Professor Dr. Annemarie Schimmel Islam

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Sendung vom 21.06.2000
Professor Dr. Annemarie Schimmel
Islam-Expertin
im Gespräch mit Andreas Weiß
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Willkommen bei Alpha-Forum mit der heutigen Extra-Ausgabe aus der
Evangelischen Akademie in Tutzing. Zu Gast bei uns ist heute Frau
Professor Annemarie Schimmel, die Ihr Leben dem Islam, der Orientalistik
und der Wissenschaft dazu gewidmet hat. Herzlich willkommen, Frau
Professor Schimmel.
Vielen Dank.
Sie haben schon als fünfzehnjährige Schülerin Arabisch gelernt: Das ist
außergewöhnlich.
Ja, das ist sicher außergewöhnlich, aber ich wusste von Kind an, dass ich
irgendwie mit der orientalischen Welt etwas zu tun haben wollte. Ich war
natürlich nicht ganz sicher, was es sein würde, aber als ich dann die
Gelegenheit hatte, bei einem ausgezeichneten Lehrer in meiner
Heimatstadt Erfurt Arabisch zu lernen, habe ich das sofort getan. Meine
Eltern haben dem Gott sei Dank zugestimmt: Denn auch sie fanden, dass
mir Arabisch besser stünde als schlecht Klavier zu spielen.
Sie haben dann in der Tat Ihr ganzes Leben diesem Thema gewidmet. Ist
es Ihnen denn leicht gefallen, einen Zugang zu dieser anderen Welt zu
finden, zu dieser Welt eines anderen Glaubens?
Mir ist das niemals schwer gefallen. Ich fand es immer ungeheuer
interessant. Vor allem bin ich ja sehr stark durch die mystische Poesie Irans
und der Türkei beeinflusst worden. Als ich zum ersten Mal die Gedichte
Rumis im persischen Original gelesen habe, war ich 18 Jahre alt: Ich habe
sie sofort in deutsche Verse übertragen. Ich halte diese Übersetzung immer
noch für gut: Viele davon sind auch gedruckt worden. Für mich war das
einfach so etwas wie ein Nach-Hause-Kommen. Ich kann das gar nicht
anders erklären. Als ich 1952 das erste Mal in die Türkei kam - unsere
Studenten kommen mittlerweile bereits in ihrer Studienzeit dorthin, ich
jedoch war zu dem Zeitpunkt schon längst habilitiert und Dozentin –, hatte
ich das Gefühl, ich wäre schon einmal dort gewesen. Ich habe mich in
Istanbul auch nie verlaufen. Ich war einfach wie zu Hause. Das ist mir dann
später in Pakistan auch so gegangen. Ich hatte eben das große Glück, dass
ich unter den Muslimen sehr gute Freunde gefunden habe: wo immer ich
auch hingekommen bin. Das hat natürlich sehr viel dazu beigetragen.
Wie haben Sie es dann empfunden, je mehr Sie sich in diese Welt
eingearbeitet haben, je mehr Sie auch mit ihr vertraut geworden sind, dass
diese Welt nur so schwer mit dem Westen kommunizieren kann? Wie
können auf diesem Gebiet überhaupt Kontakte geschaffen werden, sodass
ein wirkliches Verständnis füreinander entsteht?
Ich glaube, unser Fehler besteht ganz einfach darin – und auf der anderen
Seite ist das zum Teil auch ein Fehler meiner muslimischen Freunde –,
dass wir zu wenig voneinander wissen, dass wir die Kultur dieser Länder
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nicht kennen. Ich hatte gestern noch die Gelegenheit, im afghanischen
Frauenverein in Gladbeck einen Vortrag zu halten. Diese Veranstaltung war
der Hilfe für afghanische Frauen gewidmet, aber ich wurde doch gebeten,
über Afghanistan als Kulturlandschaft zu sprechen. Das habe ich auch sehr
gerne gemacht. Es zeigte sich, dass keine der Damen, die in diesem Gebiet
arbeiten, von Afghanistan als Kulturlandschaft ein großes Wissen besaß.
Sie machen eine wirklich wunderbare Hilfsorganisation: Sie tun viel mehr
Gutes, als ich es in meinem Leben je tun kann. Aber sie wussten wirklich
nicht, welch reiche Kultur in Afghanistan vorhanden ist. Ich glaube, es ist
meine Aufgabe – so empfinde ich es wenigstens –, meinen Landsleuten
hier bzw. den Europäern klar zu machen, welch wunderbares Erbe dort
vorhanden ist. Dann werden wir vielleicht auch besser verstehen, was
unsere muslimischen Freunde denken und wollen. Ich glaube, dass das
auch ein Punkt ist, weshalb sich viele Deutsche so schwer tun mit den
Türken, die hier bei uns arbeiten. Sie wissen gar nicht, was alles hinter
einem einfachen türkischen Menschen steht. So ein Mann ist natürlich kein
Gelehrter, das ist klar, aber wenn man die richtige Seite bei ihm anrührt,
wenn man vielleicht schon einmal in seinem Heimatdorf war und die dortige
Moschee kennt oder wenn man ein Gedicht eines türkischen Volkssängers
kennt, dann blüht so ein Mann auf wie eine Rose. Daran erfreue ich mich
immer wieder, wenn ich das erlebe.
Es heißt ja auch, dass Toleranz Wissen voraussetzt.
Ja.
Sie sagten aber auch einmal, dass jeder gläubige Muslim in koranischen
Kategorien denke. Wenn ich einen Menschen vor mir habe, der in
koranischen Kategorien denkt, dann fehlt mir doch schon a priori der
Zugang zu seinem Denken: Wie wirkt sich das also auf die Kommunikation
aus?
Ich habe da nie Schwierigkeiten gehabt, wobei ich natürlich sagen muss,
dass ich auch islamische Theologie studiert und den Koran selbst oft
gelesen habe. Das bedeutet jedenfalls, dass der Muslim auch dann, wenn
er fast vollständig säkularisiert ist, immer daran glaubt, dass der Koran
Gottes offenbartes Wort ist. Der Koran ist für ihn inlibrierter Logos. Während
man im Christentum den Logos in Jesus Christus inkarniert sieht, sieht man
als Muslim den Logos im Koran inlibriert. Diesen Ausdruck hat Harry
Austryn Wolfson aus Harvard einmal geprägt. Es sind auch nicht nur die
Worte des Korans, das ist der ganze Klang, der damit verbunden wird.
Einer unserer ehemaligen Bonner Doktoranden, der mittlerweile längst
promoviert ist, Navid Kermani hat ein sehr schönes Buch geschrieben mit
dem Titel "Gott ist schön". In diesem Buch stellt er die Wirkung des Koran
auf die Menschen in der islamischen Welt dar: über das Akustische, das
Ästhetische usw. Ich glaube, dass das ein Zugang ist, den auch wir für uns
finden können. Dadurch können wir unseren Freunden vielleicht etwas
näher kommen. Zu den koranischen Kategorien noch ein Wort: Selbst
dann, wenn man sich mit ganz profanen Texten vor allem in der klassischen
Literatur beschäftigt, ist es so, dass immer koranische Anspielungen
vorhanden sind. Wenn man diese Anspielungen jedoch nicht kennt, dann
kann man so einen Text auch gar nicht verstehen. Ein großer Fehler
besteht auch darin, dass viele unserer Journalisten bzw. viele der
Menschen, die sich bei uns mit dem Islam beschäftigen, keinen Zugang
haben zur klassischen Tradition und daher auch Ausdrücke, die im
Klassischen etwas ganz anderes bedeuten, lediglich prima vista verstehen,
d. h. gemäß ihrer äußeren Erscheinung, und dadurch zu ganz falschen
Schlüssen kommen.
Sie meinen z. B. solche Begriffe wie "Dschihad", der heute ja zum Prinzip
eines Heiligen Krieges mutiert ist. Wobei allerdings die Urheber, die das in
den Mund nehmen, gelegentlich selbst dazu beitragen: Denn dieses Wort
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"Dschihad" wurde ja von den Fundamentalisten häufig in diesem Sinne
benützt.
Ja, und das ist das Traurige daran. "Dschihad" heißt ja eigentlich nur "das
Bestreben, das Streben im Namen Gottes und für die Sache Gottes". Der
Ausdruck "Heiliger Krieg" jedoch ist in der Zeit der Kreuzfahrer auf Seiten
der Christen entstanden. Ein Muslim wird Ihnen dagegen sagen, dass ein
Krieg im Grunde genommen nie heilig sein kann. Sie haben damit einen
Punkt angesprochen, der mich selbst immer sehr betrübt gemacht hat: Die
Muslime selbst benützen diese Übersetzung ebenfalls, und dadurch
entstehen sehr viele Missverständnisse. Diese Missverständnisse müssen
wir auch ausräumen, wie ich meine.
Wobei natürlich die islamische Geschichte schon auch eine kriegerische
Geschichte ist. Die Ausbreitung des islamischen Reiches war von Kriegen
begleitet: Das war doch eine stark expansive Bewegung, die nicht immer
nur mit friedlichen Mitteln vorgetragen worden ist.
Ist die Ausbreitung des Christentums immer mit friedlichen Mitteln
geschehen?
Das wollte ich jetzt gar nicht zur Debatte stellen, denn das ist ja ganz
unbestritten so.
Sehen Sie. Aber nehmen Sie doch z. B. einmal die Geschichte der
Konversionen im östlichen Teil der Welt bzw. in Westafrika. Das waren
doch zum allergrößten Teil Mystiker, die dort den Islam verbreitet haben. Sir
Thomas Arnold hat das bereits vor über einem Jahrhundert in seinem Buch
"The Preaching of Islam" für Indien so beschrieben. Es waren die
mystischen Lehrer, die in die Dörfer gegangen sind und dort eine Art von
Islam gelehrt haben, die auch der einfachste Mensch verstehen konnte. Der
Glaube an den einen Gott, der Glaube an den Propheten, die Liebe ihm
gegenüber und die Religionspflichten: Das war es schon. Gerade in Indien
hat diese einfache Religion mit ihrer Brüderlichkeit in einem Gebiet, in dem
das Kastensystem so wichtig war und in dem man nicht einmal miteinander
essen konnte, sehr zur Ausbreitung des Islams beigetragen. Auch in Afrika
waren das nicht die Krieger, sondern zunächst einmal die Kaufleute. Mit den
Kaufleuten kam dann auch der Islam.
Gut, es gab also beides: den Krieg und die friedliche Durchdringung.
Ja, es gab beides und man sollte eben nicht nur auf das Kriegerische
abzielen.
Wenn man aber sagt, dass der Koran das geoffenbarte Wort Gottes ist,
dann entzieht sich doch dieses Wort auch der kritischen Annäherung:
Stattdessen ist das eben die Essenz der Wahrheit.
Genau.
Sie ist das aber jetzt schon seit vielen hundert Jahren. Für viele
Außenstehende sieht es daher so aus, als hätte sich damit eine
Beschreibung aus dem siebten Jahrhundert zeitlos als eine Weltordnung
etabliert, die als wenig entwicklungsfähig erscheint.
Ja, das ist eben das große Problem für den Außenstehenden. Für den
Muslim zeigt sich das anders: Der Koran ist einmal geoffenbart worden im
siebten Jahrhundert, aber die Auslegungen sind so reichhaltig, dass sie
auch immer wieder neu sein können. Es gibt ja schon aus der ältesten Zeit
Geschichten darüber, wie Mystiker bzw. fromme Menschen für jeden Vers
des Korans Hunderte von verschiedenen Auslegungen kannten. Die
vielleicht schönste Antwort auf Ihre Frage finden Sie bei Mohammed Iqbal,
dem pakistanischen Dichter-Philosophen, der in einem seiner Werke - einer
Antwort auf Dantes "Göttliche Komödie" und auf Miltons "Paradise Lost" –
gesagt hat: "Die Welt des Korans ist frisch, sie entfaltet sich jeden Tag neu.
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Wann immer du ihn liest, wirst du wieder etwas Neues darin entdecken." Ich
glaube, dass ist das, was wirklich viele Muslime empfinden. Das große
Problem ist, dass im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Neuerungen,
zahlreiche Dinge in den Koran hineingelesen worden sind, die immer dem
jeweiligen Wissensstand entsprochen haben. Wenn man manche moderne
Koran-Kommentare liest, dann ist man wirklich erstaunt darüber, was man
dort alles finden kann: von der Atombombe bis zu sonst irgendwelchen
Dingen. Aber dieses Phänomen kennen wir ja auch aus unserer eigenen
Auslegungsgeschichte.
Ja, aber die Neuerung als solche war nie ein Ideal der islamischen Welt: Sie
war eher etwas...
...etwas Verwerfliches. Aber eine gute Neuerung ist auch im Islam
akzeptabel. Da aber der Muslim glaubt, dass der Koran ein für alle Mal die
Weltordnung gesetzt hat, ist es natürlich für einen Außenstehenden
schwierig, das zu verstehen. Aber ich glaube schon, dass die
verschiedenen Auslegungen uns dabei sehr gut weiterhelfen können.
Wir wollen das ja auch zu verstehen versuchen, und wir finden darin ja auch
möglicherWeiße einen weiteren Schlüssel des Verständnisses. Denn die
westliche Kultur hat seit der Aufklärung in ihrem Säkularisierungs- oder
Individualisierungsprozess den Konflikt doch weitgehend als ein positives
Moment unserer Zivilisation aufgefaßt. Sie hat den Protest, die kritische
Auseinandersetzung, das Bezweifeln von Autoritäten zu einem Wert
gemacht: Das wurde zu einem Träger von Fortschritt in der Kunst, in der
Kultur und auch im technischen Bereich. Da ergibt sich doch die Frage, ob
wir uns damit nicht doch eine andere Wahrnehmung der Welt zugelegt
haben, als das bei einem islamischen Menschen der Fall ist, der doch eher
von einer statischen Umgebung ausgeht.
Ja, das ist schon eine Frage. In vielen Fällen haben Sie Recht: Das einmal
Gegebene wird im Islam schon festgehalten. Aber auf der anderen Seite
gibt es im Koran selbst doch so viele Stellen, die den Menschen dazu
aufrufen, nachzudenken über das, was in der Welt und in der Geschichte
geschieht. Der Koran fordert die Menschen auf, darüber nachzudenken,
was in uns selbst geschieht, um daraus auch eine Lehre zu ziehen. Ich
glaube, dass da viele Neuerer - Iqbal ist ja nur einer von Ihnen – auch schon
in früheren Zeiten ihre Gründe gefunden haben, diesen Aspekt des Islams
und des Korans zu betonen. Das, was Lord Cromer im Jahr 1880 gesagt
hat: "Reformierter Islam ist kein Islam mehr!", ist natürlich etwas, das wir
heute nicht mehr unterschreiben können.
Ja, aber vielleicht ist das auch nur ein Konflikt in der islamischen Welt selbst,
wo es eben noch einerseits sozusagen die Härte des Gesetzes gibt,
andererseits eben auch eine gewisse Fluchtbewegung vor dem Gesetz, die
vielleicht auch in die Mystik mündet.
Ich würde nicht sagen, dass die Mystik eine Fluchtbewegung vor dem
Gesetz ist. Die Mystik ist der Versuch, den inneren Sinn des Gesetzes zu
finden. Denn die meisten großen Mystiker wie z. B. Rumi oder Arabi usw.
haben sich durchaus als gesetzestreue Muslime gefühlt und auch so
gehandelt. Das ist etwas, das man im Westen meistens vergisst. Manche
moderne Muslime sagen ja: "Deswegen studiert ihr im Westen auch immer
die Mystiker, weil ihr glaubt, dass das etwas anderes ist, weil ihr glaubt,
dass das nicht der echte Islam sei, sondern dass das ein Islam sei, den ihr
besser verstehen könnt." Meiner Meinung nach ist das aber keine richtige
Auffassung. Es mag sein, dass die Volksmystiker sehr wenig Ahnung vom
Gesetz hatten: Für die gab es den Gehorsam und die Liebe zum Propheten
– und das war es dann schon. Aber im Grunde ist man doch auch dann,
wenn man es nicht immer befolgt, auf das Gesetz gegründet. Solange man
akzeptiert, dass das Gesetz gültig ist, ist man immer noch ein Muslim, auch
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wenn man weiß, dass man das Gesetz übertritt.
Aber das bedeutet doch, dass die Welt des Gesetzes als solche eine etwas
wenig ausgestaltete Welt ist, die wenig Heimat bietet, in der ganz einfach
bestimmte Regeln bestehen und in der das Befolgen der Regeln einen
wesentlichen Bestandteil darstellt. Dort ist vielleicht auch eine Instanz,
nämlich eine gewisse Innerlichkeit, und vielleicht auch die Überantwortung
an ein Gewissen nicht in dem Maße vorhanden und notwendig: Denn
Voraussetzung und Rechtsfolge stellen doch die wesentlichen Elemente
eines solchen Lebens dar.
Ja, aber trotzdem ist das doch auch anders. Wenn man nämlich in das
lebendige Leben hineinsieht, dann sieht man doch, dass auch bei den
frömmsten Muslimen – zumindest bei denen, die ich kenne – der Gedanke
der Eigenverantwortlichkeit sehr stark ist. Es wird da immer wieder ein Wort
zitiert, das dem Propheten Mohammed zugeschrieben wird: "Frage dein
Herz um ein Fatwa, selbst wenn die Muftis schon ein Fatwa gegeben
haben." Das heißt also, dass jenseits der reinen Legalität und des reinen
Legalismus doch das steht, was einem das eigene Herz und das eigene
Gewissen sagt. Es gibt ungezählte Geschichten und Gedichte darüber, wie
der Prophet selbst diesen Legalismus in den Hintergrund geschoben haben
soll. Wenn man viel mit Muslimen zusammen ist, dann findet man das auch
immer wieder bestätigt. Ich habe Folgendes feststellen können: Je frömmer
meine Freunde waren, desto großzügiger waren sie in ihrem Denken vor
allem auch anderen Menschen gegenüber.
Aber möglicherWeiße hat das alles doch sozusagen eine andere
psychische Quelle in der Mentalität der Menschen. TypischerWeiße ist mir
dafür z. B. einmal Folgendes aufgefallen. Ich möchte das aber nicht als
Wertung verstanden wissen, denn die Großzügigkeit, egal aus welcher
Quelle sie kommt, ist immer etwas Großartiges. Wenn ich Gastfreundschaft
genossen habe, die ja jedem entgegengebracht wird, der sie begehrt, dann
ist es mir schon passiert, dass ich, wenn ich mich bedankt habe, als Antwort
erhalten habe, dass das dem Gastgeber eine Verpflichtung war. Das
bedeutet, dass es da eben ein Regelwerk gibt, das diese sozialen
Beziehungen aufrecht erhält: Da ist eben eine andere Disposition
vorhanden, als ich das zunächst einmal als westlicher Mensch empfinde.
Es ist nicht dieselbe Form von Freundschaft, die einem Fremden
entgegengebracht wird: Stattdessen ist das zugleich auch eine
Verpflichtung des Gastgebers. Das soll jedoch wirklich keine Abwertung
bedeuten, sondern lediglich eine Beschreibung dessen sein, was man
selbst dabei fühlt.
Das ist eben ganz stark ein Teil des ganzen Lebensgefüges: Der Gast ist
heilig! Ich kam letzte Woche spät abends und unerwartet in das Haus von
Bekannten, weil es mit meinem Hotel irgendwie nicht geklappt hatte: Sie
haben sich wirklich sehr gefreut und zu mir gesagt: "Gott sei Dank, dass du
gekommen bist. Nun bist du hier als unser Gast." Der arabische Ausdruck
dafür heißt ja auch: Man dankt nicht für das, was notwendig ist. Dieser Satz
beschreibt die gleiche Haltung, die Sie soeben beschrieben haben.
Kann bei dieser Geltung des Gesetzes, dass alles sozusagen von Gott
abgeleitet ist - wie z. B. auch die staatliche Autorität, die sich dem Einzelnen
gegenüber äußert, denn im Osmanischen Reich war der Sultan in diesem
Sinne auch ein Vertreter Gottes auf Erden –, kann also in dieser rechtlichen,
in dieser gesetzesmäßigen Umgebung ein einzelner Muslim Bürger eines
Staates und Träger von Grundrechten sein, die er gegen seinen Staat,
gegen die Obrigkeit, gegen die Autorität geltend machen kann? Ist das im
Denken angelegt?
Ich habe nicht ganz verstanden, worauf Sie nun hinauswollen.
Ich will schlicht und einfach auf Folgendes hinaus: Ist es denkbar – so wie
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sich das bei uns in der westlichen Zivilisation entwickelt hat –, dass
Menschen selbst Träger individueller Rechte sind, die sie als Abwehrrechte
gegenüber dem Staat wahrnehmen können? Das betrifft z. B. die
Menschenrechte: Ist das ein Konzept, das auch im Islam so angelegt ist?
Meine muslimischen Freunde würden Ihnen antworten, dass das im Islam
sehr wohl angelegt ist. Jeder und jedes - also nicht nur die Menschen,
sondern auch die Tiere – hat ein eigenes Recht. Das ist vielleicht anders
formuliert als bei uns im Westen, aber meine muslimischen Freunde sind
sehr davon überzeugt, dass der Begriff der Menschenrechte in einem sehr
weiten Sinne auch und gerade für den Muslim gilt. Das ist natürlich eine
Frage, bei der sich eher die Juristen auskennen, aber ich habe diese
Anschauungen doch immer wieder von frommen Muslimen gehört. Sie
haben mir immer gesagt: "Was wollt ihr eigentlich? Wir haben unser
Konzept der Rechte des Menschen, der Rechte der Tiere, der Rechte der
ganzen Natur. Wir sind, was ja auch schon im Koran steht, dazu
verpflichtet, die Erde so zu behandeln, dass sie dann, wenn sie einmal
geordnet ist, nicht wieder verdorben wird." Das ist doch eine bestimmte
Grundlage für die Ökologie usw. Da gemäß islamischer Auffassung alles
dazu geschaffen ist, um Gott zu dienen und ihn anzubeten, besteht auch
das Recht des Menschen und das Recht der Geschöpfe darin, sich diesem
Dienst freiwillig zu unterwerfen.
Das ist also doch mehr die Beschreibung einer Pflicht.
Es kann schon sein, dass das eine Pflicht ist, aber wahrscheinlich
empfinden das viele gar nicht so sehr als Pflicht.
Es ist ja erstaunlich, dass die türkische Verfassung z. B. in ihrem
Grundrechtsteil dem Menschen sehr viel mehr Grundpflichten auferlegt, als
sie im Rechte verleiht. Denn in der westlichen Verfassungsgeschichte sind
die Grundrechte immer schon ein Abwehrrecht des Einzelnen gegenüber
dem Staat gewesen. Wenn das auch gleichzeitig eine Verpflichtung durch
den Staat wäre, dann würde das die gesamte Konzeption dessen
aufheben, was Grundrechte eigentlich im Hinblick auf die Anerkennung des
Individuums bedeuten. Ich hatte in dem Zusammenhang eben doch das
Gefühl, dass das Individuum in der islamischen Gesellschaft durchaus nicht
die gleiche Rolle spielt wie in der säkularisierten westlichen Welt.
Nun, das sind natürlich Fragen, mit denen ich mich nicht so viel
auseinander gesetzt habe. Das klingt jedenfalls sehr interessant, und ich
müsste darüber einmal tiefer nachdenken. Vielen Dank für die Anregung.
Das war eine Frage, die natürlich schon auch ein bisschen auf das Problem
der unterschiedlichen Auffassungen des Menschen in der jeweiligen
Gesellschaft abzielte. Dieses Problem mündet eben auch in die Frage, wie
Menschenrechtsverletzungen bewusst gemacht werden können, wenn sie
vorkommen. Denn mir stellt sich dabei generell die folgende Frage: Ist eine
islamische Gesellschaft, die den Koran zur Grundlage gemacht hat, in der
Lage, eine säkulare Gesellschaft zu werden? Kann sie sich säkularisieren?
Kann sie einen ähnlichen Prozess durchlaufen, wie das Europa bzw. wie
das der Westen getan hat?
Ich weiß es nicht. Aber wie gesagt, ich bin kein Spezialist für diese Dinge.
Ich möchte darauf keine Antwort geben, weil ich wirklich nichts sagen kann,
was diesen Punkt erklären und deutlich machen würde. Sie wissen ja, dass
ich mit politischen Dingen nicht sehr erfahren bin.
Gut, es geht dabei eben auch um die Möglichkeit der Annäherung und
darum zu verstehen, wo denn wirklich unterschiedliche Ansatzpunkte
liegen. Denn eine andere Grundlage für unser Verständnis ist z. B. die
Geschichte der Toleranz. Die islamische Welt hatte früher in ihrem Reich
eine sehr große Geschichte des Duldens und des unversehrten Lebens
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unterschiedlichster Religionsgruppen und Etnien. Demgegenüber fanden in
Europa zu der Zeit heftige Verfolgungen statt. Wie erklären Sie es sich,
dass dieses Bild heute irgendwie andersherum erscheint?
Das ist eine merkwürdige und sehr traurige Entwicklung, denn in früherer
Zeit waren ja die Juden, die Christen, die Araber, die Serben, die
Zarathustrier und in Indien auch die Hindus alle Staatsbürger: Sie konnten
alle Berufe ausüben mit Ausnahme des Berufs des Staatspräsidenten bzw.
des Königs. Ansonsten war ihnen wirklich alles freigestellt – und davon
zeugt ja die islamische Geschichte in reichem Ausmaß. Dieses
Nebeneinander-Leben hat sehr lange Zeit angehalten. Die Tatsache, dass
nach der Rekonquista im Jahr 1492 so viele Juden aus Spanien ins
Osmanische Reich ausgewandert sind, wo sie ihrem Leben und ihren
Geschäften nachgehen konnten, zeigt doch, dass das damals sehr gut
funktioniert hat. Das Gleiche gilt auch für einen Teil der indo-muslimischen
Geschichte: Die Mogulherrschaft war ein Beispiel dafür, dass die NichtMuslime in allen Teilen des Reiches in allen Berufen tätig sein konnten.
Nach den beiden Weltkriegen und vor allem nach der Entkolonialisierung
haben sich die Gewichte natürlich sehr verschoben. Ich glaube, dass sich
das Trauma der Kolonialisierung vorläufig nur sehr schwer auswischen
lässt: Das hat dann auch zu Auswüchsen geführt, die mit dem klassischen
Islam sehr wenig zu tun haben – so sehe ich es jedenfalls. Ich sagte vorhin
in meinem kleinen Vortrag im Seminar hier in der Akademie, dass es nun
auf Englisch ein sehr interessantes Buch gibt – es war vorher schon auf
Französisch erschienen. Dieses Buch von Ali Merad, einem französischmarokkanischen Orientalisten und Religionsphilosophen ist ein Werk über
Charles de Foucauld. Es ist nun auf Englisch erschienen und besitzt in
dieser Ausgabe ein wunderbares Nachwort, in dem genau diese Fragen
behandelt werden: Wie genau steht Foucauld zum Islam? Wie er empfindet
er ihn? Denn er bewunderte ihn ja auf der einen Seite, während er auf der
anderen Seite doch gemeint hat, dass die Muslime alle zivilisiert werden
müssten durch "La Douce France" usw. Ich finde, das ist eines der
aufschlussreichsten Bücher, die ich in der letzten Zeit gelesen habe. Ich
empfehle es allen, die sich dafür interessieren, weil vor allem das Nachwort
so sehr verständnisvoll ist: Es zeigt, in welchem Dilemma sich sowohl die
christliche als auch die islamische Welt befindet, wenn die Sprache auf
solche grundlegenden Fragen wie Menschenrechte usw. kommt.
Es gibt ja sowieso eine sehr spannende Literatur über die Zeit, in der sich
Ost und West beim Beginn des Imperialismus begegnet sind. Das war aber
auch die Zeit, in der z. B. die ägyptischen Herrscher ein wenig darüber
lernen wollten, wie denn diese Überlegenheit des Westens auf so
überraschende Weiße überhaupt zustande gekommen war.
Ja. Das war in der Türkei zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem
Tanzimat ja auch der Fall. Da ging es auch um Berufung europäischer
Militärs zum Zwecke der Neuformung der türkischen Armee usw.
Das war natürlich ein Riesenbruch, denn bis dahin hatten sie ja ihre eigene
Ordnung für unbesiegbar gehalten haben. Aber jetzt sagten sie sich, dass
man bei allem, was nicht direkt mit dem Gesetz zu tun hat, auch von den
Heiden lernen darf.
Nun, "Heiden" sollten Sie nicht sagen, denn das waren ja immerhin Ahl alKitab, also Nicht-Muslime.
Das heißt, sie wollten von den Ungläubigen lernen.
Nein, ich würde auch das Wort "ungläubig" hier nicht verwenden, denn
Christen und Juden sind ja auf ihre Weiße aus islamischer Sicht auch
Gläubige. Ich würde das daher so ausdrücken: Sie lernten von denen, die
nicht offiziell Muslime sind.
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Da war dann wohl meine Quelle, also dieses ägyptische Buch, auf das ich
mich soeben bezogen habe, schlecht ins Deutsche übersetzt. Denn
eigentlich waren statt der Ungläubigen lediglich die anderen Buchgläubigen
gemeint.
Eben. Der Gedanke, dass man Christen und Juden als Heiden bezeichnet,
ist so unislamisch, wie nur irgendwie ein Gedanke sein kann.
Dieser Lernprozess war sicherlich auch einer, bei dem man den Westen
entdeckt hat. Aber man hat das doch auch wieder in den Kategorien des
eigenen Herkommens gemacht: Man wollte seine Techniken erlernen,
ohne dabei die eigenen Werte aufgeben zu wollen. Konnte das gut gehen?
Ja, und vor allem war es so, dass man diese Werte gar nicht kannte. Das ist
genauso wie heute, wo wir ja auch so wenig von den Werten der
islamischen Kultur wissen. Die Muslime ihrerseits schätzen sehr wohl die
technischen Werte und den technischen Fortschritt: Das wird alles sehr
geschätzt, denn es gibt wohl nirgends mehr Handys als in den Straßen
Istanbuls oder Jakartas. Aber den eigentlichen Charakter des Westens
kennen nur sehr wenige. Ich habe gerade neulich noch mit einem
arabischen Bekannten darüber gesprochen, ob man denn dort nicht so
etwas wie "Okzidentalistische Studien" einführen sollte - als Gegenstück zu
unseren orientalistischen Studien –, damit diese Lücke des Verständnisses
geschlossen werden kann. Ich glaube, dass das sehr notwendig wäre, denn
das wäre auch eine Grundlage für eine bessere Verständigung. Es gibt da
ja auch schon einige Ansätze: In Jordanien gibt es das "Royal Institut for
Interfaith Studies", das Prinz Hassan gegründet hat. Auch anderswo gibt es
bereits ähnliche Einrichtungen. Aber es ist doch manchmal sehr schwierig,
diese Gedanken vermitteln zu können. Wir betrieben damals an der IlahiyatFakultesi in Ankara, wo ich von 1954 bis 1959 gelehrt habe, ebenfalls den
Versuch, den Studenten nicht nur die islamische Kultur näher zu bringen,
sondern ihnen auch europäische Philosophie, Religionsgeschichte,
Kunstgeschichte usw. zu vermitteln. Denn man war damals der Meinung,
dass das für einen modernen Muslim und vor allem für einen Muslim, der
andere Muslime lehren sollte, unbedingt notwendig sei. Ich hatte damals
das Vergnügen, fünf Jahre lang meine muslimischen Theologen in
vergleichender Religionsgeschichte auszubilden. Ich habe dabei
wahrscheinlich sehr viel mehr über den Islam gelernt, als sie von mir über
uns.
Sie wurden dort auch als Frau akzeptiert?
Und wie! Ich war damals noch eine ganz junge Frau, denn ich war noch
nicht einmal 30 Jahre alt.
Wenn Sie heute an der gleichen Fakultät lehren würden, würde man Sie
dann bitten, vielleicht ein Kopftuch zu tragen? Würden Sie das akzeptieren?
In unserer Zeit war das Kopftuch verboten.
Richtig, das war noch das kemalistische Erbe, aber da hat sich doch einiges
geändert.
Ich habe ja in den letzten Jahren u. a. auch in Ankara oder in Istanbul hin
und wieder Vorträge gehalten. Ich komme leider nicht mehr so häufig in die
Türkei, wie ich möchte. Ich habe bei diesen Anlässen kein Kopftuch tragen
müssen. Im Iran ist das jedoch sehr wohl der Fall: Wenn ich im Iran einen
Vortrag halte, dann halte ich mein Haar keusch bedeckt. Nur an der
theologischen Fakultät in Teheran bin ich wirklich ganz schwarz
eingewickelt worden. Das ist ein Ausnahmefall, denn ansonsten genügte
auch an der Universität in Teheran das leichte Tuch über dem Kopf: Das
genügt bereits den Vorschriften.
Das wirft natürlich die Frage auf, wie sich die Rolle der Frau in der
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islamischen Gesellschaft entwickelt hat und sich weiterentwickeln wird. Das
kann man ganz sicher nicht einheitlich beantworten, aber kann man sagen,
dass es auch auf diesem Gebiet noch überkommene religiöse Sätze gibt,
die die Entwicklung beeinflussen bzw. begrenzen und beschränken?
Sicherlich, das gibt es. Wenn man jedoch die Stellung der Frau wiederum
historisch betrachtet, dann kann man in so gut wie allen Wissens- und
Wirkungsgebieten Frauen wiederfinden. Es gab z. B. auch selbständige
Sultaninnen in Zentralasien und in Indien. Es gab auch Schadscharat adDurr in Ägypten. Fatima Mernissi hat ebenfalls etwas über die arabischen
Frauen als Herrscherinnen geschrieben. In der östlichen islamischen Welt
war die Frau sehr viel selbständiger als im Zentralgebiet. Das ist doch ein
interessantes Phänomen. Vor allem auch in Zentralasien nahm man die
Verschleierung überhaupt nicht so wichtig. In den Dörfern gehen die Frauen
ja auch heute noch unverschleiert, denn man kann auf dem Feld gar nicht
richtig arbeiten, wenn man dabei einen Schleier tragen muss. Es gibt freilich
auch heute noch Frauen, die der Ansicht sind, dass die Art, wie sie leben nämlich abgeschlossen –, sehr viel besser und sehr viel würdiger ist. Ich
kannte in Pakistan eine alte Dame, die zu ihrer Schwiegertochter, einer
Journalisten, einmal gesagt hat: "Liebes Kind, wie habt ihr modernen
Frauen es doch schlecht! Ihr müsst in diesen schmutzigen Basar gehen, ihr
müsst eure Handtasche selbst tragen! In meiner Zeit brachte mir mein
Mann jeden Morgen ein neues Kleid, und der Markt kam auch zu mir. Ich
hatte es doch viel besser als ihr." Das ist also eine Frage der Auffassung.
Das ist auch eine Frage der Identität mit der Rolle, die einem zugeschrieben
wird.
Ja.
Nun, heute gibt es aber sicherlich auch noch richtige formale
Einschränkungen. Eine Frau darf z. B. kein Richter werden oder kein
religiöses Richteramt bekleiden.
Ja, das ist eines der Probleme. Eine saudische Freundin von mir, die
Juristin ist, klagte neulich auch darüber, denn sie sagte: "Ich würde gerne
als Richterin oder als Rechtsanwältin in Saudi Arabien arbeiten. Aber ich
kann das nicht."
Das islamische Recht sieht auch unterschiedliche Regeln für Mann und
Frau vor, wenn es um die Scheidung geht.
Ja, aber das kann man in gewisser Weiße doch umgehen, indem man z. B.
im Heiratskontrakt eine Klausel einbaut, dass unter bestimmten
Umständen, also wenn der Mann dieses oder jenes macht, die Frau das
Recht zur Scheidung hat. Sie muss dann allerdings in manchen Fällen ihr
Brautgeld zurückgeben. Aber sie hat doch das Recht auf die Scheidung.
Man hat daher den Europäerinnen und Amerikanerinnen, die Muslime
geheiratet haben, immer geraten, diese Klausel in den Heiratsvertrag mit
aufzunehmen – denn dann wären sie abgesichert.
Wobei dies allerdings sozusagen eine privatrechtliche Ergänzung des
gesetzten Rechtes ist.
Ja, aber es ist immerhin eine Möglichkeit.
Ich habe einmal mit einem muslimischen Freund folgenden Disput geführt:
Gemäß der Scharia ist es so, dass die Zeugenaussage einer Frau vor
Gericht nur halb so viel wert ist wie die Aussagen eines Mannes. Er sagte
mir, dass das seinerzeit ein riesiger Fortschritt gewesen wäre.
Ja, das war auch so.
Denn es hatte vorher überhaupt kein Zeugnisrecht der Frau gegeben. Der
westliche Blick auf diese Problemlage könnte ja nun so aussehen, dass
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man sagt: "Warum interpretiert ihr das denn nicht so, dass das zur
damaligen Zeit eben ein Fortschritt war, dem heute jedoch abermals ein
ähnlicher Schritt in der rechtlichen und religiösen Auslegung folgen müsste.
Das heißt, die Rolle der Frau müsste nun abermals im Sinne der Zeit
begriffen werden." Daraufhin sagte mein Freund jedoch: "Das geht nicht,
denn das ist jetzt für alle Zeiten festgeschrieben, denn das ist das Gesetz!"
Ja, das ist das koranische Gesetz. Aber es gibt doch in den verschiedenen
Gruppen den Versuch, das etwas zu lockern. Das hängt zum Teil auch vom
jeweiligen Land und den jeweiligen Interpreten ab.
ErstaunlicherWeiße hat im Iran sogar Chomeini selbst das Scheidungsrecht
für Frauen eingeführt. Wie kommt es, dass in der Schia, also im Schiismus,
der Einfluss auf das Gesetz durch religiöse Führer größer sein kann?
Das liegt daran, dass in der Schia der religiöse Führer, also der Imam – und
Chomeini wurde ja immer als Imam bezeichnet, was allerdings rein
historisch betrachtet nicht ganz korrekt ist –, als die Quelle, auf die alles
zurückgeht und nach der man sich richtet, das Recht hat, auch Neuerungen
bzw. neue Interpretationen des Rechtes einzuführen. Ansonsten ist die
Schia ja sehr viel strenger als der sunnitische Islam. Aber in manchen
Fällen hat man dort doch die Möglichkeit, Neuerungen leichter einzuführen.
Das ist eine merkwürdige Sache, die man einmal mit sunnitischen und
schiitischen Rechtsgelehrten besprechen sollte.
Dabei kommt man auf die Frage, in welcher Richtung sich der Islam
reformieren kann und sollte. Denn für die Reformfähigkeit, also für die
Einführung einer Neuerung und die Akzeptanz einer Neuerung, ist ja der
Wille zur Neuerung zunächst einmal die zwingende Voraussetzung.
Ich glaube, dass das vor allem durch Neuauslegungen geschehen könnte,
durch weiter gehende Auslegungen des koranischen Wortes. Wichtig wäre
dabei hauptsächlich, dass dieser Jahrhunderte alte Ballast von Auslegung
und Superauslegung und Kommentaren und Superkommentaren
weggefegt wird. Denn darin sind auch unendlich viele unislamische Dinge
festgeschrieben. Nehmen wir als Beispiel das Erbrecht bei den Frauen. Die
Tochter erbt natürlich nur die Hälfte dessen, was der Sohn erbt, weil man
sagt, dass sie ja heiraten wird und daher das Brautgeld dieses restliche
Erbe ersetzen wird. Im Laufe der Jahrhunderte kam es aber z. B. zu
folgenden Geschichten: Eine fromme Tochter hat da meinetwegen ihr
Erbteil dem Bruder übergeben, damit der studieren kann usw. Diese
Geschichten werden dann als Wahrheit aufgefasst und den jungen
Mädchen als Ideal vorgesetzt, wie ich z. B. aus Pakistan weiß. Ihnen wird
gesagt: "Diese fromme Frau hat das getan, und deshalb wirst du das auch
so machen!" Andererseits kann es sogar sein, dass die Frauen gar nicht
darüber informiert werden, dass sie ein Erbrecht haben. Meiner Meinung
nach ist das Schlimmste dabei die Tatsache, dass sich das in diesen
Hunderten von Jahren in diesen Kommentaren und Superkommentaren
niedergeschlagen hat: Die armen Frauen wissen zum Teil gar nicht, dass
sie auch Rechte haben und welche Rechte sie haben. In Pakistan, wo ich
die Lage am besten kenne, wird nun wirklich sehr stark daran gearbeitet,
daran etwas zu ändern. Meine Freundin, die Schwiegertochter von
Mohammed Iqbal, ist auf diesem Gebiet sehr aktiv. Sie hat hier in Europa
über diese Frage auch schon Vorträge gehalten. Auch sonst gibt es heute
genügend gebildete muslimische Frauen, die selbst ihre Rechtsstudien
absolviert haben und die sich nun auf diesem Gebiet betätigen. Ich hoffe
schon, dass sie auch etwas bewirken damit, denn wenn man all diese
Kommentare liest, dann wundert man sich wirklich, was sich die "Herren der
Schöpfung", also die Männer, da ausgedacht haben.
Vielleicht sind den Männern aufgrund der gesellschaftlichen
Rollenverteilung auch mehr Instrumente in die Hand gegeben: Sie konnten
Schimmel:
Weiß:
Schimmel:
Weiß:
Schimmel:
Weiß:
Schimmel:
Weiß:
Schimmel:
Weiß:
Schimmel:
Weiß:
damit ihre Position so lange aufrecht erhalten.
Natürlich. Deswegen sind eben auch viele Dinge in den Islam eingedrungen
bzw. eingebracht worden, die im Grunde genommen nichts mit der echten
koranischen Botschaft zu tun haben. Das ist meiner Ansicht nach etwas,
das man immer wieder betonen muss.
Dürfte denn eine Frau, die auf diesem Gebiet ihr Recht durchsetzen
möchte, auch eine Rebellin sein?
Nein, das glaube ich nicht. Man kann auch auf sehr höfliche Art und Weiße
die eigenen Rechte durchsetzen. Ich glaube, das wirkt mehr als die
Rebellion.
Man denkt sich dabei halt, dass die westliche Geschichte eben auch eine
Geschichte der Revolutionen war, in denen sich immer wieder neue
Bewusstseinszustände durchgesetzt haben. Wie kann denn ein neues
islamisches Bewusstsein über eine so große Spanne von Ländern und
Völkern überhaupt Platz greifen?
Das ist natürlich schon ein großes Problem, denn die Grundlage ist zwar
schon eine einheitliche, aber die Ausformungen meinetwegen zwischen
Marokko auf der einen Seite und Indonesien auf der anderen Seite sind
doch sehr verschieden. Da ist doch sehr viel Ethnisches mit hineingeflossen
und auch sehr viele Dinge, die gar nicht zum Islam gehören, sondern
Gewohnheitsrechte aus der Zeit vor dem Islam darstellen. Das kann man z.
B. in Belutschistan in den ländlichen Gebieten sehen: Da gibt es sehr vieles,
das nichts mit dem Islam zu tun hat, aber als islamisch propagiert wird.
Bräuchte der Islam eine Kirche, damit er sozusagen wieder einheitliche
Lehrmeinungen verbreiten könnte, um z. B. auch in der Frage der Reform
eine gemeinsame Linie zu finden?
Ich glaube, dass das unmöglich wäre, denn der Islam schließt ja eine
Mittlerschaft zwischen Gott und den Menschen aus. Ich meine, die al-Azhar
in Ägypten tut ja schon einiges, um Glaubenslehren zu verkünden. Sie ist
zwar die am höchsten geschätzte Autorität, aber es kann eben im Islam nie
ein Urteil quasi ex cathedra geben.
Wobei sich natürlich Fundamentalisten dieses Recht doch anmaßen.
Ja, aber die Fundamentalisten sind doch, so häufig sie auch in den
Schlagzeilen sein mögen, eine verhältnismäßig geringe, freilich sehr
lautstarke Minderheit. Aber die meisten Muslime, die ich kenne - darunter
sind sehr gebildete, aber auch ganz einfache Menschen – wollen mit denen
nichts zu tun haben. Sie sagen, dass das kein Islam sei, denn diese
Grausamkeiten könne man nirgends aus dem Islam ableiten. Ich finde,
dass das schon auch immer wieder betont werden sollte. Aber es ist eben
traurig, dass dadurch der Name des Islam in Verruf gerät. Das bekümmert
mich, und das bekümmert wohl alle Menschen, die muslimische Freunde
haben.
MöglicherWeiße ist es eben so, dass eine Gesellschaft und eine Kultur alles
in sich tragen: dass sie zum Guten wie auch zur Sünde, zum Fehler und
auch zur Grausamkeit fähig sind. Das kann man ja in der entsprechenden
Weiße auch aus der christlichen Geschichte ableiten.
Ja, doch, es ist alles mit dabei. Aber ich glaube schon, dass wir die positiven
Seiten immer wieder hervorheben sollten. Wir sollten auch versuchen, uns
die Kultur, die Literatur, die Kunst des Islam näher zu bringen. Das scheint
mir doch besonders wichtig zu sein.
Frau Professor Schimmel, herzlichen Dank. Das war ein gutes Schlusswort.
Wir bedanken uns sehr bei Ihnen. Das war die heutige Extra-Ausgabe des
Alpha-Forums aus der Evangelischen Akademie in Tutzing. Herzlichen
Dank.
© Bayerischer Rundfunk
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