Bürgerbeteiligung ist mehr als eine Website

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Bürgerbeteiligung ist mehr als eine Website
von Frederik Beck und Leonard Novy am 12. März 2012
Die Politik hat Beteiligung wieder für sich entdeckt, vor allem im Netz. Leider ist das oft kaum mehr als
PR. Dabei wäre es Zeit für ein starkes und ehrliches Versprechen auf politische Teilhabe - als
Revitalisierung der repräsentativen Demokratie.
Die Frage ist eine große und eine drängende zugleich: Wie soll in Deutschland künftig Politik gemacht werden? Wie sollen
Bürger an Entscheidungen teilhaben können, wie sollen ihre Ideen in den politischen Prozess aufgenommen werden? Seit so
unterschiedliche gesellschaftliche Strömungen wie die Gegner von Stuttgart 21 oder die Occupy-Bewegung diese Frage
aufgeworfen haben, wird darüber vermehrt debattiert. Der Partizipationsforscher Dieter Rucht spricht von dem Bedürfnis
nach "substantiellen Veränderungen des Repräsentativsystems", das viele dieser Bewegungen verbinde.
Inzwischen haben auch die politischen Akteure darauf reagiert. Vor wenigen Wochen startete die SPD-Bundestagsfraktion
das Projekt Zukunftsdialog online, ein Online-Tool, über das interessierte Bürgerinnen und Bürger politische Initiativen der
Fraktion diskutieren können. Auch das Wahlprogramm der SPD soll im engen Dialog mit den Bürgern entwickelt werden.
Das Bundeskanzleramt wiederum lässt auf dialog-ueber-deutschland.de Bürger zentrale Zukunftsfragen wie "Wie wollen
wir morgen zusammenleben?" und "Wie wollen wir lernen?" diskutieren. Die Antworten sollen 120 Experten vorgelegt
werden, mit denen sich das Kanzleramt seit Frühjahr 2011 berät. Am heutigen Mittwoch findet dazu in Erfurt ein
Bürgerdialog mit Bundeskanzlerin Angela Merkel statt.
Keine Frage: Die Einladung zur Diskussion und Partizipation trifft einen gesellschaftlichen Nerv. Und im Idealfall können
solche Prozesse helfen, Politik transparenter, wissensbasierter und im Ergebnis besser zu machen. Häufig aber bleiben die
Angebote weit hinter den Möglichkeiten zurück. Beim Kanzlerinnen-Dialog beispielsweise können die Nutzer Kommentare
anderer Teilnehmer weder filtern noch aufeinander verweisen oder Diskussionsstränge als erledigt markieren. Kein Wunder,
dass viele Diskussionen rasch versanden, viele Ideen unkommentiert bleiben. Zudem mag viele Bürger abschrecken, dass
Islamkritik und Cannabis-Legalisierung die populärsten Themen auf dem Portal sind.
Partizipationsangebote in der Glaubwürdigkeitsfalle
Warum haben die Gestalter des Projekts auf moderne Instrumente der Diskussionsunterstützung verzichtet? Es ist ja davon
auszugehen, dass sie sich andere Formate und Angebote genau angesehen haben. Zurecht vermutet der Dialogexperte Hans
Hagedorn, dass eine Qualifizierung der Diskussion nicht das Ziel des Kanzleramts war. Vielmehr ging es wohl um den
PR-Effekt.
Je mehr sich das Internet zum alltäglichen Medium sozialer Interaktion entwickelt, desto stärker werden sich
Anschlussfähigkeit und Erfolg politischer Organisationen daran bemessen, wie ernst ihre Partizipationsangebote gemeint
sind. Nur wenn aus Partizipation Politik wird, online entwickelte Vorschläge und Ideen tatsächlich in den politischen
Prozess einfließen und hier sichtbare Effekte erzielen, sind solche Angebote glaubwürdig.
Noch wichtiger ist: Angebote zur Online-Beteiligung schaffen nicht automatisch einen umfassenderen, inklusiveren Diskurs.
Schließlich erfordert jede Form der politischen Beteiligung Zugang, Fähigkeiten und Motivation. Voraussetzungen, die zu
Noch wichtiger ist: Angebote zur Online-Beteiligung schaffen nicht automatisch einen umfassenderen, inklusiveren Diskurs.
Schließlich erfordert jede Form der politischen Beteiligung Zugang, Fähigkeiten und Motivation. Voraussetzungen, die zu
häufig nur von gut ausgebildeten und wohlhabenden Bevölkerungsschichten erfüllt werden. Soziale Ungleichheiten werden
im Netz eben nicht automatisch ausgeglichen, sondern existieren in der Regel fort. Der Schritt zu mehr Beteiligung und
Demokratie ist noch lange nicht vollzogen, nur weil die Technik das Potenzial dafür liefert. Es geht also nicht nur um die
richtigen Instrumente und die Organisation von Prozessen, sondern auch um sozialen Zusammenhalt und, ja, das Ideal der
Gleichheit.
Genau hier muss ein umfassend ausgestaltetes Partizipationsversprechen ansetzen. Zunächst müsste es individuelle
Fähigkeiten als Voraussetzung für politische Beteiligung durch Bildungsangebote gerechter verteilen. Weiterhin geht es
darum, mehr direktdemokratische Elemente und dialog- und deliberationsorientierte Formen der Bürgerbeteiligung
einzuführen, um die Demokratie responsiver, erfahrbarer und legitimer zu gestalten – lokal wie national, online wie offline.
Die Revitalisierung der repräsentativen Demokratie
Die schiere Zahl, aber auch die Qualität von Beteiligungsverfahren hat in den vergangenen Jahren rasant zugenommen. Zu
den bewährten Beispielen zählen methodisch innovative Weiterentwicklungen der klassischen neuenglischen Town Hall
Meetings, bei denen die Bürger einer Kommune oder Region zusammenkommen, um über gemeinsame Belange zu
diskutieren. Ebenso Bürgerhaushalte und -panels, Konsenskonferenzen oder Liquid-Democracy-Tools wie das von den
Piraten angewandte Liquid Feedback.
Auch die ursprünglich von Stanford-Professor James S. Fishkin entwickelte Methode des deliberative polling, die seit den
1990er Jahren in den USA, seit Kurzem auch in Europa eingesetzt wird, könnte als Beispiel dienen: Eine repräsentative
Bevölkerungsgruppe kommt für mehrere Tage zusammen, um unter der Anleitung von Moderatoren und Experten ein
gesellschaftlich strittiges Thema zu diskutieren. Es entsteht also ein Raum, in dem sich die Beteiligten eine informierte und
ausgewogene Meinung zu einem Thema bilden können. Der Austausch von Argumenten, der demokratische Streit, wird
wieder gelernt und öffentlich zugänglich gemacht.
Aus diesen Möglichkeiten ein starkes und ehrliches Versprechen auf Beteiligung, Teilhabe und Kollaboration zu formen, ist
die Herausforderung für die politischen Akteure. Der Versuch, Partizipation jenseits des schlichten Ja oder Nein von
Bürgerentscheiden weiterzuentwickeln, darf sich also nicht in PR-Inszenierungen erschöpfen. Es geht um nicht weniger als
um eine Revitalisierung der repräsentativen Demokratie – verstanden nicht als Mechanismus zur Delegation von Macht,
sondern als gesellschaftliche Lebensform.
--Dieser Artikel ist zuerst auf Zeit Online erschienen.
www.fortschrittsforum.de
PDF erstellt am 19.08.2017 um 05:21 Uhr
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