6 Generalisierte Angststörung

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Generalisierte Angststörung
Markus Bassler, Stefan Leidig und Christel Winkelbach
Das wesentliche Symptom ist eine generalisierte und anhaltende Angst, die über
einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten besteht mit Anspannung, Besorgnis
oder Befürchtungen in Bezug auf alltägliche Ereignisse und Probleme. Wie bei der
Panikstörung können vegetative und psychische Symptome vorkommen: Muskelverspannungen (mit akuten und chronischen Schmerzen), Ruhelosigkeit und Unfähigkeit zur Entspannung, Kloßgefühl im Hals und Schluckbeschwerden, Reizbarkeit,
Konzentrationsschwierigkeiten, Leeregefühl im Kopf wegen Sorgen oder Angst sowie
Einschlafschwierigkeiten. Häufig kommen auch depressive Symptome sowie hypochondrische Befürchtungen im engeren Sinn vor (ICD-10: F 45.2). Hypochondrische
Patienten lassen sich auch in Gegenwart eines Arztes bezüglich ihrer körperlichen
Befürchtungen (z. B. Krebsangst) kaum beruhigen, während dies bei den Patienten
mit Panikstörung oder generalisierter Angststörung deutlich besser gelingt.
Epidemiologie und Verlauf
Für eine Teilstichprobe der bereits mehrfach erwähnten ECA-Studie (Myers et al.
1984; Robins et al. 1984) wurden etwa 4% Lebenszeitprävalenz für die Gesamtbevölkerung ermittelt. Im Rahmen der Mannheimer Kohortenstudie berichtete Schepank
(1987) Punktprävalenzraten zwischen 1,8% und 2,7%. Der Verlauf ist chronisch, eine
stärkere erbliche Disposition gilt als wahrscheinlich.
Kognitiv-behaviorales Störungsmodell
Vorbemerkung
Im Vergleich zu den anderen in diesem Band dargestellten Angststörungen gibt es
derzeit weniger empirisch abgesichertes, theoretisches Wissen, geschweige eine einheitliche Theoriebildung zur generalisierten Angststörung (Heimberg et al. 2004;
Leichsenring et al. 2002). Die Behandlungsansätze, die für diese Störung entwickelt
werden und wurden, sind entweder noch nicht ausreichend bzw. abschließend evaluiert oder relativ unspezifisch und weniger effektiv als die kognitiv-behavioralen
Behandlungsrationale für andere Angststörungen (Ruhmland u. Margraf 2001). Vor
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Diagnostische Kriterien
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dem Hintergrund dieser Befundlage haben wir uns entschlossen, das Thema aus
unterschiedlichen Perspektiven zu bearbeiten, um der Leserschaft wenn keinen definitiven so doch einen breiten Einblick in den gegenwärtigen Stand der kognitivverhaltenstherapeutischen Überlegungen und Strategien zur GAS-Behandlung zu
geben.
Einleitend wird ein integratives Störungsmodell der generalisierten Angststörung
und die daraus abgeleiteten Interventionsstrategien vorgestellt. Insbesondere im
deutschen Sprachraum werden Behandlungsansätze diskutiert und evaluiert, die die
Funktion des Sich-Sorgens bei der GAS unter dem Aspekt der Vermeidung emotionaler Auseinandersetzung mit Ängsten konzipieren und daraus das Procedere der
„Sorgenkonfrontation“ ableiten (Becker u. Margraf 2002; Hoyer u. Becker 2000). Diese
Technik der Sorgenkonfrontation, die nach ersten empirischen Befunden Erfolg versprechend ist, wird anhand einer Falldarstellung im Rahmen der verhaltenstherapeutischen Interventionsstrategien beschrieben (Winkelbach).
Das „metakognitive Modell“ der Arbeitsgruppe um Wells (Wells 1997, 1999, 2004;
Wells u. Butler 1997) stellt ein in sich konsistentes Erklärungsmodell dar, aus dem
theoretisch schlüssig Therapiepläne ableitbar sind. Dieses wird als Einzeltheorie
ausführlicher dargestellt (Leidig).
Integratives Störungsmodell
Die meisten Genesemodelle zur generalisierten Angst gehen von prädisponierenden
Faktoren wie einer vegetativen Hyperreagibilität aus, auch wenn die empirische
Befundlage hierzu noch genauso uneindeutig ist, wie die zur Bedeutung kritischer
Lebensereignisse (Barlow 1988).
In verhaltenstherapeutischen Modellen sind für die Genese und Aufrechterhaltung von Angsterkrankungen Kognitionen und Aufmerksamkeitsprozesse von zentraler Bedeutung. So zeigten Patienten mit generalisierter Angst ebenso wie Patienten
mit anderen Angsterkrankungen einen Aufmerksamkeitsbias zugunsten bedrohlicher
Stimuli. Bedrohliche Informationen werden von Angstpatienten schneller wahrgenommen und unklare Reize werden mit größerer Wahrscheinlichkeit als gefahrvoll
beurteilt (Matthews 1990). Somit wird die Welt von den Betroffenen als eine Ansammlung von Hindernissen und Bedrohungen erlebt. Ebenso spielen dysfunktionale Gedanken und entsprechende überdauernde Einstellungen (z. B. ich bin hilflos)
als Auslöser von Ängsten eine Rolle.
Ein zentrales Merkmal bei Patienten mit generalisierter Angst sind Sorgen bzw.
eine ängstliche Erwartung (Barlow 1991). Diese führen zu einer Aufmerksamkeitsverlagerung in Richtung anxiogener Kognitionen, damit zu einem weiteren Erregungsanstieg und schließlich zu einer Zunahme der ängstlichen Erwartungshaltung.
Dieser Prozess lässt sich bei vielen Angstpatienten finden, ist bei Patienten mit GAS
allerdings nicht (wie bei Phobien) auf umschriebene Situationen begrenzt, sondern
zeigt sich in vielen verschiedenen Situationen mit der Tendenz zur Ausweitung.
Roemer und Borkovec (1993) verstehen diese Sorgen funktional im Sinne eines
Problemlöseprozesses, bei dem mögliche Bedrohungen vorweggenommen und eine
nicht endende Suche nach einem Ausweg eingeleitet wird. Der Sorgenprozess von
Angstpatienten hat eine typische Struktur. So werden Sorgen nicht zu Ende, d. h. bis
hin zur befürchteten Katastrophe gedacht. Vielmehr wird die Gedankenkette ab
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Kognitiv-behaviorales Störungsmodell
6 Generalisierte Angststörung
einem bestimmten, Angst erzeugenden Punkt abgebrochen und beginnt wieder von
vorn oder es wird zu einem neuen Sorgeninhalt übergewechselt. Gleichzeitig laufen
die Sorgen dieser Patientengruppe meist als Gedankenketten auf relativ abstraktem
Niveau ab, d. h. es werden kaum bildhafte Vorstellungen, die stärkere Angst auslösen,
zugelassen. Sorgen stellen damit eine Form der kognitiven Vermeidung dar. Der
Sorgenprozess, ob direkt oder über die Vermeidung von bildhaften Vorstellungen,
führt zu einer Verringerung der physiologischen Reaktionen auf Angstreize und somit
kurzfristig zu einer Angstreduktion. Da sich die emotionale Verarbeitung eines Angstreizes in einem Verstärken der physiologischen Reaktion ausdrückt, kommt Borkovec
(1994) zu der Annahme, dass Sorgen die emotionale Verarbeitung von angstbesetzten
Themen verhindern. Das hieße, dass Sorgen langfristig Angst aufrechterhalten, da
eine Habituation nicht stattfinden kann.
Eine Erweiterung dieses Modells wird von Wells (1997, 1999) durch das Konzept
der Metakognitionen bzw. Typ-II-Sorgen vorgenommen. Das Modell der Metakognitionen geht dabei davon aus, dass der Sorgenprozess von Angstpatienten maßgeblich
durch Meta-Sorgen, also Gedanken über die Sorgen, aufrechterhalten wird. Diese binden kognitive Ressourcen, lösen weitere Ängste und außerdem Versuche aus, die
Sorgen zu unterdrücken. Gerade die Unterdrückung von Gedanken macht die unerwünschten Inhalte jedoch besonders verfügbar (eine genauere Darstellung findet sich
weiter unten).
Die verschiedenen Elemente, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung der generalisierten Angst beitragen, sind in der Abb. 6.1 graphisch dargestellt.
Abb. 6.1 Vereinfachtes Störungsmodell der generalisierten Angststörung aus kognitiv-behavioraler Sicht (Leichsenring et al. 2002).
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Kognitiv-behaviorales Störungsmodell
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Wie die Konzeptualisierung der generalisierten Angst so sind auch die Behandlungsansätze derzeit noch in der Entwicklung begriffen. Dabei kann bereits zum jetzigen
Zeitpunkt eine mittlere bis gute Wirkung der verhaltenstherapeutischen Verfahren
und eine Überlegenheit gegenüber Kontrollbedingungen als belegt gelten (Fisher
u. Durham 1999; Ruhmland u. Margraf 2001; Borkovec u. Ruscio 2001; für eine Übersicht vgl. Leichsenring et al. 2002). Die kognitive Verhaltenstherapie ist von der American Psychological Association als empirisch „gestützte“ Therapie bei GAS anerkannt
(Chambless u. Ollendick 2001). Zurzeit gibt es im Wesentlichen vier Behandlungsansätze mit unterschiedlichen Schwerpunkten.
➤ Neben den älteren Behandlungsmanualen, die viele verschiedene für die GAS eher
unspezifische verhaltenstherapeutische Techniken kombinieren, gibt es den
Behandlungsansatz der Applied Relaxation nach Öst (1987). Hier lernt der Patient,
auf einen Angsthinweisreiz hin möglichst frühzeitig mit gezielter kurzer Entspannung zu reagieren.
➤ Die kognitive Therapie nach dem Modell der Metakognitionen von Wells (1997)
gehört zu den neueren Ansätzen und wird unten ausführlicher dargestellt.
➤ Im neueren Ansatz von Hoyer und Becker (2000) kommt nur eine Behandlungstechnik, die Sorgenkonfrontation, zur Anwendung.
➤ Daneben gibt es zurzeit Forschungsgruppen, die eine kombinierte Anwendung
GAS spezifischer Techniken überprüfen (Leichsenring et al. 2002) bzw. mit Erfolg
überprüft haben (Linden et al. 2002).
Diese einzelnen Techniken, die im Folgenden näher erläutert werden, sind hierbei zumeist auf Teile des oben dargestellten Störungsmodells bezogen.
Aus diesem integrativen Störungsmodell der generalisierten Angst lassen sich zunächst folgende globale Therapieziele ableiten:
➤ Sensibilisierung für die Störung,
➤ Reduktion der vegetativen Erregung,
➤ Abbau der kognitiven Verzerrungen und Veränderung der Grundannahmen,
➤ Abbau des „Sich-Sorgens“,
➤ Abbau des Vermeidungs- und Rückversicherungsverhalten,
➤ Verbesserung der Problem- und Stressbewältigung.
In der kognitiv-behavioralen Therapie wird versucht, diese Ziele mit Hilfe der im Folgenden dargestellten Techniken zu erreichen.
Informationsgewinnung und -vermittlung
Im Vordergrund steht die Erarbeitung des individuellen Störungsmodells anhand der
Berichte des Patienten über seine biographische Entwicklung bzw. aktuelle Ereignisse. Dabei sollten die spezifischen, verschiedenen aufrechterhaltenden und auslösenden Faktoren der Störung (Abb. 6.1) für den Patienten deutlich werden.
Da viele Patienten ihre Sorgeninhalte als vollkommen normal und nicht krankhaft
einstufen, ist es zum Aufbau von Therapiemotivation notwendig, die Patienten für
ihre Störung zu sensibilisieren. Dazu wird anhand von Sorgen-Beispielen die Neigung
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Überblick über die Behandlungsansätze
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6 Generalisierte Angststörung
des Patienten herausgearbeitet, nur gefährliche, negative Aspekte des Lebens wahrzunehmen („Was könnte es denn für positive Erklärungen dafür geben, dass Sie der
Chef sprechen will?“) und positive Ereignisse weniger zu erinnern. Deutlich werden
muss für den Patienten, dass nicht die jeweilige einzelne Befürchtung (Kind könnte
verunglückt sein) das Problem ist, sondern der Prozess des sich übermäßigen Sorgens
an sich, der, wenn das eine Problem gelöst scheint, sich an einem anderen Ereignis
festmacht. Hierbei sollten mit dem Patienten zusammen Möglichkeiten der Unterscheidung von normaler und pathologischer Sorge entwickelt werden.
Zu Beginn der Behandlung sollen die Patienten das Vorgehen der Zwerchfellatmung
lernen, um ihr Anspannungsniveau frühzeitig senken zu können. Hierzu übt der Therapeut mit den Patienten eine bestimmte Art der Atmung, bei der „tief in den Bauch“
geatmet wird.
Kann der Patient noch kein anderes Entspannungsverfahren mit Erfolg durchführen, sollte die progressive Muskelentspannung (Jacobson 2002; Bernstein et al. 2002)
erlernt werden. Ziel ist die Reduktion eines erhöhten Anspannungsniveaus und der
vegetativen Übererregbarkeit. Wichtig ist dabei, auf mögliche Angstreaktionen zu
achten, die alleine durch die Entspannungsübungen ausgelöst werden können. Bei
manchen Patienten kann es daher am Anfang sinnvoll sein, die Übungen mit geöffneten Augen durchzuführen. Die Bedeutung des regelmäßigen täglichen Übens sollte
im Hinblick auf den Therapieerfolg besonders hervorgehoben werden. Das Üben zu
Hause sollte dem Patienten mit Hilfe einer besprochenen Kassette oder im Handel erhältlichen Medien erleichtert werden. Im Verlauf der Behandlung werden die beteiligten Muskelgruppen mehr und mehr zusammengefasst (7 Muskelgruppen: PMR-7,
4 Muskelgruppen: PMR-4). Bei der anschließenden „Recall-Entspannung“ soll der Patient lernen, sich ohne vorherige Muskelanspannung zu entspannen. Dies kann dann
später auch unter belastenden Alltagsbedingungen angewandt werden.
Kognitive Therapie
Im Mittelpunkt der kognitiven Therapie steht die Identifikation und Modifikation
von dysfunktionalen Kognitionen und Einstellungen. Das heißt, es geht nicht darum,
Lösungen für einzelne Sorgen der Patienten zu finden bzw. einzelne Sorgen zu entkräften. Wichtiger als die spezifischen Inhalte einzelner Sorgen sind deshalb die
dahinter stehenden Einstellungen, die Hilflosigkeitsgefühle auslösen, auf geringe
Selbstwirksamkeit hindeuten oder aus alltäglichen Situationen Gefahrensituationen
machen. Patienten, die immer wieder einzelne neue Sorgen besprechen wollen, wird
durch die Frage des Therapeuten, ob es ihnen nach der Lösung dieser einen Sorge gut
gehen würde, deutlich, das sie sich dann um andere Sachen sorgen, sie immer irgendetwas finden, über das sie nachgrübeln würden.
Die kognitive Umstrukturierung zentraler dysfunktionaler Einstellungen erfolgt
dabei in Anlehnung an das Vorgehen von Beck et al. (1985; Beck u. Emery 1981)
unter Anwendung von Selbstbeobachtungsaufgaben, Reframing, sokratischem Dialog,
Zweispaltentechnik, Entkatastrophisieren, Realitätsprüfung, Alternativgedanken etc.
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Entspannungsverfahren
Kognitiv-behaviorales Störungsmodell
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Es ist wichtig, dass der Patient durch Realitätsüberprüfungen die Häufigkeit des Vorkommens negativer Ereignisse relativiert:
➤ „Wie wahrscheinlich ist es, dass das Befürchtete eintritt?“
➤ „Wie oft ist Ihnen das schon passiert?“
➤ „Wie häufig haben Sie das schon getan, ohne dass das Befürchtete eingetreten ist?“
Die vermutlich bedeutsamere Veränderung im Denken der Patienten ist jedoch eine
andere. So sollte bei den Patienten eine höhere Toleranzschwelle für Ungewissheiten
und unerfreuliche Ereignisse des Lebens entwickelt und ein positives Bild einer
Fehlerfreundlichkeit, eine „Toleranz für Fehler“ verankert werden. Um diesen Prozess
zu fördern kann der Therapeut mittels des sokratischen Dialogs mit dem Patienten
dessen Ressourcen herausarbeiten („Lassen Sie uns einmal eine Situation anschauen,
die nicht bedrohlich war, die Sie aber überstanden haben!“ – „Wie haben Sie sie bewältigt oder überstanden?“). Eine weitere Förderung der Toleranz für Fehler besteht
darin, den negativen Ausgang einer Situation zu reframen (von: „Wenn ich eine Erkältung bekomme, dann geht es mir schlecht, ich kann nicht arbeiten …“ zu: „Wenn ich
eine Erkältung bekomme, wird auch meine Immunabwehr angekurbelt; ich kann mir
eine Auszeit gönnen, um hinterher umso erholter arbeiten zu können.“). Auch kognitive Fehler wie die Verallgemeinerung, es gehe allen anderen besser, oder der Irrglaube, sich durch Vorausschauen und Sorgen vor negativen Ereignissen schützen zu
können, sollten aufgedeckt und disputiert werden. Alle Techniken, die den Patienten
in einem positiven Selbstwirksamkeitsgefühl bestärken und die Vorstellung eines
aktiven Umgangs mit dem Leben in seiner Ganzheit (erfreuliche und unerfreuliche
Ereignisse) fördern, sind nützlich („Hallo gute Zeit, ich genieße dich, hallo schlechte
Zeit, ich bewältige Dich!“).
Die meisten Patienten mit generalisierter Angst leiden unter den so genannten
Meta-Sorgen, d. h. positiven oder negativen Annahmen bezüglich ihrer Sorgen, nennen diese aber oft nicht spontan. Da diese Meta-Sorgen zur Aufrechterhaltung der
Symptomatik beitragen, ist es wichtig, diese zu erfragen und mittels kognitiver Technik zu modifizieren.
Die positiven Annahmen über Sorgen, die oft bei den Patienten den Stellenwert
der Bewältigungsstrategie des „magischen Denkens“ haben, reduzieren deutlich die
Motivation der Patienten, ihre übermäßigen Sorgen aufzugeben. Daher ist eine Überprüfung der Annahmen wichtig.
Die negativen Meta-Sorgen können ebenfalls an Beispielen überprüft und somit
relativiert werden („Wie lange machen Sie sich schon Sorgen, ohne dass Sie verrückt
geworden sind?“). Die Technik der Sorgenkonfrontation (s. unten), bei der der Patient
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(Beck 1999; Brown et al. 1993; Zubrägel u. Linden, 2000). Wichtiges Ziel ist es, die
einseitige Aufmerksamkeitsausrichtung der Patienten auf Gefahren zu verändern, die
Tendenz, endlose Ketten von Katastrophenphantasien zu bilden, zu unterbrechen und
mit Hilfe kognitiver Techniken durch Alternativgedanken zu relativieren. Hierbei hilft
die Technik der Entkatastrophisierung dem Patienten, vermutete negative Ereignisse
als bewältigbar zu erleben und sollte schon am Anfang einer Sorgenkette eingesetzt
werden. Hilfreiche Fragen dabei sind:
➤ „Was genau würde passieren, wenn Ihre Befürchtung eintritt?“
➤ „Wie würde es Ihnen in einem Jahr/in fünf Jahren gehen?“
➤ “Was könnte positiv für Sie sein, wenn das Befürchtete einträte?“
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6 Generalisierte Angststörung
aufgefordert wird, sich intensiv das Schlimmste vorzustellen, dient ebenfalls dazu,
Meta-Sorgen zu hinterfragen. Daneben kann dem Patienten durch das „Rosa-Elefanten-Experiment“ („Denken Sie jetzt auf keinen Fall an einen rosa Elefanten!“) deutlich
gemacht werden, dass der Versuch, Sorgen zu unterdrücken, dazu führt, dass sie erst
recht präsent sind.
Bei dieser Intervention werden Expositionen in sensu mit individuellen Sorgengedanken des Patienten durchgeführt. Ziel ist es, über eine Konfrontation mit den
Sorgen ohne gedankliche Vermeidung, eine Habituation und darüber hinaus eine
emotionale Verarbeitung der Sorgen zu erreichen. Indirekt werden durch dieses Vorgehen auch die Metakognitionen nach Wells (1997, 1999), wie etwa „zu viele Sorgen
machen verrückt“, verändert. Um die Motivation des Patienten zu erhöhen, sich
dieser Behandlung auszusetzen, ist es wichtig, die Exposition gut vorzubereiten, d. h.
Meta-Sorgen zu modifizieren und Sinn und Ziel des Vorgehens klar zu erläutern. Hierbei ist es hilfreich, den Patienten zu fragen, was seiner Meinung nach passieren
würde, wenn er sich ganz genau den schlimmstmöglichen Ausgang der Sorge vorstellen würde. Die Erwartungen werden als Angstverlaufskurve dargestellt. In das Diagramm kann der Therapeut exemplarische Habituationskurven einzeichnen und dem
Patienten anhand dieser Kurven den Verlauf der Angst im Rahmen einer Expositionsübung verdeutlichen. Dann werden die Hauptsorgen des Patienten genau exploriert und eine Sorgenhierarchie erarbeitet, in der die Stärke der jeweils durch die
einzelnen Situationen ausgelösten Angst eingeschätzt wird.
Beispiel einer Sorgenexploration
Therapeut: „Was genau sind das für Sorgen, die Sie sich machen, wenn Ihr Mann von
der Arbeit erzählt?“
Patientin: „Wenn er von Problemen berichtet, denke ich gleich, er schafft seine Arbeit
nicht mehr.“
Therapeut: „Was befürchten Sie könnte dann passieren?“
Patientin: „Ich denke dann, dass sich dann immer mehr Arbeit anhäuft, dass er Termine nicht mehr einhalten kann und das Ganze dann natürlich auch auffällt. Sein
Chef wird merken, dass er die Arbeit nicht mehr schafft. Die Situation in den Firmen
sieht ja überall nicht gut aus – und wenn man da keine Leistung mehr bringt …“
Therapeut: „Was ist denn der schlimmste Ausgang, den Sie sich vorstellen könnten?“
Patientin: „Das Schlimmste, was ich mir dann denke ist, dass mein Mann vielleicht
entlassen wird. Und auf dem Arbeitsmarkt in seinem Alter findet er ja auch wahrscheinlich gar nichts mehr; es würde alles zusammenbrechen.“
Therapeut: „Was genau meinen Sie damit?“
Patientin: „Unsere Hausfinanzierung ist ohne das Gehalt meines Mannes gar nicht
möglich. Also das Schlimmste ist eigentlich, dass wir dann unser Haus verlieren würden, unsere Alterssicherung; wir müssten dann wegziehen und würden unsere
Freunde verlieren. Wir säßen dann irgendwo in einer Sozialwohnung und wären arm
und vereinsamt.“
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Sorgen-Exposition
Kognitiv-behaviorales Störungsmodell
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Entwicklung eines konkreten Katastrophenszenarios
Therapeut: „Ich bitte Sie, sich jetzt diese schlimme Befürchtung bildlich vorzustellen,
so dass Sie sie genau vor Augen haben. Wie sieht das aus, wenn Sie in der Sozialwohnung sitzen?“
Patientin: „Das wäre das Ende. Das könnte ich nicht aushalten.“
Therapeut: „Vielleicht fangen Sie bei Ihrer Vorstellung mit dem Raum an, in dem Sie
sich befinden. Wie stellen Sie sich den Raum vor?“
Patientin: „Alles ist klein und dunkel. Ich gehe vom Wohnzimmer in den Flur.“
Therapeut: „Wie sieht es da aus? Welche Farbe hat der Flur?“
Patientin: „Da ist so eine schreckliche Tapete an den Wänden. Braune Blüten – die
Tapete ist angeschabt – oben ist ein Wasserfleck, das könnte ein Wasserschaden
sein.“
Therapeut: „Was riechen Sie?“
Patientin: „Es riecht muffig, und es ist kühl und feucht. Ich hab Angst, dass es da bestimmt auch Schimmel gibt.“
Therapeut: „Wo sitzt denn der Schimmel? Wie sieht der aus?“
Patientin: „Der ist am Rand von dem Wasserfleck. So grau-grünlich pelzig. Die Decke
ist so niedrig. Ich hab Angst, ich bekomme keine Luft.“
Therapeut: „Spüren Sie das auch körperlich? Wo genau spüren Sie das?“
Patientin: „Es ist so eng in meiner Brust. Ich bekomme Herzklopfen. Ich glaube, mir
wird schlecht.“
Therapeut: „Sie spüren das im Moment ganz intensiv. Bleiben Sie in Ihrem Vorstellungsbild. Was passiert jetzt?“
Die entwickelte Szene stellt sich der Patient gedanklich für ca. 25 Min. vor (unter
Verbalisierung des Katastrophenszenarios durch den Therapeuten bzw. durch den Patienten selbst). Um die angestrebte Habituation zu erreichen, darf der Patient nicht
vermeiden, die Angst zu erleben. Am Ende einer Sorgenexposition schätzt der Patient
das Ausmaß der erlebten Angst auf einer Skala von 1–10 ein. Wenn die Vorstellung
nur noch geringe Angst erzeugt, erfolgt der Übergang zum nächsten Hauptsorgenbereich. Wichtig ist das Erreichen einer Habituation während der Sitzung, d. h. die
Angst sollte vor Ende der Übung deutlich abgenommen haben, und einer Habituation
zwischen den Sitzungen über wiederholte Konfrontationsübungen hinweg (Brown et
al. 1993; Becker u. Margraf 2002).
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Um ein Katastrophenszenario konkret zu entwickeln, soll der Patient eine ausgewählte Sorge zu Ende denken, d. h. bis hin zu der befürchteten Katastrophe. Dabei unterstützt der Therapeut den Patienten, ein möglichst bildhaftes Katastrophenszenario
unter Einbeziehung aller Sinnesmodalitäten zu entwickeln. Folgende Fragen des Therapeuten können dabei hilfreich sein:
➤ „Was würde sich abspielen?“
➤ „Was befürchten Sie genau?“
➤ „Wie geht es dann weiter?“
➤ „Welche Gedanken gehen Ihnen durch den Kopf?“
➤ „Was fühlen, hören, sehen und riechen Sie?“
➤ „Welche körperlichen Symptome erleben Sie in dieser Situation?“
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6 Generalisierte Angststörung
Sorgenkonfrontation
Therapeut: „Schließen Sie nun die Augen, und lehnen sie sich in Ihrem Stuhl zurück.
Während ich versuche, Ihnen jetzt die von uns besprochene Szene so genau wie
möglich zu beschreiben, versuchen Sie bitte ein möglichst lebhaftes Bild von dieser
Szene vor sich zu sehen und sich darauf zu konzentrieren. Sollten dabei Ängste aufkommen, wissen sie, dass das sinnvoll ist und Ihnen hilft, Ihre Sorgen langfristig zu
verringern. Versuchen Sie, diese Ängste kommen zu lassen, sie zu erleben. Sollten sie
während der Vorstellungsübung durch etwas abgelenkt werden, versuchen Sie, sich
wieder auf die Vorstellung zu konzentrieren. Sollte es Ihnen nicht mehr gelingen,
wieder ein Vorstellungsbild vor Augen zu bekommen, heben Sie bitte den Finger als
Zeichen, dass ich in dem Vorstellungsbild eine Szene zurückgehen muss. Senken Sie
den Finger, wenn Sie wieder in der Vorstellung sind.
Steigen Sie nun ein in das Bild: Ihr Mann hat seine Arbeit verloren, Sie haben
Ihre Wohnung verloren und leben nun in dieser Sozialwohnung. Sie sehen sich
durch den kleinen, dunklen Flur Ihrer Sozialwohnung gehen, Sie schauen sich
um …
Sie riechen den muffigen Geruch nach Schimmel …, Sie merken, wie Ihnen übel
wird … Sie gehen weiter den Flur entlang und sehen den Schimmelfleck, die Tapete
ist an der Stelle fleckig und pelzig – Sie können den Schimmel förmlich spüren … Die
Übelkeit breitet sich weiter aus, Ihnen wird heiß und Ihr Herz fängt an zu klopfen, Sie
kämpfen gegen die Übelkeit an – drücken die Hände auf den Mund. Sie wissen, Sie
müssen hier ausharren, Ihr weiteres Leben im Elend verbringen … Gemieden von
allen Bekannten … Panik steigt in Ihnen hoch, Sie fangen an zu schwitzen, und Sie
spüren, wie Ihr Herz schlägt … Sie bekommen immer schlechter Luft … Das Gefühl,
nicht fliehen zu können …
Abbau von Vermeidungsverhalten (Exposition in vivo)
Sorgenverhalten der Patienten (Rückversicherungsverhalten, Schonverhalten) sollte
angesprochen, aufgedeckt und abgebaut werden. Das kann beispielsweise durch
Unterlassen von Rückversicherung (Kontrollanrufe bei Kindern, Partner; ständige Erreichbarkeit durch Handy) im Sinne einer Exposition mit Reaktionsverhinderung oder
durch die Konfrontation mit neuen, gefürchteten Situationen (mit dem Auto in die
Stadt trotz Parkplatzmangel) und den Einsatz von Angstbewältigungsstrategien
geschehen. Gerade bei Patienten, die nicht spontan über viele Sorgen berichten, lohnt
es sich direkt nach bestimmten Tätigkeiten zu fragen („ Fahren Sie eigentlich auch mal
weiter weg, in unbekannte Gegenden?“). Viele Patienten mit generalisierter Angst
versuchen ihre Sorgen einzugrenzen, indem sie alles vermeintlich Neue und Unbekannte vermeiden und dadurch sehr eingeschränkt leben.
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Eine Sorgenkonfrontation könnte beispielsweise folgendermaßen beginnen (vorangegangen ist eine ausführliche Besprechung des Therapierationals, eine ausführliche
Sorgenexploration und die Entwicklung eines „Sorgendrehbuchs“):
Kognitiv-behaviorales Störungsmodell
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Aufbau von Bewältigungsstrategien und angstinkompatiblen Aktivitäten
Metakognitives Modell des Sich-Sorgens
Wells und Mitarbeiter charakterisieren die generalisierte Angststörung über das Konzept des „Sich-Sorgens“ („Worry“). Sorgen sind Gedankenketten mit negativem affektivem Inhalt. Sie thematisieren zukünftige Ereignisse mit ungewissem Ausgang. Von
klinisch unauffälligen Probanden werden Sorgen im Vergleich zu Zwangsvorstellungen als realitätsnäher, weniger ungewollt, schwerer aufzulösen, ablenkender und länger andauernd beschrieben. Sie sind auch stärker mit der subjektiven Notwendigkeit,
handeln zu müssen, verknüpft.
Sorgen sind überwiegend verbal, Zwangsgedanken eher in Vorstellungsbildern
kodiert (Wells u. Morrison 1994). Zwischen den alltäglichen Sorgen einer klinisch
unauffälligen Stichprobe und Sorgen bei Patienten mit einer generalisierten Angststörung wurden keine bedeutsamen inhaltlichen Unterschiede gefunden. Ebenfalls
keine Unterschiede ergaben sich in Bezug auf die Stärke der im Zusammenhang mit
den Sorgen erlebten Angst bzw. Aversivität. Allein in der wahrgenommenen Kontrolle
über die Sorgen unterschieden sich die Gruppen (Craske et al. 1989). Ein zentraler
Aspekt pathologischen Sich-Sorgens scheint von daher in der erlebten Unkontrollierbarkeit der sorgenvollen Gedanken zu bestehen (Wells u. Butler 1997).
Die Ähnlichkeit der Sorgeninhalte von Patienten mit einer generalisierten Angststörung und Gesunden führt dazu, zwei Arten von Sorgen zu unterscheiden: „Typ-1Sorgen“ drehen sich um Gesundheits- und Soziale Probleme, Finanzen, Arbeit etc. Sie
kategorisieren also all die ängstlichen Erwartungen, in denen sich die Patienten nicht
von klinisch Unauffälligen unterscheiden. „Typ-2-“ oder „Meta-Sorgen“ beschreiben
die Klasse von Gedanken, die den eigenen geistigen Zustand als bedrohlich erleben
lassen; Gedanken also, die das eigene Sich-Sorgen als ungesund charakterisieren. Da
sich die Typ-1-Sorgen in Bezug auf ihren Krankheitswert nicht unterscheiden, sind es
die Meta-Sorgen, die zum Leidensdruck beitragen. Typische Meta-Sorgen sind:
➤ „Ich drehe bald durch vor Angst.“
➤ „Sich so zu sorgen, ist nicht mehr normal.“
➤ „Die Sorgen fressen mich auf.“
Demnach bewerten diese Patienten die Art und das Auftreten ihrer Typ-1-Sorgen negativ. Gleichzeitig existieren aber auch positive Glaubenssätze in Bezug darauf, sich zu
sorgen. Beispiele hierfür sind:
➤ „Wenn ich mir genügend Gedanken über zukünftige Probleme mache, bin ich gut
gewappnet.“
➤ „Es ist unverantwortlich, sich nicht zu sorgen.“
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Zur Verbesserung der Problembewältigung kann ein Problemlösetraining (vgl. Brown
et al. 1993; Siegl u. Reinecker 2003; Zubrägel u. Linden 2000) zur Anwendung kommen. Ziel ist es dabei, das Sorgenverhalten als einen ineffektiven Versuch der Problemlösung zu charakterisieren und durch konstruktives Problemlöseverhalten in
den individuellen Situationen zu ersetzen. Gleichzeitig kann durch eine Fokussierung
auf die Ressourcen der Patienten und eine Förderung entsprechender Aktivitäten
angstinkompatibles Verhalten positiv verstärkt und aufgebaut werden.
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6 Generalisierte Angststörung
Die Betroffenen können demnach in einem Zustand kognitiver Dissonanz gesehen
werden, der durch die Koexistenz positiver und negativer Bewertungen von MetaSorgen bestimmt wird. Sie neigen dazu, Sorgen im Sinne einer Copingstrategie einzusetzen. Aber sobald sie das tun, fühlen sie sich durch den Prozess des Sich-Sorgens
bedroht.
Die subjektiv beste Strategie, diesem Dilemma aus dem Weg zu gehen, besteht in der
Vermeidung potenziell Angst erzeugender Situationen, wie etwa keine Nachrichtensendungen zu hören. („Ich darf mich nicht sorgen, sonst steigere ich mich wieder hinein.“) Weiterhin setzen die Betroffenen entsprechend der Vielfalt potenzieller Trigger
für sorgenvolle Gedanken (eigene Phantasien, Erklingen eines Martinshorns, Bemerkungen über Entlassungen an der Kasse im Supermarkt ...) unterschiedliche Sicherheitsverhaltensweisen ein. Diese haben zum Ziel, sich nicht sorgen zu müssen, oder
den Sorgenprozess abzukürzen, damit die befürchteten negativen Konsequenzen des
ängstlichen Grübelns („verrückt werden“) nicht eintreten mögen. Entsprechende
Sicherheitsverhaltensweisen sind z. B. Rückversicherungsstrategien im Rahmen häufigen Telefonierens, Ablenkungsversuche oder Strategien der Gedankenkontrolle.
Menschen, die sich sorgen, zeigen eine erhöhte Aufmerksamkeit in Bezug auf jegliche Information, die in irgendeiner Verbindung mit ihren ängstlichen Erwartungen
steht. Dies ist nicht immer ein freiwilliger Akt, denn bedrohungsrelevante Informationen dringen leichter als andere ins Bewusstsein (Wells u. Matthews 1994). Die Unterscheidung zwischen Typ-1- und Typ-2-Sorgen impliziert, dass die Aufmerksamkeit
sowohl auf potenzielle äußere als auch innere Bedrohungen ausgerichtet sein kann.
Sorgen sind Bedrohungen, die von innen kommen.
Kreisläufe des Sich-Sorgens
Meta-Sorgen können sich auf verschiedenen Wegen entwickeln und aufrechterhalten
werden. Drei Aspekte seien hier genannt:
➤ Wiederholtes Sich-Sorgen führt zu einer einseitigen Empfänglichkeit für negative
Informationen und trägt damit dazu bei, dass sich die Sorgen deutlich vermehren,
um möglichst alle antizipierten bedrohlichen Konsequenzen „abzudecken“. Dadurch nehmen die ängstlichen Erwartungen überhand und sind entsprechend
schwerer zu bewältigen.
➤ Vermeidung, Sicherheitsverhalten, Gedankenkontrolle oder erhöhte Aufmerksamkeit für potenzielle Gefahren halten die Patienten in ängstlichen Erwartungen
gefangen. Gerade infolge dieser Einstellung werden vermehrt vermeintliche Bedrohungen identifiziert und die Betroffenen trauen sich immer weniger, ihre
dysfunktionalen Annahmen zu überprüfen und damit zu falsifizieren.
➤ Die emotionalen Konsequenzen des Sich-Sorgens, wie etwa Ängste infolge von
Bedrohungsphantasien, verbunden mit der durch den Sorgenprozess unterbundenen emotionalen Verarbeitung, nähren einen ängstlichen Affekt. Dadurch wird
die Empfänglichkeit für negative Kognitionen weiter verstärkt. So können etwa
vegetative Angstsymptome als Vorboten einer bevorstehenden ernsthaften Dekompensation bedrohlich interpretiert werden und damit die Meta-Sorgen verfestigen.
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Die Patienten vermeiden potenziell Angst machende Situationen
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Die Unterscheidung zwischen Typ-1- und Typ-2-Sorgen impliziert, dass Patienten mit
einer generalisierten Angststörung mögliche externe Bedrohungen und Aufregung
mit dem Ziel vermeiden, den Sorgenprozess nicht zu aktivieren. Verschiedene Strategien, wie etwa die Vermeidung verschiedener Informationsmedien und -inhalte, bestimmter Konversationsthemen oder von Krankenbesuchen können zu diesem Zweck
eingesetzt werden. Typ-1-Sorgen können allerdings auch als Sicherheits- bzw.
Vermeidungsstrategie eingesetzt werden, sofern sie mit positiven Annahmen darüber,
sich zu sorgen, verknüpft sind. Dies ist dann der Fall, wenn erwartet wird, dass entsprechende Gedanken auf negative Ereignisse vorbereiten können („Was ist, wenn
ich arbeitslos werde?“). Erst wenn diese Strategie negativ eingeschätzt wird (Typ-2Sorge), wird sie zum Problem.
Die generalisierte Angststörung wird hier nicht als Störung der unkontrollierbaren Sorgen und ängstlichen Erwartungen angesehen. Sie ist stattdessen charakterisiert durch ängstliche Annahmen über die Sorgen und den unmäßigen Einsatz von
Sorgen als Basis für alltägliche Entscheidungsprozesse (Abb. 6.2).
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Abb. 6.2 Kognitives Modell der generalisierten Angststörung (Wells et al. 1997).
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Kognitiv-behaviorales Störungsmodell
96
6 Generalisierte Angststörung
Im Verständnis des metakognitiven Modells besteht das erste Ziel der Therapie in der
Modifikation der dysfunktionalen Annahmen über das Sich-Sorgen. Die Behandlung
dieser Meta-Sorgen und negativen Annahmen basiert auf der Veränderung derjenigen
Verhaltensaspekte (individuelle Vermeidungs- und Sicherheitsverhaltensweisen), die
die Entkräftung der dysfunktionalen Glaubenssätze verhindern. Das Aufgeben der
Sicherheitsstrategien dient also dazu, die Veränderung der Annahmen zu erleichtern.
Sobald die Meta-Sorgen und begleitende Glaubenssätze infrage gestellt sind, können
positive Glaubenssätze, die den Gebrauch von Sorgen als Copingstrategie motivieren,
modifiziert werden.
Das Behandlungsrationale hat also einen anderen primären Interventionsfokus als
die Angstmanagementstrategien, die Bewältigung der Typ-1-Sorgen angehen. Typ-1Sorgen werden nach Wells und Mitarbeitern erst dann in die Behandlung einbezogen,
wenn sie ihrem Inhalt nach Krankheitswert haben, wie etwa im Fall von sozialen oder
Krankheitsängsten. Jedoch sollte dies nicht auf Kosten der Behandlung der MetaSorgen geschehen.
Insgesamt können fünf zentrale Behandlungsaspekte unterschieden werden, die
im Folgenden näher erläutert werden (Wells 1997):
1. Erarbeitung des metakognitiven Modells.
2. Herausarbeitung und Widerlegung der individuellen negativen Annahmen über
Sorgen.
3. Exploration der individuellen Vermeidungs- und Sicherheitsverhaltensweisen mit
Planung und Durchführung der notwendigen Expositionen.
4. Infragestellen positiver Annahmen über Sorgen.
5. Bearbeitung der Typ-1-Sorgen.
Erarbeitung des metakognitiven Modells
Die Erarbeitung eines individuell auf den Patienten zugeschnittenen metakognitiven
Modells kann insofern Probleme bereiten, als die herauszuarbeitenden dysfunktionalen Metakognitionen den Betroffenen so selbstverständlich vorkommen, dass sie
schwer zu identifizieren sind. Fragen zur Extraktion von Meta-Sorgen sind etwa:
➤ „Warum leiden Sie unter Ihren Sorgen?“
➤ „Wenn Sie unter Ihren Sorgen so leiden, warum hören Sie nicht auf damit?“
➤ „Was kann passieren, wenn Sie sich nicht um Ihre Sorgen scheren?“
➤ „Was ist das Schlimmste, das passieren kann, wenn Sie sich weiterhin solche Sorgen machen?“
➤ „Warum stoppen Sie Ihre Sorgen nicht einfach?“
Im Rahmen der Exploration der Meta-Sorgen ist es im Hinblick auf die Konstruktion
eines individuellen Störungsmodells notwendig, die Struktur des Sorgenprozesses
zu reflektieren, anstatt die unterschiedlichen Inhalte der Typ-1-Sorgen zu bearbeiten. Den Betroffenen wird diese Präferenz spätestens nach der Frage klar, ob mit der
Lösung einer spezifischen Sorge ihr grundsätzliches Problem gelöst wäre. In der
Regel werden sie antworten, sie grübelten dann über ihre anderen Probleme nach. An
dieser Stelle können die Patienten davon überzeugt werden, an erster Stelle die Faktoren zu behandeln, die dazu beitragen, dass das Grübeln an sich zur Belastung wird.
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Behandlung
Kognitiv-behaviorales Störungsmodell
97
Herausarbeitung und Widerlegung der individuellen negativen Annahmen
über Sorgen
Exploration der individuellen Vermeidungs- und Sicherheitsverhaltensweisen
mit Planung und Durchführung der notwendigen Expositionen
Die Sicherheits- und Vermeidungsstrategien zeigen sich in der Regel schon im Verlauf
der ersten Sitzungen. Entsprechende offene oder verdeckte Verhaltensweisen können
auf die Vermeidung oder Kontrolle sowohl von Typ-2- als auch Typ-1-Sorgeninhalten
ausgerichtet sein. Das Ziel der Strategien muss präzise herausgearbeitet werden, um
die notwendigen Expositionsübungen im Sinne von Verhaltensexperimenten effektiv
planen zu können. Beide Sorgen-Typen sollten bei den Expositionsübungen berücksichtigt werden, da auch die Vermeidung von Typ-1-Sorgeninhalten dazu dient, den
Sorgenprozess und damit Meta-Sorgen zu verhindern. Vermeidungsverhaltensweisen
wie „keine Nachrichtensendungen hören“ sind leicht zu identifizieren und werden
durch Aufgaben wie „stündlich Nachrichten hören“ behandelt. Typische Sicherheitsverhaltensweisen zur Unterbindung von Meta-Sorgen, wie etwa Ablenkung oder
Rückversicherung („um Aufregung zu vermeiden“), können im Rahmen des Kontrollverlust-Experiments aufgegeben werden, um die entsprechenden Bedrohungshypothesen zu falsifizieren.
Infragestellen positiver Annahmen über Sorgen
Positive Annahmen über Sorgen können dann therapeutische Fortschritte behindern,
wenn das Generieren von Typ-1-Sorgen als unerlässliche Copingstrategie angesehen
wird. Die Modifikation positiver Annahmen kann darüber geschehen, dass Ereignisse betrachtet werden, die gut ausgegangen sind, obwohl man davor nicht gegrübelt
hat. Sind Annahmen wie „Wenn ich mich nicht um bestimmte Dinge sorge, geht
alles schief“, relativiert, so können auch „Loslass-Verbalisationen“ eingeführt werden.
Diese bestehen aus Selbstinstruktionen, etwa in dem Wortlaut: „Jetzt fange ich schon
wieder an, mich zu sorgen. Lass gut sein, das hilft sowieso nichts!“
Bearbeitung der Typ-1-Sorgen
Werden Typ-1-Sorgen als Copingstrategie eingesetzt, so festigen sie Assoziationsketten im Hinblick auf Bedrohungs-Szenarien. Daher kann das andauernde Sich-Sorgen (Typ 1) als eine Form von Einübung negativer Phantasien aufgefasst werden. Eine
in diesem Zusammenhang wichtige Intervention ist die Erzeugung alternativer positiver Schlüsse der Sorgenszenarien, nicht um Gedanken an bedrohliche Ausgänge zu
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Der Prozess der Entkräftung der negativen Annahmen über die Sorgen wird mit Fragen wie: „Wie kommen Sie eigentlich darauf, dass Ihre Sorgen Sie noch in den Wahnsinn treiben?“ eingeleitet. Verhaltensübungen helfen, die irrationalen Annahmen zu
widerlegen. Ein Beispiel hierfür ist das Kontrollverlust-Experiment, bei dem die
Betroffenen aufgefordert werden, aktiv zu versuchen, sich von Ihren Sorgen „auffressen“ zu lassen. Paradoxerweise führt dies zu dem Erleben, dass der befürchtete
Kontrollverlust nicht eintritt und die Sorgen sogar weniger schlimm als erwartet erscheinen.
98
6 Generalisierte Angststörung
vermeiden, sondern um Assoziationen zu positiven Einschätzungen wahrscheinlicher
zu machen. Bleiben störende Typ-1-Sorgen, wie etwa soziale Ängste oder hypochondrische Befürchtungen, weiter bestehen, so werden sie mit den üblichen kognitivverhaltenstherapeutischen Maßnahmen behandelt.
Aus psychodynamischer Sicht versagen bei der generalisierten Angststörung die
üblichen angstbindenden Abwehrfunktionen aufgrund einer schwerwiegenden Ichstrukturellen Schwäche, so dass anhaltende Angst als manifestes Symptom durchbricht (Bellak u. Small 1972; Mentzos 1984; Thomä u. Kächele 1986). Diffuse Ängste
können auch beim Borderline-Syndrom (Kernberg 1979) auftreten, die vor allem aus
der Bedrohung von der unerträglichen Spannung zwischen emotional unvereinbar
erlebten Gegensätzen herrührt. Durch Neuinterpretation der Ergebnisse von Arbeiten
anderer Autoren konnte Bowlby (1976) zeigen, dass viele der untersuchten schwerer
ängstlichen Patienten eine erheblich traumatisch belastete Kindheit hatten, insbesondere widersprüchliche und bindungsverunsichernde Beziehungserfahrungen mit den
Eltern (Silove et al. 1991; Egle et al. 1997). Nach der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie ist es nahe liegend, dass Patienten, die solche verunsichernden Beziehungserfahrungen gemacht haben, keine stabilen bzw. verlässlichen Objekt- bzw.
Selbstrepräsentanzen (die sich über Erfahrungen mit dem Objekt erst konstituieren)
internalisieren konnten, weshalb schon geringe Konfliktspannungen zu intensiven
Gefühlen von Überforderung und Hilflosigkeit führen, was zugleich ausgeprägte
Angst und Besorgnis auslöst.
Die bisherigen Ausführungen dürften verdeutlicht haben, dass die psychodynamischen Hypothesen zur Ätiologie der GAS sich nur teilweise mit dem oben beschriebenen Konzept „übertriebener Sorgen und negativer Erwartungen“ in Einklang bringen
lassen. Aus mehr theoriegeleiteten Erwägungen heraus besteht eine deutliche Tendenz, das Vorherrschen diffuser körpernaher Ängste prinzipiell als Indiz für eine
weiter gehende Ich-strukturelle Schwäche zu werten (Mentzos 1984). Dem widerspricht aber die klinische Beobachtung, dass durchaus nicht alle Patienten mit GAS im
„theoriekonformen Ausmaß“ Ich-strukturell beeinträchtigt sind. Außerdem besteht
bei der gegenwärtig gültigen nosologischen Eingrenzung der GAS eine erhebliche
Nähe wenn nicht fließender Übergang zur ängstlich-vermeidenden bzw. abhängigen
Persönlichkeitsstörung. Aus allem ergibt sich, dass eine klare diagnostische Abgrenzung der GAS als nosologisch eigenständiges Krankheitsbild nach wie vor nicht befriedigend gelungen ist und möglicherweise auch in den diagnoserelevanten Studien
kognitiv-behavioraler bzw. psychodynamischer Provenienz unterschiedliche Patientenkollektive untersucht worden waren (wobei die psychodynamischen Studien
zur GAS offenbar häufiger Ich-strukturell schwerer gestörte Patienten einbezogen
hatten).
Ein möglicher Brückenschlag zwischen dem Modell einer weiter gehenden Ichstrukturellen Störung und dem der Sorge-bezogenen Ängste könnte darin bestehen,
dass die Hartnäckigkeit der Sorgen ihre psychodynamische Begründung darin hat,
dass die ursprüngliche diffuse Angst durch „Anheften“ an beliebige kognitive Inhalte
diesen den Aspekt von Sorgen verleiht und sich selbst durch diesen Prozess in konkre-
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Psychodynamisches Störungsmodell
Psychodynamische Behandlung
99
Psychodynamische Behandlung
Zunächst sollte durch eine sorgfältige Exploration geklärt werden, in welchem Umfang eine Ich-strukturelle Schwäche besteht und insofern auch ein Mangel an angstbewältigenden Ressourcen. Des Weiteren bedarf es einer sorgfältigen diagnostischen
Abklärung, ob die generalisierten Ängste im Zusammenhang mit einer komplizierenden Persönlichkeitsstörung stehen. Vom prinzipiellen Vorgehen her wird man sich
zunächst um eine Verbesserung der Ich-stützenden Ressourcen des Patienten bemühen, wozu gerade auch bei katastrophisierenden Befürchtungen bzw. Sorgen (vor
allem bezüglich des eigenen Körpers) die oben beschriebenen kognitiv-behavioralen
Therapietechniken hilfreich sind. Zumindest bei den Ich-strukturell stabileren Patienten kann dies bereits zu einer entscheidenden Entlastung und Besserung der Gesamtsymptomatik führen.
Eine frühe Konflikt aufdeckende Technik ist bei den Ich-strukturell schwerer gestörten Patienten kontraindiziert, da deren Angst dadurch bis zur akuten psychischen
Dekompensation verstärkt werden kann. Im späteren Behandlungsverlauf, wenn eine
stabile und belastbare therapeutische Beziehung aufgebaut und vom Patienten auch
ausreichend gut internalisiert wurde, kann ohne besondere Einschränkungen zur
Standardtechnik zurückgekehrt werden. In vielen Fällen werden zwischen 50–100
Stunden ausreichend sein, nicht jedoch, wenn eine zusätzliche (schwere) Persönlichkeitsstörung besteht: Hier ist in der Regel eine länger dauernde Behandlung ratsam (je nach Schweregrad auch mehr als 100 Stunden). Diese sollte mit 1 bis 2 Stunden wöchentlich im Sitzen durchgeführt werden, bei besonderer Eignung in Ausnahmefällen auch als hoch frequente Psychoanalyse (3–4 Stunden wöchentlich
im Liegen).
Insgesamt liegen seitens der empirischen Forschung bei der GAS noch keine klaren Ergebnisse vor, die eine Präferenz für bestimmte Therapiestrategien nahe legen.
Deshalb hat auch die Expertenkommission für die Erstellung von Leitlinien bei Angststörungen (Dengler u. Selbmann 2000) keine priorisierenden Empfehlungen bezüglich bestimmter Therapieverfahren abgegeben. Vor allem, wenn körpernahe Ängste
bestehen, kann eine begleitende vegetativ abschirmende psychopharmakologische
Behandlung zweckmäßig sein (z. B. mit einem modernen Serotonin-WiederaufnahmeHemmer, s. Kap. 15).
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ter fassbare Befürchtungen verwandelt – was immerhin den Vorteil hat, nunmehr
nicht mehr hilflos einer unheimlichen und frei flottierenden Angst ausgeliefert zu
sein, sondern dem kleineren Übel anhaltender Sorgen. In diesem Sinn hätte also die
ausgeprägte Tendenz zur Sorge wesentlich Abwehrcharakter, was zugleich erklären
würde, warum eine vorrangig kognitive Aufklärung über die Widersinnigkeit vieler
Sorgen nicht so erfolgreich ist, da der Patient unbewusst ein vitales Interesse hat, statt
an diffuser Angst lieber an seinen Sorgen zu leiden. Nach dieser Hypothese, die allerdings empirisch zu überprüfen wäre, könnte erst die ursächliche Bewältigung der diffusen Angst gewährleisten, auf das Sicherungsmodell der Sorgenbildung nachhaltig
zu verzichten.
100
6 Generalisierte Angststörung
Eine 21-jährige Frau schildert, dass sie unter diffusen Angstgefühlen leide, praktisch „vor allem und jedem“ Angst habe, was sie bei sich selbst nicht verstehen
könne. Häufiger habe sie auch akute Angstanfälle, denen sie hilflos ausgeliefert
sei; am schlimmsten wäre es, wenn diese Angstanfälle nachts auftreten. Ihre Beschwerden hätten etwa vor einem Jahr angefangen. Damals wäre ihr abends häufig schlecht und schwindlig geworden, zunächst jedoch ohne dass dabei Angstzustände aufgetreten seien. Allerdings habe sie gleich an schlimme Krankheiten
denken müssen und deswegen mehrfach Ärzte konsultiert, ohne dass ein krankhafter Befund erhoben werden konnte. Schließlich habe ihr eine Internistin
eingehend erklärt, dass ihre Symptome etwas mit seelischen Ursachen, wahrscheinlich vor allem mit Angst, zu tun hätten, was sie aber längere Zeit nicht habe
akzeptieren können.
Zur Biographie: Sie ist das älteste von 4 Kindern einer Frau, die als halbprofessionelle Prostituierte ihren Lebensunterhalt verdiente. Alle 4 Kinder stammen von einem anderen Vater. Die ersten 3–4 Lebensjahre verbringt die Patientin
in verschiedenen Pflegestellen, wo sie häufiger misshandelt wurde, zeitweise war
sie kurzfristig auch in Heimen untergebracht. Ab dem 4. Lebensjahr lebte sie bei
ihrer Großmutter, was ihre weitere Entwicklung deutlich stabilisierte. Die Patientin schloss die Schule mit der Mittleren Reife ab und absolvierte eine Lehre als
Industriekauffrau. Mit auffallendem Interesse kümmert sie sich um ihre jüngeren
Geschwister, erledigt für sie nötige Gänge zu verschiedenen Ämtern und setzt
auch die Mutter unter Druck, damit diese sich nicht ständig ihren Verpflichtungen
entzieht. Nach allem, was im Laufe der Psychotherapie in Erfahrung zu bringen
war, ist sie trotz aller Einschränkungen noch die Stabilste in dieser so traumatisierten Familie.
Obwohl der Beginn der Angstsymptomatik durch eine aktuelle Konfliktsituation ausgelöst worden ist (Verlust des Arbeitsplatzes wegen Konkurs der Firma), lässt insbesondere die traumatisierende biographische Entwicklung vermuten, dass bei der
Patientin erhebliche Ich-strukturelle Schwächen bestehen, die sie unter günstigen
Umständen gerade noch auffangen konnte. Bei Belastungssituationen kann es dann
aber doch zu schwerwiegender Dekompensation mit ausgeprägter Angstsymptomatik kommen.
Andere Angststörungen
Ergänzend sind zu nennen Angst und depressive Störung, gemischt (ICD-10: F 41.2).
Diese Diagnose sollte nur vergeben werden, wenn weder die Angst noch die depressive Störung eindeutig vorherrscht und die depressive Störung zeitgleich mit der
Angstsymptomatik entstanden ist.
Traten die ängstlich-depressiven Symptome erstmalig im Zusammenhang mit
einem schwerwiegenden Lebensereignis auf, ist die Kategorie Anpassungsstörungen
(ICD-10: F 43.2) zu verwenden.
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Fallbeispiel
Andere Angststörungen
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Nach einem schwerwiegenden Trauma wie einem schweren Unfall, Naturkatastrophen, Kampfhandlungen, Folterungen oder Vergewaltigungen, kommt es häufiger
zur posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F43.1), bei der auch Panikattacken
auftreten können. Während zur Diagnosestellung einer posttraumatischen Belastungsstörung eine schwerwiegende Traumatisierung nachweisbar sein muss (in der
Regel nicht länger als ein halbes Jahr vor Beginn der akuten Panikattacken, s. Kap. 8),
ist dies bei der Panikstörung nicht der Fall: hier werden Panikattacken meist ohne
schwerwiegenden äußeren Anlass ausgelöst.
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