Rainer Limmer / Alexander von Pecmann / Sybille

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In: Widerspruch Nr. 29 Geist und Gehirn (1996), S. 8-36
AutorenInnen: Rainer Limmer / Alexander von Pecmann /
Sybille Weicker
Artikel
Rainer Limmer /
Alexander von
Pecmann /
Sybille Weicker
Zur Philosophie des Geistes und Erkennens
Einführung in die gegenwärtige Problemlage
Der folgende Beitrag will einen Überblick über die gegenwärtige Diskussion einer neurowissenschaftlichen Erklärung des Geistes und des Erkennens geben. Hierbei erscheint es uns sinnvoll, beide Bereiche, Geist
und Gehirn, zunächst getrennt vorzustellen. Worüber besteht im Rahmen
einer allgemeinen Psychologie Konsens, so daß diese mentalen Phänomene von den Neurowissenschaften zu erklären sind? Und wie ist auf
der anderen Seite der gegenwärtige Kenntnisstand über den Aufbau, die
Struktur und die Funktionsweise des Gehirns im Allgemeinen. Auf diesen Grundlagen wollen wir die zur Zeit relevanten Positionen in der
Geist-Gehirn- sowie der Erkenntnis-Debatte vorstellen. Dabei gehen wir
davon aus, daß die Fragen nach einem möglichen Zusammenhang von
Geist und Gehirn sowie nach einem adäquaten Begriff von Erkennen,
zumindest derzeit, weder von der Neurophysiologie noch von der Psychologie beantwortet werden können, sondern daß sie im Rahmen von
ontologischen und erkenntnistheoretischen Konzepten zu beantworten
sind, die philosophischer Natur sind. Der erste Teil befaßt sich mit Erklärungsansätzen von Bewußtsein überhaupt; im zweiten Teil werden wir
Zur Philosophie des Geistes und Erkennens
nur einen Teilaspekt unserer bewußten Tätigkeit behandeln: die Erkenntnis bzw. Kognition. In der philosophischen Diskussion nimmt dieser
Aspekt jedoch seiner gnoseologischen Dimension wegen seit jeher eine
herausragende Stelle ein.
1. Psychologie: unser Wissen vom Bewußtsein
Fragen wir am Beginn nach einem Vorbegriff dessen, was von den Neurowissenschaften erklärt werden müßte, so mag dafür der vage Begriff
der „Psyche“ stehen, der der Psychologie den Namen gegeben hat, und
worunter traditionell unsere Wahrnehmungs-, Empfindungs-, Reflexions- und Orientierungsfähigkeiten verstanden werden. Die allgemeine
Psychologie unterscheidet daher unsere Psyche in die kognitiven Fähigkeiten, unter die sie Wahrnehmung, Gedächtnis und Denken faßt, die emotionalen Prozesse, die unsere Empfindungs- und Erlebnisfähigkeiten umfassen, sowie die motivationalen Aspekte, die „Triebfedern unserer Handlungen“. Im folgenden wollen wir diese Bereiche und die jeweiligen,
psychologisch relevanten Fragestellungen benennen.
Der Forschungszweig, der sich mit unseren Wahrnehmungen beschäftigt,
betrachtet diese heute nicht mehr als eine Abbildung von Gegebenem,
sondern fragt nach den internen kognitiven Prozessen und Mechanismen, die der Objektwahrnehmung zugrundeliegen. Was läuft ab, wenn
wir einem Gegenstand eine bestimmte Größe, Form, Farbe verleihen
und ihn als Apfel identifizieren; und welche Funktion haben die Objektwahrnehmungen in unserem emotionalen Erlebnis- und motivationalen
Handlungskontext? Dabei tendiert die Psychologie gegenwärtig dazu, die
phänomenologischen und neurophysiologischen Aspekte der Wahrnehmung sowie deren Funktion der Handlungs- und Verhaltenssteuerung in
der Weise zu integrieren, daß unsere Wahrnehmung als ein Informationsverarbeitungsprozeß aufzufassen sei.
Ein anderer, zunehmend mehr mit der Wahrnehmung zusammen untersuchter Bereich der psychologischen Forschung ist unser Gedächtnis.
Auch hier betrachtet man unsere Seele nicht mehr als den „Spiegel der
Welt“, sondern untersucht die Lernvorgänge, die Art der Abspeicherung
des Gelernten, sowie die Zusammenhänge zwischen unserem Erinnern
mit der Art unserer Wahrnehmung, der emotionalen Bewertung und
unseren handlungsleitenden Motiven. Auch hier neigt man, naheliegenderweise, heute dazu, unser Gedächtnis als „Informationsspeicher“ anzu-
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sehen, und dementsprechend die Prozesse und Strukturen der Informationsaufnahme, -codierung und -speicherung zu untersuchen.
Ein weiterer Bereich psychischer Vorgänge ist der weite Bereich der
Reflexion, der Intuition und der Phantasie, der traditionell als „Einbildungskraft“ bezeichnet wurde. Dieser ist derzeit in Mißkredit geraten, nicht
zuletzt, weil er der Probleme wegen, die er der Formalisierung und Berechenbarkeit macht, nicht recht ins Bild der Informationsverarbeitung
paßt. Unseres Erachtens bleiben jedoch die Anforderungen an die psychologischen wie physiologischen Theorien, auch diesen Bereich des
Vagen und Unvorhersagbaren in angemessener und überzeugender Weise erklären zu können.
Ein wachsendes Interesse ziehen in der letzten Zeit die Emotionen auf
sich. Sie galten lange Zeit als das „Abgründige“ im Menschen, das entweder zu vermeiden sei oder sein wahrhaft Inneres ausmacht. Gegenwärtig werden sie eher als eine Art psychischer Zustände verstanden, die
notwendig für die Ausbildung unserer Verhaltensweisen und Orientierungsmuster sind. Durch sie, sagt man, wird Erkanntes bewertet. Sie sind
in starkem Maße mit physiologischen Vorgängen verbunden und manifestieren sich in einer Reaktionstrias aus subjektivem Erleben, Ausdruck
und Erregungszuständen des autonomen Nervensystems. Das psychologische Interesse richtet sich neben der Bewertungsfunktion und dem
kommunikativen Aspekt des emotionalen Ausdrucks auf die Frage, welche Bedeutung die expressive Funktion der Emotionen für die Qualität
unseres subjektiven Erlebens hat.
Unsere Kognitionen und Emotionen bündeln sich, normalerweise, in
Handlungen. Im Bereich der Motivationspsychologie ist man davon abgegangen, unsere Handlungen entweder als kognitiv-rational oder als emotional bestimmt anzusehen, sondern konzentriert sich auf Kooperation
beider, die Handlungsmotive und Verhaltensdispositionen hervorrufen.
Hier geht es um die Fragen nach der Herausbildung unserer langfristigen
Grundüberzeugungen und Zwecksetzungen, der handlungsrelevanten
Situationsbeurteilung und der Bewertung unseres subjektiven Zustandes,
der Evaluation der (möglichen) Handlungsfolgen sowie der Antizipation
von Ereignissen, die, in direkter oder indirekter Weise, wichtig für unsere
Handlungsmotivationen sind.
Zur Philosophie des Geistes und Erkennens
Auch wenn die gegenwärtige Psychologie die eine oder andere methodische Vorliebe hat, so bleibt das wissenschaftliche Interesse darauf gerichtet, die drei wesentlichen Bereiche des Seelischen, Kognition, Emotion
und Motivation, nicht nur jeweils präziser zu erfassen, sondern sie auch,
zunehmend mehr, als ein notwendig kooperierendes Gesamtsystem
beschreiben zu können. An diesen Maßstäben wird sich die Gehirnforschung, soweit sie die Psyche erklären will, messen lassen müssen.
2. Neurowissenschaft: Unser Wissen vom Gehirn
Das menschliche Gehirn ist das wohl komplexeste Gebilde im Universum. Es kann aufgrund der Kombinationsmöglichkeiten seiner Teile
erheblich mehr Funktionszustände haben als es Teilchen im Universum
gibt. Wie läßt sich angesichts solch astronomischer Verhältnisse dieses
komplexe, - bei dem einen mehr, dem anderen weniger - gut funktionierende System verstehen?
Beginnen wir auf der Makroebene. Unser zentrales Nervensystem besteht aus fünf, sichtbar verschiedenen Teilen: verlängertes Rückenmark,
Kleinhirn, Mittelhirn, Zwischen- und Großhirn, die über Sensoren und
Effektoren mit den anderen Körperorganen verbunden sind. Über die
weiteren Einteilungen, die Verbindungen dieser Teile untereinander
sowie den derzeitigen, auf klinischen und experimentellen Daten beruhenden Wissensstand der „funktionellen Architektur“ unseres Gehirns
informiert der folgende Artikel von Martin Korte, sodaß wir hier darauf
verweisen können.
Auf der mittleren Größenebene des Gehirns befindet sich das Bauelement des Gehirns, das Neuron oder die Nervenzelle. Sie unterscheidet sich
von den anderen Körperzellen im wesentlichen durch ihre Funktion des
Empfangs, der Weiterleitung und der Übertragung von Reizen. Nervenzellen haben eine Länge von wenigen Millimeter bis zu einem Meter und
bestehen aus drei Teilen: dem baumartig verzweigten Dendriten, der mehr
als 10 000 Äste haben kann und der Reizaufnahme dient, dem Zellkörper
und dem Axon, der die aufgenommenen Reize weiterleitet. Diese Nervenzellen, deren Anzahl bis zu einer Billion geschätzt wird, verbinden
sich untereinander an den Eingangs- und Ausgangsstellen, den sog. Synapsen, und bilden das neuronale Netz des Gehirns. Dabei nimmt man
an, daß sie sich auf der untersten Ebene in lokalen Schaltkreisen verbinden, die sich ihrerseits in komplexer Weise zu kleinen kortikalen Regio-
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nen, sog. „Karten“, und subkortikalen Kernen verknüpfen. Diese Regionen und Kerne sind untereinander in Systemen vernetzt, wie dem limbischen System. Das Gehirn insgesamt gilt als das Supersystem von Systemen, in dem die spezialisierten Funktionen sich aus dem Ort ergeben,
den die Neuronenkomplexe in diesem großräumigen System einnehmen.
Auf der Ebene dieses neuronalen Netzwerkes ist es „die zentrale wissenschaftliche Herausforderung ..., zu erklären, wie die Axone und Dendriten auswachsen, ihre richtigen Partner finden und selektiv mit ihnen
Synapsen aufbauen, um ein funktionierendes Netzwerk zu erschaffen.“1
Auf der Mikroebene steht die Synapse im Zentrum. Sie bildet die Kontaktstelle zwischen zwei Neuronen und ihre Größe befindet sich unterhalb des Nanometerbereichs. Auch die Synapse besteht aus drei Teilen:
der präsynaptischen Membran der erregenden Nervenzelle, dem synapti1 B. Albers u.a., Molekularbiologie der Zelle, Weinheim 1995, S.1322. - Man nimmt
an, daß im Embryonalstadium die zunächst auseinanderliegenden Gehirnzentren
nach einem internen Programm wachsen. In der nächsten Phase werden durch das
Auswachsen von Axonen und Dendriten entlang spezifischer Bahnen geordnete,
aber erst vorläufige Verbindungen zwischen den Zentren geschaffen. In der abschließenden Phase bis ins Erwachsenenalter werden die Verbindungen durch ihre
Interaktion in einer Weise angepaßt und verfeinert, die von den Signalen, die zwischen ihnen verlaufen, abhängt. Synapsen, die häufig aktiv sind, werden verstärkt,
andere Zellen sterben ab. Auf die Weise dieser Strukturbildung werde, sagt man, das
Gehirn fähig, die Ereignisse der Außenwelt widerzuspiegeln (nach: ebd., S.1323).
Zur Philosophie des Geistes und Erkennens
schen Spalt und der subsynaptischen Membran der erregten Nervenzelle.
Die Funktion der synaptischen Signalübertragung von einer Nervenzelle
zur anderen wird folgendermaßen erklärt: ist eine Nervenzelle aktiv, läuft
im Ionenkanal des Axons ein elektrischer Impuls. Dieser bewirkt am
Axonende in der präsynaptischen Membrane eine kurzzeitige Ausschüttung bestimmter chemischer Stoffe, der sog. Neuro-Transmitter, die über
den synaptischen Spalt von der nachgeschalteten Zelle durch die subsynaptische Membran aufgenommen werden. Ob diese Zelle durch die
Aufnahme der Neuro-Transmitter elektrisch aktiviert oder gehemmt
wird, hängt zum einen von der Chemie dieser Transmitter und zum
anderen von den Wechselbeziehungen mit den anderen Synapsen der
Zelle ab. Eine hemmende Wirkung wird insbesondere dem Glycin, eine
erregende Wirkung dem Glutamat zugeschreiben. So blockiert Strychnin
etwa Glycin und bewirkt Muskelzuckungen und schließlich den Tod. An
den Synapsen setzen die Psychopharmaka, wie Valium oder Librium, an,
die durch ihre hemmende Funktion beruhigend wirken. Das Hauptproblem auf diesem Feld der biologischen Elektrochemie ist heute weniger
die chemische Entschlüsselung der verschiedenen Stoffe, sondern die
Interpretation der Vorgänge: wie werden durch diese elektro-chemischen
Prozesse bestimmte Informationen gespeichert; nach welchen Kriterien
„verrechnet“ die Nervenzelle die Signale aus den bis zu 10000 Synapsen
zu einem Aktivitätszustand, den sie als einen elektrischen Impuls weitergibt; und wie schließlich ermöglicht dieses komplexe Gesamtsystem
billionenfacher synaptischer Verbindungen das koordinierte Verhalten
und das Bewußtsein des Menschen?
3. Zur Philosophie des Bewußtseins
Fragen wir nach dem Anfang der „modernen Theorie“ des Bewußtseins,
so werden wir auf R. Descartes zurückverwiesen. Er ist, anwesend oder
nicht, die Bezugsperson in der Diskussion. Sein dualistisches Konzept
war es, durch das er mit den antik-mittelalterlichen Theorien der „Seinsstufen“ Schluß gemacht hatte, in denen die menschliche Seele auf dem
Erlösungsweg der sehnend-strebenden Materie zum ewigen Geist gleichsam eine Etappe zwischen den Tieren und den Engeln eingenommen,
und wo die Seele, als Lebenshauch oder -atem, irgendwie zwischen Irdi-
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schem und Himmlischem gespukt hatte. Dies erhabene Weltgebäude riß
Descartes ein2 und machte das Problem einfach: entweder ewig-einfache
Geistseele oder vergänglich-komplexe Körpermaterie; ein Drittes gibt es
nicht!
Und er eröffnete auch schon selbst die moderne Debatte: auf der einen
Seite ist es evident, daß unsere psychischen Vorgänge, unsere Empfindungen und Gefühle, unsere Gedanken und Wünsche, getrennt von
unserem Körper ablaufen. Wir suchen nach Gründen, setzen uns Zwecke, wählen Mittel; wir tun das, was unser Körper nicht tut. Die Seele
gehorcht, können wir sagen, einer anderen „Logik“ als der Körper. Auf
der anderen Seite aber ist es ebenfalls evident, daß unsere Seele auf den
Körper wirkt: wenn wir sprechen wollen, dann setzen wir unseren Sprechapparat in Gang - normalerweise. Die Kontaktstelle, sagt Descartes, wo
die Seele auf den Körper einwirkt, ist nicht das Herz, sondern das Gehirn, genauer: die Zirbeldrüse.3 Was nun aber: sind Seele und Körper
getrennt und als solche zwei Substanzen, oder sind sie verbunden, wirken
aufeinander und sind daher nicht zwei Substanzen? Darüber grübelnd
spielte Descartes' Körper seiner Seele einen Streich. Sie verschied in
einer der langen nordischen Winternächte Schwedens wegen einer Entzündung der Lunge.
Doch schon bald machten die Nachfolger sich über sein Erbe her - und
zankten sich weidlich. Es bildeten sich das Lager der „ersten Person“
und das Gegenlager der „dritten Person“. Die ersten proklamierten: eine
Theorie des Bewußtseins ist immer und je schon eine Theorie des
Selbstbewußtseins. Denn niemand - außer dem lieben Gott - kennt mein
2 „Es ist ein Irrtum zu glauben,“ schreibt er, „die Seele verleihe dem Körper Bewegung und Wärme.“ Dieser Irrtum habe bislang die „richtige Erklärung der Leidenschaften und anderer Zustände der Seele verhindert.“ (Über die Leidenschaften,
Artikel 5)
3 „Im Gehirn ist eine kleine Eichel, in welcher die Seele wirksamer ist als in den
übrigen Körperteilen.“ (ebd., Artikel 31). - Prinzessin Elisabeth von der Pfalz, mit
der er in Briefkontakt stand, wandte richtig ein: dies sei ganz uneinsichtig; denn wie
sollte sich an einem Punkt im Raum zwischen zwei Substanzen ein Kontakt ergeben
können, von denen die eine räumlich, die andere aber nicht räumlich ist? Descartes
riet ihr - ebenfalls richtig -, nicht zuviel über dies äußerst verwirrende Thema nachzugrübeln.
Zur Philosophie des Geistes und Erkennens
Bewußtsein besser als ich selbst.4 Mein Bewußtsein und mein bewußtes
Sein ist dasselbe, da ich bin, der Ich bin. Und rasch erhoben sich auf
dem Fundament des „Ich bin“ architektonische Wunderwerke, die das
Bewußtsein ausloteten und exakt und für immer jedem „Vermögen“,
jeder „Strebung“ und jedem „Gedanken“ seinen gehörigen Ort zuwiesen. Aus dem (Selbst-)Bewußtsein wurden glänzende Pälaste, in dessen
Räumen alles wie am Schnürchen unter der Leitung des rastlos-tätigen
Ich funktionierte.
Anders die anderen. Sie errichteten keine glanzvollen Bauten, sondern
buken die kleinen Brötchen. Wenn, wie Descartes sagte, zwischen Körper und Seele ein Zusammenhang besteht, - läßt sich Descartes' Modell
nicht umkehren? Statt: „die Seele beeinflußt den Körper“, „der Körper
beinflußt die Seele“. Vielleicht, spinnt Diderot vor sich hin, ist es ja so,
daß die Materie selbst denkt. Und für den Cheftheoretiker der französischen Aufklärung, d'Holbach, war die Sache schon ausgemacht. Nicht:
„ich denke“, sondern „es denkt“, das Gehirn.5 Doch die ersten Präzisierungsversuche dieser Theorie verliefen kläglich. Die Gedanken seien so
etwas wie cerebrale Schweißperlen, Exkremente des Gehirns, behaupteten im 19.Jahrhundert die Physiologen Moleschott, Büchner und Vogt
unter dem Hohngelächter der Zeitgenossen. Das Ich - die Ausschwitzung eines puddingweichen Eiweißklumpens?! Den wirklichen Anfang
einer Bewußtseinstheorie der „dritten Person“ machte kurz darauf Fechner6, der einen gesetzmäßigen und experimentell überprüfbaren Zusammenhang zwischen physischem Reiz und psychischem Erleben entdeckte, das sog. Fechner-Webersche Gesetz. Dann folgte Pawlows Theorie
der „bedingten Reflexe“, die das, was „Bewußtsein“ hieß, als ein erlerntes Reaktionsschema erklärte.
Heute scheint sich das Verhältnis von „Descartes' feindlichen Erben
umgekehrt zu haben. Die Theorie der „ersten Person“ erscheint heute so
lächerlich wie ein Jahrhundert zuvor die der „dritten Person“. Niemand
in der „science community“ stellt ernsthaft in Frage, daß nicht das „Ich“,
sondern das Gehirn die Basis unseres Bewußtseins ist. Der Wissenschaft,
heißt es in einem aktuellen Lexikon, ist „völlig klar: Gemüt, Gefühl,
4
So definiert denn auch J. Locke: „Bewußtsein ist die Wahrnehmung dessen, was im
eigenen Geiste vorgeht.“ (J. Locke, Untersuchungen über den menschlichen Verstand)
5 d'Holbach, System der Natur, VII. Kapitel: Von der Seele.
6 Gall
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Denken und Erinnern sind materielle, energetische Prozesse auf biochemischer und bioelektrischer Grundlage; sie sind physiologisch Nervenerregungen und Reaktionen auf Reize.“7 Nicht mehr, daß dem so ist,
wird in Frage gestellt, sondern vielmehr, was diese Aussage eigentlich
bedeutet. Im folgenden wollen wir daher, schematisch, die drei relevanten Grundpositionen darstellen, die diese Aussage unterschiedlich interpretieren. Die erste nimmt an, daß in der Tat die geistigen Zustände auf
jene materiellen Prozesse reduzierbar sind. Die zweite hingegen vertritt
die Auffassung, daß diese Reduktion nicht restlos möglich ist, weil das
Geistige eine eigene Qualität besitzt. Die dritte schließlich geht von einem Zusammenhang von geistigen Zuständen und materiellen Prozessen
aus, der erforscht und erklärt werden kann und muß.
Der „eliminative Materialismus“
Wenden wir uns zuerst der materialistischen Position zu, die annimmt,
daß die geistigen auf materielle Zustände reduzierbar sind. Den Einstieg
dazu hatte der Behaviourismus zu Beginn dieses Jahrhunderts gemacht. Er
ging davon aus, daß sinnvolle Aussagen über psychische Vorgänge und
Zustände nur solche Aussagen sind, die das äußere Verhalten von Menschen beschreiben. Nur diese seien nachprüfbar und objektiv, während
die „erste-Person-Methoden“ der Introspektion und des Verstehens als
unkontrollierbar abzulehnen seien.8 Diese, von B.F. Skinner ausgebaute
Verhaltenspsychologie9 hat lange die amerikanische Psychologie beherrscht. An dieses Konzept anknüpfend gab dann der analytische Philosoph G. Ryle 1949 in The Concept of Mind10 eine umfassende Theorie
des Geistes. Nach seiner Auffassung resultiert der Begriff des Geistes als
einer eigenen Substanz, wie Descartes ihn verwendet hatte, aus einem
category-mistake, einem falschen Gebrauch der Kategorie. So wenig der
Ausdruck „Teamgeist“ einen zwölften Mann neben der Fußball-Elf
bezeichnet, so wenig bezeichne „Geist“ ein Ding, das es zusätzlich zu
7 Die große Bertelsmann Lexikothek, Mensch und Gesundheit, S. 266. - „Geistige
Phänomene sind ein Produkt der materiellen, der von physikalischen Gesetzen bestimmten Welt.“ (Zeit, 50)
8 J.B. Watson, Behaviourism 1913
9 B.F. Skinner/W. Corell, Denken und Lernen 1961
10 Gilbert Ryle, Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969
Zur Philosophie des Geistes und Erkennens
dem geäußerten Verhalten noch gäbe. Dieser Ausdruck werde sinnvoll
nur in Bezug auf verschiedene Handlungs- und Verhaltensdispositionen
von Personen gebraucht. So würde nach Ryle mit „Zorn“ keine innere,
gar heilige Macht bezeichnet, die den Menschen treibe, sondern nur die
Disposition zu einem gewissen Verhalten: erhöhte Blutzufuhr im Gesicht, Traktieren des Tisches (oder eines anderen Gegenstandes) mit
Fäusten oder Füßen und Amplitudenerhöhung der Sprechfrequenz. Doch bei diesen ersten Eliminierungsversuchen des Geistes blieb unklar:
gibt es den Geist gar nicht; ist er eine „black box“, über die Aussagen zu
machen, eine reichlich sinnlose und unkontollierbare Veranstaltung ist;
oder gibt es ihn nicht, weil wir nichts Sinnvolles über ihn aussagen können?
Aus einer anderen, schon direkter an den Neurowissenschaften orientierten Richtung kam die sog. „Identitätstheorie“. Diese, von den Wissenschaftstheoretikern U.T. Place und J.J.C. Smart in den 50er und 60er
Jahren begründete Auffassung widersprach Ryles Erklärung. Die Annahme Descartes', daß der Geist etwas Eigenes sei, sei kein Mißgriff,
sondern eine durchaus plausible Erklärung dafür, daß wir phänomenale
Zustände haben, Schmerzen fühlen oder rot empfinden. Die moderne
Wissenschaft könne jedoch zeigen, daß die Annahme weit plausibler ist,
daß unser Bewußtsein keine Expression des Geistes, sondern ein Prozeß
in unserem Gehirn ist: „The thesis that conscienceness is a process in the
brain“, schreibt Place, „is put forward as a reasonable scientific hypothesis.“11 Diese Annahme wird mit dem Erkenntnisfortschritt in der Elektrodynamik erläutert: Jahrhunderte lang hatte man geglaubt, die himmlischen Blitze und die irdischen Funken seien wesenhaft verschieden - die
einen Willensbekundungen Gottes, die anderen „Ausflüsse“ einer geheimnisvollen Kraft -; die Theorie der Elektrodynamik aber hat gezeigt,
daß beide identisch sind: Blitze sind große Funken, und Funken elektrische Entladungen. In analoger Weise wird die Neurowissenschaft zeigen
können, daß die unsere Bewußtseinszustände und die neuronalen Gehirnvorgänge nichts wesenhaft verschiedenes, sondern identisch sind.
Das Schmerzgefühl, so das Beispiel, das seither durch die Debatte
11
U.T. Place, Is Consciousness a Brain Process? In: V.C. Chappell, The Philosophy
of Mind, Englewood Cliffs 1962, S.101. - J.J.C. Smart, Sensations and Processes. In:
The Philosophical Review LXVIII (1959), S.141-156.
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'geistert'12, sei identisch mit einer akuten C-Faser-Reizung. Unklar und
umstritten blieb allerdings, was der Ausdruck „identisch“ in diesem Falle
bedeuten soll.13
Hatte G. Ryle seine Theorie des Geistes noch auf den „richtigen
Gebrauch“ des Wortes gestützt, und Smart und Place ihre Identitätstheorie, wissenschaftseuphorisch, auf den Fortschritt der Wissenschaft“, so
ist der sogenannte „eliminative Materialismus“ im Kern logisch fundiert.
Er geht einen entscheidenden Schritt weiter und sagt nicht nur, daß wir
über den Geist nichts sinnvolles aussagen können oder daß Geistiges
und Neuronales identisch ist, sondern daß es mentale Zustände gar nicht
gibt. Das Argument hierfür hat Paul Feyerabend schon 1963 geliefert:
Nehmen wir die Existenz mentaler Ereignisse als Funktionen des Gehirns an, dann nehmen wir an, so Feyerabend, daß „einige physikalische
Ereignisse, nämlich Prozesse des Zentralnervensystems, nichtphysikalische Eigenschaften haben.“14 Und, wenden wir diese Schlußfolgerung auf die Identitätstheorie an, dann nehmen wir an, daß einige
physikalische Ereignisse, C-Faser-Reizungen, mit nicht-physikalischen
Ereignissen, Schmerzen, identisch sind. Diese Annahme enthält in sich
aber einen Widerspruch; denn die Aussage, daß „p“ und „non-p“ identisch ist, ist logisch nicht möglich. Will man Widersprüche in den Wissenschaften nicht zulassen und auch nicht in die cartesische Lehre von
den zwei Substanzen zurückfallen, so muß die Annahme der Existenz
mentaler Zustände ausgeschlossen werden. In der Wissenschaft kann es
12
Dies vor allem seit R. Rortys „Der Spiegel der Natur“, Kap. II: Personen ohne
mentale Zustände, Frankfurt/Main 1981, S.85ff. Zu dem „C-Fasern-Gerede“ siehe: J.
Searle, Die Wiederentdeckung des Geistes, Frankfurt/Main 1996, S.285.
13 Zur anschließenden Debatte in den USA: H. Feigl, The 'Mental' an the 'Physical'.
In: Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Vol.II, Minneapolis 1958; J.
Shaffer, Could Mental States be Brain Processes? In: Journal of Philosophy 58
(1961), S.813-822; N. Block/J. Fodor, What Psychological States are Not. In: Philosophical Review 81 (1972), S.159-181; H. Putnam, The Mental Life of some Machines. In: H. Castaneda (Hg), Intentionality, Mindes, and Perception, Detroit (1967);
S.A. Kripke, Naming and Necessity. In: D. Davidson/G. Harman (Hg), Semantics of
Natural Language, Dordrecht 1971.
14 P. Feyerabend, Mentale Ereignisse und das Gehirn. In: P. Bieri (Hg), Analytische
Philosophie des Geistes, Bodenheim 1993, S.121. - ursprünglich: Mental Events and
the Brain, Journal of Philosophy 60 (1963), S.295f.
Zur Philosophie des Geistes und Erkennens
daher keine mentalen Ereignisse geben, sondern nur physikalische Ereignisse mit physikalischen Eigenschaften.
In den 80er Jahren ist dieses Argument dann vor allem von dem Neurophilosophen P.M. Churchland in Hinblick auf die wissenschaftliche Erkenntnis erläutert worden15. Die Situation der Neurowissenschaften
heute sei ähnlich der Situation der Thermodynamik in ihren Anfängen.
Lange Zeit glaubte man, die Wärme sei eine eigene Qualität - sei es als
sinnliche Empfindung oder als eigene Substanz. Das Ergebnis der
Thermodynamik bestehe nun aber nicht in der Erkenntnis, daß die
Wärme keine eigene Qualität, sondern durch den ungeordneten Bewegungszustand der Moleküle verursacht wäre (sodaß sie deren Wirkung sei),
und auch nicht, daß sei mit dieser Bewegungsart identisch sei, sondern
genau darin, daß Wärme diese Bewegungsart ist. Das Gleiche zeigt die
Genetik: Gene werden weder durch Basenpaarabschnitte der DNS verursacht noch sind sie mit diesen identisch; sie sind diese Basenpaarabschnitte16 In derselben Weise werde die Neurowissenschaft zeigen,
daß das Geistige weder etwas Eigenes ist, noch daß er von den neuralen
Prozessen verursacht wird oder mit ihnen identisch ist, sondern daß das
Geistige dies Neurale ist.
Auf beides, die Widerspruchsfreiheit des eliminativen Materialismus und
den Vergleich mit anderen Wissenschaften, stützt sich die aktuelle These
von P.S. Churchland: „Der Materialismus ist höchstwahrscheinlich
wahr“, d.h. „Bewußtsein ist so gut wie sicher eine Eigenschaft des physischen Gehirns“. Aus dieser These leitet Churchland ab, daß in absehbarer Zukunft alle Erklärungsversuche scheitern werden, die das Bewußtsein als eine 'Wirkung' oder 'Funktion'der Gehirnprozesse darstellen und
also Nicht-Physikalisches 'irgendwie' auf Physikalisches zurückführen
wollen. Das Scheitern dieser Versuche werde zeigen, daß dies NichtPhysikalische ein bloßes Gespenst ist, daß es Geistiges gar nicht gibt.
Nun ist diese Theorie von der Nicht-Existenz des Geistigen natürlich
mit der harschen Kritik seitens des gemeinen wie gesunden Menschenverstandes konfrontiert, der sich ebenso schlicht wie jene auf die Logik
15
P.M. Churchland, Eliminative Materialism and the Propositional Attitudes. In:
Journal of Philosophy 78 (1981), 67-90.
16 P.S. Churchland, Die Neurobiologie des Bewußtseins. Was können wir von ihr
lernen? In: Th. Metzinger, Bewußtsein. Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie“,
1995, S.473.
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und die Wissenschaften auf die Alltagserfahrung beruft. Nur kranken
Hirnen sei es möglich zu leugnen, daß sie selbst und wir allesamt phänomenale Zustände und damit Bewußtsein haben, und daß wir uns dieser Zustände auch als wirkliche bewußt sind.17 Die Existenz von Bewußtsein sei eine ebenso evidente, unleugbare Tatsache wie die Existenz
von Physischem. Nun sind jedoch, für den gesunden Menschenverstand
ärgerlich genug, diese Materialisten nicht auf den Kopf gefallen. Sie antworten: in der Tat haben wir mentale Zustände; wir nehmen an, daß wir
essen, weil wir essen wollen, daß wir den „Widerspruch“ kaufen, weil wir
begierig wünschen, ihn zu lesen. Nur, diese Annahme beweist nicht die
Existenz dieser mentalen Zustände. Es sind Annahmen über unser Verhalten, die wir machen, weil wir dessen richtige Ursachen noch nicht
erkannt haben. Sie sind bloße „folk psychology“, die uns eine Existenz
von inneren Zuständen vorgaukelt, die es aller Wahrscheinlichkeit nach
gar nicht gibt.18 So wie man früher ganze Heerscharen äußerer Geister,
17
siehe M. Pauen, Mythen des Materialismus. Die Eliminationstheorie und das
Problem der psychophysischen Identität. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1,
Berlin 1996, S.77-99. - Die wohl schwersten Geschütze hat in der jüngsten Vergangenheit J. Searle abgefeuert: diese Klasse von Materialisten seien „Zwangsneurotiker“, für die keine Argumente mehr zählen, sondern die, wenn überhaupt, nur therapeutisch von ihrer Krakheit geheilt werden könnten. Denn wie, fragt Searle, könnten
sie widerlegt werden? „Sollte ich die Anhänger dieser These vielleicht irgendwohin
kneifen, um sie daran zu erinnern, daß sie Bewußtsein haben? Sollte ich mich vielleicht selbst kneifen und das Resultat im Journal of Philosophy veröffentlichen?“
(21). Ihre argumentationsresistente Neurose führt Searle auf ihre „panische Angst
vor einem Absturz in den cartesianischen Dualismus“ (26) zurück, die sie lieber
Absurditäten annehmen läßt als vom Selbstverständlichen auszugehen. Mir will
allerdings scheinen, daß nicht dieser Gemütszustand das Entscheidende ist, sondern,
wenn wir so reden wollen, ihre „Angst vorm Widerspruch“. Searle jedenfalls, der
zwischen der Skylla des cartesianischen Dualismus von Geist und Körper und der
Charybdis des materialistischen Monismus von Körperlichem segeln will, schlingert
zweifellos - bewußt oder unbewußt - in Paradoxien: „Bewußtsein ist eine geistige und folglich physische - Eigenschaft des Hirns in dem Sinne, in dem Flüssigkeit eine
Eigenschaft eines Systems von Molekülen ist.“ Oder: „Ich bin etwas Denkendes, also bin
ich etwas Physisches.“ (28) Und schon beginnt das Mühlrad der Dialektik sich zu drehen: Ich bin Ich, also bin Ich Es; weil Ich Es ist, bin Ich Ich, und weil Es auch Ich
ist, bin Ich auch Es... Wie Searle mit diesen Paradoxien fertig werden will, bleibt
abzuwarten. (Vgl. die Rezension von I. Knips in diesem Heft)
18 siehe dazu insbesondere P.M. Churchland, Eliminative Materialism and the Propositional Attitudes, a.a.O., S.67-90; D. Dennett, Intentionale Systeme. In: P. Bieri,
Zur Philosophie des Geistes und Erkennens
Dämonen und Engel, Trolle und Gespenster, in Gang gesetzt hatte, um
menschliche Zustände und Verhaltensweisen zu erklären, - und an deren
Existenz glaubte -, so setzt die heutige Volkspsychologie eine ganze
Armee innerer Geister in Bewegung, um sie zu erklären: Ich und Wille,
Wünsche und Bedürfnisse, Ängste und Hoffnungen, - und glaubt, daß es
sie gibt.19 Aber diese Annahmen belegen nur, daß wir die eigentlichen
Ursachen menschlicher Verhaltensweisen noch nicht verstanden haben.
Mit den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen über die Arbeitsweise
des Gehirns werden, so die eliminativen Materialisten, diese vorwissenschaftlichen Erklärungsmodelle wahrscheinlich bald verschwinden; sie
werden den Geist aufgeben. Die Volkspsychologie, schreibt P.M.
Churchland, „wird wie andere Theorien auch eliminiert werden, und die
vertraute Common-Sense-Ontologie mentaler Zustände wird den Weg
gehen, den die stoischen pneumata, die alchemistischen Essenzen eines
Phlogistons, einer Wärme und eines lichttragenden Äthers schon geganAnalytische Philosophie des Geistes, a.a.O., S.162-183); S.M Christensen/D.R
Turner, Folk Psychology and the Philosophy of Mind, Hillsdale 1993; S.P. Stich,
From Folk Psychology to Cognitive Science. The Case Against Belief, Cambridge
1983. S.P. Stich formuliert vorsichtiger: „Sollte sich herausstellen, daß die Volkspsychologie ernstlich einen Fehler über die Gesamtorganisation unserer Erkenntnisökonomie (cognitive economy) macht, dann gibt es nichts, auf das das Prädikat „...
glaubt, daß p“ sich bezieht.“ (229)
19 Inzwischen ist eine vielseitige Literatur entstanden, die nach den Ursachen für
diese Annahme innerer Zustände fragt. Die gängige Erklärung hat W. Sellars in
Empiricism and the Philosophy of Mind (dt. in: P. Bieri (Hg), Analytische Philosophie des Geistes, Bodenheim 1993, S.184-197) gegeben. Danach sei die Annahme
innerer Zustände durch die Erklärung des Verhaltens anderer entstanden. Rannte
jemand einem Pferd hinterher, so erklärte man sich dies eigenartige Verhalten durch
dessen Wunsch, das Tier zu fangen. Erst dann wurde diese Erklärungsart auch auf
das eigene Verhalten übertragen und geglaubt, innere Zustände seien unmittelbar
gegeben. - Mir scheint, daß aus der Sicht des eliminativen Materialismus diese Erklärungen nur vorläufige Rationalisierungen sind. Auf die Frage, warum Menschen
glauben, daß Nicht-Existentes existiert, können m.E. viele und verschiedene Antworten gegeben werden: sie glauben, was der Pfarrer oder ein 'großer Philosoph', der
Medizinmann oder ihr Politiker sagt; sie glauben, was ihnen irgendwie vernünftig
erscheint usw. Für den eliminativen Materialismus hängt nichts an diesen Erklärungen. Für ihn sind nur zwei Thesen zentral: 1. Mentale Zustände gibt es (aller Wahrscheinlichkeit nach) nicht; 2. Es kann Menschen geben, die (fälschlich) glauben, es
gibt mentale Zustände. Die Frage nach dem „Warum“ dieses Glaubens kann aus
dieser Sicht befriedigend erst beantwortet werden, wenn ein genauerer Kenntnisstand
über die Arbeitsweise des Gehirns erreicht worden sein wird.
Rainer Limmer/Alexander von Pechmann/Sybille Weicker
gen sind.“20 Die Festigkeit, mit der der gesunde Menschenverstand am
Glauben an seine inneren mentalen Zustände festhält, zeige nur einmal
mehr, wie schwer es seit jeher - von Anaxagoras angefangen, über Sokrates, Galilei bis hin zu Darwin - ist, wissenschaftliche Erkenntnisse gegen
die Vorurteile des gesunden Menschenverstand durchzusetzen. „Daß
eine wissenschaftlich plausible Theorie komisch klingt,“ so P.S. Churchland, „ist lediglich ein Anzeichen dafür, daß sie nicht zum Allgemeinwissen gehört, und nicht dafür, daß sie falsch ist.“21
So legt dieser moderne Materialismus in oft polemisch-erfrischender
Weise das alte Programm neu auf, alles Teleologisch-Intentionale aus der
Wissenschaft zu eskamotieren: In ihr gibt es nichts als physikalisch beschreibbare Prozesse, und deren Eigenschaften sind - physikalische Eigenschaften. In bester Aufklärungsmanier streitet er für die Auffassung,
daß die mentalistische Rede über innere Zustände uns bald ebenso alt
erscheinen wird, wie heute die mythologische oder die alchemistische
Rede. Er startet, gegründet auf die Neurowissenschaften, in der Tat
einen Generalangriff auf unseren gesunden Menschenverstand.
Die Dualisten
Die Gegner dieses Materialismus sind - zumindest in Deutschland höchst zahlreich, und wir vermuten, daß auch Sie sich zu ihnen zählen.
Sie halten, aus den unterschiedlichsten Gründen, daran fest, daß es mentale Zustände gibt. Dieser „Minimalkonsens“ der Gegner läßt sich in die
knappe These Searles fassen: „Bewußtsein ist wichtig“22; und daß es
daher sinnvoller und lohnender sei, darüber zu streiten, was Bewußtsein
ist und wie sein Dasein erklärt werden kann, statt dessen Existenz zu
leugnen. Gleichsam typologisch wollen wir dieses Lager der Gegner
unterscheiden: die „Dualisten“, die annehmen, daß unsere inneren Bewußtseinszustände letztlich nicht durch die Struktur und die Funktionsweise des Gehirns erklärbar sind, und die „anderen“, die eben dies annehmen und sich voneinander durch das Modell unterscheiden, von dem
20
P.M. Churchland, Scientific Realism and the Plasticity of Mind, London 1979,
S.114.
21 P.S. Churchland, Die Neurobiologie des Bewußtseins, a.aO., S.470.
22 J. Searle, Die Wiederentdeckung des Geistes, a.a.O., S.23.
Zur Philosophie des Geistes und Erkennens
sie sagen, es erkläre den Zusammenhang von Bewußtseins- und Gehirnzuständen.
Um die dualistische These von der Nicht-Eliminierbarkeit der inneren
Bewußtseinszustände zu erläutern, sei Mary vorgestellt, die den Sprung
zum literarischen Gegenstand geschafft hat, seit sie der Philosoph F.C.
Jackson 1984 kreiiert hatte.23 Mary ist eine Ausnahmeerscheinung im
Wissenschaftsbetrieb: sie weiß alles über die physiologischen Prozesse der
menschlichen Farbwahrnehmung auf ihrem Weg von der Netzhaut des
Auges bis zur Verarbeitung im Hinterhauptslappen. Sie hat nur ein Problem: sie hat bislang in einer Schwarz-Weiß-Welt gelebt und noch nie die
Farben erlebt, über deren Wahrnehmung sie alles weiß. Nun Gretchens
epistemologische Frage: gesetzt, Mary sieht Farben. Weiß sie dann etwas,
was sie bisher nicht wußte? Die Dualisten sagen: „ja“. „Es erscheint
einfach offensichtlich,“ sagt Jackson, „daß sie etwas über die Welt und
unser visuelles Erleben dieser Welt lernt.“24 Die Art dieses Wissens sei
ein „subjektives Erlebniswissen“, das sie nun in die Lage versetzt, zu
wissen, was sie bisher nicht wußte, nämlich wie Menschen Farbwahrnehmungen erleben. Insofern besitzt sie ein Tatsachenwissen, das sie
vorher nicht hatte, und wer sagt, dieses Wissen ist kein Wissen, liegt
falsch. Daher war Marys vollständiges Wissen über die menschliche
Farbwahrnehmung in Wirklichkeit ein „unvollständiges Wissen“. Zum
neurologischen Dritte-Person-Wissen muß das nicht-physikalische, phänomenologische Erste-Person-Wissen hinzukommen.
Auf diesem Argument des „unvollständigen Wissens“ beruht auch der
Einwand, den Th. Nagel schon 1974 gegen die physiologische Erklärbarkeit mentaler Zustände formuliert hat. Wir könnten alles über den
Aufbau, die Struktur, die Operationen und die Eigenschaften des
menschlichen Gehirns wissen, und wüßten doch nichts darüber, was all
dies für den Menschen ist (Nagel hat dies - verfremdend - an der Fledermaus durchgespielt: wir können alles über die Physiologie der Fledermaus wissen; als Nicht-Fledermäuse können wir nicht wissen, was
dies für sie ist.)25. Es bestehe daher zwischen der ersten Person, die sich
23
F. Jackson, What Mary didn't know. In: Journal of Philosophy 83, 1984, S.291-5.
Übersetzung nach: Th. Metzinger, Bewußtsein, a.a.O., S.253.
25 Th. Nagel, What Is It Like to Be a Bat? Philosophical Review 83 (1974), S.435-50
(dt. in: P. Bieri (Hg), Analytische Philosophie des Geistes, Königstein/Taunus 1993,
S.261-275).
24
Rainer Limmer/Alexander von Pechmann/Sybille Weicker
ihrer phänomenalen Zustände bewußt ist, und der dritten Person, die
durch ihr äußeres Verhalten und ihre neuronalen Zustände beobachtbar
und beschreibbar ist, eine Erklärungslücke, ein „explanatory gap“, der
nicht durch ein Mehr an Forschung geschlossen werden kann, sondern
der substanzieller Natur ist. Die Seinsweise der ersten Person ist nicht die
Seinsweise der dritten Person.
Auf diese Einwände folgten eine umfangreiche Debatten, wie dieses
„Sichwissen“ exakter zu fassen ist, und ob diese Erklärungslücke vielleicht doch zu schließen ist26. Statt sie hier zu referieren, wollen wir auf
das Problem eingehen, wie die Entstehung solcher erlebensfähiger „IchZentren“ erklärt werden kann. Denn auf den ersten Blick scheint die
Theorie vom Dualismus der ersten und dritten Person sowohl mit unserem Menschenverstand als auch mit den Gesetzen der Logik übereinzustimmen. Zum einen erscheint die Auffassung höchst plausibel, daß wir
zwar mit unserem Gehirn wahrnehmen, daß aber das, was wir erleben,
davon unterschieden ist; daß also die Physiologie unserer Farbwahrnehmung nicht die Psychologie unseres Farberlebnisses ist. Und zum anderen wird hier auch nicht behauptet, daß Nicht-Physikalisches in irgendeiner Weise eine physikalische Eigenschaft sei, sondern daß beides eben
getrennte „Seinsbereiche“ sind: Ich - Natur. Ein ganzes Problemfeld tut
sich jedoch auf, wenn wir fragen, wie diese „Ich-Zentren“ denn entstehen. Denn wenn es sie gibt, so muß legitimerweise auch gefragt werden
können, wie sie entstanden sind. Auf diese Frage kommen mindestens
drei mögliche Antwortsstrategien in Betracht. Eine Strategie wäre, diese
Frage zu verbieten. Denn, so das transzendentale Argument, das „IchZentrum“ darf nicht als ein objektives „Ding“ verstanden werden (nach
dessen Entstehen man fragt), sondern ist der Fragende selbst, der daher
in der Frage sich je schon voraussetzt. Aus diesem Grund ist die Frage
nach der Entsehung des Ich falsch gestellt; sie beruht auf einem Kategorienfehler. Oder aber man gibt eine kosmologische Antwort und sagt,
daß im mittelpunktlosen Universum plötzlich Ich-Zentren, Brennpunkte
des Bewußtseins, entstehen. In diesem Fall hängt die Antwort an dem
„plötzlich“. Verstehen wir dies so, daß diese Ich-Zentren (plötzlich) aus
26
siehe u.a. M. Nida-Rümelin, Was Mary nicht wissen konnte. Phänomenale Zustände als Gegenstand von Überzeugungen. In: Th. Metzinger, Bewußtsein, a.a.O., S.259282.
Zur Philosophie des Geistes und Erkennens
gewissen Bedingungen des mittelpunktlosen Universums entstehen, dann
ist nicht mehr einsichtig, warum die Existenz der Zentren nicht aus diesen materiellen Bedingungen erklärbar sein soll. Das Argument des „unvollständigen Wissens“ bricht zusammen. Oder aber wir nehmen an, sie
entstehen zwar im Universum, aber nicht aus dem Universum, dann tritt
an die Stelle einer klaren Antwort die ratlose Frage: „wie aber dann?“ Die
dritte Strategie schließlich führt in die traditionelle Seelenlehre zurück
und nimmt an, daß diese Ich-Zentren unentstanden und unvergänglich
sind, daß sie nur hier und jetzt an ein materielles Gehirn gebunden sind,
daß vormals und dereinst aber ... - Alle diese drei möglichen Antworten
auf die Entstehensfrage dieser Ich-Zentren: das „Frageverbot“, das
„Plötzlichkeits-Argument“ und die „Unsterblichkeitsthese“, sind bei
weitem nicht so evident wie die Annahme, daß ich es bin, der erlebt.
Der nicht-reduktive Materialismus
Diese Position schließlich kramt sich aus beiden das Beste heraus. Sie
nimmt auf der einen Seite - entgegen den eliminativen Materialisten - an,
daß es mentale Zustände gibt, und auf der anderen Seite - entgegen den
Dualisten -, daß diese mentalen Zustände entstanden sind und ihre Existenz erklärbar ist. Sie repräsentiert gewissermaßen den „wissenschaftlichen Normalverstand“, dem die geistigen Zustände „Produkte“ der
menschlichen Gehirnprozesse sind. Auf der Grundlage dieser Annahme
stellt sich daher nicht mehr die philosophische Frage, ob es Geistiges
überhaupt gibt, sondern die empirisch-wissenschaftliche Frage, wie es dies
gibt. Die Antwort auf diese Frage kann nun nicht mehr vom Lehnstuhl
des Philosophen, durch introspektive Evidenzen, durch die Zergliederung von Begriffen oder durch historische Betrachtungen, gegeben werden, sondern nur durch die experimentelle Erforschung der Gehirntätigkeit. Um zu wissen, wie geistige Zustände erzeugt werden, so der philosophiekritische Impetus, muß man das Gehirn anschauen, was es ist und
wie es arbeitet. - Die kontroversen Fragen, die sich auf dieser Ebene
stellen, sind zum einen die Modalitätsfrage, ob ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen Bewußtsein und Gehirntätigkeit besteht, oder ob
Bewußtsein auch durch andere materielle Substrate erzeugt werden kann;
zum anderen die strategisch-technische Frage, wo im Komplex des Gehirns anzusetzen ist, um die Entstehung von Bewußtsein zu erklären.
Rainer Limmer/Alexander von Pechmann/Sybille Weicker
a) der Funktionalismus: diese mit der Computer-Euphorie entstandene und
wohl weitgehend vertraute Konzeption nimmt an, daß das menschliche
Gehirn seinem Wesen nach eine informationsverarbeitende Maschine
und das Bewußtsein als Funktion unseres Gehirnsystems beschreibbar
ist. Während es in diesem Fall den „Ingenieuren“ eher darum geht, den
Konstruktionsplan des Zentralnervensystems und die Arbeitsweise dieser Maschine aufzudecken und ggf. zu rekonstruieren, geht es den „Programmierern“ um die Software, um den Algorithmus der Algorithmen,
der dem Menschen koordiniertes und intelligentes Verhalten ermöglicht.27 In diesem Fall gilt es als die Aufgabe der Computer- und/oder
Kognitionswissenschaft, unser internes verhaltenssteuerndes System
aufzudecken. Allgemein vertritt der „Funktionalismus“ die heute sehr
umstrittene Auffassung der Computerfreaks, daß unsere mentalen Zustände auf Mechanismen beruhen, die auch von anderen Systemen als
dem menschlichen Gehirn realisiert werden können, daß also auch
künstliche Maschinen Bewußtseinszustände haben können. Er ist in
dieser Hinsicht „ontologisch neutral“28.
b) Das eher abseitige „Quanten-Modell“ sucht den Zugang zum Bewußtsein nicht abstrakt auf der Ebene der Informationsverarbeitung,
sondern konkret auf der sub-neuronalen Mikroebene. Hier gilt als das
erklärungsbedürftige Phänomen des Bewußtseins nicht dessen verhaltenssteuernde Funktion, sondern seine Fähigkeit zur intuitiven, unberechenbaren und daher nicht-algorithmischen Erkenntnisart. Die Ursache
27
Eine dezidierte Auffassung vertritt noch heute D. Dennett, der das Bewußtsein als
eine virtuelle Maschine beschreibt, die durch das Gehirn simuliert wird. Sowenig es
bei einer Flugsimulation durch den Computer Sinn macht, nach dem „wirklichen
Cockpit“ oder nach dem „Cockpit im Computer“ zu suchen, so mache es keinen
Sinn, die Ursache unserer Bewußtseinszustände in der „Realität“ oder im „Gehirn“
zu suchen. Das Bewußtsein gehorche seiner internen Logik. (siehe D. Dennett,
Consciousness Explained, Boston 1991; ders., COG: Schritte in Richtung auf Bewußtsein in Robotern. In: Th. Metzinger, Bewußtsein, a.a.O., S.691-712) - Ähnlich
G. Ray: „Phänomene wie z.B. Wahrnehmungszustände, intentionale Zustände,
intentionale Zustände über intentionale Zustände (Gedanken über Gedanken über
Gedanken...), ... sind meiner Meinung nach alle mit relativ wenig Schwierigkeiten auf
existierenden Computerprogrammen zu programmieren.“ Annäherung an eine projektivistische Theorie bewußten Erlebens. In: Th. Metzinger, Bewußtsein, a.a.O.,
S.159)
28 P. Bieri, Analytische Philosophie des Geistes, a.a.O., S.50.
Zur Philosophie des Geistes und Erkennens
für diese Fähigkeit des Bewußtseins könne nicht, so sagt etwa R. Penrose, auf der Makroebene des neuronalen Netzwerkes liegen, das mit den
Kausalgesetzen der klassischen Physik beschreibbar ist, sondern sei in
Vorgängen im Inneren der Nervenzellen zu suchen, die nur mit den
Mitteln der Quantenmechanik interpretierbar sind.29 Dieses quantenmechanische Erklärungskonzept von Bewußtsein erinnert doch recht stark
an die vormalige These, die Quantensprünge der Elementarteilchen als
„Beweis“ für die Existenz von Freiheit in der Welt einzusetzen.
Das derzeit erfolgversprechendste Erklärungsmodell läßt sich unter den
Namen „biologischer Materialismus“ fassen. Dieser verpricht sich wenig
von einer bloß funktionalistischen Modellierung oder eines partikularen
Zugangs zur subneuronalen Ebene des Gehirns, sondern von der Erforschung des Gesamtkomplexes des menschlichen Gehirns selbst. Nach diesem Modell ist der Schlüssel zum Bewußtsein nicht der Computer und
auch nicht die Nervenzellinnere, sondern die Biologie des menschlichen
Gehirns.30 Dementsprechend werden die Überlegungen, ob intelligent
geordnete Blechkisten oder extraterristische Wesen Bewußtsein haben
können, als abwegig und irreführend abgetan. Hier konzentriert sich die
Erforschung auf das menschliche Gehirn als Gesamtsystem. Unter dieser
gemeinsamen Voraussetzung werden derzeit zwei unterschiedliche Zugänge gewählt: der evolutionstheoretisch-biologische und strukturalistisch-interdisziplinäre.
29
Hameroff und Penrose nehmen an, daß im Inneren der Nervenzellen, in den
Mikrotubuli, gravitative Quanteneffekte stattfinden, die, unvorhersehbar, Signalübertragungen modifizieren und die Aktivitätsmuster der Hirntätigkeit ändern. (siehe S.R.
Hameroff, Quantum Coherence in Microtubules: A neural basis for emergent consciousness? In: Journal of Conscienceness Studies 1 (1994), S.98-118; R. Penrose,
Computerdenken. Des Kaisers neue Kleider oder die Debatte um Künstliche Intelligenz, Bewußtsein und die Gesetze der Physik, Heidelberg 1991; ders., Schatten des
Geistes, Heidelberg 1994. - Zur Kritik: R. Grush/P.S. Churchland, Lücken im Penrose-Parkett. In: Th. Metzinger, a.a.O., S.221-249.)
Auch wenn hier das Bewußtsein physikalisch erklärt wird, so ist dieses Modell
schwerlich unter das Materialismus-Schema zu bringen. Denn insbesondere Penrose
entdeckt in dieser Übereinstimmung von physischen und mentalen Vorgängen die
Harmonie eines großen Weltbewußtseins.
30 Dies bedeutet insbesondere, daß die Frage, ob Computer oder irgendwelche extraterristische Wesen auch Bewußtsein haben, als irreführend abgetan werden. Der Weg
der Computerfreaks, durch gewitzte Programme oder durch ausgeklügelte Chipproduktionen mentale Zustände zu erzeugen oder zu simulieren, habe in Hinblick auf
eine „Wissenschaft des Bewußtseins“ nichts ergeben.
Rainer Limmer/Alexander von Pechmann/Sybille Weicker
Der evolutionstheoretische Ansatz besteht in der historisch-genetischen
Rekonstruktion der Bewußtseinsentstehung: Wenn das Bewußtsein evolutionär entstanden ist, dann muß es, sagt einer seiner Vertreter, der
Biochemiker G.M. Edelman, „Wege geben, den Geist zur Natur zurückkehren zu lassen, die denen entsprechen, auf denen er in sie hineingekommen ist.“31 Hier wird der Versuch unternommen, die Ausbildung
des menschlichen Gehirns sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch
mithilfe des Darwinschen Mechanismus von Kopie, Variation und Wettbewerb zu rekonstruieren. Diese Theorie des „neuralen Darwinismus“
nimmt an, daß sich aufgrund genetischer Dispositionen und unter dem
Druck der Umwelt insbesondere im Großhirn neuronale Muster ausbilden und nach dem trial-an-error-Verfahren stabilisieren, deren Aktivitäten unser Bewußtsein repräsentieren. Im Zentrum dieses Modells steht
die Biologie des Gehirns als eines „lernenden Systems“: die Ausbildung
neuronaler Aktivitätsstrukturen, die uns ein umweltgerechtes und überlebensfähiges Verhalten ermöglichen.32
Neben diesem evolutionstheoretischen Ansatz, der in der Biologie den
Schlüssel zum Gehirn sieht, steht das strukturalistische Modell. Es setzt
bei der Erforschung des Gehirns auf die Kooperation der klinischen und
experimentellen Psychologie und der Neurologie und -chirurgie, die die
relevanten Daten erhebt und sichert, sowie auf die Biochemie, die den
biochemischen Mechanismen der Gehirntätigkeit erklärt und beschreibt.
Dieser Ansatz vertritt am dezidiertesten die Auffassung, daß die materialistische These, der Geist sei das Produkt des menschlichen Gehirns,
nicht als ein weltanschaulicher Grundsatz oder als eine Schlußfolgerung
aus Wissenschaftserkenntnissen zu verstehen sei, sondern als heuristischer Leitsatz zur Erforschung der Entstehung mentaler Zustände. Sie
macht keine Apriori-Aussagen über den Zusammenhang von Gehirn
und Bewußtsein, sondern formuliert experimentell nachprüfbare Hypothesen.
31
Andreas Sentker, Wie kommt die Welt in den Kopf? In: Die Zeit, 50/1995, S.45.
G.M. Edelman, Unser Gehirn, ein dynamisches System: die Theorie des neuronalen Darwinismus und die biologischen Grundlagen der Wahrnehmung, München
1987; ders., Göttliche Luft, vernichtendes Feuer. Wie der Geist im Gehirn entsteht,
München 1995; W.H. Calvin/G.A. Ojemann, Einsicht ins Gehirn. Wie Denken und
Sprache entstehen, München/Wien 1995.
32
Zur Philosophie des Geistes und Erkennens
Soweit sich diese neurowissenschaftliche Forschung überblicken läßt,
konzentriert sie sich derzeit auf vier Einzelfelder: a) die visuelle Wahrnehmung, weil hier das vorhandene Material am reichhaltigsten ist, und
sie vielleicht den Schlüssel zur Kenntnis anderer Felder bietet;33 b) die
Anästhesie34 und c) der Zustandswechsel von Schlaf-Traum-Wachheit,35
weil aus der Kenntnis des Komazustands und des Wecksystems Einsichten für unseren Bewußtseinszustand gewonnen werden können; sowie d)
der Aufbau der neuralen Repräsentation unseres Körpers, der das Modell
für die Repräsentationen abgeben könnte, in denen wir uns als das „IchZentrum“ erleben.36
Dabei steht zur Zeit die Hypothese im Mittelpunkt, unser Bewußtsein sei
auf Synchronisationsleistungen des Gehirns zurückzuführen, das die neuronalen Netze zu raum-zeitlichen Mustern aktivieren. Hierbei kommen insbesondere die neuronalen Verbindungen zwischen dem Thalamus im Zwischenhirn und dem Cortex in Betracht.37 Jedenfalls schließt man diese
neuronale Aktivität aus dem Vorhandensein einer stabilen 40-HertzFrequenz im Wach- und Schlafzustand, die im Tiefschlaf verschwindet38,
und aus anderen klinischen und experimentellen Daten. Näherhin ist
diese synchrone Aktivität als ein Paar gekoppelter Oszillatoren konzipiert
worden, deren einer den Gehalt, der andere den integrativen Kontext
repräsentiere.39
In diesem neurowissenschaftlichen Kontext gewinnt der Begriff der
Emergenz an Bedeutung. Dieser Begriff dient zunächst einmal nur der
Beschreibung dieses Ansatzes, nach dem zum einen die Basis des Bewußtseins das menschliche Gehirn ist, bzw. bestimmte mentale Zustände
33
F. Crick/C. Koch, Towards a neurobiological theory of consciousness, Seminar in
the Neurosciences 4, S.263-76; F. Crick, Was die Seele wirklich ist. München 1994.
34 H. Flohr, Qualia and Brain Processes. In: A. Beckermann u.a. (Hg), Emergence or
Reduktion? Berlin 1992, S.220-238.
35 R.R. Llinas/D. Pare, Of dreaming and wakefulness, Neuroscience 44 (1991),
S.521-35.
36 A.R. Damasio, Descartes' Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn,
München 1995.
37 F. Crick, Function of the thalamic reticular complex: The searchlight hypothesis,
Proceedings of the National Academy of Science 81 (1984), S.4586-90.
38 R.R. Llinas/U.Ribary, Coherent 40-Hz oszillation charakterizes dream stat in
humans, Proc. Nat. Acad. Sci. 90 (1993), S,2078-81.
39 zu dem Gesamtkomplex siehe Th. Metzingers Versuch: Ganzheit, Homogenität
und Zeitkodierung. In: ders., Bewußtsein, a.a.O., S.595-639.
Rainer Limmer/Alexander von Pechmann/Sybille Weicker
an jeweils bestimmte Zustände des neuronalen Gesamtsystems gebunden sind; zum anderen aber das Bewußtsein selbst eine Eigenschaft ist,
die das Gehirn zwar hervorbringt, die es aber selbst nicht hat. „Wut“
wäre demnach eine emergente Eigenschaft, die unser Gehirn zwar hervorbringt, in dem es aber selbst sich nicht befindet. Der Begriff der „Emergenz“ beschreibt hier zunächst nur unsere Intuition, daß wir, nicht
unser Gehirn, wütend sind. Er soll dem materialistischen Ansatz genügen, daß der Geist das Produkt des Gehirns ist, und zugleich der Ansicht
Rechnung tragen, daß Geistiges nichts Physisches ist. Er ist, so scheint es
bislang, ein schönes Wort für Unvereinbares.40 - An der Einlösung und
Auffüllung dieses Begriffs könnte entschieden werden, ob der neurowissenschaftliche Forschungsansatz erfolgreich ist. Scheitert er, so wäre dies
das Eingeständnis, daß der Vorgang des „Emergierens“ des Geistigen
aus dem Gehirn nicht beschreibbar ist; hat er Erfolg, so würde der Begriff überflüssig. Die dritte Möglichkeit schließlich wäre, in den neurowissenschaftlichen Ansatz allgemeinere Aussagen über die Art der selbstorganisierenden Strukturbildung materieller Systeme fernab vom Gleichgewicht, über die Synergetik und das Chaos-Verhalten zu integrieren, um
auf diesem Weg das Bewußtsein als emergente Eigenschaft des neuronalen Gesamtsystem erklären zu können.41 Dies ist zur Zeit im Fluß der
Forschung und Theoriebildung.42
Statt die Fachdiskussion hier zu vertiefen, wollen wir zum Abschluß auf
die epistemologische Antinomie verweisen, in den dieser physiologische
Materialismus gerät. Nehmen wir an, daß es in der Tat so ist, daß all
unsere mentalen Zustände emergente Eigenschaften unseres Gehirns
sind, - wie können wir diese Tatsache dann wissen? Denn was wir wis40
A. Stephan/A. Beckermann: „Die Verwendung des Emergenzbegriffs zur Definition des nichtreduktiven Physikalismus beansprucht freilich nicht, das psychophysische Problem 'gelöst' zu haben. Was sie allerdings leistet, ist, eine der wichtigsten
Positionen in der Philosophie des Geistes klar und przise zu formulieren.“ Emergenz. In: Inforamtion Philosophie 3 ( 1994), S.51.
41 vgl. W. Krohn/G. Küppers (Hg), Emergenz: Die Entstehung von Ordnung,
Organisation und Bedeutung, Frankfurt/Main 1992.
42 Vielleicht hat G. Roth Recht, wenn er sagt, daß für diese „Nichtabtrennbarkeit
von Geist“ erst eine „gemeinsame psychoneuronale Begriffs- und Erklärungssprache
zu finden ist“ (Phantasie und feuernde Neuronen. In: Die Zeit 14 (1996), S.34).
„Emergenz“ bezeichnete das Unvermögen, das in dualistischer Sprache Unausdrückbare auszudrücken.
Zur Philosophie des Geistes und Erkennens
sen, ist nur, daß dieses Wissen ein innerer Zustand ist, den die neuronale
Aktivität unseres Gehirns erzeugt. Unser Wissen, so müßte man auf der
Grundlage dieses Wissens sagen, bezieht sich nicht auf die Tatsache, daß
unsere mentalen Zustände emergente Eigenschaften unseres Gehirns
sind, sondern auf einen gewisses neuronales Aktivitätsmuster, daß diesen
Wissenszustand erzeugt. Wir haben, so könnten wir die Antinomie formulieren, aufgrund dieses Tatsachenwissens kein Tatsachenwissen, sondern nur gewisse mentale innere Zustände. Aus diesem epistemologischen Widerspruch hat nun G. Roth den Schluß gezogen, daß wir unterscheiden müssen: unser Bild vom Gehirn als interne mentale
Repräsentation, das er die „Wirklichkeit des Gehirns“ nennt, und das Gehirn, das dieses Bild vom Gehirn erzeugt, das er als die „Realität des Gehirns“ bezeichnet. Über diese Realität des Gehirns an sich können wir
nichts wissen; wir wissen nur über die Wirklichkeit des Gehirns, so wie
es in unserem Bewußtsein ist. Doch diese Unterscheidung zwischen
Nicht-Wissen und Wissen, die G. Roth trifft, ist nicht konsistent; denn
gerade das Wissen, was das Gehirn an sich ist, nämlich der Produzent der
Geistigen, bringt ja die Aporie hervor. Nähmen wir an, daß das Gehirn
eine funktionslose Eiweißmasse in unserem Körper wäre, und unsere
mentalen Zustände von etwas anderem hervorgebracht würden, durch
dämonische Einflüsterungen etwa, dann verschwände diese Aporie. Weil
wir dies aber nicht annehmen, entsteht sie. Es scheint so, als könne auch
der physiologische Materialismus seinen eigenen Standpunkt letztlich
nicht widerspruchsfrei begründen.
Erkenntnis und Kognition
Auch im Fall der Erkenntnistheorie ist letztlich Descartes der Ahnherr
der Debatte. Denn seiner radikalen Fragestellung, wie wir überhaupt
sichere Gewißheit erlangen, verdanken wir nicht nur die ontologische
Unterscheidung von Geist und Materie in zwei Substanzen, sondern
auch die Spaltung in das Ich als erkennendes Subjekt und in die Außenwelt als das zu erkennende Objekt. War es bei Descartes allein das klare
und deutliche Denken, die mathematische Logik, die die wahre Erkenntnis der Außenwelt ermöglichte43, behaupteten bald darauf die Empiristen
Locke und Hume, daß die wahre Erkenntnis nur auf Empirie, auf der
43
„Ich weiß jetzt, daß die Körper nicht eigentlich von den Sinnen oder von der
Einbildungskraft, sondern von dem Verstand allein wahrgenommen werden.“ R.
Descartes, Meditationen über die Erste Philosophie, Stuttgart, 1986, S.97.
Rainer Limmer/Alexander von Pechmann/Sybille Weicker
Beobachtung und Empfindung, gründet. Kant schlichtete zwar diesen
Streit zwischen den Rationalisten und Empiristen, indem er sagte, beides,
Denken und Sinne, gehören zur Erkenntnis, aber er warf dafür ein neues
erkenntnistheoretisches Problem auf: wir können prinzipiell nur erkennen, wie die Außenwelt für uns ist, aber nicht, wie sie an sich ist.
Aus dieser Debatte um die wahre Erkenntnis hatte der psychologische
Begriff der Kognition sich zunächst allerdings herausgelöst. Er bezeichnete nicht die Möglichkeit von Erkenntnis, sondern umfaßte all die Tätigkeiten, die für die faktische Erkenntnis notwendig sind: Wahrnehmen,
Gedächtnis, Lernen und Denken. In den 50er Jahren entwickelte sich
dann aus der Abkehr vom Behaviorismus, der die Erkenntnisprozesse,
die menschlichem Handeln zugrunde liegen, aus seinen Untersuchungen
ausgeklammert hatte, eine Richtung, die sich gerade diesen Prozessen
zuwandte und die heute als Kognitionswissenschaft bekannt ist. Zuerst ging
es hier darum, die abstraktesten geistigen Leistungen, wie das logische
und rechnende Denken, im Sinne von Symbolverarbeitung zu erfassen
und auf digitale Computer zu übertragen. Mit der Entwicklung der medizinischen Gehirnforschung zeigte sich allerdings bald, daß unser Kognitionsapparat, das Gehirn, nicht wie eine Rechenmaschine funktioniert.
Als dann auch die Biologie der Gehirnforschung zuwandte und die Kognition in den Dienst des Überlebens stellte, entwickelten sich bald unterschiedliche Theorien über die Kognition. Und es war nun wieder die
klassische Frage nach der Außenwelt bzw. deren Erkennbarkeit, an der
sich die Geister schieden. Bestehen unsere kognitiven Prozesse in der
Widerspiegelung einer von uns unabhängigen Umwelt oder sind wir es
selbst, die unsere Umwelt schaffen? Stehen unsere „internen Repräsentationen“ als Stellvertreter für externe Vorgänge in einem strukturellen
Zusammenhang zur Außenwelt (im Sinne einer Abbild-Relation) oder
sind Aussagen solcher Art lediglich Beschreibungen eines Beobachters
für systeminterne Vorgänge unseres Gehirns? Und weiter, ist es überhaupt möglich, allein durch kognitive Leistungen ein Wissen über die
Außenwelt zu erlangen, oder setzt dieses Wissen eine sinnlich-praktische
Erfahrung mit der Welt voraus?
Mit den Fortschritten der experimentellen Erforschung der kognitiven
Prozesse wächst der Zweifel an der Gültigkeit eines naiv realistischen
Erkenntnistheorie, die annimmt, wir könnten uns über die Begrenzthei-
Zur Philosophie des Geistes und Erkennens
ten unseres Kognitionsapparates hinwegsetzen und die Welt erkennen,
„wie sie ist“. Dies gilt auch für die Erkenntnis der Erkenntnis: wir können nicht gewissermaßen von einer externen „göttlichen Position“ aus Klarheit über die Funktionsweise des menschlichen Geistes gewinnen,
weil wir in der Organisation unseres Wahrnehmungs- und Denkapparates gefangenbleiben. Die Schlußfolgerungen, die von Neurobiologen,
Psychologen und Medizinern aufgrund ihrer Forschungen am menschlichen Gehirn in Bezug auf die menschliche Erkenntnis gezogen werden,
könnten unterschiedlicher nicht sein. Sie reichen von der idealistischen
Position des Konstruktivismus über die „dualistische“ Position von
Kognitionswissenschaftlern bis zu Positionen, die das menschliche Handeln einbeziehen und auf den Erkenntnisprozeß rückbeziehen und mit
dialektisch-materialistischen Auffassungen vergleichbar sind.
Der Konstruktivismus oder: Wie wir unsere Welt erzeugen
Der Konstruktivismus bricht mit der traditionellen Vorstellung von der
Erkenntnis als Abbild einer unabhängigen Wirklichkeit. Ontologische
Aussagen über die Welt, wie sie „wirklich“ ist, seien nicht möglich, da
wir lediglich über unsere eigenen Bewußtseinszustände verfügen. Eine
Überprüfung dieser Bewußtseinszustände an der Realität sei ebenfalls
nicht möglich, da wir nicht außerhalb unserer selbst treten können. Erkenntnis besteht demnach nicht im Erfassen einer „objektiven Realität“,
sondern dient der Organisation der Erfahrungswelt eines Individuums
bei der Überlebenssicherung. Wissen wird vom Subjekt aktiv aufgebaut
(konstruiert) und legitimiert sich durch seine Anwendung44.
Diesen konstruktivistischen Ansatz suchten Neurobiologen wie H. Maturana und G. Roth aufgrund empirischer Forschungen an Gehirnen von
Tieren argumentativ zu untermauern. Dabei zeigte sich jedoch, daß der
44
„Wissen wird vom lebenden Organismus aufgebaut, um den an und für sich formlosen Fluß des Erlebens soweit wie möglich in wiederholbare Erlebnisse und relativ
verläßliche Beziehungen zwischen diesen zu ordnen. Die Möglichkeiten, so eine
Ordnung zu konstruieren, werden stets durch die vorhergehenden Schritte in der
Konstruktion bestimmt. Das heißt, daß die „wirkliche“ Welt sich ausschließlich dort
offenbart, wo unsere Konstruktionen scheitern.“ (E. v.Glasersfeld, Einführung in
den radikalen Konstruktivismus. In: P. Watzlawick (Hg), Die erfundene Wirklichkeit,
München 1986, S.37) - siehe auch Rezension: S.
Rainer Limmer/Alexander von Pechmann/Sybille Weicker
Konstruktivismus kein einheitliches Paradigma darstellt; denn obwohl
beide Forscher von der Subjektabhängigkeit jeglicher Erkenntnis ausgehen, unterscheiden sie sich wesentlich in der Begründung und in den sich
daraus ergebenden Konsequenzen für das menschliche Erkennen.
Anhand von Tierversuchen konnte Maturana zeigen, daß der Wahrnehmungsapparat von Lebewesen ein autopoietisches System ist. Es erzeugt
und erhält sich selbst und ist strukturdeterminiert, das heißt: sämtliche
Aktivitäten werden durch die interne biologische Struktur des Erkenntnisorgans und nicht durch die Umgebung bestimmt. Für die interne Dynamik existiert die Außenwelt nicht; hier finden nur interne Veränderungen im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der autopoietischen Organisation statt. Dabei operiert das Nervensystem als operational geschlossenes
Netzwerk neuronaler Ensembles. - Für die Erkenntnis dieser Erkenntnis
erweist sich in Maturanas Ansatz nun die Instanz des Beobachters als
wesentlich. Aus der Außenperspektive können wir als Beobachter die
Interaktionen von Lebewesen mit ihrer Umwelt feststellen. Hier wird die
Innenansicht irrelevant. Der Beobachter unterscheidet Einheiten, indem
er sie von anderen Einheiten und vom Hintergrund abtrennt, und erzeugt durch diese Unterscheidung, Abgrenzung und Absonderung eines
Phänomens von seiner Umgebung Realität. Dieses Setzen eines Unterschieds ermöglicht Wahrnehmung und die höheren kognitiven Prozesse.
Für Maturana ist der Beobachter jedoch in der Lage, sowohl die Innenwie auch die Außenperspektive lebender Systeme einzunehmen. Beide
Perspektiven überlappen sich nicht und werden ausschließlich vom Beobachter in einen Zusammenhang gestellt. Nur der Mensch sei aufgrund
seiner Ausbildung der Sprache fähig, als Beobachter zu fungieren45. So
erweist sich Maturanas konstruktivistischem Modell die Realität zwar als
subjektabhängig, als beobachter-relativ, jedoch keinesfalls als solipsistisch, da die sprachlichen Fähigkeiten, als Voraussetzung der Beobachtungen, sich nur in einer intensiven sozialen Lebeweise entwickeln
können.
45
„Der Beobachter ist ein Mensch, wie er spricht, und dabei Unterscheidungen trifft
und Beschreibungen anfertigt. Wir alle sind Beobachter. Wir sind nicht mehr und
auch nicht weniger als das.“ (H. Maturana/J.F. Varela, Der Baum der Erkenntnis,
München 1987.) Maturana 1990 S.58:
Zur Philosophie des Geistes und Erkennens
Für Maturana entsteht Erkenntnis konstruktivistisch durch die Zuschreibung eines Beobachters, die in einem sprachlich verfaßten sozialen
Rahmen geschieht. Daher, so seine Schlußfolgerung, wird die Erforschung des menschlichen Gehirns weder unser Wissen über die Kognition noch über das Bewußtsein erweitern; sie wird lediglich unsere Zuschreibungen von neuronalen Prozessen mit bestimmten Verhaltensweisen spezifizieren.46 Anders hingegen die Position von G. Roth, dessen
konstruktivistische Sichtweise sich gerade auf die Arbeits- und Funktionsweise unseres Gehirns stützt. Dabei nimmt er besonders auf die
menschliche Wahrnehmung Bezug und zeigt deren konstruktiven Charakter auf. Einmal ist die menschliche Wahrnehmung äußerst selektiv:
wir nehmen faktisch nur einen kleinen Ausschnitt der Umweltereignisse
auf, und wir können auch nicht mehr. Schwerer wiegt für ihn jedoch die
Tatsache, daß unsere Sinnesorgane lediglich physikalische und chemische
Primärreize aufnehmen und diese „Rohdaten“ in neutrale elektrischchemischen Größen umwandeln. Dabei werden Umweltereignisse hinsichtlich ihrer spezifischen Gehalte codiert: die Intensität über die Frequenz der neuronalen Entladung, die Zeitstruktur/Dauer über Beginn und
Ende eines Reizes, die Modalität und Qualität über getrennte Verarbeitungsbahnen und Verarbeitungsorte. Die Zusammenbindung dieser
räumlich verteilten Informationen zu einem Gesamtbild erfolgt jedoch
ausschließlich aufgrund interner Kriterien des Gehirns. Diese mögen
angeboren sein oder sich infolge erfolgreicher Anwendung vielfach bewährt haben, - es sind interne Kriterien und nicht die Außenwelt, die die
Basis unserer Erkenntnis bilden47.
Da sich demnach bereits die sinnliche Wahrnehmung als Konstruktion
unseres Gehirns erweist, so Roths Argumentation, gilt dies in umso höherem Maße für komplexe kognitive Vorgänge. Die Wirklichkeit, wie wir
sie erleben, unser Körper, unser Bewußtsein und Selbstbewußtsein, sind
sämtlich Konstruktionen unseres Gehirns. Auch unser Wissen über das
Gehirn sei lediglich die Konstruktion unseres Gehirns über sich selbst.
46
Vgl. Maturana 1990 S.47
Vgl. G. Roth, Die Konstruktivität des Gehirns. In: H.R. Fischer, Die Wirklichkeit
des Konstruktivismus, Heidelberg 1995, S.47-63.
47
Rainer Limmer/Alexander von Pechmann/Sybille Weicker
Eine Realität außerhalb dieser Konstruktionen, müssen wir annehmen,
ist für uns nicht erkennbar48.
Findet wir im konstruktivistischen Modell H. Maturanas Parallelen und
Anknüpfungspunkte zu diskurstheoretischen Überlegungen M. Foucaults oder J. Butlers, nach denen das Erkenntnissubjekt und sein Gegenstand erst im Diskurs erzeugt werden, so knüpft Roth eher an die
cartesianische Tradition der Unterscheidung von Ich und Außenwelt an.
Der Erkenntniszugang zur Welt an sich, der Realität, bleibt uns der Natur unseres Gehirns wegen versperrt; wir können und müssen zwar Modelle über die Realität entwickeln, dürfen aber keine objektive Gültigkeit
für sie beanspruchen.
Berechnung der Welt oder direkte Wahrnehmung
Leugnet der Konstruktivismus eine Beziehung zwischen der Außenwelt
und unserer Wahrnehmung bzw. sieht in dieser Beziehung keine Eindeutigkeit, aus der wir Wissen ableiten können, so steht für Wahrnehmungspsychologen und Kognitionswissenschaftler eine derartige Beziehung
außer Frage. Die Art und Weise, wie sie aussehen könnte, und welchen
Einfluß die Umwelt auf die interne Informationsaufnahme und -verarbeitung besitzt, unterscheidet die verschiedenen Forschungsstrategien.
So geht der Kognitivismus davon aus, daß die Informationen aus der
Umwelt in der Form mathematisierbarer Abbildrelationen im Gehirn
repräsentiert sind. So sei die visuelle Wahrnehmung die Konstruktion
effizienter symbolischer Beschreibungen von Bildern, die man in der
Welt antrifft. Wie Roth gehen die Konstruktivisten davon aus, daß die
direkte Wahrnehmung nur in der Form physikalischer Primärreize existiert, die auf einer unteren Ebene zunächst in bestimmte neuronale Erregungsmuster verrechnet werden. Diese ersten Repräsentationen, die
räumlich im Gehirn verteilt sind, werden dann aufgrund angeborener
und erworbener Mechanismen weiterverarbeitet und verbunden. Der
gesamte Vorgang läuft automatisch und unbewußt ab, nur das Ergebnis
dieses Prozesses wird uns bewußt. Bewußtsein, so die Hypothese, sei
48
Vgl. G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt/Main 1996, Kap. 13
und 14.
Zur Philosophie des Geistes und Erkennens
nichts als die neuronale Aktivität in bestimmten kortikalen Schichten und
deren Rückkoppelung zum Thalamus49.
In diesem Modell wird der Bezug zur Außenwelt durch die streng komputationale Beziehung zwischen den physikalischen Primärreizen und
ihrer Verarbeitung gewährleistet. Zwar glaubt man heute in den Kognitionswissenschaften nicht mehr, unser Gehirn arbeite ausschließlich wie
ein digitaler Computer. Denn zum einen zeigte sich, daß Fertigkeiten der
alltäglichen menschlichen Intelligenz, wie Objekterkennung, Lernen,
Gedächtnis, sich auf digitalen Computern nicht darstellen lassen, und
zum anderen konnte die moderne Gehirnforschung nachweisen, daß bei
komplexen kognitiven Leistungen viele unterschiedliche Regionen im
Gehirn aktiv sind. Dennoch hielt man hier an der Vorstellung fest, unser
Gehirn arbeite wir eine große Rechenmaschine. Aus der Tatsache, daß
im Vergleich zur elektronischen Datenverarbeitung die Reizleistung der
Neuronen im Gehirn eher langsam verläuft, wurde auf einen parallelen
Verarbeitungsmechanismen geschlossen, und man ist inzwischen zur
Modellierung kognitiver Prozesse zu konnektionistischen netzwerkartigen Rechnern übergegangen. Diese Netzwerkrechner bestehen aus vereinfachten Verarbeitungseinheiten, die in stark idealisierter Weise gewisse
Eigenschaften von Nervenzellen modellieren; sie arbeiten ohne Symbole
und formale Regeln und sind durch Rückkoppelung in der Lage zu „lernen“.
Bei diesen Modellierungen wurde der Umweltaspekt stark vernachlässigt.
Nun lassen sich jedoch bei der Programmierung der Netzwerkrechner
Randbedingungen einbauen, die die externen Umweltfaktoren simulieren, die auf die Repräsentationen in unserem kognitiven System wirken,
und die darüberhinaus eine Erklärung für die Intentionalität unserer
geistigen Zustände geben könnten. So geht der Philosoph W. Bechtel
davon aus, daß es die Beschränkungen sind, die unseren internen Repräsentationen durch die Umwelt, durch unsere Körperlichkeit und durch
interpersonelle Prozesse auferlegt werden, die den intentionalen Charakter von geistigen Zuständen herstellen, indem sie letzteren bestimmte
Inhalte geben50. Er greift hier auf den Ansatz von J.J. Gibson zurück,
49
Vgl. F. Crick, Was die Seele wirklich ist, München 1994.
W. Bechtel, Multiple Ebenen in der Analyse der Kognitionswissenschaften. In: H.
Hildebrandt/E. Scheerer, Interdisziplinäre Perpektiven der Kognitionsforschung,
Frankfurt am Main, 1993.
50
Rainer Limmer/Alexander von Pechmann/Sybille Weicker
durch den der Umweltaspekt in die Kognitionswissenschaft zurückgeholt
werden soll.
Mit dem Ansatz eines ökologischen Realismus bietet J.J.Gibson eine
Alternative zu den bisherigen kognitivistischen Vorstellungen von
Wahrnehmung. Wahrnehmung beruht demnach nicht auf Primärreizen,
sondern auf der Erfassung von Invarianten, die sich dem Lebewesen erst
erschließen, wenn es spezifische Handlungen ausführt, z.B. sich bewegt.
Für Gibson ist die Wahrnehmung keine kognitive Konstruktion, sondern
eine aktive Exploration der Umwelt in Bezug auf ihre reale Zusammensetzung aus veränderlichen und unveränderlichen Aspekten. Damit beruht jede konkrete Wahrnehmung auf einer Interaktion zwischen Organismus und Umwelt. In diesem Modell setzt sich ein Wahrnehmungssystem sowohl aus sensorischen wie auch motorischen Mechanismen
zusammen, die gleichermaßen wichtig für den Wahrnehmungsakt sind.
Das Lernen wird hier als ein Vorgang verstanden, die Regelmäßigkeiten,
die in der Umwelt vorhanden sind, immer schneller und sicherer zu
entdecken. „Umwelt“ meint in diesem Zusammenhang nicht die Welt
der elektrisch-chemischen Primärreize, sondern den Größen- und Massenbereich von Lebewesen, den sogenannten Mesokosmos51.
Gibson hat sich allerdings strikt geweigert, interne Verarbeitungsmechanismen des Gehirns in seine Überlegungen aufzunehmen. Dennoch ist
klar, daß Menschen nicht nur Informationen aus der Umwelt aufnehmen, um Handlungen auszuführen. Menschen machen Pläne, haben
Vorstellungen und Menschen verwenden symbolische Systeme wie Sprache, Logik und Mathematik. Muß man zur Erklärung dieser kognitiven
Tätigkeiten, die ja im eigentlichen mit Wissen und Erkenntnis verbunden
sind, doch wieder auf Rechenmodelle zurückgreifen?
Verschiedene Denker haben Modelle des Geistes entwickelt, die auf
einer Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt beruhen. Die umfassendste Theorie stammt wohl von Gerald Edelman. Er möchte „den
Geist in die Natur zurückholen“, der durch die modernen Naturwissenschaften seit Galilei daraus vertrieben wurde.52 Nur eine Theo51
J.J. Gibson, Wahrnehmung und Umwelt, München-Wien-Baltimore1982.
Vgl. G. Edelman, Göttliche Luft, vernichtendes Feuer, München-Zürich 1995,
S.27.
52
Zur Philosophie des Geistes und Erkennens
rie, die berücksichtigt, daß Geist zwar durch neuronale Aktivität entsteht,
dabei jedoch auf einen Körper und dieser auf eine Umwelt angewiesen
ist, also eine Theorie, die auf biologischen und nicht nur auf physikalischen Gegebenheiten aufbaut, kann seiner Ansicht nach die Entstehung
von Bewußtsein und Intentionalität angemessen darstellen.
Die Verkörperung des Geistes oder Bewußtsein als Wechselbeziehung
von Gehirnprozessen und Umwelteinflüssen
Edelman legt eine umfassende und sehr komplexe Theorie für die Entwicklung von Bewußtsein vor, bei der er vor allem auf den evolutionären
Ansatz Darwins zurückgreift, aber auch Überlegungen aus Psychologie
und Linguistik einbaut. Ich möchte mich hier auf die Darstellung der
Entstehung bewußter Wahrnehmungsprozesse und deren Bezug auf
Wissen und Erkenntnis beschränken53.
Voraussetzung für das Entstehen eines Bewußtseins sind drei komplexe
Vorgänge, die zwar getrennt voneinander beschrieben werden, jedoch
untrennbar miteinander verknüpft sind und zur Begriffsbildung führen.
Es ist dies Wahrnehmungskategorisierung, Gedächtnis und Lernen. Erstere beruht zunächst auf der Erstellung von reziprok miteinander gekoppelten Karten, die aufgrund der Selektion bestimmter Neuronengruppen
bei bestimmten Signalen aus der äußeren Welt zu sogenannten Mehrfachkarten zusammengefaßt werden. Mehrfachkarten werden mit nichtkartierten Regionen des Gehirns zu einer dynamischen Struktur zusammengefaßt, einer globalen Karte, die fortwährend Gebärden und
Haltung eines Lebewesens an viele davon unabhängige Sinneseindrücke
anpaßt. Aufgrund interner Wertkriterien, die im Laufe der Evolution
entstanden und artspezifisch sind, werden die Bereiche der Kategorisierung zwar eingeschränkt, aber nicht bestimmt. Gedächtnis ist die spezifische Verstärkung einer zuvor etablierten Fähigkeit zur Kategorisierung,
die Veränderung der synaptischen Stärken von neuronalen Gruppen in
einer globalen Karte stellt die biochemische Grundlage für Gedächtnis
dar. Da Gedächtnis von Kategorisierung abhängt, diese aber vom jeweiligen Verhalten des Individuums beeinflußt wird, kann Gedächtnis auch
als fortwährende Neukategorisierung bezeichnet werden. Durch die
53
vgl. auch unsere Rezension von Göttliche Luft, vernichtendes Feuer in diesem
Heft.
Rainer Limmer/Alexander von Pechmann/Sybille Weicker
Koppelung mit dem Kleinhirn, den Basalganglien und dem Hippokampus kann das Gedächtnis den zeitlichen Ablauf von Ereignissen berücksichtigen. Lernen wiederum beruht auf der Abhängigkeit der Kategorisierung von internen Werten, die die Anpassung eines Lebewesens erst
ermöglichen. Die Begriffsbildung, die ohne sprachliches Vermögen auskommt und bereits bei Tauben z.B. nachgewiesen wurde, findet im Vorderhirn statt und kann als Kategorisierung der eigenen Aktivitäten des
Gehirns beschrieben werden, ohne daß aktuelle Sinnesdaten daran beteiligt sein müssen54.
Wesentlich für das Entstehen des Bewußtsein ist das Zusammenwirken
zweier Systeme im Gehirn, die unterschiedliche Funktionen haben. Beschäftigt sich das thalamokortikale System mit der Kategorisierung und
begrifflichen Erfassung der Welt und sorgt für die Anpassung an eine
komplexen Umwelt, so kümmert sich das limbische System um die Ausrichtung an Werte, die im Laufe der Evolution entstanden sind und dient
der Erhaltung des Organismus. Diese beiden Systeme haben sich nach
Edelman aufgrund wechselseitiger Beziehungen so miteinander verbunden, daß sich ihre Aktivitäten entsprechen konnten, was einen unaufhörlichen Lernprozeß hervorruft und letztlich zur Bildung eines Selbst als
Unterscheidung von Welt und Nicht-Welt führt55.
Die enge Verknüpfung von Werten mit der Begriffsbildung ermöglicht
eine neue Art von Gedächtnis, ein Gedächtnis für Wertekategorien, das
sozusagen die Begriffe bewertet. Primäres Bewußtsein entsteht, wenn
dieses Gedächtnis mit der gleichzeitig in vielen Sinnesmodalitäten ablaufenden Wahrnehmungskategorisierung verknüpft wird. Durch diese
Beziehung zwischen Begriffen und aktuellen Wahrnehmungskategorisierungen kommt bewußte Erfahrung von Wahrnehmung zustande, Lebewesen mit derartigen Gehirnfunktionen haben somit Vorstellungen,
geistige Bilder oder „Szenen“, die allerdings auf die „erinnerte Gegenwart“ beschränkt bleiben56. Das primäre Bewußtsein steht im Dienste
des Überlebens und ist unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung
eines Bewußtseins höherer Ordnung, wie es bis jetzt nur beim Menschen
auftritt.
54
Vgl. G. Edelman, ebd., Kap. 9 und 10.
Vgl. ebd., S. 174 f.
56 Vgl. ebd., S. 174
55
Zur Philosophie des Geistes und Erkennens
Voraussetzung für die Bildung eines Bewußtseins höherer Ordnung ist
zunächst ein reiches Gedächtnis für Begriffe, wie wir es im primären
Bewußtsein bereits antreffen. Darüberhinaus mußten sich zunächst
Stimmapparat und spezielle Gehirnbereiche zur Erzeugung, Ordnung
und Behalten von Sprachlauten entwickeln. Phonologische Fähigkeiten
wurden daraufhin mit Begriffen und Gesten verbunden, dies führt allmählich zu bedeutungsvollen Wörtern und Sätzen, einer Semantik. Erst
wenn diese bereits vorliegt, können abstrakte Regeln für eine Syntax
gebildet werden.
Höheres Bewußtsein tritt auf, wenn sich ein Selbstkonzept bildet, was in
der sozialen Interaktion durch die Verbindung von Bedürfnisbefriedigung mit Sprachsymbolen erfolgt. Erst wenn auf diese Weise ein symbolisches Gedächtnis entstanden ist, läßt sich aus der Wechselwirkung mit
dem Begriffsgedächtnis für Wertekategorien ein Modell für die Welt
gewinnen. Diese begrifflich-symbolischen Modelle können nun mit aktuellen Wahrnehmungen verglichen werden, was es ermöglicht, über den
zeitlichen Rahmen der erinnerten Gegenwart hinauszugehen. Das Individuum besitzt nun eine erinnerte Vergangenheit und es kann zukünftige
Geschehnisse in Gedanken vorwegnehmen, es kann Pläne und Ziele entwickeln, es kann sich eigene Zwecke setzen und es kann ein Wissen über
die Welt haben57. Wahrheit und Wissen existieren nur auf der Grundlage
unserer Begriffsbildung, die eng mit inneren Wertsystemen und der äußeren Welt verbunden sind. Zwar können wir aufgrund unseres höheren
Bewußtseins eine innere Welt des Denkens erschaffen, dennoch sind wir
stets, schon durch unsere biologischen Bedürfnisse, auf die äußere Welt
angewiesen. Diese äußere Welt in Form einer sozialen Gemeinschaft
zeigt uns sowohl Grenzen wie auch Möglichkeiten unserer Erkenntnis
auf 58.
Schlußgedanken
Die verwirrende Vielfalt dieser unterschiedlichen Theorien über Erkenntnis und Kognition wirft fast mehr Fragen auf als sie beantwortet.
Dennoch möchte ich abschließend einige Hypothesen aufstellen.
57
58
Vgl. ebd., S.180 ff.
Vgl. ebd., S.250.
Rainer Limmer/Alexander von Pechmann/Sybille Weicker
Geht man von den Überlegungen der kognitivistischer Psychologen aus,
so beruht unsere Beziehung zur Außenwelt auf der Berechnung und
Umcodierung physikalischer Primärreize. Legt man dies unserer Wahrnehmung zugrunde, so werden unsere subjektiven Empfindungen und
Wahrnehmungserlebnisse zwangsläufig von unserem Gehirn konstruiert.
Der Außenweltbezug kann dann eigentlich nur dadurch aufrechterhalten
werden, daß man eine auf streng mathematischen und logischen Gesetzen beruhende Abbildrelation unserer Repräsentationen zu äußeren
Gegebenheiten annimmt. Geht man nun jedoch davon aus, daß Logik
und Mathematik eine Erschaffung des menschlichen Verstandes sind, so
landen wir entweder wieder bei Descartes, für den es ja auch lediglich
unser Verstand ist, der uns ein Wissen über die Welt vermitteln kann
oder wir landen bei Gerhard Roths „realistischem Konstruktivismus“,
der die für uns erfahrbare Wirklichkeit als Konstruktionen eines real
existierenden Gehirns ansieht, über das wir jedoch nichts wissen können.
Geht man wie die konstruktivistischen Biologen von der Geschlossenheit unseres Nervensystems aus, so haben wir letztlich keinen eindeutigen Bezug zur Außenwelt. Zwar leben wir in einer Umwelt, wir erfahren
sie jedoch lediglich als Störung unseres homöostatischen Gleichgewichts.
Es ist unser Beobachterstatus aufgrund unserer sprachlichen Fähigkeiten,
der es uns ermöglicht, eine Interaktion zwischen Lebewesen und Umwelt
zu beschrieben. Ob unsere Beschreibungen allerdings der Realität entsprechen, können wir letztlich nicht wissen. Im Laufe der weiteren evolutionären Entwicklung kann sich lediglich herausstellen, ob unsere Lebensweise, unsere Handlungen, die wir aufgrund unserer Konstruktionen
vollzogen haben, ein gangbarer Weg gewesen sind.
Beide Ansätze führen meiner Meinung nach in eine Sackgasse und stimmen auch mit unserem intuitiven Verständnis, unseren Empfindungen
und Erfahrungen nicht überein. Geht man, wie Gibson und Edelman,
dagegen davon aus, daß wir als biologische Wesen in eine physikalische
und soziale Welt eingebettet sind, mit der wir in ständiger Interaktion
stehen und die unsere Erkenntnis sowohl ermöglicht wie auch einschränkt, so kann dies unser Wissen über uns selbst und die Welt nur
vergrößern. Erkenntnis in diesem Sinn ist dann nicht das Erfassen einer
absoluten, ewigen Wahrheit, sondern ein Prozeß, der aufgrund unserer
Zur Philosophie des Geistes und Erkennens
Lernfähigkeit und der Dialektik von inneren, auf dem langen Weg der
Evolution entstandenen Werten und äußeren, auf der noch längeren
Geschichte der physikalischen Welt basierenden Gegebenheiten, vermutlich niemals ein Ende finden wird.
Literaturliste
Bechtel William (1993). Multible Ebenen in der Analyse der Kognitionswissenschaften. In Helmut Hildebrandt/Scheerer Eckart. Interdisziplinäre
Perpektiven der Kognitionsforschung. Frankfurt am Main: Peter Lang
Crick Francis (1994). Was die Seele wirklich ist. Artemis und Winkler
Descartes René (1986). Meditationen über die Erste Philosophie. Stuttgart:
Philipp Reclam jun.
Edelman Gerald (1995). Göttliche Luft, vernichtendes Feuer. MünchenZürich: Piper
Glasersfeld Ernst von (1995). Die Wurzeln des „Radikalen“ am Konstruktivismus in Fischer Hans Rudi. Die Wirklichkeit des Konstruktivismus.
Heidelberg: Carl Auer
Gibson J.James (1982). Wahrnehmung und Umwelt. München-WienBaltimore: Urban & Schwarzenberg
Maturana Humberto, Varela J. Francisco (1987). Der Baum der Erkenntnis.
Goldmann Nr. 11460
Riegas Volker/Vetter Christian (1990). Zur Biologie der Kognition. Frankfurt
am Main: Suhrkamp Taschenbuch Wisenschaft
Roth Gerhard (1995). Die Konstruktivität des Gehirns in Fischer Hans
Rudi. Die Wirklichkeit des Konstruktivismus. Heidelberg: Carl Auer
Roth Gerhard (1996). Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Frankfurt am
Main: Suhrkamp
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