SWR2 Musikstunde

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SWR2 MANUSKRIPT
SWR2 Musikstunde
Fürst Igor - Strawinsky (3)
Der frühe Postmodernist
Mit Bernd Künzig
Sendung:
19. Juli 2017
Redaktion: Dr. Bettina Winkler
Produktion: SWR 2017
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung
und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:
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SWR2 Musikstunde mit Bernd Künzig 17. Juli – 21. Juli 2017
Fürst Igor - Strawinsky (3)
Der frühe Postmodernist
Signet
mit Bernd Künzig: In Fürst Igor (Strawinsky) stellen wir heute den frühen
Postmodernisten vor.
Indikativ
Nach dem Ausbruch des ersten Weltkriegs 1918 sah sich Strawinsky auf das Gebiet
der neutralen Schweiz reduziert. Den kleinen Ort Clarens am Genfer See hatte er
bereits zuvor während der Gastspiele der Ballets russes kennengelernt. Nach der
Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich übersiedelte der Komponist bis zum
Ende des Krieges dorthin. Ein solch ländliches Idyll war Strawinsky durchaus seit
seiner Jugendzeit vertraut. Ustilug, der Ferienort der Familie an der polnischen
Grenze, zu dem auch der erwachsene Igor bis 1913 immer wieder zurückkehren
sollte, muss ein ähnliches Idyll gewesen sein. Kein Wunder, dass die musikalische
Pastorale immer wieder in seinem Werk eine Rolle spielt. Mal in direkter Art und
Weise, wie in dem 1933 entstandenen Melodram „Persephone“, mal als Zeichen des
unwiederbringlichen Verlusts. Zu den frühesten Werken des Jahres 1907 zählen
sowohl die Gesangssuite „Der Faun und die Schäferin“, als auch die „Pastorale“, ein
Lied ohne Worte für Gesang und Klavier. Auf die „Pastorale“ ist Strawinsky
wiederholt zurückgekommen, in dem er sie einmal 1923 und 1933 zweimal für
unterschiedliche Besetzungen bearbeitete.
Wir hören sie hier in der Ensemblefassung aus diesem Jahr mit Phylis Bryn-Julson
und dem Ensemble Intercontemporain unter der Leitung von Pierre Boulez.
Musik:
Pastorale
Phyllis Bryn-Julson; Ensemble Intercontemporain Leitung: Pierre Boulez
DGG DGG 00289 477 8803 LC 0173
(1:56)
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Wenig an diesem frühen Stück ist eigentlich russisch. Als Schüler Rimsky-Korsakows
orientierte sich Strawinsky zur Entstehungszeit an der westlichen und das heißt vor
allem an der französischen Musik. Als sich der Komponist schließlich wähend des
ersten Weltkriegs im selbst gewählten Exil im schweizerischen Clarens wiederfand,
erinnerte er sich wohl an das nicht mehr zugängliche Idyll in Ustilug. In diesem
Kontext entstand schließlich die “Geschichte vom Soldaten”, ein Musiktheater,
dessen ungewöhnliche Form am ehesten mit Brechts Modell eines epischen
Theaters zu vergleichen ist, wenngleich ihm dessen politische Ausrichtung fehlt. Die
Handlung wird teilweise pantomimisch oder tänzerisch dargestellt, teilweise gibt es
gesprochene Dialoge. Gesungen wird nichts, nur der Teufel hat einen Auftritt mit
Sprechgesang. Der Erzähler, der das Ganze zusammen hält, sitzt am Rande des
Geschehens, die übrigen Darsteller agieren in einer Art Bühnen-Rahmen. Die
Musiker des klein besetzten Ensembles sitzen ebenfalls an der Seite. Diese Art des
Musiktheaters wurde einerseits aus pragmatischen Gründen gewählt. Gedacht war
es nämlich als eine Art Wandertheater, das in der Schweiz touren sollte.
Der Ausbruch der spanischen Grippe 1918 verhinderte diese Pläne und so wurde
das Stück in einem konventionellen Theaterrahmen im September 1918 in Lausanne
uraufgeführt. Das Stück beruht auf einem russischen Märchen vom heimkehrenden
Soldaten, den niemand mehr erkennt. Um zu Geld und Ruhm zu kommen verkauft er
seine Geige an den Teufel, der ihm zusätzlich auferlegt, niemals die Grenze zu
seiner Heimat zu überschreiten. Um eine schlafende Prinzessin zu wecken, muss er
dem Teufel die Geige durch eine List wieder abringen. Nach der Heirat mit der
Prinzessin hat der Soldat eigentlich alles, was er wollte: Geld, Ruhm und Macht. Nur
die Sehnsucht nach der Heimat verlässt ihn nicht. Und so entschließt er sich doch,
die Grenze nach Hause zu überschreiten, wo ihn der Teufel bereits erwartet und
triumphierend in die Hölle führt. Den Text verfasste der Schweizer Dichter Charles
Ferdinand Ramuz. Er geht zwar auf russische Volksmärchen zurück, aber auch im
Werk Ramuz aus dieser Zeit, treibt der Teufel immer wieder sein Unwesen.
Das Stück ist also eine Mixtur aus der Ästhetik des französisch schreibenden
Westschweizer Autors Ramuz und dem sich im Exil befindenden russischen
Komponisten. Betrachtet wird dies alles als Bild in einem Rahmen. Denn das
bewusst arme Theater mit seinem kommentierenden Erzähler lässt einen nie
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vergessen, dass hier nur gespielt wird. Theater ist für Strawinsky wie schon in der
nur zwei Jahre zuvor entstandenen ironischen Tierfabel “Renard” über die Listen des
russischen Reineke Fuchs, ein Spiel im Spiel. Musikalischer Dreh- und Angelpunkt
ist aber ausgerechnet eine “Pastorale”. Sie ist es, die die Heimatsehnsucht des
Soldaten als Erinnerung auslöst. Strawinsky mag das genauso empfunden haben. In
der Komposition allerdings gerinnt die Erinnerung zu einem bildhaften Objekt.
Klarinette und Fagott repräsentieren die Blasinstrumente der Schäfer, aber die
verführerische Flöte des Pans bleibt ausgespart. Der trockene Tonfall setzt auf
bewusste Distzanz. Wir hören diese Musik nicht als Verführung, sondern als
objekthaften Gegenstand. In Brechts Theater wäre an dieser Stelle ein Schild
aufgezogen worden, auf dem geschrieben stünde: “Land”. Strawinskys “Pastorale” ist
ein musikalisches Bild oder Zeichen, das wir von Außen betrachten können.
Es spielen die Mitglieder des Cleveland Orchestras unter der Leitung von Pierre
Boulez.
Musik:
L’histoire du soldat – Pastorale
Mitglieder des Cleveland Orchestra
Leitung: Pierre Boulez
DGG 00289 477 8733 LC 0173
(3:56)
Die im Schweizer Exil entstandene „Geschichte vom Soldaten“ war schon ein erster
Abschied von der russischen Heimat. Die Instrumentation der russischen
Bauernhochzeit von „Les Noces“ wurde zwar erst 1923 abgeschlossen, die
Komposition lag aber bereits seit 1917 vor.
Und so sollten die „Symphonies d’instrument à vent“ 1920 das letzte Werk der
russischen Phase Strawinskys werden. Im gleichen Jahr knüpfte Strawinsky aber in
„Pulcinella“, einem Ballett mit Gesang, an das Spiel mit den Rahmensetzungen und
den musikalischen Objekten aus der „Geschichte vom Soldaten“ auf ganz andere Art
und Weise an. Für die Musik verwendete er Vorlagen von Giambattista Pergolesi und
anderen neapolitanischen Komponisten des 18. Jahrhunderts. Doch sie ist alles
andere als eine simple Instrumentation der Vorlagen oder gar eine Stilimitation.
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Vielen gilt der „Pulcinella“ als ein Inbegriff des Neoklassizismus jener Zeit. Doch
damit hat er eigentlich wenig zu tun. Er knüpft nicht an musikalische Tradition und
Überlieferung an, sondern überschreibt sie mit den typischen Techniken Strawinskys.
Rhythmische Irregularitäten lassen die barocke Ästhetik stolpern. Die bewusst
eingesetzten falschen Harmonien würzen den Klang. Und das „Scherzino“ zersetzt
die Musik Pergolesis ganz bewusst mit den für Strawinsky so typischen Ostinati, die
man nicht zuletzt aus der Ballettmusik des „Le Sacre du printemps“ kennt. Die
Technik, derer sich der Komponist hier bedient, ist die des Palimpsests. Das ist nicht
ungewöhnlich für die Moderne jener Zeit. Denn nur zwei Jahre später sollte James
Joyces Ikone der modernen Literatur erscheinen.
Der „Ulysses“ stellt aber in seiner Struktur nichts anderes als eine Überschreibung,
also ein Palimpsest, der Odyssee des Homers als modernen Großstadtroman dar.
Und auch Joyce setzte unterschiedliche Texte und Stile, wie zum Beispiel die
Zeitungsannoncen, als literarische Objekte ein. Mit Neoklassizismus haben damit
weder Joyces Großroman noch Strawinskys Ballettmusik etwas gemeinsam. Die
Verfahren weisen eher auf etwas voraus, was später als postmodern charakterisiert
werden sollte. Den literarischen Hauptvertreter dieser Postmoderne repräsentiert
vielleicht Umberto Ecos Erfolgsroman „Der Name der Rose“. Und Eco war sehr
geschult an der Auseinandersetzung mit den Joyceschen Errungenschaften. Ganz
bewusst bezeichnete er den Roman als Palimpsest, bei dem jene Textur immer
wieder durchscheint, auf die er zurückgegriffen hat. Natürlich spielte Eco dabei auf
die mittelalterlichen Handschriften an, um die es in seinem Roman geht, die, um
kostbares Pergament zu sparen, genau diese Technik der Übermalung einsetzten.
Aber das Durchscheinen alter Texturen wird in seinem Roman genauso bewusst
eingesetzt, wie es Strawinsky in seinem sechzig Jahre zuvor komponierten
„Pucinella“ betrieben hat. Und wie in der „Geschichte vom Soldaten“ geht es auch im
Ballett um musikalische Objekte, die wie Bilder in einem Rahmen vorgeführt werden.
Die Historizität des Museums ist damit allerdings nicht gemeint, sondern vielmehr die
Gegenwärtigkeit des Alten. Und das ist in der Tat eine Postmoderne avant la lettre,
deren ironischen Abstand wir zum Beispiel im „Scherzino“ mit ganzer Bissigkeit
heraushören können.
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Die London Sinfonietta spielt unter der Leitung von Esa Pekka-Salonen.
Musik:
Pulcinella - Scherzino
London Sinfonietta, Leitung: Esa-Peka Salonen; Sony 45 965 LC 6868 (5:48)
Die 1920ger Jahre waren eine schwierige Zeit für Strawinksy. Er war ein entwurzelter
Russe und seine Frau Katharina erkrankte an Tuberkulose. 1939 sollte sie ihrer
Krankheit erliegen. 1921 lernte er die verheirate Vera Soudeikina kennen, mit der er
eine Affäre begann. Nach dem Tod Katharinas sollte sie seine zweite Ehefrau und
engste Vertraute werden. In dieser Zeit wandte sich Strawinsky erneut der Religion
zu. Er las unter anderem Johannes Jörgensens Biografie des Franz von Assisi.
Schließlich reifte in ihm die Idee eines großformatigen Oratoriums, in dem das
Martyrium, die Schuld und die Rettung durch das Opfer - fast nicht anders als in „Le
Sacre du printemps“ - im Mittelpunkt stehen sollten. Dabei kam er auf den Stoff um
den inzestuösen König Ödipus in der Überlieferung durch Sophokles. Vor allem das
zweite Ödipus-Drama über den aus Theben vertriebenen König in Kolonoss trägt
deutliche Züge von Tod und Auferstehung, die auch in einem christlichen Sinne
deutbar waren. Allerdings dachte er wie schon bei „Les Noces“ an eine ritualisierte
Form des Theaters. Und als Ritual geht es um den Abstand.
Wieder einmal sollte ein Rahmen gesetzt werden. Dieser Rahmen sollte die
lateinische Sprache sein, die eine Mixtur aus Drama, Messe und Oratorium
gewährleisten würde. 1925 lud er den Dichter Jean Cocteau zur Zusammenarbeit
ein. Zum besseren Verständnis des lateinischen Textes fügte Cocteau einen die
Handlung erläuternden Sprecher ein, der – auch das ganz typisch Cocteau – auch
einiges verunklart. Strawinsky sollte diese Sprecherrolle, die Cocteau gerne gewohnt
exaltiert selbst zum Besten gab, besonders lästig werden.
Während der kompositorischen Arbeit war Strawinsky von den Opern Giuseppe
Verdis besonders fasziniert. Aber auch dessen Requiem hat in seiner Mischung aus
Messe und opernhaften Momenten den „Oedipus rex“ geprägt.
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1926 wohnte Strawinsky schließlich auch der Uraufführung von Giacomo Puccinis
letzter, unvollendet hinterlassener Oper „Turandot“ in Mailand bei und war von dem
im Mittelpunkt stehenden Ritual des Rätsels stark beeindruckt.
Auch dies sollte seine Spuren im Opernoratorium hinterlassen, basiert die
Geschichte des Ödipus doch selbst auf Rätseln, wie zum Beispiel denjenigen, die
ihm die Sphinx vor Theben stellt und deren Lösung zum Ausgangspunkt der
Tragödie des Inzests wird.
Vergleichbar wie im „Pulcinella“ wird auch der „Oedipus Rex“ dergestalt von
Techniken des Palimpsests bestimmt. Am Ende, auf dem tragischen Höhepunkt des
Selbstmords Iokastes und der Selbstblendung des Ödipus, verabschiedet der Chor
den inzestuösen Vatermörder, der unschuldig schuldig geworden, sich selbst opfert
und dadurch die Stadt vor der Pest rettet. Und der Chor betrauert und segnet dieses
Opfer, wie in einer Passion. Ganz wie in „Le sacre du printemps“, dieses mal nur
unter christlich-antiken Vorzeichen. Im letzten Botenbericht „Divum Iocastae caput
mortum – Tot ist Jokastens göttliches Haupt“ kann man das Palimspsest, die
Überschreibung des Rätselthemas aus Puccinis „Turandot“ dann deutlich heraus
hören. Auch hier, wie ein musikalisches Objekt behandelt.
All diese Arienelemente, Chöre und Ensembles, in denen Aufgegriffenes aufscheint,
ließ Strawinsky selbst von einem „Merzbild“ sprechen. Gemeint war damit Kurt
Schwitters Merzbau, eine begehbare Plastik und ein Vorläufer der Installationskunst,
die aus Fund- und Wegwerfstücken zusammengesetzt wurde.
Das gleiche Verfahren einer musikalischen Collagetechnik beanspruchte also
Strawinsky im „Oedipus rex“ für sich. Die Collageverfahren waren zwar zur Zeit der
Komposition des Opernoratoriums in der bildenden Kunst durchaus üblich, als
Kompositionstechnik verweisen sie aber auf die postmodernen Verfahren etwa in
den Opern Alfred Schnittkes voraus.
Mit dem Schluss des „Oedipus rex“ hören wir Michio Tatara als Boten, den
Shinuyukai Männerchor und das Saito Kinen Orchester unter der Leitung von Seiji
Ozawa.
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Musik:
Oedipus rex – Schluss Divum Iocastae
Michio Tatara, Bote; Shinuyukai Männerchor;
Saito Kinen Orchester; Leitung: Seiji Ozawa
Philips 473 6395 LC 00305
(5:38)
1928 , im Jahr der Washingtoner Uraufführung des abstrakt-klassischen Ballets
„Apollon Musagète“ in der Choreografie Georges Balanchines und der szenischen
Erstaufführung des „Oedipus rex“ an der Berliner Kroll-Oper unter Otto Klemperer,
vollendete Strawinsky ein weiteres musikalisches Objekt: „Le baiser de la fée – Der
Kuss der Fee“ nach Hans Christian Andersens Märchen „Die Eisjungfrau“. Es
entstand für die Pariser Balletttruppe von Ida Rubinstein. Ein Ballettmärchen ohne
Happy End. Ein Kind wird bei seiner Geburt durch den Kuss der Eisjungfrau auf den
Mund gezeichnet. Als Erwachsener will der Junge heiraten. Da fordert die
Eisjungfrau sein Leben mit einem weiteren Kuss auf seinen Fuß. Eine
Opfergeschichte wie der „Oedipus rex“ und „Le sacre du printemps“.
Musikalisch nahm sich Strawinsky Tschaikowskys Ballett „Dornröschen“ zum Vorbild.
Er instrumentierte einige Klavierwerke des Komponisten, der Rest wurde nach dem
romantischen Vorbild modelliert. Es endet mit einem Wiegenlied in den Gefilden der
Seligen. Tod und ewiges Leben im Reich der Transzendenz. Die religiöse Besinnung
des Komponisten schreibt sich in dieses Finale ein, das von Ferne an das
Wiegenlied in seiner ersten Ballettmusik „Der Feuervogel“ denken lässt. Die
Harmonik des Wiegenliedes wird Strawinsky in der Passage der Seligsprechung am
Ende der drei Jahre später folgenden „Psalmensinfonie“ aufgreifen.
Das musikalische Sujet aber, das hier objektiviert wird, ist Tschaikowskys Musik zu
„Dornröschen“. Mit diesem Ballett verband der Komponist auch seinen ersten
Theaterbesuch als Kind.
Unter der Leitung von Oliver Knussen spielt das Cleveland Orchestra die „Berceuse“
aus „Le baiser e la fée“.
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Musik:
Baisers de la fée – Die Gefilde der Seligen
The Cleveland Orchestra; Oliver Knussen
DGG 479 4650 LC 0173
(5:08)
Nach dreijähriger Arbeit vollendete Strawinsky 1951 nicht nur seine einzige
abendfüllende Oper, sondern schloss damit auch seine Arbeit an den musikalischen
Objekten ab. Danach sollte einiges anders werden im Spätwerk des Komponisten.
„The Rake’s progress – die Laufbahn eines Wüstlings“ wurde in Strawinskys
Lieblingstheater La Fenice in Venedig bei der Biennale uraufgeführt. Das Stück passt
gut in die Stadt all der prächtigen, aber nur einseitigen Fassaden, die sich am Canale
Grande entlang reihen. 1947 hatte Strawinsky eine Ausstellung englischer Malerei in
Chicago besucht. Dort war auch die Serie „The Rake’s progress“ des Malers und
Kupferstechers William Hogarth aus dem 18. Jahrhundert zu sehen. Es ist ein wüster
Bild-Roman über die Gefährlichkeit des modernen Stadtlebens und endet im Hurenund Irrenhaus. Wystan Hugh Auden und Chester Kallman schrieben das Libretto und
Strawinsky vertonte erstmals in der englischen Sprache seiner neuen Heimat
Amerika. Wie so oft treibt er dabei sein durchaus ironisches Spiel der rhythmischen
Irregularitäten, in dem er den Text mit scheinbar falschen Betonungen gegen den
Strich bürstete. In der Komposition stellte er musikalische Objekte aus der Zeit des
18. Jahrhunderts her. Die Cembalo-Rezitative mit ihren nahtlosen Übergängen in die
musikalischen Nummern haben ihr Vorbild in Mozarts Da Ponte-Opern. Und das
nicht ohne Grund. „Figaros Hochzeit“, „Don Giovanni“ oder „Cosi fan tutte“ spielen
alle an ländlichen Schauplätzen. Es ist die alte Feudalwelt, die die pastorale Idylle in
ein erotisches Irrenhaus verwandelt. Diesen Handlungsbogen greifen Strawinsky und
seine brillanten Librettisten in ihrer Oper auf.
Musik:
The rakes progress – Fanfare 1. Akt
London Sinfonietta; Leitung: Riccardo Chailly
Decca 475 7005 LC 00171
(0’28)
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Das Stück beginnt im Garten von Anne Truloves Vater. Ihr Verlobter Tom Rakewell
will hoch hinaus. Darauf hat der Teufel – wie in der „Geschichte vom Soldaten“ – nur
gewartet. Der Pakt verlangt den Ortswechsel: der Hinauswurf aus dem Paradies
findet freiwillig statt und schon im 2. Bild befinden wir uns in der erotischen Hölle
eines Londoner Bordells mit randalierenden Freiern und obszönen Huren - und einer
Mutter Gans genannten Bordellmutter: ein korrumpiertes Märchen. Denn diese
Mutter Gans ist eine beliebte Figur aus englischen Märchenreimen.
Und auch das weist noch einmal zurück auf die von Strawinsky so geschätzten
russischen Märchenerzählungen, wie die vom Soldaten, der nicht mehr nach Hause
zurück kann. Der Eingangschor der Bordellszene ist unverkennbar eine Parodie oder
ein Palimpsest der Bankettszene aus dem 2. Akt des „Don Giovanni“, die mit der
Höllenfahrt des Helden endet. Tom wird von der Puffmutter nach den Lehren des
Teufels abgefragt. Was das Geheimnis der Natur sei? Schönheit. Und was diese?
Die Quelle des Genusses, die nur einen Fehler hat, dass sie vergeht. Nach einem
melancholischen Liebeslied folgt der frivole Schlusschor der Huren und Randalierer.
Ein letztes Mal im Werk Strawinskys eine Pastorale. Allerdings eine, die nun
endgültig verdorben ist: „Die Sonne scheint hell, das Gras ist grün. Lanterloo,
Lanterloo! Was wird er tun, wenn sie im Bett liegen? Sein Schwert ziehen und die
Blume abhacken“, singt der Chor. Strawinsky war von jeher ein Ironiker des
Gegenwärtigen. Der von ihm so geliebte Rahmen für musikalische Objekte ist
gesetzt: das 18. Jahrhundert.
Doch die Korruption der Pastorale ist seine eigene Geschichte. Vom paradiesischen
Gärtchen in Ustilug zur funkelnden Höllenstadt, wo Lügen gekauft werden. Denn an
seinem neuen Wohnort in Hollywood komponierte Strawinsky seine letzte und einzig
veritable Oper. Nur wenige Jahre zuvor jedoch dichtete Bertolt Brecht in seinen
„Hollywoodelegien“: „Die Stadt Hollywood hat mich belehrt / Paradies und Hölle /
Können eine Stadt sein: für die Mittellosen ist das Paradies die Hölle.“
Das ist die Geschichte von „The Rake’s progress“.
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Musik: The rakes progress – 1. Akt – 2. Bild
Philip Langridge, Tom Rakewell; Samuel Ramey, Nick Shadow; Astrid Varnay,
Mother Goose
London Sinfonietta Chorus; London Sinfonietta
Leitung: Riccardo Chailly
Decca 475 7005 LC 00171
(12:54)
Die dritte Folge zum postmodernen Igor Strawinsky ging zu Ende mit der
Bordellszene aus der Oper „The rakes progress. Es sangen Philip Langridge,
Samuel Ramey und Astrid Varnay. Riccardo Chailly dirigierte Chor und Orchester der
London Sinfonietta.
Am nächsten Morgen wenden wir uns in der Strawinsky-Woche einem ganz
besonderen Heiligen zu. Am Mikrophon war Bernd Künzig.
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