Komplexe Traumafolgestörungen und ihre Auswirkungen auf die Selbststeuerungsfähigkeit – Bedeutung für die Ausgestaltung von pädagogischer Settings Schwarzacher Symposium: Qualitätsstandards für freiheitsentziehende Maßnahmen: „Neuropädagogik - Herausforderung für pädagogisches Handeln“ Marc Schmid, Schwarzach, den 2. Juli 2013 Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik Zentrum für Liaison und Qualitätssicherung Einleitung Trauma, Selbstkontrolle, Freiheit und geschlossene Unterbringung „Niemand ist frei, der über sich selbst nicht Herr ist.“ Matthias Claudius (1740 -1815), Deutscher Dichter http://was-ist-psychologie.de/wpcontent/uploads/2012/12/Was-ist-Selbstkontrolle-283x310.jpg http://www.fotocommunity.de/pc/pc/display/27409312&docid=kZx4T6kCpYLkUM&imgurl=http:// img.fotocommunity.com/images/Emotionen/Verzweiflung/Freiheit-a27409312.jpg&w=1000&h =773&ei=tsXOUdS9O8nvswaY7oHwBw&zoom=1&iact=rc&dur=461&page=2&tbnh=138&tbnw=1 85&start=24&ndsp=36&ved=1t:429,r:59,s:0,i:272&tx=61&ty=49&biw=1280&bih=822 Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 2 Gliederung 1. Was ist ein Trauma? 2. Komplexe Traumafolgestörungen 3. Trauma, Selbststeuerung und pädagogische Probleme 4. Eskalation der Hilfen bis zur geschlossen Unterbringung 5. Geschlossene Unterbringung als Mittel gegen die Machtlosigkeit 6. Einige Überlegungen zur Funktion von Regeln 7. Traumapädagogik 8. Geschlossene Unterbringung und traumapädagogische Konzepte 9. Zusammenfassung und Diskussion Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 3 Was ist ein Trauma? Traumatisches Lebensereignis Extreme physiologische Erregung Flucht Freeze Fight Traumasymptome Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 4 Bei einer Traumatisierung laufen parallel zwei unterschiedliche physiologische Prozesse ab Übererregungskontinuum Fight oder Flight › Alarmzustand Wachsamkeit › Angst/Schrecken › Adrenalin System wird aktiviert - Erregung › Serotonerges System verändert sich - Impulsivität, Affektivität, Aggressivität Physiologisch › Blutdruck (Pulsrate ) › Atmung › Muskeltonus › Schmerzwahrnehmung Dissoziatives Kontinuum Freeze - ohnmächtige / passive Reaktion › Gefühlslosigkeit / Nachgiebigkeit › Dissoziation › Opioid System wird aktiviert Euphorie, Betäubung › Veränderung der Sinnes-, Körperwahrnehmung (Ort, Zeit etc.) Physiologisch › Pulsrate Blutdruck › Atmung › Muskeltonus › Schmerzwahrnehmung Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 5 Traumatypologien nach Terr (1991) Typ – I - Trauma › Einzelnes, unerwartetes, traumatisches Erlebnis von kurzer Dauer. › z.B. Verkehrsunfälle, Opfer/Zeuge von Gewalttaten, Naturkatastrophen. › Öffentlich, besprechbar Symptome: Meist klare sehr lebendige Wiedererinnerungen Vollbild der PTSD Hauptemotion = Angst Eher gute Behandlungsprognose Typ – II - Trauma › Serie miteinander verknüpfter Ereignisse oder lang andauernde, sich wiederholende traumatische Erlebnisse. › Körperliche sexuelle Misshandlungen in der Kindheit, überdauernde zwischen-menschliche Gewalterfahrungen. Symptome: › Nur diffuse Wiedererinnerungen, starke Dissoziationstendenz, Bindungsstörungen Hohe Komorbidität, komplexe PTSD Sekundäremotionen (z.B. Scham, Ekel) Schwerer zu behandeln Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 6 Biologische Faktoren Genetik, prä- und perinatale Risikofaktoren Soziale Wahrnehmung weniger soziale Kompetenzen PTSD: Hyperarousal, Intrusionen, Vermeidung Störungen der Empathiefähigkeit Mentalisierung Bindungsstörung Störungen der Interaktion Störung der Impulskontrolle Selbstregulation Stresstoleranz Invalidierende, vernachlässigende Umgebung Typ-II-Traumata Selbstwert, Gefühl d. Selbstunwirksamkeit kognitive Schemata Dissoziationsneigung/ Sinneswahrnehmung Schmid (2008) Störung der Emotionsregulation Störungen des Körperselbst Körperwahrnehmung Somatisierung Störung der exekutiven, kognitiven Funktionen | 7 Biologische Faktoren Genetik, prä- und perinatale Risikofaktoren Soziale Wahrnehmung weniger soziale Kompetenzen PTSD: Hyperarousal, Intrusionen, Vermeidung Störungen der Empathiefähigkeit Mentalisierung Bindungsstörung Störungen der Interaktion Störung der Impulskontrolle Selbstregulation Stresstoleranz Invalidierende, vernachlässigende Umgebung Typ-II-Traumata Selbstwert, Gefühl d. Selbstunwirksamkeit kognitive Schemata Dissoziationsneigung/ Sinneswahrnehmung Schmid (2008) Störung der Emotionsregulation Störungen des Körperselbst Körperwahrnehmung Somatisierung Störung der exekutiven, kognitiven Funktionen | 8 Biologische Faktoren Genetik, prä- und perinatale Risikofaktoren Soziale Wahrnehmung weniger soziale Kompetenzen PTSD: Hyperarousal, Intrusionen, Vermeidung Störungen der Empathiefähigkeit Mentalisierung Bindungsstörung Störungen der Interaktion Störung der Impulskontrolle Selbstregulation Stresstoleranz Invalidierende, vernachlässigende Umgebung Typ-II-Traumata Selbstwert, Gefühl d. Selbstunwirksamkeit kognitive Schemata Dissoziationsneigung/ Sinneswahrnehmung Schmid (2008) Störung der Emotionsregulation Störungen des Körperselbst Körperwahrnehmung Somatisierung Störung der exekutiven, kognitiven Funktionen | 9 Umgang mit Gefühlen und emotionaler Anspannung Implizite und explizite Emotionsregulation vgl. Schmid (2013) › Chronisches Hyperarousal. › Gefühle werden schneller als aversive Anspannung erlebt. › Handlungsimpulse können nicht adäquat identifiziert bzw. schwerer gegenreguliert werden. › Gefühle dauern länger an, Regenerationszeit, und überlagern sich. › Umgang mit Gefühlen konnte nie erlernt werden. › Gefühle werden tendenziell als bedrohlich erlebt und vermieden/negiert. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 10 Krise: Spannungsreduktion „Emotionsphobie“ Selbstverletzung Parasuizid Weglaufen Aggression Dissoziation Konsum Stimulus Emotion negiert Reaktion inadäquat Spannungsanstieg Das Dilemma ist, dass diese Patienten entweder zu viel oder zu wenig von ihren Gefühlen wahrnehmen! (van der Hart) Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 11 Biologische Faktoren Genetik, prä- und perinatale Risikofaktoren Soziale Wahrnehmung weniger soziale Kompetenzen PTSD: Hyperarousal, Intrusionen, Vermeidung Störungen der Empathiefähigkeit Mentalisierung Bindungsstörung Störungen der Interaktion Störung der Impulskontrolle Selbstregulation Stresstoleranz Invalidierende, vernachlässigende Umgebung Typ-II-Traumata Selbstwert, Gefühl d. Selbstunwirksamkeit kognitive Schemata Dissoziationsneigung/ Sinneswahrnehmung Schmid (2008) Störung der Emotionsregulation Störungen des Körperselbst Körperwahrnehmung Somatisierung Störung der exekutiven, kognitiven Funktionen | 12 Dissoziation und Trauma Veränderung der Wahrnehmung › Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 13 Veränderung der Wahrnehmung Pädagogisches Probleme durch Dissoziation › Die verzerrte Wahrnehmung von neutralen Reizen kann Auslöser (Trigger) für Kampf- und Fluchtimpulse/-handlungen sein. › Beeinträchtige Körper- und Schmerzwahrnehmung - Unfallneigung, Kraft wird falsch eingeschätzt, Selbstverletzung. › Starke Leistungsschwankungen - nicht lernen können. › Räumliche, zeitliche Desorientierung - konfabulieren vs. lügen. › Schnelle Wechsel fallen schwer - Desorientierung. › Können soziale Rolle unter Druck nicht ausfüllen - Retraumatisierungen können Gruppendynamiken nicht unterbinden. › Dissoziation führt fast zwangsläufig zur Nichtpartizipation bei wichtigen Gesprächen (Familien-, Hilfeplan). › Wut wird in der Gegenübertragung nicht „gespürt“ - überraschende Aggression Heftigkeit und Körperkraft sind kaum vorherzusehen. › Teufelskreis von stärkerer Intervention und Dissoziation. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 14 Biologische Faktoren Genetik, prä- und perinatale Risikofaktoren Soziale Wahrnehmung weniger soziale Kompetenzen PTSD: Hyperarousal, Intrusionen, Vermeidung Störungen der Empathiefähigkeit Mentalisierung Bindungsstörung Störungen der Interaktion Störung der Impulskontrolle Selbstregulation Stresstoleranz Invalidierende, vernachlässigende Umgebung Typ-II-Traumata Selbstwert, Gefühl d. Selbstunwirksamkeit kognitive Schemata Dissoziationsneigung/ Sinneswahrnehmung Schmid (2008) Störung der Emotionsregulation Störungen des Körperselbst Körperwahrnehmung Somatisierung Störung der exekutiven, kognitiven Funktionen | 15 Bindungsprobleme Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme „Der Kontakt selbst ist das gefürchtete Element, weil er das Versprechen von Liebe, Sicherheit und Trost beinhaltet, das nicht erfüllt werden kann und das (den Patienten) an die abrupten Verletzungen erinnert, die er in seiner Kindheit erlebt hat.“ Lawrence E. Hedges (1997, S.114) › Über 90% der Heimkinder weisen unsichere Bindungsmuster auf (Schleiffer, 2003) http://www.kwick.de/4048033/blog/36/ Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 16 Strategien, um belastende Bindungen eingehen zu können „Das Kind muss den Anteil in sich unterdrücken, der das Böse im Elternteil entdecken könnte.“ J. Freyd 1996 Die Kinder zeigen Anzeichen von Dissoziation, Freeze und Fragmentierung, wenn sie mit ihren Eltern unter Stress interagieren. Downing (2007), Liotti (2005) . Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 17 Mittlerer Abstand in der Beziehungsgestaltung „Der Verstand kann uns sagen, was wir unterlassen sollen. Aber das Herz kann uns sagen, was wir tun müssen.“ Joseph Joubert Emotionales Engagement Reflektierende/ professionelle Distanz Dammann 2006, Schmid 2007 Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 18 Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 19 Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 20 Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 21 Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 22 Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 23 Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 24 Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 25 Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 26 Ärger / Wut Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 27 Geschlossene Unterbringung und Traumapädagogik „Die Freiheit besteht in erster Linie nicht aus Privilegien , sondern aus Pflichten.“ Albert Camus Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 28 Martin Kühn, 2009 vom Referent verändert Freiheitsentziehende Maßnahme - GU Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 29 Machtbegriff von Hannah Arendt Anwendung auf den sozial-pädagogischen Bereich › Macht Gewalt › Analyse von Entstehung und Scheitern von totalitären Systemen. › Wahre Macht entsteht zwischen Menschen mit gemeinsamen Zielen/Werten, indem Macht von einem Menschen an andere Menschen abgegeben wird. › Macht, die auf Unterdrückung und Sanktionen beruht, produziert Misstrauen und reduziert die Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen. › Gewalt untergräbt somit letztlich die „wahre Macht“, was zu Gewaltexzessen und dem Verlust von Werten führt. › Ohne Legitimation durch andere Menschen führt Macht zu Gewalt und Isolation. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 30 Macht in der Therapie und Pädagogik › Jede therapeutische–pädagogische Beziehung weist ein Macht-Ungleichgewicht auf. › Therapeuten und Pädagogen werben um das Vertrauen in unsere Fachlichkeit und das Bemühen, um von einer Person die Macht übertragen zu bekommen. › Bei der Indikation der geschlossenen Unterbringungen sind die Autonomiebedürfnisse derart ausgeprägt und Bindungsbedürfnisse unterdrückt, dass es unmöglich ist, ausreichend Vertrauen aufzubauen und freiwillig Macht übertragen zu bekommen. › Die GU und die damit verbundene Ausübung von Macht/Gewalt ist notwendig, um eine Chance zu haben, eine Beziehung aufzubauen und Macht freiwillig übertragen zu bekommen. › Gelingende therapeutische und pädagogische Prozesse sind oft durch grosses Vertrauen, von einem „Wir“ und einem Problemlöseansatz gekennzeichnet – Wir-Sprache als Schutz vor Machteskalation - Wie können wir das gemeinsam schaffen? - Was machst Du? - Wie können wir Dich unterstützen? Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 31 Teufelskreis aus Machtausübung und Widerstand Die Reaktanztheorie (Brehm, 1966) Ausüben von Macht und Kontrolle Widerstand, Regelübertritt, Rebellion, Echte Veränderung von Einstellungen und (Wert-)Handlungen sind nur über Partizipation und vertraute Beziehungen möglich. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 32 Offen und geschlossen geführte Station in der Erwachsenenpsychiatrie Lang U. (2012): „Innovative Psychiatrie mit offenen Türen“ % 18 16 14 12 10 Offen 8 Geschlossen 6 4 2 0 Übergriffe Zwangsmedikation Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 33 Einige Überlegungen zum Umgang mit Regeln › Welche Vorerfahrungen mit Regeln haben traumatisierte Heranwachsende? › Konnten Regeln mit den Erwachsenen ausgehandelt werden? › Wurden die Regeln von den Erwachsenen erklärt, logisch mit einem „guten Grund“ begründet oder willkürlich vorgegeben? › Wurden die Regeln nicht eindeutig und transparent definiert? › Regeln haben die Kinder in der Regel überfordert (Einrichtungswechsel, Strafen von Eltern). › Wurde die Einhaltung von Regeln positiv verstärkt und wertgeschätzt, oder wurde nur die Nichteinhaltung sanktioniert? › Wie wurde die Nichteinhaltung von Regeln sanktioniert? Macht es in Anbetracht dieser Erlebnisse Sinn, mit Strafe zu operieren? › Wurde lange Zeit wiederholt mit Konsequenzen zum Beispiel der GU gedroht und nichts passierte bis… Ist die Einleitung der GU frei vom Gedanken der Strafe ? … Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 34 Gruppenregeln und Selbstwirksamkeit Selbstunwirksamkeit › Mit traumatisierten Kindern eskalieren viele Situationen, bei denen die Einhaltung von Regeln eingefordert wird. › Starre Gruppenregeln überfordern besonders belastete Kinder häufig. › Die meisten Regelübertretungen und die damit einhergehende Eskalation können als Kontrollverlust erklärt werden. › Je rigider die Anwendung von Regeln desto unsicherer sind in der Regel die Fachkräfte. › Regeln werde daher individuell ausgehandelt und begründet (Selbstwirksamkeit; Regeln sichern gute Beziehungen). › Regeln sollen personifiziert und internalisiert werden (familienähnliche Struktur). http://www.phpresource.de/forum/atta chments/out-order/2455d1181334360na-toll-na-toll.jpg › Regeln sind dazu da, Ausnahmen zu begründen! Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 35 Überlegungen zum Umgang mit Regeln Ziel ist die Internalisierung von Werten Internalisierter Wert Regel Fähigkeit zur adäquaten Wahrnehmung eine auslösenden Situation Verantwortung versus Gehorsam? Erkenntnis vs. Angst vor Konsequenz Verhalten Innere versus äußere Sicherheit??? Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 36 Umgang mit Regeln Deeskalation hat immer Vorfahrt › Für welche Regel lohnt sich das Risiko einer pädagogischen Eskalation? Was sind die Folgen? (Lohnt eine Eskalation bis 1 Uhr nachts wegen Licht aus um 22.00 Uhr?). › Suche den richtigen Moment, um eine Regelverletzung zu besprechen. Achte auf eine wertschätzende Haltung und Argumente, warum Dir diese Regel wichtig ist. › Das Einfordern einer Regel macht nur in Situationen Sinn, in denen das Kind diese auch aufnehmen, annehmen und verstehen kann. Echtes Verstehen ist unter Angst und Anspannung nicht möglich. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 37 Individuelle Anpassung und Begründung von Regeln „Der reissende Fluss wird gewalttätig genannt. Warum nicht das Flussbett, welches ihn einengt?“ Bertolt Brecht Fazit zu Regeln: «Möglichst wenig abstrakte, institutionalisierte Regeln und möglichst viele persönliche Absprachen mit ausführlicher Begründung zwischen Sozialpädagogen und Kindern» Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 38 Einführung in die Traumapädagogik „Man ist dort zu Hause, wo man verstanden wird.“ Indianisches Sprichwort Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 39 Zwei Ebenen der Emotions- und Beziehungsregulation Aktuelle Gefühlsreaktionen (nicht nur eigene) werden heftiger und als potentiell bedrohlich erlebt Gegenwärtige Wirklichkeit Wahrnehmung Körperreaktion Gedanken Handlungsdrang „Normale“ Beziehungen Gefühle Vergangenes traumatisches Erleben Wahrnehmung Körperreaktion Gedanken Gefühle Handlungsdrang = Freeze/Fight/Flight „Gefährliche“ Beziehungen „Glaubenssätze“ „Selbstbild“ | 40 Wirkungsweise der Milieutherapie Gegenwärtige Wirklichkeit Wahrnehmung Körperreaktion ´Traumapädagogisches Milieu / Therapie Gefühle Gedanken Handlungsdrang Wahrnehmung Körperreaktion Gefühle Gedanken Handlungsdrang Förderliche Beziehungsgestaltung Vergangenes traumatisches Erleben Wahrnehmung Körperreaktion Gedanken Handlungsdrang = Freeze Gefühle Korrigierende Erfahrungen mit Gefühlen und Beziehungen im pädagogischen Alltag. Schutz vor Retraumatisierung und den damit verbunden Gefühlen. „Glaubenssätze“ und „Selbstbild“ verändern sich nur durch alternative Beziehungserfahrungen und gute Therapie. Grundidee zur Analyse von Problemverhalten Vom Du zum Wir Umweltbedingungen Verhalten der Fachkräfte Interaktion pädagogische Begegnung Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 Verhalten der Klienten | 42 Neue Beziehungserfahrungen führen zur Veränderung Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 43 Traumapädagogik: Korrigierende Beziehungserfahrung Traumapädagogische Haltung Traumatisierendes Umfeld: Traumapädagogisches Milieu › Unberechenbarkeit › Transparenz /Berechenbarkeit › Einsamkeit › Beziehungsangebote/ Anwaltschaft › Nicht gesehen/gehört werden › Beachtet werden/wichtig sein › Geringschätzung › Wertschätzung (Besonderheit) › Bedürfnisse missachtet › Bedürfnisorientierung › Ausgeliefert sein – andere › Mitbestimmen können Bestimmen absolut über mich Partizipation › Leid › Freude Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 44 Der sichere Ort Konzept des sicheren Ortes Nur ein „sicherer Ort“ erlaubt es, die hochwirksamen Überlebensstrategien aufzugeben und alternative Verhaltensweisen zu erlernen. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 45 Der sichere Ort Kooperation mit dem Herkunftssystem Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 46 Haltung Sicherer Ort Sicherer Ort = Äussere Sicherheit Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 + Innere Sicherheit | 47 Mitarbeiter als Teil des pädagogischen Konzeptes › Traumatisierte Kinder lösen bei professionellen Helfern intensivste Gefühle aus – Phänomen der sekundären Traumatisierung. › Letztlich ist für die Frage, ob ein Kind nach einer Eskalation auf einer Wohngruppe verbleiben und gehalten werden kann, nicht das Problemverhalten sondern die Tragfähigkeit des Teams ist entscheidend. › Nur „stabile, sichere Mitarbeiter“ können in Krisensituationen stabilisieren und deeskalieren. › Mitarbeiter benötigen in Krisensituationen ähnliche innerpsychische Fertigkeiten (natürlich auf viel höherem Niveau), wie die Kinder (Emotionsregulation, Selbstwirksamkeit, Resilienzfaktoren). › Sowohl die Heranwachsenden als auch die Mitarbeiter brauchen letztlich einen sicheren Ort, an dem sie sich selbstwirksam erleben. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 48 Indikation für geschlossene Unterbringung Ohnmacht der Helfer Belastung des Teams, Verlust von Freude Rasant zunehmende Selbstunwirksamkeitserwartung; geringere pädagogische Präsenz Verlust der Kreativität und Rigidität Herausforderndes, aufmerksamkeitssuchendes Verhalten der Jugendlichen, Regelübertretungen Aggression der Jugendlichen auf der Wohngruppe Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 49 Haltungselemente Ebene des Kindes Ebene der Mitarbeiter Unbedingte Wertschätzung Wertschätzung der Überlebensleistung und der Wertschätzung der Arbeitsleistung und Besonderheit des Kindes. Persönlichkeit. Hinter jedem Problemverhalten und Widerstand Hinter Fehlverhalten oder Widerstand eines des Kindes steckt ein "guter Grund". Die Mitarbeiters steckt "ein guter Grund". Die zugrundeliegenden Bedürfnisse müssen beachtet zugrundeliegenden Bedürfnisse müssen und "versorgt" werden, um ein Gefühl von beachtet und "versorgt" werden. "Guter Grund" Sicherheit wieder zu erlangen. Individualisierung Jedes Kind benötigte eine andere Förderung und Es kann unterschiedliche Erwartungen an es darf nicht über- und unterfordert werden. Auf Mitarbeiter geben. Jeder Mitarbeiter braucht die Bedürfnisse der Kinder wird individuell eine andere Form der Unterstützung. eingegangen. Achtsamkeit Partizipation Achtsamkeit auf Spannungszustände, Anzeichen Achtsamkeit auf Symptome von Burn-Out, von Über- und Unterforderung. Unzufriedenheit, Über- und Unterforderung. Wichtige Entscheidungen und Regelungen werden Wichtige Entscheidungen und Regelungen gemeinsam ausgehandelt. Das Kind darf, wo werden gemeinsam ausgehandelt. Mitarbeiter immer möglich, (mit)entscheiden. können, wo immer möglich, Ziel ist das Erleben von Selbstwirksamkeit. (mit)entscheiden. Ziel ist das Erleben von Selbstwirksamkeit. Transparenz Institutionelle Abläufe und Absprachen und deren Entscheidungen auf Leitungsebene und deren Hintergründe, Sinn und Motivation werden Hintergründe, Sinn und Motivation werden transparent gemacht. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 dem Team gegenüber transparent gemacht. | 50 Traumapädagogische Haltungen im Zwangskontext Haltungselemente Freiheitsentzug und Zwangsmaßnahmen Unbedingte Wertschätzung Wertschätzung der Besonderheit, der Überlebensleistung und des ausgeprägten Autonomiestrebens/Widerstands des/der Jugendlichen. "Guter Grund" Jede Anwendung von Zwangsmassnahmen muss begründet werden können. Der „gute Grund“ für jede Zwangsmassnahmen (Gründe des Kindes, Gründe der Helfer) auch der GU sollte in der anschliessenden Reflektion von beiden Seiten verstanden werden, auch wenn man nicht damit einverstanden ist und dies nicht sein muss/kann. Individualisierung Jedes Kind benötigte eine andere Förderung und es darf nicht über- und unterfordert werden. Auf die Bedürfnisse der Kinder wird individuell eingegangen. Die Individualität der Kinder wird auch im Zwangskontext gefördert Kleidungsstil und Zimmer sollen individuell, aber heil(-sam) gestaltet sein. Transparenz Transparenz über die Anwendung und den Ablauf des pädagogischen Alltages und insbesondere des Ablaufes von Zwangsmaßnahmen, d.h. antizipieren und durchgehen von Szenarien möglichen Zwangsmaßnahmen und alternativen Handlungsmöglichkeiten. Dies kann zur Reduktion der damit verbundenen Ängste, Belastung und traumatischen Wiedererinnerungen führen, sehr zur Deeskalation beitragen und diese im Idealfall unnötig machen. Partizipation Gerade weil die Partizipationsmöglichkeiten des/r Jugendlichen durch die GU stark eingeschränkt sind, sollten diese im pädagogischen Alltag besonders betont werden. Es sollten möglichst viele Möglichkeiten der Kontrolle und Mitbestimmung geschaffen werden. Zukunftsorientierung- Die geschlossenen Unterbringung ist als Übergang zu definieren, und es wird schon sobald wie Entwicklungsförderung möglich/bei der Aufnahme darauf geachtet, dass das gemeinsame Ziel, eine gute Anschlusslösung zu finden, gemeinsam entwickelt wird. | 51 Traumapädagogische Matrix (Lang et al., 2009) Ebenen des sicheren Ortes Ansatzpunkte › Verbesserung der Fertigkeiten der Emotionsregulation. Kinder Institution Struktur Mitarbeiter › Verbesserung der Sinnes- und Körperwahrnehmung – Reduktion der Dissoziationsneigung. › Selbstfürsorge › Aufbau von positivem Selbstbild, Selbstwirksamkeit und sozialen Fertigkeiten (inkl. Verbesserung der Stresstoleranz). › Erarbeitung von dynamischen Resilienzfaktoren. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 52 Traumapädagogische Konzepte Steigerung der Selbstwirksamkeit durch Fallreflektion Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 53 Institution Leitung „Versorger„ „Fachdienst“ „Gruppenpädagogen“ Kind Externe Hilfen: Kollegiale Intervision/ Supervision/ Coaching/ Verband Traumapädagogische Krisenanalyse „Verstehen kann man das Leben nur rückwärts, leben muss man es aber vorwärts.“ Sören Kierkegaard Traumapädagogische Verhaltensanalysen: • Jedes kindliche Verhalten macht auf Basis vorheriger sozialer Lernerfahrungen einen Sinn - es gibt einen „guten Grund“ für jedes noch so bizarre Verhalten! • Gibt es Auslöser („Trigger“), die mit traumatischen Erlebnissen assoziiert sind? Wurden Sicherheitsbedürfnisse des Jugendlichen verletzt? • Beziehungs-, Autonomie- und Sicherheitsbedürfnisse des Kindes und der interagierenden pädagogischen Fachkräfte müssen versorgt werden (im Alltag, in weiteren ähnlichen Situationen)! http://de.wikipedia.org/wiki/Datei :Kierkegaard.jpg • Was muss ein Kind lernen, um sich in ähnlichen Situationen zukünftig adäquater verhalten zu können, wie kann dieser Lernprozess gefördert | 55 2. Juli 2013 werden? Drei Ebenen der Unterstützung › Administrative Ebene (eher Fachdienst) › Abläufe › Fachliche Weisungen › Rechtliche Rahmenbedingungen › Edukative Ebene › Vermittlung von Wissen, Techniken › Fallverstehen › Supportive Ebene › Emotionale Unterstützung/ Entlastung › Verständnis Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 56 Schlussfolgerungen Trauma, pädagogische Konzepte und GU › Traumatische Erfahrungen und psychische Erkrankungen sind in der Heimerziehung eher die Regel als die Ausnahme. Vermutlich sind geschlossen untergebrachte Jugendliche diesbezüglich sogar noch wesentlich stärker belastet - systematische epidemiologische Untersuchungen hierzu stehen noch aus. › Traumafolgestörungen beeinträchtigen die Fähigkeit zu Selbststeuerung und das Vertrauen in zwischenmenschliche Beziehung – dies erschwert den pädagogischen/therapeutischen Zugang. › Die Mehrzahl der Regelübertretungen und pädagogische Krisen können als Verlust der Selbstkontrolle betrachtet werden. › Bei Jugendlichen, die sich pädagogischen Beziehungen entziehen, fühlen sich die Fachkräfte machtlos – Risiko für psychische Belastung/Burnout. › GU erschwert es den Heranwachsende, sich den Beziehungsangeboten zu entziehen und macht die sozial-pädagogischen Fachkräfte wieder handlungsfähig. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 57 Schlussfolgerungen Trauma, pädagogische Konzepte und GU › Traumapädagogische Haltungen und Interventionen lassen sich auf geschlossene Settings übertragen (Fallbesprechungen). › Förderung von gezielten Fertigkeiten, welche die Jugendlichen in ihren Herkunftssystemen nicht erlernen konnten. › Entscheidend ist es transparent zu sein, gemeinsam ein Narrativ über den „guten Grund“ der Zwangsmassnahme der GU zu entwickeln, in die eigene Biographie zu integrieren (Stadler, 2005) und die Individualität und Partizipation der Jugendlichen auch unter geschlossenen Bedingungen zu leben. › GU sollte möglichst nicht als Strafe sondern als sorgendes Beziehungsangebot eingeleitet werden - Gegenübertragungsgefühle sollten bei der Indikationsstellung reflektiert werden. › Basis ist ein wertschätzende Haltung und ein Verständnis für die aus den belastenden Beziehungserfahrung der Heranwachsenden resultierenden teils maladaptiven Formen der Beziehungsgestaltung/-angebote. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 58 DANKE FÜR IHRE AUFMERKSAMKEIT „Haltung ist eine kleine Sache, die einen großen Unterschied macht.“ Sir Winston Churchill Slides unter: www.EQUALS.ch Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 59 Kontakt und Literatur Marc Schmid Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik Schanzenstrasse 13, CH-4056 Basel +41 61 265 89 74 [email protected], www.upkbs.ch www.equals.ch www.IPKJ.ch Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 2. Juli 2013 | 60