Doc: 110128_Schweiz demokratisches Mittelmass

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Die Schweiz ist «demokratisches Mittelmass»
«Demokratiebarometer» der Universität Zürich und des Wissenschaftszentrums Berlin
Die Schweiz ist Demokratie per se, so die landläufige Meinung. Nun aber erklärt ein neues
Rating die Schweiz gewissermassen zum demokratischen Entwicklungsland.
Martin Senti
«Die Schweiz ist nicht wie erwartet die Demokratie par
excellence, sondern nur Mittelmass.» Das ist die
Erkenntnis von Forschern der Universität Zürich und des
Wissenschaftszentrums Berlin. In einem am Donnerstag
vorgestellten «Demokratiebarometer» - ein Projekt im
Rahmen des NCCR Democracy - erreicht die Schweiz im
Vergleich mit 29 anderen etablierten Demokratien gerade
einmal Rang 14. Obenauf liegen im Ranking Dänemark,
Finnland und Belgien, auf den hintersten Rängen finden
sich Polen, Südafrika und Costa Rica.
Seine «gute» Nachricht: Die Schweiz habe grosse
Fortschritte gemacht. Dank der Verfassungsrevision 1999
und verschärften Regeln der Transparenz und der
Information habe sie sich von Rang 19 (1995) auf Rang 9
(2005) verbessern können.
«Spielzeug»
Freiheit, Gleichheit, Kontrolle
Wie kommen die Forscher zu diesem ernüchternden
Befund? In die Statistik gingen rund 100 Indikatoren zu 9
zentralen Demokratie-Funktionen ein, die wiederum grob
den 3 Oberbegriffen Freiheit, Gleichheit und Kontrolle
zugeordnet werden. Die 9 Funktionen sind: Individuelle
Freiheitsrechte, Rechtsstaatlichkeit, aktive
Öffentlichkeit, Transparenz, Partizipation,
Repräsentation, politischer Wettbewerb,
Gewaltenkontrolle und Regierungsfähigkeit.
Gemäss Marc Bühlmann von der Universität Zürich und
Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum Berlin kann
der für die Zeitspanne von 1995 bis 2005 ermittelte
Durchschnittsrang 14 der Schweiz in erster Linie damit
erklärt werden, dass sich das Land zwar hinsichtlich der
Freiheitsrechte, der aktiven Öffentlichkeit, des
politischen Wettbewerbs und der Regierungsfähigkeit als
demokratisches Musterland erweise, indes bezüglich der
Gewaltenkontrolle, der Transparenz und der Partizipation
Defizite aufweise. Als Defizit geortet wird beispielsweise,
dass das Parlament die Regierung nur unzureichend
kontrollieren (sprich nicht abwählen) könne, dass die
Judikative vergleichsweise abhängig sei (kein
Bundesverfassungsgericht, vom Parlament nach
politischen Kriterien gewählte Richter) und dass es an
Transparenz mangle (die Informationspflicht war bis 2005
unzureichend, keine Transparenz in der
Parteienfinanzierung).
Gleiche Partizipation
Als besonders negativ wirkt sich im Ranking ferner die
vergleichsweise geringe Partizipation bei Wahlen und
Abstimmungen aus, gepaart mit der ungleichen
Beteiligung nach sozialen Merkmalen wie Bildung,
Einkommen, Alter oder Geschlecht. «Vom Ideal einer
Demokratie politisch Gleicher, in der alle Bürgerinnen und
Bürger sich politisch engagieren und deren Interessen und
Werte gleichmässig in die politische Arena gelangen, ist
die Schweiz weiter als die meisten anderen Demokratien
entfernt», schreiben die Forscher. Es zählt also nicht die
potenziell breite Partizipation, sondern die effektive
Nutzung: «Demokratie muss gleiche Berücksichtigung und
Ermöglichung garantieren», sagt Bühlmann.
Die Schweizer Demokratie verwirkliche insgesamt das
Prinzip Freiheit gut, nicht aber das Prinzip der politischen
Gleichheit, so bringt Bühlmann die Dinge auf den Punkt.
«Demokratisierung ist ein Prozess, der nie abgeschlossen
ist», sagt Bühlmann. Das Barometer mit seinem
modularen Aufbau sei dazu erdacht worden, diesen
Prozess zu beleuchten und die gesellschaftliche
Demokratie-Diskussion zu forcieren: «Wir liefern
gewissermassen das Spielzeug für diese Diskussion», so
Bühlmann. Gerade der modulare Aufbau des Modells
ermögliche es, über die einzelnen Elemente und ihre
Bedeutung für die Demokratie zu streiten.
Quelle: NZZ v. 28. 1. 2011
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