Vielmehr geht es ihm darum, sowohl der epochal bestimmten
Struktur der Erfahrungen als auch den wissenschaftlichen Erkenntnissen gerecht zu werden, die
sich beide nicht auf einen starren Rahmen reduzieren lassen:
„In jeder philosophischen Theorie gibt es etwas Substanzielles, das vermöge seiner Akzidenzien wirklich ist. Insofern
ist es allein durch seine akzidentellen Verkörperungen charakterisiert, und abgesehen von diesen Akzidenzien kommt
ihm keine Wirklichkeit zu. In der organismischen Philosophie heißt dieses Substanzielle ,Kreativität’. […] In
gewissen Traditionen gilt das Prozessuale als substanziell, in anderen dagegen die schiere Faktizität.“ 123
Demnach muss man vor allem strukturierte Prozesse von sich fortwährend weiterentwickelnden
Strukturen unterscheiden, und diesen beiden grundlegenden Aspekten trägt Whitehead mit seiner
Kategorie der wirklichen Entität Rechnung.124 Abstrahiert man vom Zeitverlauf, den die Ereignisse selbst konstituieren, so bleibt eine atomistische Struktur, in der sie keinen Einfluss aufeinander
nehmen können.125 Sieht man dagegen von der räumlichen Ausgedehntheit ab, so ergibt sich ein
Prozess des Übergehens respektive der „Objektivierung“ von Ereignissen ineinander.126 Wie jene
frühen Modelle, die Whitehead als Vorlage dienten, der logische Atomismus Demokrits und das
von Heraklit postulierte Fließen aller Dinge, keine konkretistischen Weltbilder oder ontologisch
verfestigte Metarealitäten darstellen, sondern derlei eher kritisieren sollten, so findet die Frage, ob
es solche Ereignisse wirklich gibt, auch nur eine plausible Antwort: Wirklich zu sein bedeutet, eine
wirkliche Entität zu sein oder, als Seinsgründe kommen ausschließlich wirkliche Entitäten in
Betracht. „Aus dem ontologischen Prinzip folgt, dass wirkliche Entitäten die einzigen Gründe
sind, weshalb die Suche nach einem Grund immer nach mindestens einer wirklichen Entität
Ausschau halten muss.“127
Op. cit., S. 32.
Op. cit., S. 38.
124 „Wie eine wirkliche Entität wird, begründet, was diese wirkliche Entität ist, so dass die beiden Beschreibungen einer
wirklichen Entität nicht voneinander unabhängig sind. Ihr ,Werden’ liegt ihrem ,Sein’ zugrunde. Das ist das ,Prinzip
des Prozesses’“, op. cit., S. 66.
125 Jung (wie Fn. 54), S. 422.
126 Sherburne (wie Fn. 108), S. 8.
127 Whitehead, Prozess und Realität, S. 68.
122
123
33
Nun gilt es, die Bedeutung von Logik und Dialektik für dieses Modell des Ereignisses zu
untersuchen. Indem Whitehead, wie oben zitiert, ausdrücklich Demut vor der Logik fordert,
provoziert er zunächst einmal die Frage, auf welche Logik sich das beziehen soll. Nach seiner
Kritik an der aristotelischen Substanz-Akzidenz-Metaphysik kann die auf der Subjekt-PrädikatForm der Aussage beruhende klassische Logik damit kaum gemeint sein.128 Vielmehr steht der
Syllogismus im Verdacht, die Wahrheit eher zu vernebeln, da man in ihm stets einer
qualitätslosen Substanz eine substanzlose Qualität zuordnet, womit das Ergebnis des Schlusses
prinzipiell bereits in der Prämisse angelegt war.129 Begreift man die aristotelische Logik aber als
immanente Analyse des Substanz-Akzidenz-Modells, so legt sie dessen Grundfigur offen, die
Relation von Identität und Widerspruch. Und indem sie sich vom Widerspruchssatz gleichsam
abstößt, nimmt sie diesen als wesentliches Element in sich auf. So wird entweder
zusammengeführt, was ohnehin zusammengehörte, oder das Denken gerät in Widerstreit mit der
Erfahrung.130 Demnach lässt sich die aristotelische Logik als Analyse des im Begriff verfestigten
Erfahrungsgehalts lesen, gleichzeitig jedoch auch als Synthese, da sie Begriff und Erfahrung
untrennbar miteinander verbindet.
Hegel legte bereits die Lunte an die aristotelische Logik, als er sie in dem Sinne deutete, dass es
dem Denken obliege, die dort bereits angelegte Identität von Identität und Nichtidentität zu explizieren:
„Die Analyse des Anfangs gäbe somit den Begriff der Einheit des Seins und des Nichtseins – oder, in reflektierterer
Form, der Einheit des Unterschieden- und des Nichtunterschiedenseins – oder der Identität und Nichtidentität.
Dieser Begriff könnte als die erste, reinste, d. i. abstrakteste Definition des Absoluten angesehen werden, – wie er
dies in der Tat sein würde, wenn es überhaupt um die Form von Definitionen und um den Namen des Absoluten zu
tun wäre.“131
Allerdings bleibt seine Logik insofern der Metaphysik des Subjekt-Objekt-Denkens verhaftet, als
sie die Überwindung des Syllogismus lediglich aus der begrifflichen Analyse seiner ontologischen
Grundlagen und insbesondere der Identität von Sein und Nichtsein ableitet.
Adorno charakterisiert die damit angesprochene Konstellation in epistemologischer Hinsicht wie
folgt:
„Die statische Zerlegung der Erkenntnis in Subjekt und Objekt, die der heute akzeptierten Wissenschaftslogik fast
selbstverständlich dünkt; jene Residualtheorie der Wahrheit, derzufolge objektiv ist, was nach der Durchstreichung
Op. cit., S. 24.
Vgl. dazu Hegel, Logik, Bd. 1, S. 49.
130 Vgl. Aristoteles, Texte zur Logik, S. 21.
131 Hegel, Logik, Bd. 1, S. 74.
128
129
34
der so genannten subjektiven Faktoren übrig bleibt, wird von der Hegelschen Kritik ins leere Zentrum getroffen;
darum so tödlich, weil er ihr keine irrationale Einheit von Subjekt und Objekt entgegensetzt, sondern die je
voneinander unterschiedenen Momente des Subjektiven und Objektiven festhält und doch wiederum als
durcheinander vermittelte begreift.“132
Eine derartige Einheitskonzeption lehnt Whitehead nicht etwas deshalb ab, weil sie seiner
Theoriebildung gänzlich fremd wäre,133 sondern weil sie ontologische Voraussetzungen in
Anspruch nimmt, die nur im Rahmen des Subjekt-Objekt-Modells einen Sinn ergeben.134 Da aber
bei ihm das Ereignis selbst das logische Subjekt seiner Erfahrungsprozesse ist, muss seine
wirkliche Welt immer schon darin präsent sein, obwohl es diese doch erst konstituiert. 135 In dem
Maße, wie die Strukturen dieser wirklichen Welt eine bestimmte Eigenlogik entfalten, kann man
sie auch nach sachlogischen Kriterien erforschen.136 Demnach geht Whitehead nicht mit einem
vorgefertigten analytischen Instrument an die logische Untersuchung, sondern baut darauf, dass
die erfahrene Welt eine logische Struktur hat, deren Kohärenz es zu entfalten gilt. Da die Logik
keine nachträglich mit der Realität zu vereinbarende „Denkmethode“ ist, erschließt sich ihre
Struktur in einem Prozess der Herausbildung von Selbstevidenz.
„Kommen wir nun zum Konzept des ,Beweises’. Aus meiner Sicht ist ,Beweis’, im strengen Sinne verstanden, ein
eher schwaches, zweitrangiges Verfahren. Deshalb denkt man bei dem Wort ,Beweis’ sofort an ,Halbherzigkeit’.
Solange ein Beweis keine Selbstevidenz erzeugt und sich dadurch überflüssig gemacht hat, bringt er einen
zweitrangigen Geisteszustand hervor und gebiert einen verständnislosen Aktivismus. Alle Größe basiert letzten
Endes auf Selbstevidenz, doch trifft es zu, dass auch ,Beweise’ oft zur Selbstevidenz führen können.
Um ein Beispiel zu nennen, sollten Beweise gerade im philosophischen Schrifttum auf ein Mindestmaß beschränkt
bleiben. In erster Linie muss es darum gehen, die Selbstevidenz der Grundwahrheiten über die Natur der Dinge und
ihr verbindendes Muster zu entfalten. Angemerkt sei, dass logische Beweise stets von Prämissen ausgehen, die
wiederum auf Evidenz basieren. Logik, oder zumindest die Annahme, dass sie eine wichtige Rolle spielt, setzt also
Evidenz voraus.“137
Freilich darf man logische Strukturen nicht mit Strukturen überhaupt verwechseln. Wie die
Operation des Shefferstrichs oder Spencer-Browns Formgesetze zeigen, kommen logische
Folgerungen dadurch zustande, dass sich beliebige Strukturen vollständig ausprägen und so die
Möglichkeiten dessen vorgeben, was sich in der Welt gemeinsam verwirklichen kann. Insofern ist
„Logik die allgemeine Analyse der inneren Folgerichtigkeit“.138 Doch auch dabei handelt es sich
Adorno, Drei Studien zu Hegel, S. 256.
Vgl. dazu Jung (wie Fn. 119), S. 186.
134 Vgl. dazu Whitehead, Denkweisen, S. 132 f.
135 Näheres dazu in Whitehead, Prozess und Realität, S. 64 f.
136 Wie Whitehead in Denkweisen (S. 57 f.) zeigt.
137 Whitehead, Denkweisen, S. 57 f.
138 Whitehead, Prozess und Realität, S. 71.
132
133
35
nur um eine deskriptive Allgemeinheit, denn die Herausbildung von Strukturen, die den
bestehenden logischen Gesetzen widersprechen, würde diese zwangsläufig ablösen, ohne eine
Integration des bisher Gültigen zuzulassen.139 Kurz, Logik beschreibt die allgemeine Struktur
dessen, was in unserer Erfahrung als miteinander vereinbar zusammentreffen kann, ist aber
ihrerseits von der Struktur der jeweiligen Epoche und damit von der historischen Entwicklung
abhängig.140
Einerseits geht aber, wie oben gezeigt, Erfahrung keineswegs in den Strukturen ihrer wirklichen
Welt auf, da sie diese als ein neuerlicher Verwirklichungsprozess stets überschreitet; anderseits
erzeugt die vollständige Ausprägung einer Struktur etwas Neues, in dem sie über sich
hinauswächst und in ihrer Selbstvervollkommnung den Ablauf des Werdens qualitativ verändert.
141
In der Subjekt-Objekt-Metaphysik figuriert diese Dynamik als dialektische Bewegung des
Begriffs,142 und sie erwächst – nicht erst seit Hegel – aus der Differenz zwischen Begriff und
Realität,143 also daraus, dass der Begriff immer hinter dem von ihm Anvisierten zurückbleibt.
Whitehead trifft in diesem Zusammenhang eine interessante Unterscheidung zwischen Realität
und Wirklichkeit, das heißt zwischen Strukturen und Prozessen. Wirklich im emphatischen Sinne
sind nur die Ereignisse, die für ihre Konkretisierung zwar Strukturen benötigen, das Strukturierte
aber auch stets überschreiten. Wirklichkeit ist nicht das Verwirklichte, sondern das sich
verwirklichende Ereignis.144 Dadurch stellt die Wirklichkeit sich aber nicht als „reines Fließen“
dar, denn das Ereignis erschafft und hat eine Eigenzeit, einen in ihm selbst liegenden Maßstab
von Gegenwart, was in höchster Abstraktion den Augenblick begründet. „Es gibt zwar ein Werden
der Kontinuität, aber keine Kontinuität des Werdens. Die wirklichen Ereignisse sind die
werdenden Geschöpfe und begründen eine kontinuierlich ausgedehnte Welt. Anders gesagt,
Ausgedehntheit wird, aber ,Werden’ ist nicht selbst ausgedehnt.“145 Das Grundmodell für Statik
bildet also die Gleichzeitigkeit, die sich in den aus ihm hervorgehenden Ereignissen verwirklichte
Struktur des Gewordenen. Als Movens dieses Prozesses galt in der geistlosen, „unemanzipierten“
Natur der Klassik die Kausalität, und daraus folgte eine bis hin zur völligen Identität gehende
Abhängigkeit des Werdenden von der es tragenden Struktur.146 Daher ist es nur konsequent,
wenn Whitehead aus der Beobachtung, dass Ereignisse vorgegebene Strukturen überschreiten,
die Unzulänglichkeit dieser Abstraktion folgert. Um dem Selbsterschaffungsprozess des
Siehe Whitehead, Denkweisen, S. 64.
Whitehead, Prozess und Realität, S. 167 f.
141 „Kanonisch für Hegel ist Goethes Satz, alles in seiner Art Vollkommene weise über seine Art hinaus, wie er denn
mit Goethe weit mehr gemeinsam hat, als die Oberflächendifferenz der Lehre vom Urphänomen und der vom sich
selbst bewegenden Absoluten ahnen lässt“, Adorno, Drei Studien zu Hegel, S. 305.
142 Siehe dazu Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 57.
143 Siehe dazu Adorno, Negative Dialektik, S. 7.
144 Whitehead, Prozess und Realität, S. 94.
145 Op. cit., S. 87.
146 Siehe dazu Adorno, Negative Dialektik, S. 67.
139
140
36
Ereignisses, seiner Originalität, gerecht zu werden, ergänzt er einer langen Tradition folgend, die
rein mechanische Wirkursache um die Zweckursache.147 Diese erklärt das öffnende Moment des
Prozesses, mit dem er das Alte transzendiert und so auch Denkgewohnheiten verunsichert und
irritiert. Demgegenüber bleibt die Subjekt-Objekt-Dialektik allein der Bewegung des Begriffs
verhaftet und versucht, aus ihr eine notwendige historische Entwicklung abzuleiten, womit sie
dem Überraschenden historischer Prozesse, das in Whiteheads Kosmologie als „Abenteuer“148
offen bleibt, immer schon regulierend vorgreift. Whitehead dagegen versteht unter Dialektik die
Kreativität der Geschichte, nicht nur der Geistesgeschichte, sondern auch des Ganges der
Ereignisse und der durch sie verwirklichten Strukturen. Damit ist sie, ähnlich wie bei Platon,149
keine Denkmethode, sondern der Prozess des sich Konkretisierens von Wirklichkeiten. An
diesem Modell einer organischen Dialektik erkennt man, wie sich das denkende Subjekt, das einst
die Welt aus sich entließ,150 in eine universelle Pluralität vervielfältigt wurde: Überall im Kosmos
wimmelt es von final determinierten Prozessen, und jedes Ereignis bildet das Zentrum seiner
wirklichen Welt. Das ehemals souveräne Subjekt hat seine Hauptfunktionen – auch die als Motor
der Dialektik – ans Universum abgegeben und findet sich neben vielen anderen Zentren nur
noch als gleichberechtigt wieder.151
Wenn in Hegels Begriffsdialektik das Vermittlungsproblem zwischen dem erkennenden Subjekt
und der zu erkennenden Welt als Motor der Denkbewegung fungierte, so kommt die Vermittlung
in der organischen Dialektik Whiteheads zu sich, nimmt die Form eines Ineinander und einer
wechselseitigen Durchdringung von Gott und Welt an.152 „Gott erschafft die Welt nicht, er rettet
sie, oder genauer: Er ist der Poet der Welt, leitet sie mit zärtlicher Geduld durch seine Vision das
Wahren, Schönen und Guten.“153 Nach der Überwindung des Subjekts durch philosophische
Metareflexion verlagert sich auch die Ebene der Dialektik ins Kosmologische, auf die
wechselseitige Überschreitung und Vervollkommnung von Gott und Welt:
„Gegensätze ziehen sich an, um einander in ihrer Einheit zu hemmen oder zu kontrastieren. Gott und die Welt
bilden solche aufeinander angewiesenen Gegensätze. Gott ist die unendliche Grundlage aller Geistestätigkeit, die
nach physischer Vielheit strebende Einheit der Vision. Die Welt dagegen ist die Vielheit endlicher Dinge oder von
Wirklichkeiten auf der Suche nach vollkommener Einheit. Weder Gott noch die Welt erreicht je eine statische
Vollständigkeit. Beide unterliegen dem elementaren metaphysischen Grundprinzip, dem kreativen Fortschreiten ins
Vgl. dazu Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade, § 3, S. 5, und Whitehead, Prozess und Realität, S. 203.
„Es ist die Aufgabe der Zukunft, gefährlich zu sein; und es gehört zu den Verdiensten der Wissenschaft, dass sie
die Zukunft für ihre Aufgaben ausstattet“, Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S. 241.
149 Siehe dazu Whitehead, Prozess und Realität, S. 92.
150 Adorno, Drei Studien zu Hegel, S. 282.
151 Vgl. dazu Weber, „Le Madrépore“, S. 28 ff.
152 Näheres dazu bei Jung, „Zur Entwicklung von Whiteheads Gottesbegriff“, S. 606.
153 Whitehead, Prozess und Realität, S. 618.
147
148
37
Neue. Beide, Gott und die Welt, bilden füreinander das Vehikel des Neuen.“154
Wahrheit und Methode
Wenn sich im Lauf der Untersuchung gezeigt hat, welche entscheidenden Differenzen zwischen
begrifflicher und organischer Dialektik bestehen,155 so ist noch ein wichtiger Aspekt zu ergänzen.
Zwar betrachtet auch Whitehead die Sprache als das unerlässliche Handwerkszeug der
Philosophie,156 schenkt ihr aber kein ungebrochenes Vertrauen, was die zuverlässige
Formulierung von Theorien angeht,157 ja, er bezeichnet das „Vertrauen in die Sprache als
angemessener Ausdruck von Aussagen“ sogar als einen Grundirrtum.158 Oben wurde bereits
angedeutet, dass Aussagen in der organismischen Philosophie nicht der frei waltenden Kreativität
des autonomen Subjekts sind, sondern Ereignisstrukturen der wirklichen Welt entsprechen.159 Da
aber auch die Sprache selbst in hohem Maße strukturiert ist, muss man sich fragen, was die
qualitative Differenz zwischen Sprach- und Realitätsstruktur begründet, die Whitehead zu seinem
Misstrauen gegenüber den Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks veranlasst. Zunächst
möchte ich daran erinnern, dass in die Erfahrung auch sprachliche Strukturen einfließen, ohne
dass sie jedoch vollständig strukturiert wäre. Insofern können Erfahrungsprozesse sprachlich
vermittelt, jedoch nicht selbst rein sprachlicher Natur sein.160 Wie Whitehead es ausdrückt: „Eine
Aussage ist ein Anreiz für das Empfinden.“161 Deshalb spielt die logische Analyse von Aussagen
in seiner Konzeption nur eine untergeordnete Rolle: „Leider hat man Theorien unter der
Bezeichnung ,Aussagen’ den Logikern überlassen, die den Grundsatz verfochten, dass ihre
alleinige Funktion darin besteht, als wahr respektive falsch beurteilt zu werden.“162
Hier drängt sich ein Vergleich mit der „Philosophischen Grammatik“ Wittgensteins auf,163 zumal
Whiteheads Annahme, dass Aussagen nur durch Rückgriff auf einen systematischen Hintergrund
der wirklichen Welt verständlich sind, dieser durchaus nahe kommt.164 In diesem Zusammenhang
spielt die Kluft zwischen Sprach- und Realitätsstruktur eine wichtige Rolle, die Whitehead, ganz
Op. cit., S. 622 f. Vgl. im Einzelnen auch die Dissertation von L. Herd, wie Fn. 45.
Siehe Whitehead, Prozess und Realität, S. 46, und Ritchie, „Whitehead’s Defence of Speculative Reason“, S. 339.
156 „Jede Wissenschaft muss ihr Instrumentarium selbst gestalten, und das Werkzeug der Philosophie ist die
Sprache“, Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S. 45.
157 „Gewiss ist die allgemeine Übereinkunft der Menschheit bezüglich der Erfahrungstatsachen am besten sprachlich
auszudrücken, doch scheitert die Sprache der Literatur genau an der Aufgabe, die allgemeineren Prinzipien, um die es
in der Metaphysik geht, klar zu formulierren“, ibid.
158 Op. cit., S. 24.
159 Op. cit., S. 347 f.
160 Op. cit., S. 63 f.
161 Op. cit., S. 344.
162 Ibid.
163 Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 24.
164 „Die Sprache ist durch und durch unbestimmt, da jedes Vorkommnis irgendeine Art von systematischer
Umgebung voraussetzt“, Whitehead, Prozess und Realität, S. 47.
154
155
38
im Sinne von de Saussures Begriffspaar „Signifikant und Signifikat“,165 durch eine symbolische
Vermittlung überbrücken will.166 Allerdings stellt sich der Vermittlungsprozess in der
organismischen Kosmologie etwas komplizierter dar als in der strukturalen Linguistik, denn er
bezieht sich auf zwei aus der Symbolrelation abstrahierte reine Formen des Erfassens: die zeitlose
sich darbietende Unmittelbarkeit, in der sich die wirkliche Welt als strukturierte Gleichzeitigkeit
präsentiert,167 und die Kausalität, in der es um die zeitlichen ursächlichen Einflüsse des
Strukturierten auf das Ereignis geht.168 Gerade wenn die Vermittlung funktioniert, fällt es schwer,
sich diese beiden Abstraktionen als voneinander getrennte vorzustellen. Allerdings kann sie in
vielerlei Hinsicht scheitern. Wenn uns zum Beispiel das richtige Wort für eine Sache fehlt,
vermögen wir sie kaum von ihrer Umgebung abzugrenzen, und gelingt es auch nicht, ihre
konkrete
Einwirkung
auf
unseren
Sinnesapparat
zu
bestimmen.
Ferner
kann
es
Fehlbezeichnungen geben, etwa wenn wir etwas Graues sehen und es für ein Tuch halten, bis die
nähere Untersuchung ergibt, dass es ein Stein ist. Symbolische Vermittlung bürgt also für die
Möglichkeit des Irrtums.
„Die späteren Phasen zeichnen sich durch ihr neues Element schöpferischer Freiheit aus. Während also die beiden
reinen Wahrnehmungsweisen keinen Irrtum zulassen, bringt die symbolische Vermittlung ihn ins Spiel. Im Rahmen
der menschlichen Erfahrung bedeutet ,Wahrnehmung’ fast immer ,Wahrnehmung in der Mischform der
symbolischen Vermittlung’.“169
Entscheidend ist hier, dass Sprache zwischen den Realitätsstrukturen und ihren Einwirkungen auf
die Erfahrung vermittelt, also zwangsläufig Rationales mit Irrationalem in sich vereint, was es zumindest verbietet, von der Sprache als einem geschlossenen System zu sprechen. Wenn ein Teil
der zeitgenössischen Philosophie die Sprache zum non plus ultra erklärt,170 so schießt sie weit über
Whiteheads organismischen Ansatz hinaus und könnte ihn sogar in gewisser Weise widerlegen:
Wenn
man
nämlich
die
vollständige
Objektivierung
des
subjektiven
Ziels
von
Erfahrungsprozessen in der Sprachstruktur anstrebt, so ist das Ergebnis eine Konstellation, die
Whitehead allenfalls hätte befürchten können: die Identität von Ereignis und Struktur.171
Nach alledem verwundert es nicht, dass Wahrheit aus Whiteheads Sicht in erster Linie
pragmatische Bedeutung hat.172 Da es in diesem Zusammenhang nicht um kritische Reflexion
Dazu Schiwy, Der französische Strukturalismus, S. 39.
Vgl. Prozess und Realität, S. 314 ff.
167 Ibid.
168 Ibid.
169 Op. cit., S. 315.
170 Vgl. etwa Habermas, „Zu Gadamers Wahrheit und Methode“, S. 52.
171 Ähnlich argumentiert auch M. Foucault in Von der Subversion des Wissens, S. 23.
172 „Die menschliche Erfahrung ist so weitgehend durch symbolische Vermittlung geprägt, dass es kaum übertrieben
wäre, die eigentliche Bedeutung der Wahrheit im Pragmatischen zu sehen“, Whitehead, Prozess und Realität, S. 338.
165
166
39
geht, liegt der Akzent auf der Übereinstimmung von Aussage und Struktur.173 Streng genommen
ist Wahrheit nicht objektiv, sondern nur real.
„Die Wahrheit ist etwas, wodurch nur das Erscheinende qualifiziert werden kann. Die Wirklichkeit ist nichts weiter
als wirklich; und es wäre Unsinn zu fragen, ob sie wahr oder falsch ist. Wahrheit ist die Übereinstimmung
(confirmation) des Erscheinenden mit der Wirklichkeit.“ 174
Freilich ist auch dies wiederum eine Folge der Strategie, bei der Erfahrung und nicht beim Begriff
anzusetzen, womit es sich verbietet, aus der Reflexion eine objektive, den Erfahrungshorizont der
jeweiligen Epoche überschreitende Wahrheit abzuleiten. Dies hat viel weitere Konsequenzen, als
man unmittelbar vermuten würde. Auf einen zentralen Begriff der von Marx beeinflussten
kritischen Theorie bezogen heißt es, dass „Ideologie“ in Whiteheads System keine Rolle spielen
kann. Zwar lässt sich darin unterscheiden, ob Aussagen in Einklang mit der Struktur stehen, in
der sie sich verwirklichen, doch kann man jenseits dieser Differenz unmöglich von richtigem
oder notwendig falschem Bewusstsein sprechen.175 Die nähere Analyse belehrt uns lediglich über
die Angepasstheit oder Nichtangepasstheit von Aussagen an Realitätsstrukturen. Doch an dieser
Stelle kommt noch eine wichtige Wertung ins Spiel: Whitehead zufolge sind wahre Aussagen
meistens uninteressant. Sie dienen hauptsächlich dazu, Strukturen zu sichern und zu
vervollständigen, und können durch beständige Wiederholung den Zerfall überlebter Ordnungen
beschleunigen.
„Das Wesen der Vernunft in ihren einfachsten Formen liegt darin, das Aufblitzen von Neuem zu beurteilen, also des
Neuen in seiner unmittelbaren Verwirklichung und des Neuen, das schon Bestrebungen, aber noch kein Handeln
inspiriert. Im gefestigten Leben hat Vernunft keinen Raum. Die gesamte Methodologie ist von einer Methode der
Erneuerung zu einer solchen der Wiederholung verkümmert.“ 176
Im Übrigen spielen sie für den Fortschritt keine Rolle, und insofern liegt die motivierende
Aufgabe, unser Interesse zu wecken, in der Regel bei falschen Aussagen.177
Kritik und Krise
Wenn der logische Positivismus ein Schulbeispiel dafür bietet, wie lähmend es wirken kann, die
Op. cit., S. 347.
Whitehead, Abenteuer der Ideen, S. 423.
175 Vgl. Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit, S. 202.
176 Whitehead, Die Funktion der Vernunft, S. 11.
177 „Entscheidend kommt es nicht darauf an, ob Aussagen wahr, sondern ob sie interessant sind“, Whitehead,
Abenteuer der Ideen, S. 223.
173
174
40
Wahrheit lediglich im Sinne der Anpassung an Vorgegebenes aufzufassen,178 so setzt Whitehead
überdies noch den anderen Schwerpunkt, dass ihn wahre Theorien nicht einmal an erster Stelle
interessierten. Das mag auch seinem mathematischen Hintergrund geschuldet sein; doch wusste
er sich nicht nur Platons (fragmentarisch erhaltener) Altersvorlesung „Über das Gute“
verpflichtet, die einen engen Zusammenhang zwischen Mathematik und Ethik herstellte,179
sondern auch der Formulierung im Sophistes, wonach das Nichtsein eine Form des Seins ist.180 Im
gleichen Sinne, wie sich subjektives Bewusstsein aus der Negation oder der Ausblendung
entwickelt,181 lässt sich die Erfahrung nicht auf ihren positiven Aspekt reduzieren, Gegebenes in
sich aufzunehmen. Auf verfestigte Strukturen bezogen, löst jeder Irrtum, jedes Ausbrechen eine
Krise aus, die sich in der Verwirklichung des Ereignisses als ein „negatives Erfassen“ darstellt,
das bestimmte Elemente aus dem Prozess fernhält.182 Diese Konzeption, die Whitehead an
anderer Stelle auch als „große Verweigerung“ bezeichnet hat,183 lieferte das Vorbild für Herbert
Marcuses gleichlautenden politischen Aufruf.184 Da jedoch die negative Variante des Erfassens
nur im Ereignis, das heißt nur in dessen Wirklichkeit eine Rolle spielt und sich jedenfalls nicht
institutionalisieren lässt (allerdings im besten Fall dazu beitragen kann, Institutionen zu
überwinden), kommt es in der Praxis viel mehr auf die „kleine Verweigerung“ an, die in gewisser
Hinsicht sogar größer ist. Wenn nämlich die „große Verweigerung“ für einen bewussten Protest
im Namen der politischen Vernunft steht, so bürgt die „kleine“ dafür, dass die alltäglichen
Erfahrungs- und Denkprozesse nicht darin aufgehen, verselbständigte Strukturen zu
reproduzieren. Damit führt sie unangepasste Verwirklichungsweisen ins Geschehen ein, und
deren Gewicht erhöht sich zunehmend durch „Wiederholung“.185 In der organismischen
Kosmologie steht Wiederholung für die Verwirklichungsweise, die Erfahrungsinhalte
vergleichbar und kommunizierbar macht und sie dadurch der Kritik aussetzt.
Dabei muss indes die wertende Seite der Kritik im Vordergrund stehen, die Frage nämlich, wie
sich das Neue vom „Immergleichen“186 unterscheidet und ob man bestimmte neue
Entwicklungen fördern soll oder nicht. Da Whiteheads Wahrheitsbegriff ganz auf dem
pragmatischen Modell der Anpassung basiert, bietet er keine Handhabe für die Bewertung
Auch Whitehead selbst moniert die Sterilität eines übermäßigen Reduktionismus: „Nichts veranschaulicht besser
die in Fachdisziplinen lauernde Gefahr als die Konfusion, die dadurch entsteht, dass man sich bei Aussagen allein auf
die theoretischen Analysen von Logikern verlässt“, Abenteuer der Ideen, S. 231.
179 Siehe dazu Whitehead, „Die Mathematik und das Gute“, S. 69 ff.
180 Platon, Sophistes, Rdnr. 258d.
181 „Bewusstsein ist das Empfinden der Negation“, Whitehead, Prozess und Realität, S. 350.
182 Op. cit., S. 66, siehe dazu auch Jung (wie Fn. 119), S. 202 ff.
183 Wissenschaft und moderne Welt, S. 113 und 185.
184 Siehe Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 84.
185 „In der organismischen Philosophie spielt Wiederholung (repetition) eine grundlegende Rolle“, Whitehead, Prozess
und Realität, S. 257.
186 Diesen Begriff verwendet Adorno in Zu Subjekt und Objekt, S. 170.
178
41
neuartiger Erfahrungen, sondern hilft lediglich zu beurteilen, ob Prozesse gegebene Strukturen
nur reproduzieren oder sie überschreiten.187 Angesichts von Whiteheads Ziel, die
wissenschaftliche Arbeitsteilung in seiner Kosmologie aufzuheben, erscheint es nur konsequent,
dass er auch die philosophische Spartenbildung nicht kritiklos übernahm. Zwar folgt daraus keine
direkte Identifikation des Wahren mit dem Schönen und Guten, wohl aber, dass Epistemologie,
Ethik und Ästhetik nicht als Überbau der Wirklichkeit gelten, sondern lediglich deren Strukturen
und Relationen beschreiben.188 Diese sehr an Platons Altersvorlesung über die Mathematik und
das Gute erinnernde Auffassung führt zwangsläufig dazu, das kritische Urteil auch in der Ästhetik
zu verankern, was gar nicht so weit von der kritischen Theorie Adornos entfernt zu sein
scheint.189 „Es geht darum, neue Gewohnheiten des ästhetischen Wahrnehmung auszubilden“,190
das heißt, wir müssen im Umgang mit den Realitätsstrukturen deren künstlerischen und kreativen
Wert schätzen und genießen lernen.191 Da diese Wahrnehmungsweise auch strukturelle
Verwerfungen
betrifft,
enthält
Whiteheads
Kosmologie
latent
eine
brisante
Marginalisierungstheorie, in der die Randbereiche von (gesellschaftlichen) Strukturen als
akzentuierteste Ausprägung ihrer Gestaltungsprinzipien erscheinen. Derart wird es möglich,
kritisch zwischen der Selbstmanifestation von Strukturen in ihnen angepassten Erfahrungen und
ihrem
zerstörerischen
Ausschlusspotenzial
zu
unterscheiden.192
Falls
die
ästhetische
Wahrnehmungsweise, die man einüben, aber nicht forcieren kann, nicht durch die
allgegenwärtigen Medien immer weiter untergraben wird, kann sie in hohem Maße dazu
beitragen, das Triviale vom Interessanten und das lähmende Alte vom öffnenden Neuen zu
unterscheiden. Allerdings können wir Whitehead zufolge über eines nie Gewissheit erlangen:
Welche Art von Rationalität sich im Umkreis des verwirklichten Neuen herausbilden wird. Doch
„sollten wir sogar schon zufrieden sein, wenn etwas kurios genug ist, um unser Interesse zu wecken. Die moderne
Wissenschaft hat der Menschheit die Notwendigkeit des Wanderns auferlegt. Ihr fortschreitendes Denken und ihre
fortschreitende Technik machen den zeitlichen Übergang von Generation zu Generation zu einer Wanderschaft in
unbekannte, abenteuerliche Gewässer. Der Segen des Wanderns liegt gerade darin, dass es gefährlich ist und
Fertigkeiten verlangt, um Übel abzuwehren. Daher müssen wir uns darauf einstellen, dass die Zukunft Gefahren mit
sich bringen wird.“193
„Was als gut und was als schlecht gilt, hängt also davon ab, unter welchen Bedingungen sich Schemata
durchsetzen, wobei Whitehead diese Schemata übrigens in quasi psychologischer Form konzipiert, was allerdings
kaum überrascht, wenn man seine frühere Metaphysik kennt“, Cesselin (wie Fn. 65), S. 186.
188 Whitehead, Denkweisen, S. 143.
189 Siehe dazu Habermas, „Ein philosophierender Intellektueller“, S. 42.
190 Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S. 231.
191 Andernorts postuliert Whitehead sogar: „Die Natur wird durch die Kunst erzogen“, Abenteuer der Ideen, S. 472.
192 Ein solches Modell findet sich bei Richter, Lernziel Solidarität, S. 229.
193 Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S. 241.
187
42
Rationalität und Wahnsinn
In der bisherigen Untersuchung stellte sich Whiteheads Philosophie als ein offener Realismus dar,
der seine Rationalität nicht aus der Subjekt-Objekt-Struktur der Erkenntnis gewinnt, sondern aus
einem göttlichen Prinzip der Begrenzung, das Ordnung gewährleistet, ohne sie jedoch rational erklären oder begründen zu können. Seit der neuzeitliche Rationalismus aufkam, hat er seinen
Vernunftmaßstab stets in der Abgrenzung vom Wahnsinn gesucht und behauptet.194 Daher
erscheint es notwendig und legitim, Whiteheads experimentellen Rationalismus195 auf seine
inneren Kriterien und Grenzen hin zu untersuchen. Allerdings kann man sich dabei nicht auf die
einfache Differenz zwischen geordneter Denkstruktur und chaotischem Wahnsinn stützen, zumal
Foucault gezeigt hat, dass der jeweils in einem Zeitalter als „Wahnsinn“ ausgegrenzte
Geisteszustand durchaus strukturiert und keine bloße „Nichtidentität“ ist.196
„Die psychologischen Dimensionen des Wahnsinns können somit nicht von einem ihnen äußerlichen Erklärungsoder Reduktionsprinzip zurückgedrängt werden. Sondern sie sind anzusetzen in dem allgemeinen Verhältnis, das vor
fast zweihundert Jahren der Mensch des Okzidents zu sich selbst hergestellt hat. Dieses Verhältnis ist, vom
spitzesten Winkel aus gesehen, eben die Psychologie, in die er ein wenig von seinem Staunen, viel von seinem Stolz
und das Wesentliche seiner Fähigkeit zu vergessen gelegt hat; unter weiter geöffnetem Winkel ist es das Hervortreten
– in den Formen des Wissens – eines homo psychologicus, dem es aufgegeben ist, die innere fleischlose, ironische und
positive Wahrheit alles Selbstbewusstseins und aller möglichen Erkenntnis in sich zu versammeln; in der weitesten
Öffnung schließlich ist es dasjenige Verhältnis, durch welches der Mensch sein Verhältnis zur Wahrheit ersetzt hat,
indem er diese in das grundlegende Postulat entfremdete: Er selbst sei die Wahrheit der Wahrheit.“ 197
Foucaults Analyse lässt sich nicht auf eine strukturelle Analogie von Vernunft und Unvernunft
reduzieren. Vielmehr erscheint darin das Verhältnis zwischen Rationalität und Irrationalität als
konstitutiv für ihre klare Abgrenzung voneinander und damit letzten Endes als eine
wechselseitige Durchdringung, die es weder erlaubt, Rationalität rational zu begründen, noch
Irrationales als das gänzlich Andere in einem „Draußen“ anzusiedeln.
„Dieses Verhältnis, das jede mögliche Psychologie philosophisch begründet, konnte nur zu einer bestimmten Zeit in
der Geschichte unserer Kultur definiert werden: Zu der Zeit nämlich, als die große Konfrontation der Vernunft mit
der Unvernunft sich nicht länger in der Dimension der Freiheit abgespielt hat, als die Vernunft für den Menschen
„Die wirkliche Unterscheidung der Substanzen stößt den Wahnsinn in die dem Cogito äußerliche Finsternis. Er
wird – um einen Ausdruck aufzunehmen, den Foucault an anderer Stelle vorschlägt – im Inneren des Äußeren und
außerhalb des Inneren eingeschlossen. Er ist das Andere des Cogito. Ich kann nicht wahnsinnig sein, wenn ich denke
und klare und deutliche Vorstellungen habe“, Derrida, „Cogito und Geschichte des Wahnsinns“, S. 14.
195 Whitehead, Prozess und Realität, S. 42.
196 Vgl. M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, und ders. Psychologie und
Geisteskrankheit.
197 Foucault, Psychologie und Geisteskrankheit, S. 131.
194
43
aufgehört hat, eine Ethik zu sein, um statt dessen eine Natur zu werden. Damals ist der Wahnsinn die Natur der
Natur geworden, das heißt ein die Natur entfremdender und in ihrem Determinismus verkettender Prozess, während
gleichzeitig die Freiheit ebenfalls die Natur der Natur wurde, aber im Sinn einer heimlichen Seele, eines
unentfremdbaren Wesens der Natur. Und anstatt vor die große Wende des Irrsinns gestellt zu sein und in die
Dimension, die sie eröffnet, ist der Mensch auf der Ebene seines natürlichen Seins das eine und das andere geworden,
Wahnsinn und Freiheit, und hat kraft seines privilegierten Wesens für sich das Recht beansprucht, die Natur der
Natur und die Wahrheit der Wahrheit zu sein.“198
Was Foucault hier als Metamorphose der Vernunft von Ethik in Natur beschreibt, hatte ich oben
als Verselbständigung der im begrifflichen Denken vorangetriebenen Rationalität gegenüber dem
Subjekt gekennzeichnet. Die Umkehrung des Verhältnisses von Erkenntnissubjekt und Realitätsstruktur zieht nun auch Konsequenzen für dasjenige zwischen Rationalität und Wahnsinn nach
sich, schon weil die verselbständigte Struktur dem Subjekt keinen Ausweg lässt,199 so dass ihr die
hier untersuchte Relation von Vernunft und Unvernunft immanent sein muss. Demnach bildete
die Ordnung der Realitätsstrukturen die Grundlage sowohl der Rationalität als auch des
Wahnsinns, ohne dass man noch auf eine qualitative Bestimmung von Ordnung und Unordnung
rekurrieren könnte, um die mit dem „Chaos“200 konfrontierte Vernunft von diesem abzugrenzen
und als Maßstab zu rechtfertigen. Dass die Überwindung des Subjekts201 einen solchen Wandel
mit sich bringt, wird unter anderem durch den engen Zusammenhang zwischen Krankheit oder
Ichschwächung und tieferer Einsicht veranschaulicht,202 der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts
besonders in der Romanliteratur eindringlich beschrieben worden ist.203 Daher muss man sich näher auf diese historische Entwicklung einlassen und darf die Relevanz der Whiteheadschen
Philosophie nicht allein aus dem engeren fachlichen Kontext ableiten, um auch das mit
einzubeziehen, was sein System gleichsam als Zeitkolorit geprägt hat. Das verfälscht seinen
kosmologischen Ansatz nicht, der ja die wissenschaftliche Arbeitsteilung als borniert zurückweist
und mit der These, dass Aussagen (Theorien) Realitätsstrukturen abbilden, ausdrücklich dazu
aufruft, Theologie, Psychologie usw. als Reservoire struktureller Elemente mit in Betracht zu
ziehen.
Auf diese Weise kann man die Massenpsychologie Le Bons ebenso als Zeugnis für den
Zusammenbruch der Subjekt-Objekt-Strukturen ins Feld führen wie die Psychoanalyse, die
neuere Theologie und nicht zuletzt die Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken von Daniel Paul
Op. cit., S. 131 f.
So auch Adorno, Negative Dialektik, S. 30.
200 Siehe J. Schumacher, Die Angst vor dem Chaos, S. 16 f.
201 Wie Foucault sie in Von der Subversion des Wissens (S. 24) diagnostiziert.
202 Siehe dazu Wiener, Die Verbesserung von Mitteleuropa, S. LXXXVI.
203 Zum Beispiel in Thomas Manns Zauberberg und in Hermann Hesses Steppenwolf.
198
199
44
Schreber,204 die ich nun, beginnend mit dem eindrucksvollen Werk Schrebers, näher untersuchen
möchte.
Whitehead hat in Prozess und Realität keine Erkenntnistheorie vorgelegt, sondern ein
Erkenntnismodell. Aus diesem feinen, aber wichtigen Unterschied, der ebenfalls aus der
Überwindung
der
Subjekt-Objekt-Struktur
resultiert,
ergibt
sich,
dass
die
folgende
Gegenüberstellung keiner hermeneutischen Vorerwägungen bedarf, denn es geht ja lediglich
darum, das Verhältnis des allgemeinen Modells zu abweichenden Erfahrungsweisen zu erfassen
und zu erörtern, ob es den zeitgenössischen Anschauungsformen gerecht zu werden vermag. Was
speziell Schrebers Denkwürdigkeiten angeht, so erleichtert sich der Vergleich mit der Kosmologie
Whiteheads dadurch, dass auch Schreber ein kosmologisches Erkenntnismodell vorgelegt hat, in
dem er seine Erfahrungen während der langen Phasen seiner Nervenkrankheit schildert, die
Freud übrigens als „Paranoia“ einstufte. 205
„In der Tat wird, seitdem die Welt steht, wohl kaum ein Fall wie der meine vorgekommen sein, dass nämlich ein
Mensch nicht bloß mit einzelnen abgeschiedenen Seelen, sondern mit der Gesamtheit aller Seelen und mit Gottes
Allmacht selbst in kontinuierlichen, das heißt, einer Unterbrechung nicht mehr unterliegenden Verkehr getreten
wäre.“206
Zwar wurden Schrebers Denkwürdigkeiten in der Sekundärliteratur überwiegend als eine
psychiatrische Fallgeschichte aufgefasst, doch darin erschöpfen sie sich keineswegs, wie S. Weber
plausibel darlegt:
„Nun bedarf es auch nur der flüchtigsten Bekanntschaft mit der Rezeption, welche den Denkwürdigkeiten bislang
zuteil wurde, um die Diskrepanz zu merken zwischen einem Text, in dem Subjekt und Objekt, Gott, Natur, der Verstand, die Sinnlichkeit usf. nichts weniger als ,feste Punkte’ darstellen, und dessen Lesern, Psychiater &
Psychoanalytiker in der Hauptsache, die immer nur das Bekannte und Vertraute in ihm suchen und – mirabile dictu –
finden. Für solche Leser gilt das, was Freud gegen ,das Interesse des praktischen Psychiaters an solchen
Wahnbildungen’ vorbrachte: dass ,seine Verwunderung … nicht der Anfang seines Verständnisses’ sei. Es geht also
darum, ob dieser Text allein als Fall zu lesen ist und wenn, dann als was für einer?“ 207
Ich jedenfalls lese den Text Schrebers nicht einfach als Fallgeschichte, sondern richte das
Augenmerk auf das darin entwickelte Erkenntnismodell. Wie Whitehead überwindet Schreber die
Subjekt-Objekt-Struktur der Erkenntnis, zum Beispiel im Hinblick auf Kommunikationskanäle:
Daniel Paul Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Erste Ausgabe, Leipzig 1903.
Vgl. dazu S. Freud, „Über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia“, S. 240 ff.
206 Schreber (wie Fn. 204), S. 128.
207 S. M. Weber, „Die Parabel“, S. 14.
204
205
45
„Außer der gewöhnlichen menschlichen Sprache gibt es noch eine Art Nervensprache, der sich der gesunde Mensch
in der Regel nicht bewusst wird. […] Der Gebrauch dieser Nervensprache hängt unter normalen
(weltordnungsmäßigen) Verhältnissen natürlich nur von dem Willen desjenigen Menschen ab, um dessen Nerven es
sich handelt; kein Mensch kann an und für sich einen anderen Menschen zwingen, sich dieser Nervensprache zu
bedienen. Bei mir ist nun seit der oben erwähnten kritischen Wendung meiner Nervenkrankheit der Fall eingetreten,
dass meine Nerven von außen her, und zwar unaufhörlich ohne jeden Unterlass in Bewegung gesetzt werden.“ 208
Doch „in diesen ,wundervollen Aufbau’ ist nun seit einiger Zeit ein Riss gekommen […] und
andernteils soll der Begriff des Seelenmords eine Hauptrolle spielen“.209 Die Ähnlichkeit dieses
Nervenmodells mit der Leibnizschen und vor allem mit Whiteheads Kosmologie springt noch
deutlicher ins Auge, wenn man die Analyse Webers hinzuzieht:
„Nun wollen wir kurz bei diesen Nerven verweilen, denn sie bilden die Grundelemente des Schreberschen
Universums. Sie sind aber ihrer Beschaffenheit nach recht merkwürdige Gebilde, denn sie scheinen die höchste
Innerlichkeit und Immanenz einerseits mit der größten Äußerlichkeit und Heteronomie zu vereinigen. Die Nerven –
„Verstandesnerven“, wie sie genannt werden – sind wie Monaden, sofern jeder einzelne Verstandesnerv ,die gesamte
geistige Individualität des Menschen repräsentiert’. Die Anzahl der Nerven beeinflusst lediglich die Dauer seiner
Identität, nicht diese selbst. Insofern repräsentieren die Nerven das Innere und Identische am Menschen.
Andererseits sind aber die Nerven als Körperteile – und sie sind ihrem Wesen nach körperlich, das heißt räumlich
lokalisiert und materiell – notwendigerweise auf äußere Eindrücke und Impulse angewiesen, um ,in Schwingungen
versetzt werden zu können’.“210
Demnach besteht die Schrebersche Weltordnung aus Gebilden, die eine erstaunliche Ähnlichkeit
zu den wirklichen Entitäten Whitehead aufweisen, und damit endet der Vergleich noch nicht: Er
erstreckt sich außerdem auf den Gottesbegriff, das Verhältnis von Gott und Welt und die
Strukturiertheit der Erfahrung.
„Die Weltordnung, die Welt-noch-in-Ordnung, folgt der Vernunft in ihren Gesetzen: In ihr und durch sie gilt jene
Botschaft, welche Schreber wohl als Motto für sein ganzes Werk hätte verwenden können: ,Aller Unsinn hebt sich
auf.’ Nur: Diese Ordnung hat einen Haken. Und das liegt daran, dass der Grund und die Ursache, Anfang und Ende
dieser Weltordnung – Gott – selbst ,und von vornherein Nerv’ ist. Das bedeutet, dass das Moment des
Heteronomen und Nichtidentischen, welches jedem Nerv anhaftet, auch für Gott gilt. Damit aber unterscheidet sich
der Schrebersche Gott von seinen orthodoxen Vorgängern: Er ist körperlich, das heißt materiell und lokalisiert, den
Gesetzen des Raumes zum Teil wenigstens unterworfen.“211
Schreber (wie Fn. 204), S. 103.
Op. cit., S. 83.
210 Weber (wie Fn. 207), S. 28.
211 Op. cit., S. 29. Schrebers „Aller Unsinn hebt sich auf“ findet übrigens ein schönes Pendant in Whitehead
Kosmologie: „Der Himmel weiß, welcher scheinbare Unsinn uns morgen als Wahrheit bewiesen wird“, Wissenschaft
und moderne Welt, S. 113.
208
209
46
Und nun abschließend noch ein Schreber-Zitat, das die Verwirklichung von reinen und unreinen
Möglichkeiten betrifft:
„…dass das Wunder nicht zur vollen Entwicklung gelangt, beziehentlich wieder rückgängig gemacht worden ist,
beruhte eben nur darauf, dass nicht nur reine Gottesstrahlen vorhanden waren, sondern außerdem noch Strahlen, die
von geprüften (unreinen) Seelen geführt wurden, durch deren Einwirkung die Durchführung des
Verwandlungsprozesses in seiner weltordnungsmäßigen Reinheit verhindert wurde.“212
Gewiss wäre es töricht zu behaupten, dass kein wesentlicher Unterschied zwischen den
Erkenntnismodellen Whiteheads und Schrebers besteht. Doch dieser betrifft in erster Linie den
sprachlichen Gestus, das In-sich-reflektiert-Sein der Konzeption und nicht ihre strukturelle
Gestaltung. Diese offenbar eine
jenseits des liegende Sphäre, eine allgemeine Struktur der
Verwirklichung, die sich unabhängig von einer subjektiv gesetzten Rationalität vollzieht und
damit
dem
Rationalismus
die
Abgrenzung
von
Vernunft
und
Wahnsinn
als
Legitimationsgrundlage entzieht.213
Wenn man nun der Massenpsychologie Le Bons und Freuds nachgeht, so herrscht darin eine
Beobachtung vor: Massen handeln irrational,214 sie neigen dazu, ein hypostasiertes Ich
anzuerkennen und mehr noch, die einzelnen Individuen geben ihr Ich auf, verlagern es in eine
„Massenseele“,215 die sie von der Last der Subjektivität befreit.216 Auch in der Einzelpsychologie
zeigt sich die gleiche Tendenz. Freud hatte, ausgehend von der Analyse der Verliebtheit als
Identifikation oder Idealisierung,217 auf eine Grundkonstellation der Psychoanalyse geschlossen:
die Übertragung.218 In ihr beeilt sich der Patient, sein Ich aufzugeben, das des Analytikers als
prüfende Instanz für sich zu beanspruchen und die Möglichkeit zu genießen, seinen vielfältigen
irrationalen Assoziationen völlig frei und ungehemmt zu folgen.
Fügen wir diesen strukturellen Beschreibungen, die das Verhältnis von Rationalität und Subjekt
betreffen, noch eine Beobachtung aus der neueren Entwicklung der Theologie hinzu, die das hier
untersuchte Problem mit bewundernswerter Unmittelbarkeit ansprach in ihrem Postulat, Gott sei
im Anderen, so komplettiert sich allmählich das Gesamtbild. Der Theologe K. Rahner formuliert
Schreber (wie Fn. 204), S. 109.
Siehe dazu Foucault: „Mit anderen Worten, die Struktur bzw. die Möglichkeit eines strengen Diskurses über die
Struktur führt uns, glaube ich, zu einem negativen Diskurs über das Subjekt, der dem von Bataille und Blanchot
ähnelt“, Von der Subversion des Wissens, S. 24.
214 „Selbst zu allen Extremen geneigt, wird die Masse auch nur durch übermäßige Reize erregt. Wer auf sie wirken
will, bedarf keiner logischen Abmessung seiner Argumente, er muss in den kräftigsten Bildern malen, übertreiben
und immer das Gleiche wiederholen“, Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 83, siehe auch Le Bon, Psychologie der
Massen, S. 12.
215 So Le Bon, ibid.
216 Freud (wie Fn. 214), S. 137, Fußnote.
217 Freud, op. cit., S. 124 f.
218 Freud, „Jenseits des Lustprinzips“, S. 17.
212
213
47
diese Hinwendung zum Mitmenschen als völlige Selbstaufgabe:
„Der Theologe sagt sich, dass die Unentrinnbarkeit der Überantwortung an sich selbst, die das Christentum verkündet, die Selbstvergessenheit der Liebe zum Anderen sein müsse oder die Hölle werde, die man selbst in egoistischer
Einsamkeit sei; diese Nächstenliebe habe so radikal zu sein, so absolut, müsse so die bloße Subjektivität als Besitz
seiner selbst von ihrem Wesen her überwinden, dass sie nur möglich sei als Geschehen von einem Absoluten her,
das wir nicht selber sind, das vielmehr diese Nächstenliebe als seine Liebe und zuschickt; so bestehe eine letzte und
ursprüngliche Einheit von Gottes- und Nächstenliebe, ausdrücklich oder unreflektiert, so dass Nächstenliebe nur
radikal genug ist, wenn sie sich als Gottesliebe vollzieht, und Gottesliebe nur geschieht und der Mensch nur weiß,
wer Gott ist, wenn er den Nächsten liebt.“219
Gott als Prinzip der Identität oder der Individuation wird ins menschliche Gegenüber verlagert,
kann also nicht länger kraft der eigenen Subjektivität des Einzelnen oder kraft ihrer
Überschreitung im Gebet respektive in der Meditation vergegenwärtigt werden. Nichts könnte
deutlicher die Zersetzung des Subjekts anzeigen als diese theologische Konsequenz, sich auf den
denkbar unsichersten Ort einer möglichen Projektion zurückzuziehen.
Whitehead formuliert das Problem der sich auflösenden Subjektivität philosophisch mit Hinweis
auf den Begründer des Subjektivismus, René Descartes: „Descartes stellte die grundlegende
Metaphysische Frage: Was bedeutet es, eine wirkliche Entität zu sein?“220 Verglichen mit Kants
Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, die auf epistemologische
Gesetzmäßigkeiten zielt, scheint Whitehead eher in die Gegenrichtung zu forschen: Was bedeutet
es, erkannt zu werden? Doch will ich hier keineswegs die Philosophiegeschichte auf den Kopf
stellen, sondern lediglich betrachten, wie sich Whiteheads Kosmologie von der Subjekt-ObjektStruktur her darstellt, der wir ja nach wie vor verhaftet sind. So verstandenm, spürt Whiteheads
Frage dem Kantschen Ding an sich nach: Wie muss es sich anfühlen, zu dem Teil der Natur zu
gehören, der sich uns nur als Erscheinung darbietet, weil Kategorien und Anschauungsformen
wie ein Raster zwischen Subjekt und Objekt treten? Doch seltsamerweise ist das
Erkenntnissubjekt hierin schon identisch geworden mit dem, was sich in Kants Philosophie der
objektiven Erkenntnis entzog.221 Auch wenn es den unerbittlichen Strukturen der Erfahrung
unterworfen bleibt, trägt es den Maßstab seiner Erkenntnis in sich. Auf dem Hintergrund des
Subjekt-Objekt-Metaphysik könnte man danach formulieren, dass Whiteheads Erkenntnissubjekt
sich in jenem System gefangen sieht, das Hegel im Dienste der Naturbeherrschung bewusst
Rahner, Zur Theologie der Zukunft, S. 131.
Whitehead, Prozess und Realität, S. 271.
221 Vgl. dazu Horst Hermann: „Wenn Kant in seiner Erkenntnistheorie das Subjekt gegen feudale Ordnungsbegriffe
in sein Recht einsetzt, so vermeidet er doch die Wendung zum Solipsismus durch die Weigerung dem Subjekt
zuzugestehen, sich selbst zu erkennen“, wie. Fn 50., S. 45.
219
220
48
universell angelegt und vorangetrieben hatte.222 Im verselbständigten System findet sich das
Subjekt ebenso unfrei wieder wie ehemals in der unbezähmbaren übermächtigen Natur. Doch bei
Whitehead blieb dem subjektiven Erleben wenigstens die Freiheit, die neuerdings auch die
Naturwissenschaften ihrem Gegenstand einräumen: Es kann in seiner Verwirklichung von den
ihm auferlegten Strukturen abweichen, ihm bleibt also ein Rest individueller Spontaneität. Diesen
zu bewahren, müsse die Aufgabe der Vernunft sein, auch wenn man ihr Wirken oft kaum
erkenne:
„Doch bloßer blinder Lebenstrieb wäre ein Produkt des Zufalls und würde nirgendwohin führen. In unserer
Erfahrung finden wir Vernunft und spekulative Imagination vor. Auch unterscheiden wir triebhafte Impulse, die
offenbar dem Gesetz des Tüchtigsten folgen. Auch wenn man das Regiment der Vernunft als schwankend, vage und
diffus bezeichnen muss: Es ist da.“223
„Anstelle der Hegelschen Hierarchie von Denkkategorien entdeckt die organismische Philosophie eine Hierarchie
von Kategorien des Empfindens. […] Dieser Vorgang ist nichts anderes als bei Hegel die Entwicklung einer Idee“,
Whitehead, Prozess und Realität, S. 310 und 313.
223 Whitehead, Die Funktion der Vernunft, S. 53.
222
49
Die Kritische Philosophie Th. W. Adornos
Das Movens negativer Dialektik
Bei der Auseinandersetzung mit dem Werk Adornos muss man zunächst zu verstehen versuchen,
welche die treibende Einsicht der Negativen Dialektik war, die weder den idealistischen Ansatz Hegels fortführen, noch auf den historischen Materialismus Marxens bauen konnte. Außerdem wird
noch einmal die paradoxe Zeitverschiebung ins Visier geraten, die sich zwischen Whitehead und
Adorno bemerkbar gemacht hatte.
Die bisherige Untersuchung hat ergeben, dass nach dem Zeugnis sowohl der Natur- als auch der
Geistes- respektive Sozialwissenschaften das Subjekt in eine tiefe Krise geraten war. Betrachtet
man etwa das Protokoll Freuds, so war von der Allmacht des transzendentalen Ich kaum mehr
geblieben als eine dünne Schicht, die das triebhafte Unbewusste überlagert.1 Allerdings findet sich
selbstverständlich noch Subjektivität, wenngleich ihrer konstitutiven Kraft beraubt,2 in der
Erfahrung, auch des Denkens, und in den Rudimenten der von ihr vorangetriebenen Strukturen:3
Insofern ist sie aufgespalten in die beiden Aspekte, Unterdrücktes und damit Objekt zu sein und
sich im Medium der Unterdrückung objektiviert zu haben, ohne dass sich die
Herrschaftsfunktion unmittelbar mit einer gesellschaftlichen Klasse identifizieren ließe. In
gewisser Weise spielt sich der Antagonismus unterhalb der Herrschaftsebene ab.4 Um diese
neuerliche Spaltung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses, diesmal im Subjekt selbst, wie Adorno sie
in der Negativen Dialektik herausarbeitet,5 näher zu beleuchten, muss man die historische
Entwicklung des Antagonismus heranziehen, so wie er sich in der einschlägigen Reflexion
Adornos darstellt.
Die Subjekt-Objekt-Struktur der Erkenntnis hat sich in ihrer von Descartes her bekannten Form
mit der Entstehung des Systems der bürgerlichen Gesellschaft ausgeprägt, wobei das Subjekt als
Planendes, Kalkulierendes und Verfügendes den zunächst noch unsicheren Anlauf wagte, sich
alles Materielle, alles im Prozess der Naturaneignung Einzusetzende als Objekt zu
vergegenständlichen – angefangen beim eigenen Körper, über die Arbeitskräfte bis hin zur
verwerteten Natur, deren inneres Wesen nur insofern geachtet blieb, als es sich dem begrifflichen
Herrschaftsgefüge nicht widersetzte.6
Was sich der Institutionalisierung dieser Verhältnisse durch Reflexion von der Subjektseite her
Freud, Das Ich und das Es, S. 251.
„Unter diesen Umständen hat kritische Theorie sich der Phänomene des Überbaus anzunehmen, zu denen, mehr
als dies bei Marx und Engels deutlich wird, gegenwärtig auch charakterologische Strukturen gehören, nicht zuletzt
die zunehmende Ich-Schwäche eben der Menschen, welche die Welt verändern sollen“, Schmidt, „Adorno – ein
Philosoph des realen Humanismus“, S. 61.
3 Vgl. dazu Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, S. 34.
4 Adorno, Zu Subjekt und Objekt, S. 152.
5 Vgl. dazu insbesondere S. 29.
6 Siehe Schaaf, „Wissen und Ideologie“, S. 97.
1
2
50
entgegenstellte, zum Beispiel in den subversiven naturtheologischen Ansätzen von Spinoza und
Leibniz,7 kam spätestens mit der Kantschen Transzendentalphilosophie völlig unter die Räder:
Die Selbstsicherheit des nun metaphysisch überhöhten Subjekts, der Verzicht auf einen
sinnstiftenden Gottesbegriff, legt Zeugnis davon ab, dass sich die Herrschaft des Geistes als ein
Absolutes durchzusetzen begann. Die beherrschte und verwertete Natur existierte nur noch für
das Subjekt und musste, aller eigenen Qualitäten beraubt, sich seiner apriorischen Erkenntnis –
eben auch in der Praxis – beugen.8
Und wie das vom Subjekt eingesetzte und organisierte Kapital allmählich zum Äquivalent für
alles wurde, einschließlich des menschlichen Körpers und oft sogar der Seele,9 so diente die
transzendentale Synthesis des Mannigfaltigen als Modell für alles sich Verwirklichen in der
Erkenntnis.10 Wenn das Subjekt im Rahmen der Gesetze, die sich im kapitalistischen System
herausgebildet hatten, frei waltete, so beschränkte sich seine Freiheit allerdings darauf, diese
Gesetze im eigenen Interesse zu nutzen.11 Doch birgt diese Freiheit bereits ihren Gegensatz in
sich, wie ein Teil der Kant-Literatur betont, da das Subjekt, auch das unternehmerische, das
Kapital nicht souverän verwaltet, sondern nach dessen eigenen konstitutiven Gesetzen.12
Diese wechselseitige Durchdringung von Subjektivität und historischer Rationalität findet ihren
Ausdruck in Hegels Dialektik, die das Zusichkommen des subjektiven Bewusstseins und dessen
Aufhebung im absoluten Geist auf unnachahmliche Weise rekonstruiert. Das Individuum muss,
um Subjekt im emphatischen Sinne zu werden, also die höchsten Höhen der geschichtlich
erreichten Rationalität zu erklimmen, die bereits verwirklichten Formationen des Systems in der
begrifflichen Reflexion überwinden, da es auf jeder Stufe unterhalb des „absoluten Wissens“
heteronom, ein von den Verhältnissen beherrschtes Opfer der Geschichte bliebe.13 Erst auf der
Höhe des vollendeten Systems erlangt es wahre subjektive Freiheit, die einzig denkbare nämlich:
Innerhalb der etablierten Rationalität zu sich zu kommen, ohne deren Herrschaft blind zu
unterliegen. Damit wird der Begriff als dynamisierendes Spannungszentrum des Geistes zur
höchsten Gestalt von Herrschaft und das Subjekt, das sich in seiner Eigenbewegung nicht über
ihn aufschwingt, zum Spielball und bloßen Material.14
Marx zeigte, dass diese Konzeption subjektiver Freiheit buchstäblich „von oben her“ oktroyiert
und, da die Bewegung des Geistes durchaus der des Kapitals entsprach, nicht mittels des Begriffs
Näheres dazu bei Schumacher, Die Angst vor dem Chaos, S. 49 ff.
Dazu Delekat, Immanuel Kant, S. 36.
9 Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit, S. 52.
10 Delekat (wie Fn. 8), S. 97.
11 Sohn-Rethel (wie Fn. 9), S. 52.
12 Näheres dazu bei Adordno, Negative Dialektik, S. 218, und Marcuse, Studie über Autorität und Familie, S. 99.
13 Adorno beschreibt das auf fast evolutionäre Weise: „Das System, in dem der souveräne Geist sich verklärt wähnte,
hat seine Urgeschichte im Vorgeistigen, dem animalischen Leben der Gattung“, Negative Dialektik, S. 31.
14 Vgl. dazu Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 80 f., und Marcuse, Vernunft und Revolution, S. 78.
7
8
51
selbst aufzubrechen war.15 Das Proletariat, das in der Bewegung des Geistes zum Primat der
subjektiven Rationalität als beherrschte Klasse und damit als gesellschaftliches „Objekt“ auf der
Strecke geblieben war, konnte seine Zwangslage nur auf eine Weise überwinden: Indem sie sich
die etablierte Struktur mit den herrschenden Subjekten ihrerseits vergegenständlichte, um sich
selbst in die gesellschaftliche Stellung als historisches Subjekt zu bringen.16 Den dazu
notwendigen Impuls sah Marx – noch eher bürgerlich – darin, die Einheit des Bewusstseins, die
ehemals das herrschende Subjekt kennzeichnete, der unterdrückten Klasse zu implantieren.17 Das
heißt, er erwächst aus dem Klassenbewusstsein, das formal nach dem Vorbild dessen des
autonomen Subjekts gestaltet ist. Auch das Motiv für den Befreiungsschlag des Kollektivs scheint
dem Hegelschen Subjekt entlehnt zu sein: Dass Leiden an der Unterdrückung nicht lähmt,
sondern die revolutionäre Phantasie und Sensibilität fördert. Auch die Verelendungstheorie
scheint noch einen notwendigen Zusammenhang zwischen Leiden an der Realität und
Entstehung eines solidarischen Kollektivbewusstseins zu postulieren, während in der
marxistischen Schulungspraxis doch eher die Tendenz vorherrscht, die ausgebeuteten und
entrechteten Individuen durch pädagogische Hinführung zum absoluten Wissen auf der Basis
Hegelscher Didaktik auf den entscheidenden Akt des Umsturzes vorzubereiten.18 Dass in der zu
erwartenden Chaotik der revolutionären Kämpfe eine neuartige Subjektivität und Spontaneität
sich herausbilden würde, war Marxens gewiss nicht unbegründete Hoffnung,19 doch Trotzkis
Versuch, dieses Erwachen durch die Forderung nach einer „permanenten Revolution“20 zu
institutionalisieren, zeigt schon, wie wenig man darauf vertrauen konnte, dass das
Klassenbewusstsein auch unter den Bedingungen sozialistischer Herrschaft ein Selbstläufer sein
würde.
Doch die vielfach als unumgänglich beschworene Revolution, die auf dem Umweg über die
Diktatur des Proletariats nicht nur die Versöhnung von Subjekt und Objekt herbeiführen,
sondern auch der Natur wieder zu ihrem eigenen Recht verhelfen sollte, ist in Deutschland und
den anderen Industrienationen gescheitert. Wer deshalb aber behaupten würde, das bürgerliche
Subjekt in Kantscher oder Hegelscher Prägung existierte noch, der wäre blind für die weitere
Entwicklung und könnte den Ansatz der Negativen Dialektik nicht verstehen. Was theoretisch sich
bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts abzeichnete, manifestierte sich in grausamer Form durch
den Aufstieg des Faschismus in Teilen Europas und des Nationalsozialismus in Deutschland:
Dass die Herrschaft des autonomen Subjekts in allen gesellschaftlichen, ja auch kulturellen
Siehe dazu die achte These über Feuerbach in: MEW, Bd. 3, S. 7.
Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, S. 45.
17 Op. cit., S. 34.
18 Siehe dazu inbesondere Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, S. 155.
19 Siehe Reich, Was ist Klassenbewusstsein?, S. 10.
20 Trotzki, Die permanente Revolution, S. 60.
15
16
52
Bereichen gebrochen war.21 Das Subjekt, davon zeugt auch mit aller Deutlichkeit der
Imperialismus, wurde vom Kapital überrollt, und Adorno resümiert seine Entmachtung in der
Diagnose: „System ist die negative Objektivität, nicht das positive Subjekt.“22 In der
Verselbständigung der Sozialstruktur, die er als „verwaltete Welt“ oder „gesellschaftlicher
Funktionszusammenhang“ bezeichnet, liegt nun die alleinige Quelle von Rationalität, vor ihr
muss das erkennende Subjekt kapitulieren.23 Dies zu artikulieren trug Adorno den Vorwurf ein,
seinerseits eine faschistische Theorie verbreitet zu haben, die Praxis regelrecht verbiete.24 Doch
so primitiv es auch erscheinen mag, den Boten um der schlechten Nachricht willen abzustrafen,
so aufschlussreich ist es zugleich. Denn im Faschismus und Nationalsozialismus äußerte sich
nichts anderes als eine hilflos verzweifelte Reaktion auf die Zersetzung des Subjekts durch den
unaufhaltsamen Aufstieg des kapitalistischen Systems, das alle Autonomiebestrebungen unter
sich begrub. In diesem Sinne analysiert die Negative Dialektik lediglich die Destruktivität einer
Epoche, deren Gewaltpotenzial mit den großen Eruptionen des 20. Jahrhunderts noch
keineswegs ausgeschöpft zu sein scheint.25
Subjekt und Objekt als der Rationalität unterworfene
Wenn man dem Verhältnis von Subjekt und Objekt in der Philosophie Adornos nachgeht, so
interessiert, gerade im Hinblick auf Whitehead, warum eine kritische Theorie nicht einfach das im
souveränen Subjekt verkörperte Zwangszentrum boykottiert zugunsten der Eigentümlichkeit und
Sprengkraft von Erfahrungsprozessen. Denn, so könnte man argumentieren, nach Marxens
Verdikt über die ideologische Funktion des Idealismus fördert alles Denken im Namen des
bürgerlichen Subjekts nach wie vor die Naturbeherrschung und dient keinem anderen Zweck als
dem der Zementierung von Gewalt.26
Diese Argumentation würde jedoch verkennen, dass sowohl Kant als auch Hegel anstrebte,
Freiheit im Blick zu behalten, und man sie deshalb vom u topos, dem Nichtort oder Fluchtpunkt
ihres Systems her verstehen muss. Das bezeichnet Adorno, freilich nicht real, sondern allein im
Geistigen, als „Versöhnung“:
„Dialektik dient der Versöhnung. Sie demontiert den logischen Zwangscharakter, dem sie folgt; deshalb wird sie
Schumacher, Die Angst vor dem Chaos, S. 42.
Adorno, Negative Dialektik, S. 29.
23 Ibid.
24 „Auf dem Fundament der Negativen Dialektik lässt sich kein Begriff von Praxis formulieren, der durch die Theorie,
die ihn formulieren soll, sich vermitteln ließe. Die Theorie entwirft das Bild einer unbegreifbaren Natur; die Praxis ist
bloße Selbsterhaltung eines für sich zufälligen Individuums. Insofern muss die Negative Dialektik als eine Theorie
angesehen werden, die sich prinzipiell nicht von faschistischen Theorien unterscheidet [diese Logik überzeugt
vermutlich nur den Autor selbst]“, Richter, Der unbegreifliche Mythos – Musik als Praxis negativer Dialektik, S. 9.
25 Siehe dazu Adorno, Negative Dialektik, S. 353.
26 So Richter (wie Fn. 24), S. 28.
21
22
53
Panlogismus gescholten. Als idealistische war sie verklammert mit der Vormacht des absoluten Subjekts als der
Kraft, welche negativ jede einzelne Bewegung des Begriffs und den Gang insgesamt bewirkt.“27
Doch die Situation hat sich verschärft in dem Sinne, dass es keinem spekulativen Vorstoß mehr
gelingt, gestalterisch über das System hinauszudenken (außer in Antizipation des Chaos, das sein
Zusammenbrauch hinterlassen würde).28 Das System ist in seiner Verselbständigung zu einer epistemologischen Grenze geworden und lässt dem Subjekt keinen freien Ausblick mehr, reißt
vielmehr alles in seinen Reproduktionsprozess, in dem es nichts anderes reproduziert als sich
selbst, „das Immergleiche“.
„Dieses Gesetz aber ist keines von Denken, sondern real. Wer der dialektischen Disziplin sich beugt, hat fraglos mit
bitterem Opfer an der qualitativen Mannigfaltigkeit der Erfahrung zu zahlen. Die Verarmung der Erfahrung jedoch,
über die die gesunden Ansichten sich entrüsten, erweist sich in der verwalteten Welt als deren abstrakten Einerlei
angemessen. Ihr Schmerzhaftes ist der Schmerz über jene, zum Begriff erhoben.“ 29
Die stetige Selbstreproduktion des Systems – bei Nietzsche mythologisch überhöht zur ewigen
Wiederkunft des Gleichen –, die das „abstrakte Einerlei“ der verwalteten Welt durch die
entqualifizierende Tendenz des Tauschprinzips hervorbringt, hat im Verhältnis von Subjekt und
Objekt das erstere fortschreitend ausgehöhlt.
„Durchgeführte Kritik an der Identität tastet nach der Präponderanz des Objekts. Identitätsdenken ist, auch wenn es
das bestreitet, subjektivistisch. Es revidieren, Identität der Unwahrheit zurechnen, stiftet kein Gleichgewicht von
Subjekt und Objekt, keine Allherrschaft des Funktionsbegriffs in der Erkenntnis: Auch nur eingeschränkt ist das
Subjekt bereits entmächtigt. Es weiß, warum es im kleinsten Überschuss des Nichtidentischen sich absolut bedroht
fühlt, nach dem Maß seiner eigenen Absolutheit.“ 30
Dieses Dilemma verbietet dem kritischen Denken, das sein Freiheitsideal nicht verraten will, jede
großspurige Spekulation und zwingt es zur Rettung des Verschütteten, hilflos in der Immanenz
Gefangenen, ins Mikrologische.31 Der Negativen Dialektik zufolge soll sich das Subjekt ins Objekt
versenken, um mittels des Begriffs das Nichtbegriffliche an ihm zum Sprechen zu bringen.32
Adorno, Negative Dialektik, S. 16.
Ein Beispiel für diese gleichsam systemische Begriffsblindheit bietet neuerdings Dirk Baecker, Studien zur nächsten
Gesellschaft, Frankfurt am Main 2007.
29 Adorno, Negative Dialektik, S. 16.
30 Op. cit., S. 182.
31 „Das Zurückweichende wird immer kleiner, so wie Goethe in der ein Äußerstes nennenden Parabel des Kästchens
der Neuen Melusine es darstellte; immer unscheinbarer; das ist der erkenntnistheoretische Grund dafür, dass
Metaphysik in die Mikrologie einwandert. Diese ist der Ort der Metaphysik als Zuflucht vor der Totale. Kein
Absolutes ist anders auszudrücken als in Stoffen und Kategorien der Immanenz, während doch weder diese in ihrer
Bedingtheit noch ihr totaler Inbegriff zu vergotten ist“, op. cit., S. 397.
32 Op. cit., S. 187 f.
27
28
54
Wenn die Negative Dialektik als das philosophische Hauptwerk Adornos auch nicht auf
Grundbegriffe rekurriert, so entwickelt sie sich doch auf der Grundlage einer Vorstellung, die an
vielen Stellen als gesichert postuliert wird und den Wahrheitsanspruch der Theorie legitimieren
soll, namentlich eines akzentuierten Geschichtsbildes: „Die Geschichte des Denkens ist, soweit
sie irgend sich zurückverfolgen lässt, Dialektik der Aufklärung.“33 Das Hauptwerk führt also ein
genuin philosophisches Programm aus, das in der Dialektik der Aufklärung nur fragmentarisch
angedeutet war. Dieses Programm formuliert die Vorrede des während des Zweiten Weltkriegs in
der Emigration entstandenen Buches wie folgt:
„Die Aporie der wir uns bei unserer Arbeit gegenüber fanden, erwies sich als der erste Gegenstand, den wir zu
untersuchen hatten: die Selbstzerstörung der Aufklärung. Wir hegen keinen Zweifel – und darin liegt unsere petitio
principii –, dass die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir,
genauso deutlich erkannt zu haben, dass der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten
historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem
Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige
Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal.“34
Von dieser Regression sind Subjekt und Objekt gleichermaßen betroffen, so dass die letzte
Möglichkeit der Antizipation einer aufgeklärten, befreiten Welt in der Betrachtung dessen am
Einzelnen liegt, was die totale Institutionalisierung noch nicht endgültig vereinnahmt und
gleichgeschaltet hat.35
Die Bestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt nimmt jedoch mehr in den Blick als
nur die Relationen von Menschen und Dingen: Sie fasst auch den Klassenantagonismus ins Auge
und damit den zum Tauschobjekt, zur Ware degradierten menschlichen Körper. Unter der
Herrschaft des zur universellen Triebkraft vergotteten Kapitals ist selbst der Klassenkampf zu
einer bloßen Farce verkommen: So wenig sich die wirkliche Welt noch überzeugend in Form von
Subjekt und Objekt darstellen lässt, so nachhaltig wurde der gesellschaftliche Dualismus von
Kopf und Hand, Theorie und Praxis seiner potenziellen Kraft als Hebel der Veränderung
beraubt.
„Was seitdem als Problem der Praxis gilt und heute abermals sich zuspitzt zur Frage nach dem Verhältnis von Praxis
und Theorie, koinzidiert mit dem Erfahrungsverlust, den die Rationalität des Immergleichen verursacht. Wo
Erfahrung versperrt oder überhaupt nicht mehr ist, wird Praxis beschädigt und deshalb ersehnt, verzerrt, verzweifelt
überbewertet. So ist, was das Problem der Praxis heißt, mit dem der Erkenntnis verflochten.“ 36
Op. cit., S. 122.
Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 7.
35 Dazu ausführlich Adorno, Negative Dialektik, S. 389.
36 Adorno, „Marginalien zu Theorie und Praxis“, S. 170.
33
34
55
Hier jedoch sieht man sich dem ernst zu nehmenden Einwand gegenüber, die theoretische
Konstruktion diene lediglich dazu, den nach wie vor bestehenden Antagonismus zu verschleiern:
Sie verdanke sich einer Warenfülle, die zwar eine weitgehende Gleichheit im Konsum
hervorgebracht, aber beileibe nicht die Klassenschranke niedergerissen habe.37 Ungeachtet des
Wahrheitsgehaltes der marxistischen Doktrin geht es hier vor allem um ein strukturelles Problem,
um die Frage nämlich, ob sich die Güterfülle und Konsumwut des modernen Kapitalismus als
eine notwendige Funktion seiner Verselbständigung als System, als unabweisbares Indiz für sein
unkontrollierbares Fortschreiten und nicht als das Resultat von Profitinteressen darstellt.38
Doch warum hält Adorno nach alledem trotzdem am Subjekt als der kritischen Instanz
schlechthin, als der letzten Bastion des Widerstandes fest? Wie bereits beim Vergleich der
Modelle Whiteheads und Schrebers zu sehen war, ist die Subjektivität in der (wie es bei Adorno
heißt) „falschen Welt“ nicht nur eine Bedingung, sondern auch eine Folge des Widerstandes.39
Das auf seine Erlebnisse reduzierte Individuum wäre gezwungen, sich einer völlig offenen
Zukunft auszuliefern – und letzten Endes in ihrer Rationalität respektive Verrücktheit
unterzugehen.40 Diese Aussicht eröffnete Adorno ausgerechnet in seiner Kritik an der neuen
deutschen Fundamentalontologie.
„Der Überdruss an dem subjektiven Gefängnis der Erkenntnis veranlasst zur Überzeugung, das der Subjektivität
Transzendente sei für sie unmittelbar, ohne dass sie durch den Begriff es beflecke. Analog romantischen Strömungen
wie der späteren Jugendbewegung verkennt sich die Fundamentalontologie als antiromantisch im Protest gegen das
beschränkende und betrübende Moment von Subjektivität; will diese mit kriegerischer, auch von Heidegger nicht
gescheuter Redeweise, überwinden. Weil aber Subjektivität ihre Vermittlungen nicht aus der Welt schaffen kann,
wünscht sie Stufen des Bewusstseins zurück, die vor der Reflexion auf Subjektivität und Vermittlung liegen.“ 41
An diesem Zitat wird klar, dass das Subjekt, im deutschen Idealismus mit seinen protestantischen
Konnotationen auf die Höhe getrieben, als eine leitbildgebene konstruktive Abstraktion nicht nur
moralischen Zwang ausübte, sondern auch eine freiheitliche Utopie antizipierte. Daraus
resultierte für Adorno, dass sich der bereits vollzogene Prozess der Durchsetzung eines
Rationalitätsideals, das sowohl Unterordnung als auch Emanzipation gebietet, nur auf dem
Boden der Subjektivität nachvollziehen und über sich hinaustreiben lässt.
So Holz, Utopie und Anarchismus, S. 128 ff.
Als Denkexperiment könnte man sich einen totalen Handelsboykott der gesamten Dritten Welt und der
erdölproduzierenden Länder vorstellen. Ded daraus resultierende Versorgungsnotstand hätte gewiss eher einen
gewaltsamen Eroberungsfeldzug zur Folge als Klassenkämpfe im Inneren, das heißt er würde zur internen
Solidarisierung aller Betroffenen – das heißt aller – führen und nicht zu einer neuen Internationale.
39 Vgl. Whitehead, Prozess und Realität, S. 34.
40 Dazu Adorno, „Zu Subjekt und Objekt“, S. 153.
41 Adorno, Negative Dialektik, S. 84.
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38
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„Das Subjekt ist die Lüge, weil es um der Unbedingtheit seiner eigenen Herrschaft willen die objektiven
Bestimmungen seiner selbst verleugnet; Subjekt wäre erst, was solcher Lüge sich entschlagen, was aus der eigenen
Kraft, die der Identität sich verdankt, deren Verschalung von sich abgeworfen hätte.“ 42
Jeder Versuch, den besagten Prozess zu unterlaufen, irgendwo anders anzusetzen als beim
Subjekt in der Hoffnung, von dort aus sei das Andere zu verwirklichen, wäre demnach
pseudoaufklärerisch und deshalb eher geeignet, das Falsche zu verewigen, als seinen Trug zu
entlarven.
Doch ist Subjektivität, die hier als notwendige Bedingung des Widerstandes erscheint, unter der
Herrschaft des Tauschprinzips in sich selbst gespalten. Nicht nur, dass sie im Namen der Freiheit
den Gestus des Autoritativen annehmen und zur Disziplin ermahnen muss, wo die herrschende
Rationalität das kindische, ausgelassene Mitmachen propagiert;43 sie kann auch nicht einmal, wie
noch bei Kant, mit einer unmittelbaren Gratifikation für diese Disziplin werben:
„Worin der Gedanke hinaus ist über das, woran er widerstehend sich bindet, ist seine Freiheit. Sie folgt dem
Ausdrucksdrang des Subjekts. Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn
Leiden ist Objektivität, die Auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv
vermittelt.“44
Außerdem findet sich das Subjekt auch dessen beraubt, was ihm im absoluten Idealismus, zumal
in der Hegelschen Dialektik, als das Höchste zu Gebote stand: die Allmacht des Begriffs.
Wenn sich das Subjekt in der Negativen Dialektik durch einen Wesenszug konstituiert, der die Allmacht des Begriffs Lügen straft, nämlich das Leiden an seiner realen Verselbständigung zum
totalitären, nicht mehr steuerbaren System,45 so erscheint Adornos Konsequenz durchaus
zwingend, Subjektivität als Kritik, als Artikulation eben dieses Leidens zu charakterisieren.46 In
diesem Sinne entwickelt sie keine andere Rationalität aus sich als den Widerspruch gegen die
Rechtfertigung des Bestehenden und weiß sich darin solidarisch mit der vergewaltigten Natur.
Insofern sieht sich das Subjekt selbst zum Objekt degradiert, ohne die damit vollzogene Spaltung
durch eine positive Synthese überwinden zu können.
„Die Trennung von Subjekt und Objekt ist real und Schein. Wahr, weil sie im Bereich der Erkenntnis der realen
Trennung, der Gespaltenheit des menschlichen Zustands, einem zwangvoll Gewordenen, Ausdruck verleiht; unwahr,
Op. cit., S. 272.
Siehe Adorno, „Resignation“, S. 13.
44 Adorno, Negative Dialektik, S. 27.
45 Op. cit., S. 20.
46 Vgl. dazu Adorno, „Kritik“, S. 11 f.
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weil die gewordene Trennung nicht hypostasiert, nicht zur Invarianten verzaubert werden darf. Dieser Widerspruch
in der Trennung von Subjekt und Objekt teilt der Erkenntnistheorie sich mit.“47
Unter diesen Bedingungen ließe eine dialektische Synthese das Wichtigste immer außer Acht: Die
Tatsache nämlich, dass es nicht das Subjekt sein kann, das sie vollzieht.48
Subjektivität und negative Rationalität
Wenn es ein Konzept aufklärerischer und nachaufklärerischer Spekulation gibt, dem Adorno auf
Grund der beschriebenen Entsubstanzialisierung des Subjekts zutiefst misstrauen musste, so ist
es der Begriff des Neuen. In diesem Sinne schrieb er: „Dialektik ist der Versuch, das Neue des
Alten zu sehen, anstatt einzig das Alte des Neuen.“49 Vor allem dieses Misstrauen lässt ihn an der
Subjekt-Objekt-Struktur festhalten. Die Utopie der abgeschiedenen Insel erschien nur so lange
plausibel, wie das rationalisierte Sozialsystem nicht die Tendenz offenbarte, sich in seinem Reproduktionsprozess alles außerhalb Liegende einzuverleiben und durch den Tauschmechanismus anzugleichen. Insofern kann kritisches Denken sich nur dem dabei Übergangenen widmen, indem
es den „irrationalen“ Aspekten der Dinge zur Sprache verhilft. Allerdings sind diese keineswegs
das besonders Ansprechende an ihnen, das – wie beispielsweise in der Reklame – den Einzelnen
zu betören und regelrecht zu hypnotisieren vermöchte; vielmehr fordern sie eine erhebliche Anstrengung des Subjekts, um das Widerborstige der Substrukturen, ihre „negative Rationalität“ zu
entdecken. Dabei kehrt sich das in der Werbung hergestellte Abhängigkeitsverhältnis, in dem die
Kreativität vom Objekt ausgeht und den Adressaten durch bloße Stimulanzien zur Funktion
auslösender Impulse erniedrigt, ebenfalls in ihr Negativ einer kreativen Rezeptivität um.50 Daraus
leitet Adorno eine Form von Solidarität ab, die nicht im Klassenbewusstsein, sondern im
Bewusstsein der Negation und der Verweigerung wurzelt.51
Gewiss wäre es nicht übertrieben zu sagen, dass diese Solidarität sich zwischen Opfern herstellt,
sobald das kritische Denken sich dem zuwendet, was der Begriff vergewaltigt. Doch ist sie nicht
positiv zu setzen oder zu fordern, sondern erwächst aus der Negation des Scheins und bleibt
daher letzten Endes eine „negative Solidarität“. Wie Adornos Reflexionen über Theorie und
Adorno, „Zu Subjekt und Objekt“, S. 152.
So auch Adorno, Negative Dialektik, S. 29.
49 Adorno, Metakritik der Erkenntnistheorie, S. 46. Siehe dazu auch Hermann: „Es scheint mir das Ergebnis der ersten
Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft zu sein, dass im Begriff der Erfahrung die Erfahrung als Erfahrung von
Neuem abgeschafft ist – ökonomisch ein Ausdruck dessen, dass das, was begegnet, Gegenstand der Aneignung ist“,
in: „Geschichte, Glück und Gleichheit in Kants Kritik der reinen Vernunft“, S. 462.
50 Dazu Adorno, „Zu Subjekt und Objekt“, S. 162.
51 „Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt, so ließe in ihm weder die ununterschiedene Einheit
von Subjekt und Objekt noch ihre feindselige Antithetik sich vorstellen; eher die Kommunikation des
Unterschiedenen“, op. cit., S. 153.
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Praxis zeigen, deren Akzent nicht auf einer Verbündung der Unterdrückten liegt,52 soll sich diese
allerdings auch nicht darauf beschränken, den Geist der Individualität wach zu halten. Wenn
jedoch bereits die Subsumption der Ausgebeuteten unter den Klassenbegriff eine pragmatisch
begründete Degradierung vollzog, so deckte erst das Scheitern (respektive Gelingen) der
Revolution auf, wie totalitär der sozialistische Solidaritätsbegriff in Kern angelegt war, indem er
die scheinbar im Begriff aufgehenden Individuen vollständig der Verwaltung (respektive
Avantgarde) auslieferte.53
In jüngster Zeit redet eine wirkmächtige Initiative einer Solidarität der Menschen das Wort, die an
Adornos Konzeption zu erinnern scheint. Gruppendynamik tritt auf mit dem Anspruch,
unangepasste Regungen zu stärken und nicht nur die Emanzipation des Einzelnen sondern
ausdrücklich auch die gesellschaftlichen Randgruppen zu fördern.54 Bei näherer Betrachtung
dieser Entfesselung eines schlummernden Potenzials sowohl im Individuum als auch in der
Sozialstruktur fällt zunächst die Ähnlichkeit mit dem Whiteheadschen Ansatz auf, die begriffliche
Reflexion durch die Unmittelbarkeit des Erlebens zu unterwandern. Und in dem Maße wie die
Einzelanalyse darauf hinausläuft, das „beschädigte“ Ich des Patienten durch eine Art Prothese,
die Übertragung, zu stützen, reagiert die Gruppentherapie auf eine „vaterlose Gesellschaft“, in
der kein hypostasiertes „Über-Ich“ mehr die uns alle chaotisch überflutende Realitätserfahrung
einzudämmen hülfe.55
Letztlich muss sich das Ich der Gruppe beugen; distanzierte Kritik erscheint als „abweichendes
Verhalten“, sogar mit einer gewissen inneren Logik, da es dem „gesunden Menschenverstand“ ja
nicht anders als deviant erscheinen kann, halsstarrig am subjektiven Widerstand festzuhalten, so
dass es als legitim gilt, diesen tendenziell auszulöschen und für den gemeinsamen Kampf gegen
die herrschende Rationalität zuzurichten. Nicht besser als dem subjektiven „Starrsinn“, den die
Gruppe darüber belehren soll, dass es normal wäre, verrückt zu werden, ergeht es den sozial Ausgegrenzten, die man in fernsehgerechter Dynamik davon überzeugen will, ihre verunsichernd wirkende Randstellung aufzugeben und sich dem eingefriedeten Chaos der Mitte zu überantworten.
Was das verselbständigte System offenbar nicht unmittelbar vermochte, gewährleistet um so
besser seine zur Methode organisierte Dynamik: Die einzig verbliebene Form von Widerstand,
immanente Kritik, durch Integration zu neutralisieren.
Dieser kleine Exkurs sollte gezeigt haben, dass Adornos Theorie nicht dazu taugt, solche Formen
von Solidarität schmackhaft zu machen. Daher bleibt nun zu untersuchen, wie in der Negativen
Adorno, „Marginalien zu Theorie und Praxis“, S. 169 ff.
„Derselbe Prozess, der in Wirklichkeit und Ideologie die Arbeit zum ökonomischen Subjekt erhoben hat, hat den
Arbeiter, der schon Objekt der Industrie war, auch noch zum Objekt der Arbeiterorganisation gemacht“,
Horkheimer, „Aufstieg und Niedergang des Individuums“, S. 141.
54 Siehe dazu Richter, Lernziel Solidarität, S. 222 f.
55 Ähnlich U. Sonnemann, Negative Anthropologie, S. 71 f.
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Dialektik das hier als „negative Rationalität“ bezeichnete Verhältnis von Subjekt und Objekt
konzipiert ist. Gegenüber der seitens der Gruppendynamik im Wesentlichen geübten Praxis
besteht Adorno auf der Entfaltung des Nichtbegrifflichen mittels des Begriffs: „Die Utopie der
Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.“56
Allerdings klingt diese Formulierung ein wenig verwirrend, wenn man bedenkt, dass der Begriff
im Idealismus als Vehikel der Unterdrückung fungierte, mit dem sich das abstrahierende Subjekt
über das konkrete Einzelne hinwegsetzte. Wenn aber Dialektik bewusst auf das Denkinstrument
der Synthese verzichtet, haben sich beide, Subjekt und Begriff, dieser Funktion entledigt, und
daraus folgt:
„Nachdem Philosophie das Versprechen, sie sei eins mit der Wirklichkeit oder stünde unmittelbar vor deren
Herstellung, brach, ist sie genötigt, sich selber rückhaltlos zu kritisieren.“ 57
Mit dem Subjekt verliert in Adornos negativer Wendung der Dialektik auch der Begriff sein
triumphales Pathos, die Natur endgültig kategorisiert und überwunden zu haben. So wird er zum
Ausdruck des Leidens an der Realität und formuliert in erster Linie eine große Reue, die Einsicht
in den „Schuldzusammenhang“.58 In diesem bedeutet Reflexion, die Verquickung von Freiheit
und Herrschaft, wie sie den gesamten Idealismus charakterisiert, im Blick zu behalten und weder
dem Freiheitsideal die längst geforderte Absage zu erteilen, noch den mit ihm begründeten
Herrschaftsanspruch länger zu unterstützen.
„Ist das Ganze der Bann, das Negative, so bleibt die Negation der Partikularitäten, die ihren Inbegriff an jenem
Ganzen hat, negativ. Ihr Positives wäre allein die bestimmte Negation, Kritik, kein umspringendes Resultat, das
Affirmation glücklich in Händen hielte.“59
Kurz, der Stellenwert des Begriffs hat sich gewandelt: Er markiert einen nicht mehr
aufzulösenden Widerspruch zwischen Einzelnem und Allgemeinem, muss jedoch, da er seine
Verwurzelung im Allgemeinen nicht verleugnen kann, Wiedergutmachung an dem Einzelnen
betreiben, das er traditionell mit spekulativer Vehemenz überrannte.60 Das abstrakte begriffliche
Denken hat eine Kruste um die Dinge gelegt, die nun nicht mehr durch eine noch so
konzentrierte Anstrengung der Reflexion aufzubrechen ist. Deshalb starrt es die verkrusteten
Adorno, Negative Dialektik, S. 19.
Adorno, Negative Dialektik, S. 13.
58 Weniger moralisch akzentuiert liest sich das so: „Die Kraft des Bewusstseins reicht an seinen eigenen Trug heran.
Rational erkennbar ist, wo die losgelassene, sich selbst entlaufene Rationalität falsch wird, wahrhaft zur Mythologie“,
Adorno, op. cit., S. 150.
59 Op. cit., S. 159.
60 „Die Unwahrheit aller erlangten Identität ist verkehrte Gestalt der Wahrheit. Die Ideen leben in den Höhlen
zwischen dem, was die Sachen zu sein beanspruchen, und dem, was sie sind“, op. cit., S. 151.
56
57
60
Strukturen nun lediglich mit unverwandtem Blick an in der Hoffnung, sie durch seine
Beharrlichkeit zu zermürben.
Subjekt und Rationalität der Massenkultur
Bisher standen zwangsläufig die „aristokratischen“ Grundzüge der Philosophie Adornos im
Vordergrund, postuliert er doch das kritische Subjekt als diejenige Instanz, die sich nicht in die
Massen der verwalteten Welt einfügt, sondern im Namen der individuellen Freiheit und
Autonomie geistigen Widerstand gegen deren Zumutungen übt. Die Schwierigkeit, dafür heute
einen kulturellen Rückhalt zu finden,61 verweist nochmals auf das Scheitern (respektive Gelingen)
der proletarischen Revolution mit dem Anspruch, die bürgerliche Kultur gewaltsam zu
überwinden und durch neue Werte zu ersetzen.62 Das Scheitern (respektive der grauenhafte
Erfolg) dieses Bemühens stellt die moderne Philosophie nicht nur erneut vor die Aufgabe,
tragfähige Kriterien der Kritik zu entwickeln, sondern förderte auch die Nivellierung der
bürgerlichen Kultur, die Ortega y Gasset wie folgt charakterisiert: „Die Individuen, die diese
Mengen bilden, gab es vorher, aber nicht als Menge.“63 Die immer weiter gesteigerte Warenfülle
erzeugte nicht nur eine weitgehende Angleichung im Konsum und lud dazu ein, diese als
„demokratische“ Entwicklung auszugeben, sie stärkte auch systemfremde Werte dergestalt, dass
von „Kultur“ im emphatischen Sinne kaum mehr die Rede sein kann. Diese Regression, die sich
am deutlichsten darin äußert, dass sich nur noch eine kleine Schar aufrechter Künstler dem
allgemeinen (profitablen) Trend zur Unterhaltung und zum Amüsement verweigert, bezeichnet
Adorno mit einem treffenden Begriff als „Kulturindustrie“.64
„Kraft der gesellschaftlichen Dynamik geht Kultur in Kulturkritik über, welche zwar den Begriff ,Kultur’ festhält,
deren gegenwärtige Erscheinungen aber als bloße Waren und Verdummungsmittel demoliert.“ 65
Neil Postman hat den kulturkritischen Ansatz Adornos aufgegriffen und verschärft. Ihn fasziniert
vor allem die Beobachtung, dass es in einer Massenkultur, die ihre Konsumenten mit Hilfe von
Medien wie dem Fernsehen sättigt und beglückt, keiner Gewalt bedarf, um soziale Unruhen oder
politischen Widerstand im Keim zu ersticken: Es genüge völlig, die Menschen so von der Droge
abhängig zu machen, dass sie sich den herrschenden Verhältnissen freiwillig unterordnen, ja diese
als ihnen eigentümlich ersehnen und wünschen.
Schön beschrieben bei Schmidt (wie Fn. 2), S. 72 f.
Vgl. dazu Trotzki, Literatur und Revolution, S. 390 f.
63 Vgl. Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, Stuttgart und Berlin 1931, S. 9.
64 Adorno/Horkheimer, „Kultur industrie. Aufklärung als Massenbetrug“, in: Dialektik der Aufklärung, S. 144 ff.
65 Adorno, „Kulturkritik und Gesellschaft“, S. 20 f.
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61
„Entgegen einer auch unter Gebildeten weit verbreiteten Ansicht haben Huxley und Orwell keineswegs dasselbe
prophezeit. Orwell warnt vor der Unterdrückung durch eine äußere Macht. In Huxleys Vision dagegen bedarf es
keines Großen Bruders, um den Menschen ihre Autonomie, ihre Einsichten und ihre Geschichte zu rauben. Er
rechnete mit der Möglichkeit, dass die Menschen anfangen, ihre Unterdrückung zu lieben und die Technologien
anzubeten, die ihre Denkfähigkeit zunichte machen.“66
Adorno suchte und fand seine Zuflucht vor der „heilen Welt“ des Amüsements in der modernen
Musik und leistete mit seiner Kompositionspraxis einen Beitrag dazu, den Protest im Namen des
Einzelnen in der Ästhetik zu begründen, die aus seinem philosophischen Bollwerk nicht
wegzudenken ist.67 In ihrem Licht erscheint die „Emanzipation“ des Körpers, die in Form des
Jugend-, Fitness- und Schönheitswahns – oft als öffentliche Zurschaustellung von Nacktheit –
einen festen Bestandteil der Kulturindustrie bildet, als Propaganda für die totale Entseelung,
während die Hüter der Seele ihrer Bedürfnisse nicht mehr Herr werden. Am Ende läuft all dies
auf eine Reizüberflutung hinaus, die es dem Einzelnen unvorstellbar erscheinen lässt, sich einer
Sache hinzugeben und in sie zu versenken, da die äußeren Impulse ihn wie in einem
Pawlowschen Großversuch zu einer bloßen Funktion von starken Stimuli degradieren.68 Doch
begnügt sich die Entlarvung des kulturindustriellen Scheins keineswegs damit, erneut an den
Teufelskreis der Systemimmanenz zu erinnern, sondern stützt sich auf eine solide historische
Basis.
Würde man anhand von Adornos Schriften eine Bilanz dessen erstellen, was er aus den
verschiedenen Kunstgattungen als kritisches Potenzial aufgreift, so ergäbe sich eine Art
Schnittmenge im Umkreis des zentralen Begriffs seiner Ästhetik: der Autonomie. Die bürgerliche,
wenn nicht gar aristokratische Aura, die ihn zu umgeben scheint, könnte als Nachbild des
Scheiterns einer neuen, wahrhaft humanistischen Kultur verstanden werden, so dass der Kritik
nichts anderes übrig blieb, als nolens volens wieder auf die Verheißungen einer großen Tradition
zurückzugreifen. Dabei erfährt diese, analog zum negativ gewendeten Begriff, eine Interpretation,
die dem schwelgerischen „Kunstgenuss“ ebenso eine Absage erteilt wie dem Habitus, Schönheit
als etwas „Überirdisches“ zu verklären. Um dies zu explizieren, ist nun näher zu untersuchen,
welche Rolle die Autonomie
in Adornos Ästhetik spielt und welche ästhetischen Impulse in
die Negative Dialektik eingeflossen sind.
Wollte man dem Chesterton-Zitat über Pimlico, das die Philosophie Whiteheads charakterisieren
sollte, ein entsprechendes für das Werk Adornos an die Seite stellen, so könnte dieses von Samuel
Beckett stammen. Und so sehr sich dessen Endspiel als literarisches Pendant der Negativen
Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, S. 7.
Ausführlich dazu Sonnemann, „Erkenntnis als Widerstand“, S. 163.
68 Vgl. dazu Adorno, „Kritik“, S. 12 f.
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67
62
Dialektik anbietet, die ihre Solidarität mit „Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“ bekennt,69 so
sehr zieht das Buch seine musikalischen und künstlerischen Impulse aus den Programmen der
Wiener Schule und des Konstruktivismus.70 Ihren Kompositionen aus unterschiedlichen
Epochen attestiert Adorno den Doppelcharakter, sowohl „faits sociaux“ als auch autonom zu sein
und damit den Maßstab für eine zeitgemäße Kritik zu setzen.71 Dass Kunstwerke
gesellschaftlichen Wesens sind, könnte als eine Tautologie erscheinen, hätte sich die moderne
Musik, der Adorno besondere Aufmerksamkeit schenkte, nicht, um jeder Vereinnahmung zu
entgehen, bewusst in einen Randbereich zurückgezogen und dort durch extreme ästhetische
Sperrigkeit eingekapselt.72 Insofern steht das Autonomiestreben bei der „ernsten Musik“ offenbar
so stark im Vordergrund, dass sie als Modell dafür dienen kann, was der Begriff bei Adorno
bedeutet. Allerdings erweist sich dies in gewissem Sinne als eine Täuschung, da Adorno in seinen
musikalischen Schriften gerade aus dieser Sperrigkeit die potenzielle gesellschaftliche Sprengkraft
der Kunst ableitet, wie das folgende Zitat, ein Musterbeispiel für das Sichversenken ins Einzelne,
veranschaulicht:
„Musik benimmt sich wie Tiere; als wollte ihre Einfühlung an deren geschlossener Welt etwas von dem Fluch der
Geschlossenheit gutmachen. Den Sprachlosen schenkt sie Laut durch tönende Imitation ihres Gehabes, erschrickt
selbst und wagt mit der Vorsicht von Hasen wiederum sich hervor, so wie ein ängstliches Kind mit dem kleinsten
Geißlein im Uhrkästchen sich identifiziert, das den bösen Wolf übersteht. Tönt das Horn des Postillons herein, so ist
als Hintergrund dazu die Stille des Gewusels mitkomponiert.“ 73
Das gesellschaftliche Wesen der Kunst lässt sich also nicht formal begründen, etwa mit der ihr
eigenen Sprache und deren Differenz zur begrifflichen; vielmehr ist sie gerade deshalb fait social,
weil sie den Nöten der vom System überwältigten und ihrer Stimme beraubten Individuen zum
Ausdruck verhilft.74
Woraus resultiert aber nach alledem die Eigenschaft der Autonomie, die Adorno zufolge den
Widerspruchsgeist großer Kunst bekundet?75 Traditionell galt, zum Beispiel in der
Transzendentalphilosophie Kants, das Subjekt als autonom, jedoch nicht das von ihm
Geschaffene. In der Folge haftete verselbständigten Produkten eher der Makel einer
„Die kleinsten innerweltlikchen Züge hätten Relevanz fürs Absolute, denn der mikrologische Blick zertrümmert
die Schalen des nach dem Maß des subsumierenden Oberbegriffs hilflos Vereinzelten und sprengt seine Identität,
den Trug, es wäre bloß Exemplar. Solches Denken ist solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“, so
Adorno in der Negativen Dialektik, S. 398.
70 Vgl. dazu Adorno, Ästhetische Theorie, S. 134, und „Im Jeu de Paume gekritzelt“, S. 43.
71 „Der Doppelcharakter der Kunst als autonom und fait social teilt ohne Unterlass der Zone ihrer Autonomie sich
mit“, Adorno, Ästhetische Theorie, S. 16.
72 Vgl. dazu op. cit., S. 177.
73 Adorno, Mahler, S. 157.
74 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 34.
75 Vgl Adorno, op. cit., S. 16.
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Entfremdung an und offenbarte ihre Unwahrheit gegenüber dem Subjekt.
„Das Subjekt hat die Entmächtigung, die ihm durch die von ihm entbundene Technologie widerfuhr, ins
Bewusstsein aufgenommen, zum Programm erhoben, möglicherweise aus dem unbewussten Impuls, die drohende
Heteronomie zu bändigen, indem noch sie, dem subjektiven Beginnen integriert, zum Moment des
Produktionsprozesses wird.“76
Danach scheint es, als hätte der Entfremdungsbegriff bei Adorno einen Wandel durchlaufen, so
dass er dazu dienen konnte, das Falsche gleichsam als Negativ der Kritik zugrunde zu legen, um
durch seine differenzierte Analyse das geächtete Andere zum Sprechen zu bringen.77 Geht man
diesem Gedanken nach, so erweist es sich als das Eigentümliche historisch relevanter
Kunstwerke, gerade in ihrem Misslingen zu gelingen, den Trug in seiner minuziösen Darstellung
zu durchbrechen. Autonom sind die Werke also, insofern sie als faits sociaux Entfremdung in
authentischer Weise vorführen und nicht, indem sie durch gewagte Manöver neue Formen der
Entfremdung produzieren.
„Das Moment des Geistes ist in keinem Kunstwerk ein Seiendes, in jedem ein Werdendes, sich Bildendes. Damit
fügt, wie Hegel erstmals gewahrte, der Geist der Kunstwerke einem übergreifenden Prozess von Vergeistigung sich
ein, dem des Fortschritts von Bewusstsein.“78
Die Analogie zur Hauptforderung an kritische Theorie ist hier nicht zu übersehen, doch da Kunst
sich – von der concept art einmal abgesehen – nie begrifflich äußert, kann sie nicht in
philosophischen Modellen aufgehen. Welches sind dann also die Kriterien des Gelingens, mit
dem Adorno die Autonomie der Kunst direkt identifiziert?79 Sie resultieren, was nach dem bisher
Ausgeführten kaum mehr erstaunt, in erster Linie aus der Materialgerechtigkeit. Wie der kritische
Philosoph begrifflich auf der Höhe seiner Zeit stehen muss, so obliegt es dem Künstler, in der
Bearbeitung seines (nicht begrifflichen) Materials buchstäblich dem state of the art gewachsen zu
sein. Das heißt nicht technische Perfektion, sondern meisterhafte Beherrschung der Technik.
Daraus lässt sich schließen, dass Kunst in Adornos Philosophie als negative Folie des absoluten
Wissens fungiert. Ähnlich wie die Philosophie ist sie aufgefordert, den jeweils fortgeschrittensten
Stand des Systems in ihrem Material zu reflektieren. Allein dadurch hält sie Vision seiner
Überwindung am Leben, die das ihm unterworfene Subjekt nicht in konkreter Form antizipieren
kann. Das autonome Kunstwerk überschreitet in seinem Gelingen sowohl das System als auch
Op. cit., S. 43.
So Schweppenhäuser, „Spekulative und negative Dialektik“, S. 83.
78 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 141.
79 Vgl. dazu op. cit., S. 60.
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sich selbst, mit dem alleinigen Versprechen, das unter dem „Bann“ liegende Potenzial an
unverwirklichter Freiheit negativ zu repräsentieren. Auf eben dieses Potenzial rekurriert auch die
kritische Theorie, würde jedoch sich selbst und ihre historische Aufgabe verraten, wenn sie sich
mit weniger begnügte und von den rein politischen Formen des Widerstandes vorgaukeln ließe,
dass es um den Menschen gehe und man heute schon in der Lage sei, den Stand der Freiheit in
einer forschen Zukunftsvision vorwegzunehmen.
Negative Rationalität und Sprache
Die von Adorno beschworene sachlogische Konsequenz, das begriffliche Denken dem nichtbegrifflichen Einzelnen als letztem verbliebenen u topos zuzuwenden,80 betrifft vor allem auch das
Verhältnis von Philosophie und Sprache.
„Ungeschmälerte Erkenntnis will, wovor zu resignieren man ihr eingedrillt hat und was die Namen ausblenden, die
zu nahe daran sind: Resignation und Verblendung ergänzen sich ideologisch. Ideosynkratische Genauigkeit in der
Wahl der Worte, so als ob sie die Sache benennen sollten, ist keiner der geringsten Gründe dafür, dass der
Philosophie ihre Darstellung wesentlich ist. Der Erkenntnisgrund für solche Insistenz des Ausdrucks vorm τόδε τι ist
dessen eigene Dialektik, seine begriffliche Vermittlung in sich selbst; sie ist die Einsatzstelle, das Unbegriffliche an
ihm zu begreifen.“81
Sprache muss, will sie dem Anspruch des Gedachten gerecht werden, ganz des verfügenden
Gestus sich entledigen, der als das Hauptmerkmal des „Herrschaftswissens“82 zu Recht in Verruf
geraten ist, ausschließlich dem abstrakten Allgemeinen zu dienen. Zugespitzt formuliert bleibt
dem sprachlichen Ausdruck selbstkritischer Philosophie nur ein schmaler Grat zwischen
Trivialität und Übergriff, so dass er einerseits stets vom Absturz bedroht ist, andererseits in seiner
Schroffheit auch etwas fast Verletzendes für den Leser in sich birgt. Ein Beispiel:
„Unterm Bann haben die Lebendigen die Alternative zwischen unfreiwilliger Ataraxie – einem Ästhetischen aus
Schwäche – und der Vertiertheit des Involvierten.“83
Dieser lapidare Satz aus dem dritten Modell der Negativen Dialektik veranschaulicht nicht nur die
Schärfe mancher Formulierungen Adornos, sondern auch seine Neigung zu sperrigen
Fremdwörtern altgriechischer und lateinischer Provenienz, um den möglichst schneidendsten
„Die Wahrheit des Neuen als des nicht bereits Besetzten hat ihren Ort im Intentionslosen“, Adorno, Ästhetische
Theorie, S. 47.
81 Adorno, Negative Dialektik, S. 58.
82 Siehe dazu op. cit., S. 103.
83 Op. cit., S. 354.
80
65
Ausdruck für seinen Gedanken einzuspannen, denn „Das lax Gesagte ist schlecht gedacht“.84
Und zwar in erster Linie deshalb, weil es eben darum geht, die oben beschriebenen
Verkrustungen des Abstrakten begrifflich aufzusprengen,85 was selbstverständlich auch zu
gewissen Erschütterungen oder, wie Adorno es nennt, chocs beim Leser führt.
Bei diesem Sprachgestus schlägt sogar die Mimesis ins Negative um, da sie nichts anderes
abbildet als die verhärteten Strukturen, die das Einzelne entstellen. Das römisch Klirrende dieses
Stils ist strikt antiromantisch, reißt in seinem Wahrheitsanspruch die Kluft zwischen Subjekt und
Objekt brutal auf, ohne sie letztlich wieder überbrücken zu wollen.86 Dennoch ist kaum zu
übersehen, dass Adorno ein „erotisches“ Verhältnis zur Sprache pflegte und darin ein Glück des
Geistes erlebte, das in der protestantischen Variante der Aufklärung, die zur Nüchternheit und
Askese mahnte, nicht vorgesehen war:
„Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert. Weil der Denkende es sich nicht antun
muss, will er es auch den Anderen nicht antun. Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht, ist das Glück der
Menschheit. Die universale Unterdrückungstendenz geht gegen den Gedanken als solchen. Glück ist er, noch wo er
des Unglück bestimmt; indem er es ausspricht. Damit allein reicht Glück ins universale Unglück hinein. Wer es sich
nicht verkümmern lässt, der hat nicht resigniert.“87
Keineswegs wird damit sprachlicher Unmittelbarkeit das Wort geredet. Die Freiheit der Sprache
besteht darin, sich in der Reflexion gegen sich selbst zu wenden und sich so das Zwanghafte als
Konglomerat von Verdrängung bewusst zu machen.88 Und das auch auf der intellektuellen
Ebene: „Die Idealisten haben den Geist verhimmelt, aber wehe, wenn einer ihn hatte.“89 Indem
sie der Verdrängung bis ins Vokabular hinein folgt,90 wehrt die Sprache sich dagegen, trotz ihres
Autonomiestrebens in eine unbewusste Abhängigkeit zu geraten.
„Überließe Erfahrung allein sich ihrer Dynamik, so wäre kein Halten. Ideologie lauert auf den Geist, der, seiner
selbst sich freuend wie Nietzsches Zarathustra, unwiderstehlich fast sich selbst zum Absoluten wird. Theorie
verhindert das. Sie berichtigt die Naivität seines Selbstvertrauens, ohne dass er doch die Spontaneität opfern müsste,
auf welche Theorie ihrerseits hinauswill.“91
Op. cit., S. 28, siehe auch Schweppenhäuser, „Kritik und Rettung“, S. 79.
Adorno, Negative Dialektik, S. 22.
86 Op. cit., S. 59.
87 Adorno, „Resignation“, S. 13.
88 Vgl. dazu tiefschürfend Arno Schmidt, Sitara oder der Weg dorthin, S. 146.
89 Adorno, Negative Dialektik, S. 380.
90 Zum Beispiel: „Der gängige, aus den Feuerbachthesen extrapolierte Einwand, das Glück des Geistes sei inmitten
des ansteigenden Unglücks der explodierenden Bevölkerung der armen Länder, nach den geschehenen und
bevorstehenden Katastrophen, unerlaubt, hat gegen sich nicht bloß, dass er meist aus der Impotenz eine Tugend
macht“, op. cit., S. 240.
91 Op. cit., S. 39.
84
85
66
So wenig diese Symbiose von sprachlicher Darstellungskunst und inhaltlicher Reflexion auf den
Wahrheitsanspruch verzichtet – ganz im Gegenteil: „Wahrheit ist objektiv und nicht plausibel“92
–, so stark misstraut sie dem Maßstab der Allgemeinverständlichkeit. „Kriterium des Wahren ist
nicht seine unmittelbare Kommunizierbarkeit an jedermann. Zu widerstehen ist der fast
universellen Nötigung, die Kommunikation des Erkannten mit diesem zu verwechseln und
womöglich höher zu stellen, während gegenwärtig jeder Schritt zur Kommunikation hin die
Wahrheit ausverkauft und verfälscht.“93 Doch Denken, das den Primat der Mitteilbarkeit um der
Wahrheit und Authentizität des Gedachten willen zurückweist, manövriert sich in ein Abseits, das
scheinbar
seinen
eigenen
Geltungsanspruch
konterkariert.
Aus
der
Kommunikation
hervorgegangen, richtet es sich nun in einer Art Kehre gegen sich selbst,94 stützt seinen
Wahrheitsanspruch direkt auf diese Abkapselung macht die Einsamkeit buchstäblich zur
Bedingung echter Erkenntnis. Dadurch rückt nun die Affinität von Adornos Denken mit dem de
Sades und Nietzsches in den Vordergrund,95 worin man einen Hinweis auf die besondere
Mündigkeit sehen kann, zu der die Analyse der spätbürgerlichen Dekadenz zwingt.96 Bataille hat
den sprachlichen Gestus der Einsamkeit im Werk de Sades wie folgt herauspräpariert:
„Sade spricht, aber er spricht im Namen des schweigenden Lebens, im Namen einer vollständigen, unvermeidlich
stummen Einsamkeit. Der Einsame, dessen Wortführer er ist, nimmt in keiner Weise Rücksicht auf seinesgleichen:
Er ist in seiner Einsamkeit souverän, niemandem Erklärungen, niemandem Rechenschaft schuldig. Niemals hält er
sich bei der Furcht auf, das Unrecht, das er Anderen zufügt, könne auf ihn zurückfallen: Er ist allein und tritt niemals
in die Bande ein, die ein gemeinsames Gefühl der Schwäche zwischen ihm und Anderen knüpft. Das erfordert eine
äußerste Energie, aber es handelt sich ja auch um äußerste Energie. Bei der Beschreibung dieser moralischen
Einsamkeit mit all ihren Implikationen zeigt Maurice Blanchot, wie sich der Einsame Grad um Grad der totalen
Vernichtung zuwendet: der Anderen zunächst und durch eine Art monströser Logik auch seiner selbst. […] Aber,
wird man sagen, die Sprache Sades ist nicht die Normalsprache. Er wendet sich nicht an den Erstbesten; Sade
bestimmt sie für die seltenen Geister, die fähig sind, im Schoß des Menschengeschlechts eine unmenschliche
Einsamkeit zu erreichen. Wer spricht, verstößt, und wenn er noch so blind ist, immer gegen die Einsamkeit, zu der
ihn die Negation der Anderen verurteilte. […] Es gibt keinen Platz für eine rechtschaffene Sprache, wie sie bis zu
einem gewissen Grade Sades ist. Die paradoxe Einsamkeit, in der Sade sie verwendet, ist nicht das, was sie scheint:
Sie will getrennt sein vom Menschengeschlecht, hat dessen Negation vor, aber sie hat ein Vorhaben! Dem Betrug des
Einsamen, zu dem Sade sein exzessives Leben – und seine endlose Haft – machten, ist keine Grenze gesetzt, außer
in einem Punkt. Wenn er nicht der Menschheit die Negation der Menschheit schuldete, so schuldete er sie sich
selbst: Letzten Endes sehe ich schwerlich einen Unterschied.“97
Op. cit., S. 50.
Op. cit., S. 49 f.
94 „Erheischt negative Dialektik die Selbstreflexion des Denkens so impliziert das handgreiflich, Denken müsse, um
wahr zu sein, heute jedenfalls auch gegen sich selbst denken“, op. cit., S. 356.
95 Näheres dazu bei Schmidt, „Adorno – ein Philosoph des realen Humanismus“, S. 71.
96 So Bataille, La part maudite, S. 246.
97 Bataille, Der heilige Eros (L’Erotisme), S. 186 f.
92
93
67
Freilich lassen sich diese am Werk de Sades gewonnenen Beobachtungen und Einsichten nicht
unmittelbar auf das Adornos übertragen. Doch eine vergleichende Analyse der Schriften de
Sades, Nietzsches und Adornos dürfte weit reichende Ähnlichkeiten bis in die Stilistik hinein
offenbaren, resultierend aus einem gemeinsamen Grundmotiv: der problematisch gewordenen
Souveränität des Subjekts. Fragt man sich vor diesem Hintergrund, was sie dann überhaupt noch
zum Schreiben und Publizieren veranlasste, so gibt Bataille für de Sade die folgende Antwort:
„Sade hat gesprochen, um sich in seinen Augen vor den Anderen zu rechtfertigen.“98
Was Nietzsche angeht, so bemerkt Schlechta über ihn: „Nietzsche hat sich als Opfer in den
Abgrund der Zeit geworfen. Der Abgrund hat sich geschlossen. Nunmehr können wir
hinübergehen.“99
Adorno möchte ich zunächst in eigener Sache für sich selbst sprechen lassen:
„Demgegenüber ist der kompromisslos kritisch Denkende, der weder sein Bewusstsein überschreibt, noch zum Handeln sich terrorisieren lässt, in Wahrheit der, welcher nicht ablässt. Denken ist nicht die geistige Reproduktion
dessen, was ohnehin schon ist. Solange es nicht abbricht, hält es die Möglichkeit fest. Sein Unstillbares, der
Widerwille dagegen, sich abspeisen zu lassen, verweigert sich der törichten Weisheit von Resignation. In ihm ist das
utopische Moment desto stärker, je weniger es – auch das eine Form des Rückfalls – zur Utopie sich
vergegenständlicht und dadurch deren Verwirklichung sabotiert. Offenes Denken weist über sich hinaus. Seinerseits
ein Verhalten, eine Form von Praxis, ist es der verändernden verwandter als eines, das um der Praxis willen pariert.
Eigentlich ist Denken schon vor allem besonderen Inhalt die Kraft zum Widerstand und nur mühsam ihr entfremdet
worden. Ein solcher emphatischer Begriff von Denken allerdings ist nicht gedeckt, weder von bestehenden
Verhältnissen, noch von irgendwelchen Bataillonen, noch von zu erreichenden Zwecken. Was einmal gedacht wird,
kann unterdrückt, vergessen werden, verwehen. Aber es lässt sich nicht ausreden, dass etwas davon überlebt. Denn
Denken hat das Moment des Allgemeinen. Was triftig gedacht wurde, muss woanders, von Anderen gedacht werden:
dies Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtigsten Gedanken.“100
Trotz des eschatologischen Grundtons, den dieses Zitat aus dem letzten Essay Adornos
unverkennbar aufweist: Hier kann weder von Selbstaufopferung noch von Selbstrechtfertigung
ernsthaft die Rede sein. Trotz all ihrer Insichgekehrtheit zielen die Formulierungen allein auf die
Relevanz und Authentizität des Gedachten, ohne sich dadurch beirren zu lassen, dass die
Botschaft des Werks eine Art Flaschenpost mit ungewisser Strandung ist.101 Insofern hätte
Adorno gewiss das folgende Bekenntnis Batailles nachvollziehen können:
Op. cit., S. 188.
Schlechta, „Nachwort“, S. 1452.
100 Adorno, „Resignation“, S. 17.
101 In der Tat haben Mitemigranten berichtet, dass Adorno an der kalifornischen Küste davon schwärmte, die Quintessenz seiner Philosophie auf ein Blatt zu schreiben und als Flaschenpost ins Meer zu werfen. H. Eisler soll frotzelnd
gemutmaßt haben, was wohl auf dem Zettel stünde: „Ich bin ein metaphysischer Miesmacher.“
98
99
68
„Doch der aufrichtige Mensch weiß, dass er allein ist und nimmt es auf sich: Alles, was sich in ihm, eine Erbschaft
von siebzehn Jahrhunderten Feigheit, auf Andere und nicht auf ihn selbst bezieht, negiert er: Mitleid zum Beispiel,
Dankbarkeit, Liebe, lauter Gefühle, die er zerstört; indem er sie zerstört, gewinnt er die ganze Kraft zurück, die er
diesen entkräfteten Regungen hätte widmen müssen, und, was noch wichtiger ist, er bezieht aus der Arbeit der
Zerstörung den Keim einer wirklichen Energie.“102
Adornos Denken ist bis in die sprachliche Darstellungsform hinein „ungedeckt“, zielt auf ein
Anderes und zehrt zugleich von einer „geheimen Lichtquelle“.103 Doch so wenig es benennen
kann und will, was dieses Andere wäre – um es nicht der Verfügbarkeit als ein allgemeines
Prinzip preiszugeben –, so sehr schwebt es dennoch in der Gefahr, als „Protokollsatz“ vom
historischen Prozess vereinnahmt zu werden. So lebt es in der unauflöslichen Spannung, sich als
Philosophie realisieren zu müssen, um dem Siegeszug eines irrationalen Rationalismus auf der
begrifflichen Ebene Einhalt zu gebieten:
„Kern der Kritik am Positivismus ist es, dass er der Erfahrung der blind herrschenden Totalität, ebenso wie der
treibenden Sehnsucht, dass es endlich anders werde, sich sperrt und Vorlieb nimmt mit den sinnverlassenen
Trümmern, die nach der Liquidation des Idealismus übrig sind, ohne Liquidation und Liquidiertes ihrerseits zu
deuten und auf ihre Wahrheit zu bringen.“ 104
Gleichzeitig jedoch wegen der unabweisbaren Drohung, von dieser blind vorantreibenden
Rationalität selbst vereinnahmt zu werden, an der philosophischen Darstellungsform als einer
grundsätzlich ambivalenten zu leiden:
„Allein schon die Form der Kopula, des ,Ist’, verfolgt jene Intention des Aufspießens, deren Korrektur an der
Philosophie wäre; insofern ist alle philosophische Sprache eine gegen die Sprache, gezeichnet vom Mal ihrer eigenen
Unmöglichkeit.“105
Die Überwindung von Subjektivität
Ein im Vorangegangenen schon angesprochener Punkt kann wegen der Adorno-Rezeption in
Deutschland nicht nachdrücklich genug betont werden: Die negative Wendung der Dialektik zielt
auf das autonome Subjekt, auch und gerade da, wo sie demokratische Strukturen anmahnt.106
Bataille (wie Fn. 97), S. 169.
Mündliche Äußerung Adornos im Seminar vom 22. 5. 1969: „Ohne eine geheime Lichtquelle wäre die Negative Dialektik nicht zu verstehen.“
104 Adorno, „Einleitung“ zu Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, S. 22.
105 Adorno, Drei Studien zu Hegel, S. 335.
106 Vgl. etwa Adorno, „Kritik“, S. 15.
102
103
69
Allerdings soll die Subjektivität nicht als Lückenbüßerin dienen, um eine idealistische Vorgabe
einzulösen, sondern vielmehr eine historische Antizipation überwinden, um nicht regressiv hinter
sie zurückzufallen.
„Gerade die äußerste idealistische Spitze seines [Hegels] Denkens, die Konstruktion des Subjekt-Objekts, ist
keineswegs als Übermut des losgelassenen Begriffs abzutun. Bereits bei Kant bildet die geheime Kraftquelle die Idee,
dass die in Subjekt und Objekt entzweite Welt, in der wir gleichsam als Gefangene unserer eigenen Konstitution nur
mit Phänomena zu tun haben, nicht das Letzte sei. Dem fügt Hegel ein Unkantisches hinzu: Dass wir, indem wir den
Block, die Grenze begrifflich fassen, die der Subjektivität gesetzt ist; indem wir diese als ,bloße’ Subjektivität
durchschauen, bereits über die Grenze hinaus seien.“107
In der begrifflichen Überschreitung von Subjektivität reflektiert sich jedoch auch die reale
Ohnmacht des bürgerlichen Subjekts,108 das sich ihrer erst mit der gesellschaftlichen
Inthronisation und institutionellen Verfestigung des Hegelschen Systems vollends bewusst
werden konnte.
„Aber lückenloses System und vollbrachte Versöhnung sind nicht das Gleiche, sondern selber der Widerspruch: Die
vom Hegelschen System begriffene Welt hat sich buchstäblich als System, nämlich das einer radikal
vergesellschafteten Gesellschaft, erst heute, nach hundertfünfundzwanzig Jahren, satanisch bewiesen.“ 109
Diese gespenstische Metamorphose von gedanklicher in gesellschaftliche Organisation, die auch
im Verhältnis von Naturwissenschaft und Technik vielfach vollzogene Operationalisierung von
Abstraktionen, bildet den Ausgangspunkt für Adornos Reflexionen über Möglichkeiten, die
Subjektivität zu transzendieren. Was sich nämlich soziologisch als eine durchaus differenziert zu
betrachtende Niederlage darstellt, hatte Hegel noch als Ambivalenz festgehalten, indem er das
Subjekt als siegendes und besiegtes zugleich triumphieren und die scheinbar unüberschreitbare
Grenze seiner Konstitution überschreiten ließ.110
„Hegel hat, in der Sprache der Erkenntnistheorie und der aus ihr extrapolierten der spekulativen Metaphysik,
ausgesprochen, dass die verdinglichte und rationalisierte Gesellschaft des bürgerlichen Zeitalters, in der die
naturbeherrschende Vernunft sich vollendete, zu einer menschenwürdigen werden könnte, nicht indem sie auf ältere,
vorarbeitsteilige, irrationalere Stufen regrediert, sondern indem sie ihre Rationalität auf sich selbst anwendet, mit
anderen Worten, der Male von Unvernunft heilend noch an ihrer eigenen Unvernunft innewird, aber auch der Spur
Adorno, Drei Studien zu Hegel, S. 255.
„In der geistigen Allmacht des Subjekts hat seine reale Ohnmacht ihr Echo. Das Ichprinzip imitiert sein Nagat“,
Adorno, Negative Dialektik, S. 179, siehe auch ders., Minima Moralia, S. 56 f.
109 Adorno, Drei Studien zu Hegel, S. 273.
110 Op. cit., S. 313.
107
108
70
des Vernünftigen am Unvernünftigen.“111
Unausgesprochen bleibt in diesem Zitat, an welcher Instanz sich Vernunft und Unvernunft
brechen. Folgen wir jedoch dem Gedankengang, so verweist er auf die – stillgestellte – Dialektik
von Subjekt und Totalität, die es dem Einzelnen zwar noch ermöglicht, ein erstarrtes Ganzes zu
diagnostizieren, zugleich aber seine Ohnmacht, das heißt seine Unfähigkeit, es durch Kritik
wieder in Bewegung zu setzen, historisch reflektiert.
„Nur durch ihre Spaltung in die einander entgegengesetzten Interessen der Verfügenden und der Produzierenden
hindurch hat die Gesellschaft sich am Leben erhalten, sich erweitert reproduziert, ihre Kräfte entfaltet. Der Blick
dafür hat Hegel vor allem Sentimentalismus, aller Romantik, allem Zurückstauen des Gedankens und der Realität auf
vergangene Stufen bewahrt. Entweder die Totalität kommt zu sich selber, indem sich versöhnt, also durch den
Austrag ihrer Widersprüche die eigene Widersprüchlichkeit wegschafft, und hört auf, Totalität zu sein, oder das alte
Unwahre dauert fort bis zur Katastrophe. Das Ganze der Gesellschaft treibt über sich hinaus.“ 112
Die wiederholt beklagte Entthronung und Entmündigung des Subjekts geht also Hand in Hand
mit einer fortschreitenden Verselbständigung der gesellschaftlichen Totalität – und das auch ohne
totalitären Staat –, die Adornos Analyse zufolge ihre Triebkraft zwar aus schonungsloser
Gleichmacherei bezieht, aber dennoch nicht durch den Widerstand des Einzelnen aufzuhalten
ist.113 Angesichts dieser Verheizung des Subjekts im Räderwerk des Systems erscheint es mehr als
paradox, überhaupt noch von seiner Autonomie oder gar Überwindung zu einer „höheren
Gestalt“114 zu sprechen. Doch die Paradoxie löst sich auf, wenn man bedenkt, dass Adorno nicht
ausschließlich „von Hegel her“ dachte, sondern in seiner Kritik, die bereits das Programm der
Negativen Dialektik formuliert, die nach wie vor unentschiedene Debatte zwischen Kant und
Hegel hervorhebt:
„Noch an Hegel bewährt sich jenes Philosophem, dass dem, was zugrunde geht, sein eigenes Recht widerfährt; als
urbürgerlicher Denker untersteht er dem urbürgerlichen Spruch des Anaximander. Ohnmächtig wird die Vernunft,
das Wirkliche zu begreifen, nicht bloß um der eigenen Ohnmacht willen, sondern weil das Wirkliche nicht die
Vernunft ist. Der Prozess zwischen Kant und Hegel, in dem dessen schlagende Beweisführung das letzte Wort hatte,
ist nicht zu Ende; vielleicht weil das Schlagende, die Vormacht der logischen Stringenz selber, gegenüber den
Kantischen Brüchen die Unwahrheit ist. Hat Hegel, vermöge seiner Kantkritik, das kritische Philosophieren
großartig über den formalen Bereich hinaus erweitert, so hat er in eins damit das oberste kritische Moment, die
Op. cit., S. 312 f.
Op. cit., S. 317.
113 Siehe dazu folgende Erläuterung: „Diese Konzeption verrät etwas vom Erfahrungskern des Hegelschen Denkens.
Es ist listig insgesamt; es erhofft sich den Sieg über die Übergewalt der Welt, die es ohne Illusion durchschaut,
davon, dass es diese Übergewalt gegen sich selbst wendet, bis sie ins Andere umschlägt“, op. cit., S. 287.
114 Vgl. Adorno, „Zu Subjekt und Objekt“, S. 153.
111
112
71
Kritik an der Totalität, am abschlusshaft gegebenen Unendlichen eskamotiert.“115
Aus dieser Spannung, die sich als diejenige zwischen der Vernünftigkeit des Wirklichen116 und der
Rationalität des Subjekts darstellen lässt, lebt die kritische Philosophie Adornos, und sie bildet
auch das zentrale Thema zunächst der Dialektik der Aufklärung und später der Negativen Dialektik.
Ihre Überwindung wäre zugleich die der Subjektivität selbst: Autonomie des Subjekts ist daher
nichts anderes als die bewusste und konsequente Reflexion über das Auseinandertreten der
beiden Aspekte.117 Die Schwierigkeiten dieser Konzeption liegen auf der Hand und zwingen zum
Verzicht auf eine abschließende theoretische Rechtfertigung des Gedachten, allerdings mit einem
Notbehelf: „Philosophisches Ideal wäre, dass die Rechenschaft über das, was man tut, überflüssig
wird, indem man es tut.“118 Außerdem gibt es einen weiteren historischen Anknüpfungspunkt,
der für Adornos Denken von überragender Bedeutung ist: das Werk Nietzsches. Dessen
Unbefangenheit erlaubt ihm, einen regelrecht zersetzenden (psycho-analytischen) Blick auf die
Meisterdenker der Aufklärung zu werfen:
„Das System ist der Geist gewordene Bauch, Wut die Signatur eines jeglichen Idealismus. Sie entstellt noch Kants
Humanismus, widerlegt den Nimbus des Höheren und Edleren, mit dem sie sich zu bekleiden verstand. Die Ansicht
vom Menschen in der Mitte ist der Menschenverachtung verschwistert; nichts unangefochten lassen. Die erhabene
Unerbittlichkeit des Sittengesetzes war vom Schlag solcher rationalisierten Wut aufs Nichtidentische, und auch der liberalistische Hegel war nicht besser, als er mit der Superiorität des schlechten Gewissens die abkanzelte, welche dem
spekulativen Begriff, der Hypostasis des Geistes sich verweigern. Nietzsches Befreiendes, wahrhaft eine Kehre des
abendländischen Denkens, die spätere bloß usurpierten, war, dass er derlei Mysterien aussprach. Geist, der die
Rationalisierung – seinen Bann – abwirft, hört kraft seiner Selbstbesinnung auf, das radikal Böse zu sein, das im
Anderen ihn aufreizt.“119
In Nietzsches Denkeskapaden reflektiert sich auf besonders extreme Weise die gebrochene
Stellung des Subjekts, siegendes und besiegtes zugleich zu sein; sie wird anschaulich im
Auseinandertreten von Einzelnem und Gattung, von Ich und Selbst:120
„Über sich selber zu lachen, wie man lachen müsste, um aus der ganzen Wahrheit heraus zu lachen, dazu hatten bisher
die Besten nicht genug Wahrheitssinn und die Begabtesten viel zu wenig Genie! Es gibt vielleicht auch für das
Lachen noch eine Zukunft! Dann, wenn der Satz ,die Art ist alles, einer ist immer keiner’ sich der Menschheit
Adorno, Drei Studien zu Hegel, S. 323.
Nach Hegels berühmtem Motto: „Was wirklich ist, das ist vernünftig, und was vernünftig ist, das ist wirklich.“
117 Vgl. dazu Adorno, „Zu Subjekt und Objekt“, S. 164.
118 Adorno, Negative Dialektik, S. 55.
119 Op. cit., S. 32.
120 „Die Nietzsches Text zerreißende Schizophrenie ist nicht gewollt in dem Sinne, als hätte ein Subjekt, das sich als
Herr seiner selbst in multiplen Rollen oder Verkleidungen gefällt, sie bewusst erzeugt. Vielmehr handelt es sich hier
wirklich um Wahnsinn“, H. Wismann in: Nietzsche aujourd’hui, Bd. 2, S. 340.
115
116
72
einverleibt hat und jedem jederzeit Zugang zu dieser letzten Befreiung und Unverantwortlichkeit offen steht.
Vielleicht wird sich dann das Lachen mit der Wahrheit verbündet haben, vielleicht gibt es dann nur noch ,fröhliche
Wissenschaft’. Einstweilen ist es noch ganz anders, einstweilen ist die Komödie des Daseins sich selber noch nicht
bewusst geworden – einstweilen ist es immer noch die Zeit der Tragödie, die Zeit der Moralen und Religionen.“ 121
Nietzsche hatte bereits die Konsequenz gezogen, dass es nun dem Subjekt obliege, den Konflikt,
der aus dem Niedergang der Metaphysik und damit der autonomen Gestalt von Subjektivität
resultierte, in sich selbst auszutragen.122 Seinen Beitrag zu dieser letzten Problematik des Subjekts
hat er, wie Schlechta bemerkte,123 als Opfergang für das Neue verstanden, als Überbrückung des
Abgrundes zwischen dem bereits überwundenen Menschen und dem vorerst nur antizipierten
Übermenschen.124 Im Zarathustra nicht weniger als in der Negativen Dialektik findet sich das Ich
nur noch als negativ bestimmtes: Nicht als eines, das in seiner souveränen Gestalt die bürgerliche
Tradition als einen zu bewahrenden Wert in sich verkörperte, sondern als das sie hinter sich
lassende, die bewusste Negation des Humanismus. Ebenso wie Nietzsche spricht auch Adorno
aus, dass man nicht ohne geistige Regression hinter das historisch Erreichte zurückfallen kann;
insofern nimmt das Denken heute eine Art Stellvertreterfunktion wahr: Es hält die leere Position
des Subjekts gegenüber einem Erkenntnissystem, das sich von ihm und seiner Begriffsherrschaft
abgelöst hat.
Offenbar resultiert daraus eine ihrer selbst bewusste Schizophrenie,125 nämlich die unentrinnbare
Reflexion über die Spaltung des Subjekts, die keinen anderen Ausweg sieht als den einer „Versöhnung“. Sowohl in seiner Polemik gegen Heidegger126 als auch in der gegen Bloch127 hält Adorno
an der Ausweglosigkeit dieser von Nietzsche vorgelebten „Schizophrenie“ fest, ohne sich darüber
zu trösten, dass Trost die falsche Antwort darauf wäre.
Das kritische Bewusstsein sieht also auch in der Dialektik selbst kein Instrument der wahren
Erkenntnis mehr, „sondern Hegel hat bis ins Innerste gespürt, dass nur durch jenes Entfremdete,
nur gleichsam durch die Übermacht der Welt über das Subjekt hindurch die Bestimmung des
Menschen überhaupt sich realisieren kann“.128 So bleibt ihm kein anderer Weg als der, seine Einsicht, auch Objekt des Systems zu sein, begrifflich zu formulieren. Frei ist es nur in der Anerkennung seiner Unfreiheit, autonom nur im dabei erlebten „Glück des Geistes“. Bewusstsein, das die
Negation des Bestehenden will, zwingt sich selbst zur Einsicht in seine historisch bedingte Schi-
Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, S. 34.
Vgl. dazu Grlic, „Nietzsche et l’éternelle retour du même ou le retour de l’essence artistique dans l’art“, S. 125.
123 Siehe oben, Fn. 99, S. 66.
124 Siehe Nietzsche, Also sprach Zaratrhustra, S. 301.
125 Näheres dazu bei Adorno, Drei Studien zu Hegel, S. 285.
126 Vgl. Adorno, Negative Dialektik, S. 67 ff., und ders., Jargon der Eigentlichkeit.
127 Vgl. Adorno, „Große Blochmusik“.
128 Adorno, Drei Studien zu Hegel, S. 287.
121
122
73
zophrenie. Setzt es dagegen das vermeintlich Positive als Ideal, so tut sich der von Nietzsche beschworene Abgrund auf, der schließlich auch in es hineinblickt.
74
Schluss
Ausgangspunkt dieser Untersuchung war die sonderbare historische Verwerfung zwischen Whitehead und Adorno, die mit der wachsenden Kluft zwischen der rationalen Organisation der
bürgerlichen Gesellschaft und den im Subjekt verankerten Vernunftprinzien in Zusammenhang
gebracht wurde. Auch wenn diese Kluft in der gemeinsamen Lebenszeit der beiden Philosophen
zum Abgrund des Holocaust aufriss, hatte sie sich bereits viel früher zu öffnen begonnen,
spätestens mit den großen Systemen des deutschen Idealismus, auf die sich beide ausdrücklich
beziehen – Adorno zufolge aber schon in der griechischen Mythologie, bei der die Dialektik der
Aufklärung ansetzt. Wenn Whitehead die kopernikanische Wende Kants abermals wenden wollte,
um wieder bei seinen Vorgängern anzuknüpfen, so findet dies im Denken Adornos eine
interessante Parallele: Er führt das Hegelsche System der Verwirklichung des Weltgeistes über
sich hinaus, geht „logisch“ betrachtet hinter seine Vollendung zurück und verharrt in der offenen
Kontroverse zwischen ihm und der Kantschen Aporetik, um die historische Unmöglichkeit der
dialektischen Synthese für den Protest im Namen des Einzelnen fruchtbar zu machen. Während
Whitehead gegen Ende seiner Sozialanalyse fast euphorisch von einer „Episode im
Sichtbarwerden der Vernunft“ spricht,1 erkannte Adorno in dieser Epiphanie die teuflische
Verselbständigung der von Hegel begrifflich erfassten Rationalität im System der
Sozialorganisation. Ich zitiere nochmals: „Die vom Hegelschen System begriffene Welt hat sich
buchstäblich als System, nämlich das einer radikal vergesellschafteten Gesellschaft … satanisch
bewiesen.“
In dieser grundverschiedenen Bewertung einer von beiden diagnostizierten radikalen Umwälzung
der
Subjekt-Objekt-Struktur
liegt
der
Schlüssel
für
die
unterschiedlichen
philosophiegeschichtlichen Anknüpfungspunkte. Whitehead ging hinter Kant zurück, aber von
dort auch wieder über ihn hinaus, weil er dessen transzendentale Überhöhung des Subjekts und
die damit verbundene Einkapselung der Vernunft mit den fortschrittlichen Denkmöglichkeiten in
Einklang zu bringen vermochte, die er in den modernen Naturwissenschaften angelegt sah.2
Adorno dagegen misstraute der in seinen Augen sinnentleerten Rationalität dieser Wissenschaften
und hielt es für das große Verdienst Kants, die kritische Funktion des Subjekts akzentuiert zu
haben in einem System, das die Konsequenzen dieser Kritik bis in die aporetische Aufspaltung
der Erkenntnisgrenzen hinein stringent ausformuliert. Um den Stellenwert der Kontroverse zu
bestimmen, muss man also darüber nachdenken, welche Bedeutung der Autonomie des Subjekts
in der philosophischen Orientierung überhaupt zukommen kann. Hermann prüft in seinem
Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S. 241.
„Die noch immer dem Wort von der kopernikanischen Wende Überzeugungskraft zutrauen, müssen Einstein wohl
verschlafen haben“, Jung, „Ivor Leclerc: Whitehead’s Metaphysics”, S. 194.
1
2
75
Kant-Essay die Alternativen und entscheidet sich für den Whiteheadschen Ansatz:
„Bei der Beschreibung des Glücks, das die Einzelnen finden, wird im Folgenden davon ausgegangen, dass sie auf
Grund ihrer Sozialisation noch auf Identität festgelegt sind; es für sie schwierig ist, Bewusstsein wie
Verhaltensformen in Frage zu stellen. Andererseits ist auch das am Gedanken der Kritischen Theorie richtig und
mitzubedenken, dass die Autonomie des Einzelnen ein emanzipatives Moment enthält. Kants Begriff der Autonomie
jedoch zu einer Entdeckung zu stempeln, die unter allen Umständen zu bewahren sei, ist darum gefährlich, weil er –
von den ökonomischen Bedingungen zu schweigen – ein Substrat voraussetzt, das wenigstens für dieses Leben
Identität besitzt. An ein künftiges glaubte nicht einmal mehr Kant. Doch losgelöst von der Idee der Unsterblichkeit
ist der Identitätsbegriff eitel. Dass er Fiktion ist, gehört zu den tieferen Einsichten seiner Kritik der reinen Vernunft.
Bekennerisch ist dieses Werk, indem es den Prozess der Selbstzerstörung von Ich vorführt. Nicht die Entdeckung
von Autonomie, sondern diejenige der Bedeutung von Verhalten und die subversive Abarbeitung des
Identitätsbegriffs ist dasjenige an Kants Psychologie, was zählen dürfte.“3
Offenbar zehrt diese Hervorhebung des subversiven Charakters von Kants Philosophie, was die
Identität und Autonomie des Subjekts angeht, von der Hoffnung darauf, dass die Auflösung des
Identitätskonzepts eine befreiende Wirkung entfalten könnte.
Auch für Adornos Kant-Rezeption war der enge Zusammenhang zwischen Identität und Idee
der Unsterblichkeit von zentraler Bedeutung. Davon zeugt eine im Kontext der Negativen Dialektik ziemlich unerwartete und verblüffende Passage:
„Wäre der Tod jenes Absolute, das die Philosophie positiv vergebens beschwor, so ist alles überhaupt nichts, auch
jeder Gedanke ins Leere gedacht, keiner lässt mit Wahrheit irgend sich denken. Denn es ist ein Moment von
Wahrheit, dass sie samt ihrem Zeitkern dauere; ohne alle Dauer wäre keine, noch deren letzte Spur verschlänge der
Tod. Seine Idee spottet des Denkens kaum weniger als die von Unsterblichkeit. Aber das Unausdenkbare des Todes
feit
den
Gedanken
nicht
gegen
die
Unverlässlichkeit
jeder
metaphysischen
Erfahrung.
Der
Verblendungszusammenhang, der alle Menschen umfängt, hat Teil auch an dem, womit sie den Schleier zu zerreißen
wähnen. Anstelle der Kantischen Frage, wie Metaphysik möglich sei, tritt die geschichtliche, ob metaphysische
Erfahrung überhaupt noch möglich ist.“4
Wie gesehen bildet die gleiche Frage nicht eine späte Sorge, sondern gerade den Ausgangspunkt
von Whiteheads Denken, und auch er stellt eine enge Verbindung zwischen Identität und
Unvergänglichkeit her. In einem seiner letzten Aufsätze mit dem Titel „Unsterblichkeit“5
formuliert er das Problem ganz im Sinne der platonischen Ideenlehre:
„Das Problem der ,Unsterblichkeit des Menschen’ erweist sich als Variante einer allgemeineren Fragestellung,
nämlich der ,Unsterblichkeit realisierter Werte’, in der es darum geht, wie flüchtige bloße Tatsachen an der
Hermann, „Geschichte, Glück und Gleichheit in Kants Kritik der reinen Vernunft“, S. 468.
Adorno, Negative Dialektik, S. 363.
5 Erschienen 1941, als Adorno in der Emigration lebte und Europa im Chaos versank.
3
4
76
Unsterblichkeit von Werten teilhaben können.“6
Beim Problem der Autonomie des Subjekts endet die Übereinstimmung in dem Punkt, dass
zwischen Identität und Unsterblichkeit ein enger Zusammenhang besteht. Adorno macht hier
eine Voraussetzung für die Kritikfähigkeit des Einzelnen, die im Rahmen von Whiteheads
Kosmologie kaum formulierbar wäre:
„Jedenfalls behält der subjektive Anteil an Philosophie, verglichen mit der virtuell subjektlosen Rationalität eines
Wissenschaftsideals, dem die Ersetzbarkeit aller durch alle vor Augen steht, einen irrationalen Zusatz. Er ist keine
Naturqualität. Während das Argument demokratisch sich gebärdet, ignoriert es, was die verwaltete Welt aus ihren
Zwangsmitgliedern macht. Geistig können nur die dagegen an, die sie nicht ganz gemodelt hat. Kritik am Privileg
wird zum Privileg: So dialektisch ist der Weltlauf.“ 7
Der Philosoph, der hier die mangelnde Innovationsfähigkeit der Masse beklagt und dabei für sich
das Privileg reklamiert, noch die Privilegierten in der fraglosen Distanziertheit weltanschaulicher
Kritik weit hinter sich zurückzulassen, hat die von Musil beschworene Eigenschaftslosigkeit des
modernen Menschen mit derjenigen des deus absconditus vertauscht. Indem ihm der Mensch als das
schlechthin manipulierbare Wesen erscheint, so dass die Fähigkeit zum unabhängigen, kritischen
Denken offenbar nicht mehr zur conditio humana gehört, gerät Adornos Kritik an der destruktiven
Allgewalt des Spätkapitalismus in gefährliche Nähe zu Hegels absolutem Wissen: Philosophische
Reflexion bleibt hier offenbar nur deshalb möglich, weil hinter dem Verblendungszusammenhang
des Zeitgeistes irgendein superkritischer Weltgeist steht, der sich in Adornos negativer Dialektik
auf anachronistische Weise zu personalisieren droht – so als wäre es einer „zu Pferde“. Adornos
analytische Sensibilität erhebt sich in kartesischer Manier über ihre Gegenstände. Diesen Gestus,
der allem aufklärerischen Denken eigen ist, hat Whitehead in Die Funktion der Vernunft in wahrhaft
militanter Form gegeißelt.8 Die nicht nur erkenntnistheoretisch gemeinte Kritik, kritische
Philosophen würden, „obgleich Menschen, versuchen, das Universum vom Standpunkt der
Götter aus zu betrachten“,9 deutet ein zentrales Motiv seiner Konzeption an, derzufolge Kritik
nach der Auflösung der Subjekt-Objekt-Strukturen nicht länger als ein übernatürliches Vermögen
allein des Menschen gelten kann, sondern dem kreativen Prozess der Ereignisse selbst entspringt.
Dem Pessimismus Adornos, genährt durch die Verselbständigung des spätkapitalistischen
Systems zu einer totalitären Organisation und den Verlust des authentischen Adressaten
philosophischer Kritik, stellt Whitehead die Abenteuerlust des spekulativen Denkens entgegen.
Der sich bis in die Sprache der beiden Protagonisten hinein fortsetzende Riss ist nicht zu kitten.
Whitehead, „Unsterblichkeit“ S. 17, Übersetzung geändert (Original S. 65).
Adorno, Negative Dialektik, S. 49.
8 Vgl. Whitehead, Die Funktion der Vernunft, S. 55.
9 Whitehead, Essays in Science and Philosophy, S. 93.
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Er tritt überall dort auf, wo die Einheit von Subjekt und Rationalität in Frage steht.
Obwohl man beide nicht eindeutig den modernen Formen des Idealismus und der Realismus
zuordnen kann, sondern ähnlich wie Bergson als singuläre Denker anerkennen muss, verweist die
unversöhnliche Kluft zwischen den beiden Positionen doch auf ideengeschichtliche Lager.
Whitehead hielt daran fest, die Existenz der res vera zu betonen, Adorno am Primat der
idealistischen Dialektik. Doch als gemeinsamer Fluchtpunkt vermittelt zwischen ihnen der von
beiden diagnostizierte Niedergang des autonomen Subjekts. Als Folge erkennen beide mit
unterschiedlichen Akzenten die Herrschaft von Kontrasten an. Der eine nimmt sie auf fast
stoische Weise hin: „Die Feen tanzen, und Christus wir ans Kreuz geschlagen.“ Der andere
schmiedet daraus ein ultimatives Verdikt: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“
Erstaunlicher Weise widersprechen diese beiden „Leitbilder“ einander nicht.
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Wolfgang Gäfgen, „So loch doch“
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