Zinspolitik: Was ist gerecht? - Katholische Sozialwissenschaftliche

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Die Tagespost
Samstag, 27. September 2014 Nr. 115 / Nr. 39 ASZ
KOLUMNE
Zinspolitik: Was
ist gerecht?
VON MARCO BONACKER
Der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, stammt als Italiener aus dem Land, in dem die älteste
Bank der Welt, „Monte dei Paschi“, ihren
Sitz hat. Die Bank, die im Jahr 2013 nur
durch eine Finanzspritze des italienischen Staates über 4,1 Milliarden Euro gerettet werden konnte, und zugleich auf
eine wechselhafte Geschichte zurückblicken kann, wurde als Leihhaus „Monte di
Pietá“ 1472 in Siena gegründet. Die
Gründungsidee war dabei keineswegs
von Profitorientierung geleitet, sondern
von der Idee der Wohltätigkeit. Es mutet
zunächst überraschend an, dass gerade
die Institution, die das gesamte Bankenwesen, das wir heute kennen, mitgeprägt
hat, sich als wichtigstes Ziel die Nächstenliebe auf die Fahnen geschrieben hatte. Wie war das möglich? Im christlichen
Europa des Mittelalters galt das Nehmen
von Zinsen doch als sündhaft und wurde
sogar kanonisch bekämpft. Schon im Alten Testament wird das Nehmen von Zinsen beschränkt (Ex 22, 24) beziehungsweise ganz verboten (Lev 25, 35–37). Für
die Kirchenväter wurde diese Ansicht im
Neuen Testament bestätigt (Lukas 6, 35).
Auch später wurde die kritische Haltung
der Kirche zur Zinsnahme mehrfach wiederholt: Beispielhaft ist hier Papst Innozenz III., der im Decretum Gratiani von
um 1140 das Zinsnehmen verbietet.
Die Montes Pietatis jedoch, die erste
wurde 1462 in Perugia gegründet, gehen
ausdrücklich auf die franziskanische Idee
zurück, dass den Menschen konkret geholfen werden muss und dies eben auch
finanziell. Das, was wir heute jubelnd
und zuweilen differenziert lobend als
Mikrokredite in Entwicklungsländern
wahrnehmen, die Kleinunternehmer fördern und die Selbstständigkeit vieler
Menschen gewährleisten, wurde durch
die Idee der Franziskaner im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit bereits vorweggenommen: Gegen geringe Zinsen
oder auch nur gegen Pfand erhielten Bedürftige kleine Kredite. So wurde einerseits verhindert, dass diese in die Arme
von Wucherern gerieten und andererseits, dass die Armen nicht arm bleiben
mussten. Sie konnten sich mit dem geliehenen Geld nicht selten eine Existenz
aufbauen und sich persönlich entfalten.
Zudem fungierte das franziskanische
Leihhaussystem der Montes Pietatis als
Absicherung in schlechten Zeiten, durch
finanzielle Engpässe und persönliche
Notlagen. In jedem Fall waren sie als Mittel der Armutsbekämpfung geschaffen
und als solche trugen sie dazu bei, eine
Antwort auf den Pauperisierungsprozess
in der Unter- und Mittelschicht in italienischen Städten zu finden.
Die franziskanischen Frühformen der
Genossenschaftsbanken verbreiteten sich
schnell über Italien hinaus. Besonders
Bernhardin von Feltre machte sich für
ihre Etablierung stark. Das strikte Zinsverbot jedenfalls bröckelte, auch wenn
der Widerstand noch lange nicht vollständig gebrochen war. Zinsen, und dies
ist die Überleitung zur Gegenwart, waren
also immer schon ein wesentlicher Faktor
der Auseinandersetzung um wirtschaftliches Handeln und seine Rahmenbedingungen.
Auch heute findet eine Zinsdebatte
statt – allerdings unter etwas anderen
Vorzeichen: Mario Draghi als personalisiertes Sinnbild der gegenwärtigen europäischen Zinspolitik hat diese Woche verlauten lassen, dass die niedrigen Zinsen
Europa noch länger begleiten werden.
Das Zinsniveau ist auf einem andauernden Tiefstand: 2001 lag der Leitzins in
der Eurozone bei über 4,5 Prozent, nach
einem Zwischenhoch 2009 noch einmal
über 4 Prozent. Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise jedoch ging der Leitzins in
den Keller. Bereits Mitte 2009 war er auf 1
Prozent geschrumpft, seit Mai 2013 lag er
bei 0,5 Prozent. Vor wenigen Wochen
dann das Rekordtief: 0,05 Prozent.
Die Folgen dieser Krisenstrategie sind
in Europa sehr unterschiedlich. Kurz gesagt: Gewinner sind die Schuldner. Sie
kommen leichter an neue Kredite und
damit an frisches Geld. Die großen Verlierer sind die Sparer, also jene, die gut mit
ihrem Geld haushalten, die auf Sicherheit setzen und auf lange Sicht planen.
Gerade aus deutscher Sicht ist diese Entschuldungspolitik der EZB über den Leitzins folgenreich: Nach einem Vergleich
der Zinssätze der letzten zehn Jahre, den
Analysten der Allianz vorgenommen haben, kostete die Niedrigzinspolitik der
EZB die deutschen Sparer 23 Milliarden
Euro. Je höher die Verschuldung, desto
Marco Bonacker.
Foto: KSZ
günstiger wirkt sich die Zinslage auf private Haushalte aus. Sie werden insgesamt
stark entlastet. Je höher die Spareinlagen,
desto größer ist der Verlust. Dies betrifft
vor allem sichere Spareinlagen, die in
Deutschland durchschnittlich nur 0,7
Prozent bringen. Diese Form der Umverteilung durch Zinspolitik, die Deflation
verhindern und die Wirtschaft in den
Krisenländern stärken soll, lässt zumindest einen neuen Aspekt im langen Streit
um die richtigen Zinsen deutlich werden.
Ist eine europäische Zinspolitik gerecht,
die gerade vorausschauendes Handeln in
Form von Spareinlagen bestraft? Oder ist
es gerade eine Form höherer Gerechtigkeit, wenn durch Zinspolitik ausgeglichen wird, wofür in Schuldnerländern
keiner etwas kann? In jedem Fall wäre es
problematisch, wenn gerade der vorausschauende Sparer für die sehenden Auges
begangenen Fehler anderer zahlen müsste. Falsch verstandene Solidarität darf
nicht die Notwendigkeit der Subsidiarität
aushöhlen.
Der Autor ist Wissenschaftlicher Referent der Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach.
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