Wenn sich das Kollektiv erinnert Erkenntnisse der

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Manuskript
radioWissen
Wenn sich das Kollektiv erinnert
Erkenntnisse der Gedächtnisforschung
AUTOR:
REDAKTION:
Daniela Remus
Nicole Ruchlak
Sprecherin:
11. September 2001: Islamistische Terroristen lenken zwei Flugzeuge in das World
Trade Center in New York.
Sprecherin:
Der Terroranschlag mit mehr als 3000 Toten hat damals die ganze Welt erschüttert. In
zig Aufnahmen und Sondersendungen gingen die Bilder der einstürzenden TwinTowers um die Welt. Bis heute gilt dieser Tag als Beginn einer neuen Zeitrechnung,
politisch, psychologisch, kulturell. Der 11. September 2001 ist zum Symbol geworden,
zum Inbegriff für den islamistischen Terror des
21. Jahrhunderts. Und als solcher ist er im kollektiven Gedächtnis vor allem der westlichen Welt verankert. Fast alle erinnern sich daran, selbst wenn sie damals noch nicht
geboren waren.
Take 3 (O-Ton J. Assmann)
„Das kollektive Gedächtnis ist ein Gedächtnis, das wir teilen, so wie wir die Sprache
teilen, so wie wir die Sprache mit anderen gemeinsam haben, das gilt eben auch für
das Gedächtnis.“
Sprecherin:
Sagt der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Professor Jan Assmann von der
Universität Heidelberg.
Take 4 (O-Ton J. Assmann)
„Das kollektive Gedächtnis, das ist das, was eine Gruppe, sei es eine Familie, sei es
eine Nation, sei es eine Religion, gemeinsam im Kopf haben, woran sie sich erinnern,
worüber sie sich austauschen.“
Sprecherin:
Der Begriff des kollektiven Gedächtnisses geht zurück auf den französischen
Soziologen Maurice Halbwachs und den deutschen Kulturhistoriker Aby Warburg. Die
beiden waren die ersten, die in den 1920er-Jahren von einem kollektiven Gedächtnis
im Vergleich zum individuellen Erinnern sprachen. Jan Assmann und seine Frau, die
Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann, haben diesen Begriff dann in den 1980erJahren weiterentwickelt. Ihr Konzept des kollektiven Gedächtnisses gilt seither als
grundlegend für die Gedächtnisforschung. Sogar für die Empiriker, wie der Sozialpsychologe Professor Gerald Echterhoff von der Universität Münster erklärt:
Take 5 (O-Ton Echterhoff)
„Aus psychologischer Sicht ist es zunächst mal so, dass kollektives Gedächtnis dann
vorliegt, wenn mindestens zwei Personen bestimmte Erinnerungen teilen. Das nennt
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man dann zum Teil auch collected statt collective memory. Mit der weiteren Charakterisierung, dass diese Erinnerungen irgendwo eine gewisse Relevanz haben im Hinblick
auf die Ziele und Identität der beteiligten Personen.“
Sprecherin:
Ob und wie ein Ereignis also von einer Gruppe, einer Gesellschaft oder Nation erinnert
wird, hängt von der Bedeutung ab, die das Ereignis für die jeweilige Gruppe hat. Darin
ähnelt es dem individuellen Gedächtnis. Denn auch jeder einzelne Mensch erinnert
sich längst nicht an alles, was er erlebt, erlitten, gelernt oder beobachtet hat. Das Gehirn ist kein objektiver Faktensammler, sondern eine Anhäufung verschiedenster
Gedächtnissysteme, erklärt Gerald Echterhoff:
Take 6 (O-Ton Echterhoff)
„Es gibt eben das Kurzzeitgedächtnis, bei dem bestimmte Wahrnehmungseindrücke
nur für Bruchteile von Sekunden aufbewahrt werden. Dann gibt es ein
Arbeitsgedächtnis, das ist so wie der Arbeitsspeicher beim Computer, wo die aktuellen,
relevanten bewussten Informationen miteinander in Beziehung gesetzt werden, und
dann gibt’s das prozedurale Gedächtnis, das dann alles das, was ich lerne, die Bewegung beim Fahrradfahren, oder wenn ich ein Auto fahre oder wenn ich auf dem
Computer schreibe, oder überhaupt eine Sprache zu benutzen. Das sind Prozeduren,
die ich da lerne, die dann irgendwann immer mehr automatisiert werden, dafür
brauche ich auch ein geeignetes Gedächtnissystem, für Prozeduren.“
Sprecherin:
Das prozedurale Gedächtnis speichert das Erlernte und Erlebte meist recht solide ab.
Auch wer jahrelang nicht Fahrrad gefahren ist, kann Jahrzehnte später die dafür
notwendige Bewegung reaktivieren. Ganz anders dagegen das episodische Gedächtnis,
in dem Biographisches aufbewahrt wird, und das in seinen
Verknüpfungen sehr plastisch und formbar ist.
Take 7 (O-Ton Echterhoff)
„Bei den Erinnerungen geht man davon aus, dass das immer ein konstruktiver Prozess
in der Gegenwart ist, der immer ein bestimmtes Ausmaß an Simulation erfordert, also
ich muss das noch mal so simulieren, als wäre es gewesen, und
simulieren heißt immer es ist natürlich nicht das echte Erleben, sondern es ist immer
in einer gewissen Weise verändert verzerrt, verformt, auch an aktuelle Bedürfnisse
zum Teil angepasst.“
Sprecherin:
Evolutionstheoretisch betrachtet hat sich das episodische Gedächtnis als letztes
entwickelt. Seine Plastizität führt dazu, dass wir uns an ein und dieselbe Sache unterschiedlich erinnern. Und dass wir Erlebnisse in der Rückschau unterschiedlich
bewerten, je nachdem, in welchem Zusammenhang wir daran denken.
Denn unser Gedächtnis formt die Erinnerungen so, dass sie zum aktuellen Selbstbild
passen und zu den Umständen, in denen wir leben.
Empirische Untersuchungen haben zum Beispiel gezeigt, dass Menschen ihre
Erinnerungen unbewusst so steuern, dass sie dadurch ihr Selbstwertgefühl stärken.
Und das Wichtigste dabei: Auch diese Erinnerungen fühlen sich rundherum echt an.
Take 8 (O-Ton Echterhoff)
„Je nachdem, ob man eine bestimmte Eigenschaft, wie z.B. introvertiert zu sein, wenn
man die für wünschenswert hält oder in einer anderen Versuchsbedingung eben für
nicht wünschenswert, je nachdem, ob die Versuchsperson in der Bedingung war, in
der man glaubte, Introvertiertheit sei erwünscht oder unerwünscht, haben die
entsprechende eigene Erfahrungen, eigene Verhaltensweisen erinnert, die eher zu
dem Erwünschten passten.“
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Sprecherin:
Erinnerungen sind also alles andere als objektiv und zuverlässig. Unser Gedächtnis
formt, schönt und akzentuiert die Gedanken an die Vergangenheit so, dass sie zur
Gegenwart passen. Das ist ein Grund, warum beispielsweise die meisten Deutschen
nach 1945 behaupten konnten, sie hätten von den Gräueltaten der
Nationalsozialisten nichts gewusst, und warum die Franzosen jahrzehntelang davon
überzeugt waren, fast geschlossen im Widerstand gegen Hitler-Deutschland gekämpft
zu haben. Oder warum viele ehemalige DDR-Bürger sagen, sie hätten bis 1989 in
einer inneren Opposition zur SED-Diktatur gelebt.
Take 9 (O-Ton-Akzent hist. Ausschnitt Schabowski)
„…und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute…“
Sprecherin:
9. November 1989, Ost-Berlin: Günter Schabowski stellt das neue Reisegesetz der
DDR vor.
Take 9 (O-Ton hist. Ausschnitt Schabowski)
„…und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die
es jedem Bürger der DDR möglich macht über Grenzübergangspunkte der DDR
auszureisen.“
Sprecherin:
Die Erinnerung an den 9. November 1989 ist eine kollektive Vergangenheitsrekonstruktion. Für die meisten markiert dieser Tag das längst überfällige Ende der
DDR und der deutschen Teilung. Im kollektiven, deutschen Gedächtnis stellt der 9.
November einen Wendepunkt dar: Er gilt als Symbol für den Sieg von Freiheit und
Demokratie über die Diktatur.
Take 10 (O-Ton Erll)
„Die Grundfunktion vom kollektiven Gedächtnis ist, kollektive Identität zu bilden. Sie
können sich das genauso für das Individuum vorstellen, nur wenn Sie sich an Ihre
eigene Lebenserfahrung erinnern, haben Sie ein Gefühl von individueller Identität,
haben Sie ein Gefühl von Kontinuität des Selbst oder des Ich über die Zeit hinweg.
Und bei Gruppen ist das schon ganz genau so.“
Sprecherin:
Und insofern ist der 9. November 1989 ein wichtiger Meilenstein der kollektiven
Erinnerung: Die Deutschen haben sich nach NS-Diktatur und SED-Herrschaft friedlich
und beharrlich für eine demokratische Lebensweise eingesetzt. Diese positive
Erinnerung macht selbstbewusst und stärkt die kollektive Identität, sagt Astrid Erll,
Professorin für Literaturwissenschaften an der Universität Frankfurt, mit dem
Forschungsschwerpunkt kollektives Gedächtnis.
Take 11 (O-Ton Brauer)
„Also wir holen etwas aus dem Gedächtnis zurück und konstruieren es, um unsere
Gegenwart zu deuten. Wir holen genau die Erinnerungen zurück, die auch noch gut da
sind, weil sie sich gut abgelagert haben, oder weil wir sie brauchen, um Sinn zu
machen aus dem was uns umgibt, mit unserer Geschichte.“
Sprecherin:
So Juliane Brauer vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.
So wie sich ein einzelner Mensch an Erlebtes erinnert, vieles aber auch vergisst oder
angleicht, uminterpretiert und ausblendet, so funktioniert auch das kollektive Gedächtnis. Ganz besonders der Teil, den die Wissenschaftler als kommunikatives Gedächtnis bezeichnen. Denn das kollektive Gedächtnis setzt sich,
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wissenschaftlich betrachtet, aus zwei Bestandteilen zusammen: dem kommunikativen
und dem kulturellen Teil. Mit dieser Differenzierung zollen die Gedächtnisforscher der
Tatsache Rechnung, dass es jüngere und ältere Erinnerungen gibt, und dass diese
auch extrem unterschiedlich vermittelt werden. Was das kommunikative Gedächtnis
ausmacht, erklärt der Kulturwissenschaftler Jan Assmann.
Take 12 (O-Ton J. Assmann)
„Das kommunikative Gedächtnis, das ist die gemeinsame Erinnerung von Generationen, die so ungefähr dieselben Themen, Ereignisse, Wertvorstellungen im Kopf
haben, über die sie sich austauschen. Das ist ein Gedächtnis, was sich ungefähr in
einem Rhythmus von 80 Jahren verändert.“
Sprecherin:
Da das kommunikative Gedächtnis alltagsnah und, wie der Name schon sagt, auf
Kommunikation aufbaut, ist es zeitlich limitiert. Und zwar auf die Abfolge von drei
Generationen. Denn die Möglichkeit, direkt und persönlich zu kommunizieren, ist nur
in diesem Zeitraum möglich.
Sprecherin:
Ein Beispiel aus Deutschland: die NS-Diktatur. Diejenigen, die jetzt in der Schule
Daten und Fakten über dieses Kapitel deutscher Vergangenheit lernen, haben
Großeltern, die damals gelebt haben: Sie waren Jugendliche oder Kinder, und erinnern
sich an Dinge und Erlebnisse, die sich mit der offiziellen Geschichtsschreibung decken
oder auch nicht. So vermischen sich Familien-Erinnerungen mit dem Unterrichtsstoff.
Und genau dieses Verweben der unterschiedlichen Ebenen ist das herausragende
Merkmal des kommunikativen Gedächtnisses. Deshalb gehören auch Erinnerungen,
wie die an den 9. November 1989 zum kommunikativen Gedächtnis. Ganz anders
dagegen das kulturelle Gedächtnis. Dieses beinhaltet Erinnerungen, die so weit zurück
liegen, dass sich kein Mensch daran persönlich erinnern kann, erklärt die
Literaturwissenschaftlerin Professor Aleida Assmann von der Universität Konstanz:
Take 13 (O-Ton A. Assmann)
„Das kulturelle Gedächtnis, können wir sagen, ist das Langzeitgedächtnis einer
Gesellschaft, das über die Generationenschwelle hinweg gilt und gültig ist und an das
man immer wieder anknüpfen kann.“
Sprecherin:
Zum Langzeitgedächtnis unserer Gesellschaft gehört zum Beispiel die Entstehung der
christlichen Religion und deren Vermittlung durch die Bibel. Oder archäologische
Stätten wie das Felsengrab von Jesus auf dem Golgota-Hügel in Jerusalem. Diese
Erinnerungen, ob in Schriften oder Bauwerken fixiert, sind Teil unserer kulturellen
Tradition. So ist das kulturelle Gedächtnis…
Take 14 (O-Ton A. Assmann)
„…ein Bezugspunkt, der bleibt und der nicht mit jeder Generation neu aufgebaut wird,
und auch nicht mit jedem Regierungswechsel.“
Sprecherin:
Die Erinnerungen und Traditionen des kulturellen Gedächtnisses prägen unser Selbstund unser Weltbild. Und das unabhängig davon, ob wir diese Religion heute noch
teilen oder nicht. Der christliche Schöpfungsmythos ist Teil unseres Bildungskanons,
den wir uns im Laufe unseres Lebens aneignen, sagt
Jan Assmann:
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Take 15 (O-Ton J. Assmann)
„Und natürlich muss jeder, der in einer Gesellschaft lebt, bestimmte Dinge lernen, für
die Gemeinschaft ist das wichtig, weil sie ihren geistigen Zusammenhalt eben aus
diesen fundierenden Geschichten bezieht.“
Sprecherin:
Das kulturelle Gedächtnis speichert nicht nur Begebenheiten, die historisch weit
zurückreichen, sondern vermittelt jedem Einzelnen auch den kulturellen Rahmen, in
dem sich die Gruppe verortet, in der er lebt. In Deutschland zum Beispiel gehört das
Wissen um den Ursprung der abendländischen Kultur, in Mesopotamien, Ägypten und
Griechenland, zum kulturellen Gedächtnis. Aber auch die Bibel als religiöse
Schöpfungsgeschichte, Bauwerke wie die griechischen Amphitheater, oder der LoreleyFelsen am Rhein gehören dazu. Auch das kulturelle Gedächtnis unterliegt einem
ständigen Prozess des Erinnerns und Vergessens. Und zwar abhängig davon, welches
Selbstverständnis, welche Identität sich eine Gruppe oder Nation zuschreibt. Aleida
Assmann skizziert die dafür wichtigsten Bereiche:
Take 16 (O-Ton A. Assmann)
„Der erste Bereich ist die Religion, das ist die älteste Schicht können wir auch sagen
des kulturellen Gedächtnisses, das sind die ältesten Texte, die am intensivsten und am
kontinuierlichsten weitergegeben wurden, und zwar auch noch mit der Klausel, dass
an diesen Texten nichts verändert werden darf. Dann gibt es den Bereich Kunst. Und
zur Kunst gehören nicht nur die Literatur, da gehört auch die Musik dazu und die
Malerei natürlich, also diese verschiedenen Bereiche der Kunst sind ebenfalls Teil des
kulturellen Gedächtnisses und die Literatur kam in dem Moment dazu, wo sie fast
einen religionsähnlichen Charakter hatte, nämlich, dass man auch anfing über diese
Texte zu schreiben und sie zu kommentieren und auszulegen. Das passiert alles mit
der Säkularisierung im
19. Jahrhundert, und da kommt nun noch ein ganz wichtiger Bereich dazu, und das ist
der Bereich der Geschichte.“
Sprecherin:
Die Epoche der Aufklärung und die französische Revolution leiteten die maßgeblichen
sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen des
19. Jahrhunderts ein, in deren Verlauf sich die europäischen Nationalstaaten
herausbildeten und mit ihnen auch die Geschichtswissenschaft:
Take 17 (O-Ton A. Assmann)
„Plötzlich entstehen Nationen, die sich als Subjekte der Geschichte verstehen, die sich
alle durch Freiheitskriege unabhängig machen von größeren Einheiten, aus denen sie
heraus treten, und sie schließen sich dadurch zusammen, dass sie sich ein neues
kulturelles Gedächtnis zulegen.“
Sprecherin:
An die Stelle von Religion und gottgegebener Herrscherdynastie rücken nun zum
Beispiel ethnische Zuschreibungen, die die Nationen voneinander unterscheiden
sollen: Aussehen, Sprache und Charakter. In Deutschland lässt sich das besonders gut
an der Entwicklung der Sprache zeigen: Um sich von der französischen, höfischen
Kultur abzugrenzen, entwickelten etwa die Brüder Grimm in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts eine deutsche Grammatik, ein deutsches Wörterbuch und ein
Nachschlagewerk für deutsche Mythologie. Deutsche Wissenschaftler und
Bildungsbürger strebten in der nachnapoleonischen Zeit nach einer deutschen
Gelehrtenrepublik mit einer anspruchsvollen, deutschen Sprache.
Aber das war nicht der einzige Aspekt, mit dem sich die Deutschen von ihren
Nachbarn unterscheiden wollten. Auch der deutsche Charakter sollte ein nationales
Merkmal aufweisen, nämlich das des Heldenmutes, kriegerisch, unerschrocken und
männlich. Und es wurde der Begriff des „Völkischen“ geprägt, der rassistische und
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antisemitische Komponenten stärkte. So bildete sich parallel zur gesellschaftlichen und
politischen Neuordnung Europas im 19. Jahrhundert in den jeweiligen Gesellschaften
ein kulturelles Gedächtnis mit neuartigen Inhalten und Erzählungen heraus.
Sprecherin:
Dieser Rückgriff auf die Vergangenheit ist ein bewusst erzeugter Prozess gewesen, mit
dem konkrete politische Ziele verbunden waren, sagt
Aleida Assmann:
Take 18 (O-Ton A. Assmann)
„Da spielt die Religion jetzt nicht mehr die Hauptrolle, sondern es spielt das die
Hauptrolle, was diese Nationen nun zusammenbindet und von anderen Nationen
unterscheidet, die Religion haben sie ja gemeinsam. Was sie jetzt unterscheidet ist
ihre nationale Kunst, es sind ihre nationalen Klassiker, und vor allem ist es ihre
Herkunftsgeschichte, die sie anfangen, sich zu erzählen.“
Sprecherin:
Die Deutschen kultivierten nun den Gründungsmythos vom unerschrockenen Arminius,
besser bekannt als Hermann der Cherusker, der die Römer im ersten nachchristlichen
Jahrhundert im Teutoburger Wald vernichtend geschlagen haben soll. Er galt vielen als
Urbild des deutschen Nationalcharakters. Die Deutschen errichteten im 19.
Jahrhundert diverse Denkmäler, die an diesen Feldherren erinnern sollten. Und
außerdem forderten sie von ihren männlichen Bürgern diesem Vorbild nachzustreben,
sich heldenhaft und bedingungslos bis zum Tod für die aufstrebende Nation, für das
deutsche Vaterland in den Kriegen einzusetzen. Eine nationale Zuschreibung, die im
20. Jahrhundert in zwei Weltkriegen und der Verwüstung Europas ihren unseligen
Höhepunkt fand.
Sprecherin:
Anhand dieser nur knapp skizzierten Beispiele lässt sich erahnen, wie das kulturelle
Gedächtnis demnach eine Identität formt, eine Orientierung gibt, eine Sinnstiftung
bereithält. Und inwiefern es eine Selbst-Bildung beinhaltet, ähnlich wie das individuelle
episodische Gedächtnis. Vermittelt und getragen wird die kollektive Erinnerung durch
Medien, die diese Inhalte transportieren: Bücher, Grabstätten, Kunstwerke, Bauwerke,
Gedenkstätten, Archive und Museen.
Sprecherin:
Die Erinnerung an den Holocaust ist in der deutschen Nachkriegskultur mittlerweile
fest verankert. Auch wenn immer wieder darum gestritten wird, wie und an welchen
Orten dies am besten geschehen solle. Noch existiert ein in der Gesellschafsmehrheit
fest verankerter Wille zur Erinnerung, allen Forderungen zum Trotz, dass damit einmal
Schluss sein müsse. Erinnerung als Mahnung für die Zukunft, das ist es, was der
damalige Bundespräsident Roman Herzog 1996 in seiner Rede zum Nationalen
Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus folgendermaßen formulierte:
Take 20 (O-Ton Herzog, Ausschnitt aus Rede)
„Deshalb geht es darum, aus der Erinnerung immer wieder lebendige Zukunft werden
zu lassen. Wir wollen nicht unser Entsetzen konservieren. Wir wollen Lehren ziehen,
die auch die künftigen Generationen als Orientierung verstehen können.“
Sprecherin:
Wie prägend gemeinsame Erinnerungen für die Kultur und Identität einer Gesellschaft
sind, haben schon die Machthaber im vorchristlichen Ägypten und im antiken
Griechenland gewusst.
Bei jedem Machtwechsel, bei jeder Eroberung, ließen sie Stätten, Schriften und Bildnisse der vorangegangenen Kultur zerstören. Ein Vorgang, der sich in der Geschichte
häufig wiederholt hat: So vernichteten etwa die Reformatoren mit dem sogenannten
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Bildersturm im 16. Jahrhundert katholische Heiligenbildnisse, die spanischen Eroberer
nahmen den Ureinwohnern Amerikas nicht nur das Land, sondern auch die Religion
und die Terrorgruppe IS legt 2016 die antike Wüstenstadt Palmyra in Schutt und
Asche. Das alles mit dem Ziel, das kollektive Gedächtnis zu zerstören und im eigenen
Interesse umzuschreiben. Denn das kollektive Gedächtnis ist formbar, es ist
manipulierbar. Das wird zum Beispiel auch beim Blick auf Hermann den Cherusker
deutlich. Im 19. Jahrhundert wurde er als Held des germanischen Gründungsmythos
hochstilisiert. Und gelangte dadurch ins kollektive Gedächtnis. Heute jedoch, rund
einhundertfünfzig Jahr später, ist Herrmann der Cherusker nur noch eine historische
Figur unter vielen.
Sprecherin:
Gedächtnisinhalte von Gruppen und Gesellschaften verändern sich ständig, und das,
seit es Menschen gibt. Jahrhundertelang waren mündliche Überlieferung, Bücher,
Bilder oder Monumente wichtige Mittel für die gemeinsame Erinnerung. Aber durch das
Internet wandeln sich diese Erinnerungsprozesse. Und damit zwangsläufig auch die
Kriterien dafür, welche Ereignisse für das kollektive Gedächtnis bedeutsam sind. Ein
ähnlich gravierender Einschnitt für die gemeinsame Erinnerungskultur ist im 15.
Jahrhundert vom Buchdruck ausgegangen. Viele befürchten, dass die kollektive
Erinnerung durch die digitale Kommunikation grundlegend verändert und immer
stärker von einigen wenigen Minderheiten bestimmt wird. Möglich, dass wir in dieser
Hinsicht tatsächlich an einem Wendepunkt stehen, aber das wird sich wohl erst in
einigen Jahrzehnten beurteilen lassen.
Ende
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