der aktive staat INVESTIERT – SICHERT – GESTALTET Argumente für einen Politikwechsel Der aktive Staat 1 Vorwort Die Kontroverse um die Rolle des Staates verschärft sich. Der DGB fordert einen AKTIVEN STAAT, der solide finanziert ist. Das Gegenbild ist der Wettbewerbsstaat. Dessen Anhänger wollen öffentliche Aufgaben privatisieren. Ihr Motto ist Konkurrenz statt Kooperation zwischen Ländern und Gemeinden. Derzeit zetteln sie eine Debatte gegen den Solidaritätszuschlag an. Dabei ist klar: schwächere Regionen in Ost wie West müssen auch nach 2019 unterstützt werden. Doch höhere Steuern auf große Einkommen und Vermögen werden mit dem Hinweis auf gegenwärtig steigende Steuereinnahmen abgelehnt. Es wird mit dem „Nimmersatten Staat“ gegen Steuer­ erhöhungen polemisiert. Dabei erzielt der Staat im Regelfall jedes Jahr Rekord­ einnahmen: wächst die Wirtschaft, steigen Gewinne und Löhne – und automatisch auch das Steueraufkommen. Warum also diese Zuspitzung? Zwei Dinge wollen die Staatskritiker vergessen machen: Erstens konnte nur staatliches Eingreifen in der von Spekulanten verursachten Finanzkrise Schlimmeres verhindern. Um die Fehler der Banken auszubügeln, mussten sogar Rekordschulden gemacht werden. Zweitens ist wachsende Ungleichheit durch die explosionsartige Anhäufung von Reichtum bei Wenigen eine wesentliche Krisenursache. Alle Umfragen zeigen, dass die große Mehrheit der Bevölkerungaus der Wirtschaftsund Finanzkrise Konse­quenzen ziehen möchte: sie will mehr Gerechtigkeit und einen Staat, der entsprechend handelt. Der DGB fordert, dass der AKTIVE STAAT wieder gestaltet, reguliert, durch Beteiligung und Umverteilung für gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgt – und finanziell handlungsfähig ist. Claus Matecki Mitglied des geschäftsführenden DGB-Bundesvorstandes Politikwechsel Wer jetzt die Angst schürt, der Staat wolle mit einer stärkeren Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen nebenbei alle Bürgerinnen und Bürger abzocken, will die Beteiligung der Spitzenverdiener, Vermögenden und Unternehmen an den Kosten der Bankenrettungen und der Finanzierung des demokratischen Gemeinwesen verhindern. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass die Politik die chronische Unter­finanzierung des Staates durch Steuerprivilegien für Reiche erst verursacht hat. Und Steuer­ senkungen bildeten den Vorlauf dafür, dass die Leistungen des Staates gekürzt wurden. Der angeblich „überbordende Sozialstaat“ war auch eine Rechtfertigung für die Institutio­nalisierung des Niedriglohnsektors vor zehn Jahren. Sie hat in der Folge durch Einnahmeausfälle und höhere Ausgaben durch die staatliche Subventionierung niedriger Löhne dazu beigetragen, neue „Sachzwänge“ zu schaffen: Verschuldungs­ grenzen mit Verfassungsrang. Die Schuldenbremse hat den Spardruck für Bund und Länder weiter erhöht. Diese wiederum geben ihn an die Kommunen weiter. Neben den Einschnitten ins soziale Netz wurden auf allen staatlichen Ebenen auch die Investitionen zurückgefahren. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat eine jährliche Investitionslücke von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) errechnet – ein Investitionsrückstand von 75 Milliarden Euro pro Jahr. Das Nettovermögen des Staates – die Differenz zwischen den staatlichen Vermögens­ werten und den Verbindlichkeiten – ist von 500 Milliarden Euro im Jahr 1999 auf aktuell gegen Null geschrumpft. Inzwischen sind die Spuren eines Jahrzehnts, in dem Deutschland von seiner Substanz gelebt hat, überall sichtbar – ob in der Infrastruktur oder im Bildungssystem. Diese Unterfinanzierung gefährdet die wirtschaftliche Entwicklung und letztlich die Erhaltung und Entstehung zukunftsfähiger Arbeitsplätze. Höchste Zeit für einen Politikwechsel. 2 Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften wollen die Handlungsfähigkeit des Staates auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene stärken. Eine funktionierende öffentliche Daseinsvorsorge, eine leistungsfähige Infrastruktur und ein zuverlässiger und bürgernaher öffentlicher Dienst sind unverzichtbar – für den gesellschaft­ lichen Zusammenhalt und auch zum Erhalt eines attraktiven Wirtschaftsstandorts. Der Staat hat die Aufgabe, Investitionen in eine leistungsfähige Bildungs- und Wissenschafts­landschaft zu lenken und eine moderne, flächendeckende Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Damit schafft der AKTIVE STAAT wesentliche wirtschaftliche Rahmen­bedingungen für private Investitionen. In der öffentlichen Daseinsvorsorge gewährleistet der AKTIVE STAAT in Bildung, Gesundheit, Forschung, Sicherheit, Wasserversorgung, Wohnungsbau und Mobilität die Teilhabe aller Regionen und Gesellschaftsschichten und trägt so zu einer besseren wirtschaftlichen Entwicklung mit guten Arbeitsbedingungen bei. Öffentliche Sicherheit, soziale Sicherungssysteme und öffentliche Daseinsvorsorge sind die Basis für ein gutes und sicheres Leben der Bürgerinnen und Bürger. Seit über zwei Jahrzehnten herrschen allerdings Leistungskürzung, Qualitäts­ verschlechterung, Privatisierung und Deregulierung vor. Damit verbundene Verspre­ chungen wurden nicht eingelöst. Die Steuersenkungen seit 1998 haben zu jährlichen Einnahmeverlusten von bis zu 50 Milliarden Euro geführt. Inzwischen ist das Missfallen über diese Politik des „schlanken Staates“ unüberhörbar. Die Behauptung, wir könnten uns gute Schulen, menschenwürdige Pflegeplätze oder bezahlbare Wohnungen und öffentlichen Nahverkehr nicht mehr leisten, wird angesichts des extrem wachsenden Reichtums Weniger immer unglaubwürdiger. Der aktive Staat 3 Bildung Das obere Zehntel setzt sich ab Veränderung des real verfügbaren Jahreseinkommens von 1999 bis 2009 16,6 % 0 % – 4,2 % – 9,6 % Ärmstes Zehntel 1,6 % 1,1 % 2,0 % 3,2 % 6. 7. 8. 9. – 1,7 % – 7,9 % 2. 3. 4. 5. Reichstes Zehntel Quelle: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, 2011 Für entwickelte Volkswirtschaften wie Deutschland, die auf wissensbasierte Qualitätsproduktion setzen müssen, sind Investitionen in Bildung, Weiterbildung und Forschung und Entwicklung zentral. Aber derzeit werden unter den großen Industrienationen nur in Italien weniger „immaterielle Investitionen“ getätigt als in Deutschland, wo sie sechs Prozent des BIP ausmachen. In den USA werden fast neun Prozent des BIP in den Aufbau von Wissens­kapital gesteckt. Hochwertige (Aus-)Bildung ist für Beschäftigte ein zentraler Faktor. Doch unser Bildungssystem offenbart Schwächen: mehr als 50.000 Schulabbrecher Jahr für Jahr, 2,2 Millionen Menschen im Alter von 20 bis 34 Jahre ohne Berufsabschluss, 270.000 Jugendliche in Warteschleifen des Übergangssystems, 7,5 Millionen funktionale Analphabeten – das sind alarmierende Zahlen. Die Achillesferse des deutschen Bildungssystems ist die soziale Spaltung: In kaum einem anderen Industrie­land hängen die Bildungschancen der Kinder so sehr vom Geldbeutel der Eltern ab wie in Deutschland. Wir wollen eine Politik, die die Ungerechtigkeiten der Einkommensverteilung mittels Steuern und Sozialleistungen korrigiert und Spielraum für dringend notwendige Investitionen schafft. Ein AKTIVER STAAT muss jetzt in folgenden Bereichen Handlungsfähigkeit beweisen: Deutschland müsste jährlich mindestens 40 Milliarden Euro aus öffent­ lichen Mitteln zusätzlich aufwenden, um die Anforderungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) an ein ordentliches Bildungssystem zu erfüllen. Die zusätzlichen Mittel müssen in einen Rechtsanspruch auf einen qualitativ hochwertigen Platz in Ganztagsschulen und -kitas, in vielseitig ausgebildete pädagogische Teams, in Inklusion, in ein Erwachsenen-BAföG (Weiter­ bildung) und mehr und bessere Studienplätze fließen. Die Lehr- und Lern­bedingungen an den beruflichen Schulen müssen verbessert werden. Die Sanierung von Kitas, Schulen und Hochschulen bleibt eine zentrale Infrastrukturbaustelle. Die Grund­finanzierung von Lehre und Forschung an den Hochschulen muss ausgebaut werden. Generelles Ziel bleibt die Gebührenfreiheit von der Kita bis zur Hochschule. 4 Der aktive Staat Der DGB fordert deshalb einen Politikwechsel. Arbeitnehmerinnen und Arbeit­ nehmer erwarten nicht nur, dass der Staat die grundsätzlichen Dienstleistungen und Infrastrukturen, auf die jede/r angewiesen ist, gewährleistet, sondern dass er auch die Zukunftsaufgaben endlich entschlossen anpackt. Vermögende und Unternehmen müssen wieder ihrer Leistungsfähigkeit entsprechend an den Kosten des Gemein­ wesens beteiligt werden. 5 Aus Sicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist insbesondere eine gute und verlässliche Kinderbetreuung von der Kita bis zur Schule unverzichtbar, um Familie und Beruf gut vereinbaren zu können. Gute Bildung gibt es nur mit einer angemessenen Zahl qualifizierter und motivierter Beschäftigter. Dem offenkundigen Mangel an Erzieherinnen und Erziehern und dem steigenden Lehrkräftebedarf muss wirksam begegnet werden. Die Bundesländer alleine sind mit der Finanzierung eines guten Bildungssystems überfordert. Das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern in der Bildungs­ finanzierung muss aus dem Grundgesetz gestrichen werden. Infrastruktur Deutschland ist als starker Industrie- und Dienstleistungsstandort auf eine moderne und leistungsfähige Infrastruktur besonders angewiesen. Verrottet die Infrastruktur, leidet nicht nur die Lebensqualität darunter. Der Investitionsstau behindert die Wirtschaft bei der Bewältigung des notwendigen ökologischen Umbaus und der Schaffung zukunftsfähiger Arbeitsplätze, bedroht somit die Wettbewerbsfähigkeit und gefährdet den Wohlstand zukünftiger Generationen. Großer Handlungsbedarf besteht z. B. im Verkehrsbereich – ein „Masterplan Mobilität“ ist überfällig – und beim Ausbau der Breitbandnetze. Nur mit hinreichender Bürgerbeteiligung und Transparenz ist Infrastrukturpolitik nachhaltig plan- und gestaltbar. Eine zentrale Baustelle ist die kommunale Infrastruktur. Allein der altersgerechte Umbau der kommunalen Infrastruktur kostet insgesamt 53 Milliarden Euro. Im Laufe der Jahre sind die kommunalen Haushalte – trotz laufender Kürzungen bei Sozialleistungen für den Einzelnen – von Investitionshaushalten zu Sozial­ haushalten geworden. Der Anteil der Investitionen an den Gesamtausgaben hat sich um zwei Drittel verringert, der Anteil der sozialen Leistungen hingegen mehr als verfünffacht. Das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) hat für den Zeitraum von 2006 bis 2020 einen kommunalen Investitionsbedarf von insgesamt 700 Milliarden Euro ermittelt. 6 Der aktive Staat 7 Einnahmeausfälle seit 2000 und kommunaler Investitionsbedarf bis 2020 in Milliarden Euro 208,4 19,8 10,1 Sonstige Bereiche 29,0 Städtebau 30,9 Verwaltungsgebäude 29,0 Trinkwasser Abwasser Schulen 38,4 Krankenhäuser Länder 39,5 Sportstätten –190,7 58,2 ÖPNV Bund 73,0 Erwerb von Grundstücken –153,6 Gemeinden –42,1 161,6 Straßen Konjunkturunabhängige Einnahmeausfälle für Bund, Länder und Gemeinden von 2000–2011 durch insgesamt: 386,4 Mrd. Euro Quelle: BMF; Deutsches Institut für Urbanistik 8 Der aktive Staat 9 Stellt man diesen Nachholbedarf den steuerpolitisch bedingten Einnahme­ ausfällen seit 2000 gegenüber, wird deutlich, wie groß die Gefahr ist, dass sich diese strukturelle Schieflage auch in der Zukunft fortsetzt und sogar verschärft. Die Schuldenbremse setzt spätestens nach 2020 für die Bundesländer Fehlanreize, ihre Defizite und damit den Konsolidierungszwang auf die Kommunen abzuwälzen. Wenn Gemeinden wegen geringer Steuereinnahmen Straßen und Brücken nicht reparieren können, Kita-Gebühren und Eintrittspreise für das öffentliche Schwimmbad erhöhen oder es gleich komplett schließen, verschlechtert sich die Lebensqualität für die Bürgerinnen und Bürger spürbar. Verkehr Für den DGB ist die Verkehrsinfrastruktur einerseits Teil der staatlichen Daseins­ vorsorge und andererseits ein wichtiger Standortfaktor für Wirtschaft und ­Beschäftigung. Für diese staatliche Aufgabe reichen die Mittel, die Bund, Länder und Kommunen bereitstellen, schon seit Jahren bei Weitem nicht aus. Die anhaltende Unterfinanzierung der Verkehrsinfrastruktur hat zu einem massiven Substanzverzehr geführt. Das hat direkte und indirekte Folgen für Verkehr, Wirtschaft, Klimaschutz und Beschäftigte. Marode Brücken, abgenutzte Gleisanlagen und baufällige Straßen sind nicht nur ein Sicherheitsrisiko. Defekte Verkehrswege verursachen Staus oder Umwegverkehr und schaden zudem Wirtschaft und Umwelt. Der Zerfall der Infrastruktur in Deutschland gefährdet Wirtschaft und Arbeitsplätze und schränkt die Lebensqualität ein. Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften fordern einen Masterplan „Mobilität für Deutschland“, der mit breiter gesellschaftlicher Beteiligung Ziele, Maßnahmen und Umsetzungsstrategien festlegt, um Mobilität zukunftsfähig und nachhaltig auszugestalten. Zum Zielbündel der Verkehrsinfrastrukturpolitik sollten dabei neben der besseren Erreichbarkeit folgende Dimensionen gehören: Bestandssicherung und Weiterentwicklung der Verkehrswege, Verknüpfung der Netze im Personen- und Güterverkehr, Hinterlandanbindung für See- und Binnenhäfen als Basis funktio­ nierender Logistikketten, Sicherheit, Lärmreduzierung, Umwelt- und Klimaschutz, Mobilitätschancen für alle, weniger erzwungene Mobilität und nicht zuletzt Bezahl­ barkeit. Dabei gilt es, den Bedarf nach Mobilität und Verkehrswegen auch kritisch zu bewerten und im breiten Konsens gegebenenfalls Wege zu seiner Eindämmung zu finden. Deutschland gehört innerhalb der OECD zu den investitionsschwächsten Ländern. Schon seit 1992 geht die staatliche Investitionstätigkeit zurück. Die Quote der Brutto­ 10 Der aktive Staat 11 anlageninvestitionen am Bruttoinlandsprodukt ist in den letzten Jahren dramatisch gesunken. Die Konsequenz für die Verkehrsinfrastruktur: Erstmals ist 2010 auch das Nettoanlagevermögen des Straßennetzes gesunken. Lange aufgebautes gesamt­ gesellschaftliches Vermögen verliert also an Wert und wird nicht für künftige ­Generationen gesichert. Diese Entwicklung muss gestoppt werden. Allerdings reichen die Haushaltsmittel des Bundes dazu nicht aus. Der Bericht „Zukunft der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung“ fordert für den Erhalt des Bestandnetzes und zur Deckung des Nachholbedarfs für unterlassene Erhaltung im Etat für die Bundesverkehrswege in den nächsten 15 Jahren jährlich 7,2 Milliarden Euro. In den Kommunen stellt sich die Lage besonders dramatisch dar: Nach Difu-Berech­ nungen liegt der kommunale Investitionsbedarf für den Zeitraum von 2006-2020 allein für die ÖPNV-Infrastruktur bei rund 38,4 Milliarden Euro und bei kommunalen Straßen und Brücken bei 162 Milliarden Euro. Der Rückzug des Bundes aus der Finanzierung der ÖPNV-Infrastruktur und des kommunalen Straßenbaus muss gestoppt werden. Die Gemeindeverkehrsfinanzierung sollte auf eine neue Grundlage gestellt werden, die bisher unterschiedlichen Töpfe zusammen­ gelegt und transparent gestaltet werden. Breitbandausbau Der flächendeckende Breitbandausbau soll bis 2018 abgeschlossen sein. Aber selbst das Zwischenziel, bis 2014 rund 75 Prozent der Haushalte anzuschließen, ist nur noch theoretisch erreichbar. Dazu müssten noch 13 bis 14 Millionen Haushalte mit Hoch­geschwindigkeits­netzen versorgt werden. Bislang wurde der Großteil der Fördermittel von 454 Millionen Euro bis 2013 lediglich auf den Anschluss nicht versorgter Gebiete mit einer Breitbandgrundversorgung ausgerichtet. Mittel für die Beschleunigung des Ausbaus von Hochgeschwindigkeitsnetzen sind weiterhin nicht nennenswert vorgesehen. Erforderlich wären mindestens 5 Milliarden Euro für den flächendeckenden, glasfaserbasierten Breitbandausbau. So könnte die Anbindung strukturschwacher Gebiete beschleunigt, die Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe und den Zugang zu Bildung verbessert und nicht zuletzt Beschäftigung gesichert werden. Im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarn steckt Deutschland auch viel zu wenig Geld ins Schienennetz. Die Schweiz investierte 2012 349 Euro pro Bürger, Schweden brachte 151 Euro pro Kopf auf, selbst Großbritannien 110 Euro. Deutschland droht mit 51 Euro je Bundesbürger den Anschluss zu verpassen, nur das rezessionsgeplagte Spanien (38 Euro pro Kopf) steckt derzeit weniger in seine Eisenbahninfrastruktur. 12 Der aktive Staat 13 wir fordern einen aktiven staat. Energiewende Wohnungsbau Wir brauchen den AKTIVEN STAAT als Treiber und Organisator für die soziale Gestaltung der Energiewende. Die Energiewende umfasst die aktive Gestaltung des Strukturwandels, eine faire Kostenverteilung, mehr Partizipation, bezahlbare Energie­ preise und nicht zuletzt die Schaffung bzw. den Erhalt von – guten – Arbeitsplätzen. Die Wohnungspolitik ist ein gutes Beispiel dafür, wohin Deregulierung, Privatisierung und „schlanker Staat“ führen. Das Grundbedürfnis Wohnen dem Markt zu überlassen und sich aus diesem Handlungsfeld als Staat zurückzuziehen, hat sich als Holzweg erwiesen. Aber der Umbau der Energieversorgung ist nicht zum Nulltarif zu haben. Schätzungen der KfW zufolge müssen bis zum Jahr 2020 mindestens 250 Milliarden Euro investiert werden, um den Ausbau der erneuerbaren Energien im Strom- und Wärmebereich, die Steigerung der Energieeffizienz, den Netzausbau sowie ergänzende konventionelle Kraftwerke voranzubringen. Die Verknüpfung von Energieund Industriepolitik kann an hiesigen Forschungs-, Entwicklungs- und Produktions­ standorten die für die Energiewende notwendigen Innovationen anstoßen. Die deutschen Bauinvestitionen haben sich seit 1999 im Vergleich zum Euroraum unterdurchschnittlich entwickelt. Der wesentliche Grund dafür ist laut DIW die jahrelange strukturelle Vernachlässigung des Wohnungsneubaus. Die ­Bauinvesti­tionen machten im Euroraum durchschnittlich über 12 Prozent des BIP aus. Erst im Zuge der Wirtschaftskrise sanken sie seit 2008 auf 10 Prozent. Ihr Anteil am deutschen BIP fiel schon 2005 auf unter 5 Prozent und hat sich seitdem nicht erholt. In Deutschland müssen im Jahr 140.000 Mietwohnungen gebaut werden, um der steigenden Anzahl an Haushalten gerecht zu werden. Darüber hinaus bleibt der soziale Wohnungsbau unverzichtbar. 100.000 neue preis- und belegungsgebundene Wohnungen sind notwendig, um bezahlbaren Wohnraum zu gewährleisten. Die dafür vorgesehenen Kompensationszahlungen des Bundes an die Länder decken nicht einmal ein Zwanzigstel des Finanzbedarfs. Wir brauchen mehr Wohnungsbau in kommunaler Trägerschaft. Alternative Formen der Trägerschaft wie das genossenschaftliche Modell sollten gestärkt werden. Beim privaten Neubau geht es darum, dass nicht nur Luxuswohnungen, sondern auch bezahlbarer Wohnraum gebaut wird. Ein Weg wären auch hier Belegungspflichten. Erheblichen Aufholbedarf gibt es bei alters- und behindertengerechten Wohnungen. Auch hier fordern wir nicht nur eine Aufstockung der Mittel, sondern Verlässlichkeit und eindeutige gesetzliche Regelungen, die auch der Eigentümerseite frühzeitig 16 Der aktive Staat 17 zeigen, wohin die Reise unweigerlich geht. Unstrittige Aufgaben wie die e­ nergetische Sanierung des Gebäudebestandes müssen verlässlich mit insgesamt fünf Milliarden Euro ausgestattet werden. Öffentlicher Dienst Die Voraussetzung für einen leistungsfähigen und bürgernahen öffentlichen Dienst ist ausreichendes Personal. Es besteht die Gefahr, dass die demografische Entwicklung im öffentlichen Dienst verschlafen wird. In den nächsten 15 Jahren scheiden 30 Prozent der Beschäftigten aus Altersgründen aus. Um qualifiziertes Personal für einen AKTIVEN STAAT gewinnen zu können, müssen die Arbeitsbedingungen modernen Ansprüchen genügen und die Beschäftigten dazu an deren Gestaltung beteiligt werden. Die bestehenden Mitbestimmungslücken sollen geschlossen werden. Die Abkoppelung des öffentlichen Dienstes von der allgemeinen Einkommens­ entwicklung – aktuell trifft es Beamte in Nordrhein-Westfalen – und der fortgesetzte Personalabbau in vielen Bereichen untergraben dessen Qualität und verschlechtern die öffentliche Daseinsvorsorge und Infrastruktur. Gerade der öffentliche Dienst muss als Vorbild für andere Arbeitgeber gleiche und gleichwertige Arbeit gleich bezahlen. Finanzierung des AKTIVEN staates. Von besonderer Bedeutung für die Handlungsfähigkeit des AKTIVEN STAATES ist die Innere Sicherheit, denn die stabile Sicherheitslage in Deutschland ist ein hohes gesellschaftliches Gut. Sie lebt vom Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Sicherheitsbehörden. Auf eine gute polizeiliche Arbeit kann kein Staat verzichten, der sich dem Schutz von Bürgerinnen und Bürgern verpflichtet fühlt. Deswegen muss die ausufernde Sparpolitik beendet und der eklatante Personal­ mangel beseitigt werden. Das heißt auch, die polizeiliche Präsenz in den Flächen­ staaten wieder zu stärken. 18 Der aktive Staat 19 Finanzierung des AKTIVEN STAATES Ein aktiver Staat, der den Verfall von Schulen und Brücken endlich beendet, für bezahlbaren Wohnraum sorgt, die Herausforderungen der Energiewende ernsthaft annimmt und Sorge für die Schwächeren in unserer Gesellschaft trägt, ist nicht nur dringender denn je nötig – er ist auch finanzierbar! Denn es muss „nur“ der seit Beginn des letzten Jahrzehnts durch Steuergeschenke an Unternehmer, Vermögende, Spitzenverdiener und reiche Erben verursachte Einnahme­ ausfall von weit über 300 Milliarden Euro endlich kompensiert werden. 20 Der aktive Staat 21 Ein neuer Marshallplan für Europa Anleihe So kann auch in Deutschland ein erheblicher Teil des beschriebenen Investitions­ bedarfs im Rahmen des vom DGB vorgeschlagenen Marshallplans für Europa gestemmt werden. Dieser sieht vor, eine einmalige Vermögensabgabe von 3 Prozent auf alle privaten Vermögen ab 500.000 Euro bei Ledigen bzw. 1 Million Euro bei Verheirateten zu erheben. Ohne die breite Bevölkerung zu belasten, könnten so in Deutschland bis zu 70 Milliarden Euro als Eigenkapital für einen Euro­päischen Zukunftsfonds beigesteuert werden. Der Fonds sammelt durch die Emission von Anleihen ein Mehrfaches an Fremdkapital ein, das für die Finanzierung der wichtigsten Zukunftsaufgaben zur Verfügung stünde. Die auf die Anleihen fälligen Zinsen würden aus den Einnahmen einer auf spekulative Finanzgeschäfte erhobenen Finanz­transaktions­steuer gezahlt werden. Nach Überlegungen des DGB könnte sie bis zu 28 Milliarden Euro im Jahr erbringen. So könnten selbst unter den Bedingungen der Schuldenbremse – die der DGB weiterhin ablehnt – hierzulande zehn Jahre lang zusätzliche Ausgaben von rund 70 Milliarden Euro jährlich getätigt werden. 22 eingesammeltes Kapital Einmalige Vermögensabgabe Anleihezinsen Europäischer Zukunftsfonds Grundkapital Finanztransaktionssteuer fördert und tätigt öffentliche Investitionen Der aktive Staat 23 Erbschaft- und Vermögensteuer Unternehmenssteuern Die Reichen und Superreichen müssen aus ökonomischen und Gerechtigkeits­ erwägungen unbedingt stärker zur Finanzierung der Staatsaugaben herangezogen werden. Denn ein immer größerer Anteil der Steuerlast wurde in den vergangenen Jahren auf Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerhaushalte abgewälzt. Insbesondere den Haushalten der Bundesländer ist mit dem Wegfall der Vermögensteuer eine wichtige Steuerquelle versiegt. Diese und die bis zur Bedeutungslosigkeit reformierte Erbschaftsteuer stehen ausschließlich den Ländern zu. Sie müssen endlich wieder­ belebt werden, damit dringend erforderliche Ausgaben getätigt werden können. Denn für die Bundesländer gilt ab 2019 durch die Schuldenbremse ein Kreditverbot ohne Spielraum. Deutschland hat in den vergangenen Jahren beim Wettlauf um die niedrigsten Unternehmenssteuern eine unrühmliche Rolle gespielt. Im Ergebnis lag 2011 die Besteuerung von Unternehmensgewinnen unterhalb dessen, was in der Mehrzahl der anderen großen Industrienationen üblich ist. Der DGB fordert eine verfassungskonforme Wiedererhebung der Vermögensteuer. Das selbstgenutzte Wohneigentum ist bis zu einem Wert von 500.000 Euro pro Familien­haushalt und unter Anrechnung der Kreditbelastung von der Steuer freigestellt. Der Steuersatz sollte ein Prozent betragen. Dadurch können für die Länderhaushalte Mehreinnahmen von schätzungsweise 17 Milliarden Euro pro Jahr erzielt werden. Auch große Erbschaften und Schenkungen müssen durch eine realitätsnähere Bewertung, höhere Steuersätze und die Beseitigung weiterer Ungleichheiten mit einem Plus von sechs Milliarden Euro deutlich stärker zum Steueraufkommen beitragen. Abweichung der Steuerbelastung auf Unternehmensgewinne in großen Industrie­staaten gegenüber Deutschland 2011 in Prozent 47,5 % 33,6 % 17,1 % 17,5 % Spanien Kanada 10,7 % –2,1 % 1,4 % Italien Großbritannien Frankreich USA Japan Quelle: von Wuntsch/Bach; Wertorientierte Steuerplanung und Unternehmensführung in der globalen Wirtschaft, München 2012; eigene Berechnungen Da die Absenkung des Körperschaftsteuersatzes von 25 auf 15 Prozent auch nicht wie versprochen zu einer nachweisbaren Erhöhung der Investitionstätigkeit der Kapitalgesellschaften geführt hat, ist dieser Schritt wieder rückgängig zu machen. Im Ergebnis bekämen Bund und Länder jeweils rund sechs Milliarden Euro mehr in die Kasse. 24 Der aktive Staat 25 Den Rückzug des Staates haben die Menschen durch den Abbau kommunaler Leistungen, wie den Schließungen von Schwimmbädern und Jugendzentren, besonders drastisch zu spüren bekommen. Und dennoch haben diese Einsparungen die Verarmung von Städten und Gemeinden nicht verhindern können: Von 2002 bis 2012 stieg die Verschuldung durch kommunale Liquiditätskredite von 11 auf 47 Milliarden Euro an. Deshalb fordert der DGB die Fortentwicklung der den Kommunen zustehenden Gewerbesteuer hin zu einer Gemeindewirtschaftsteuer. Die Steuerpflicht wäre dann nicht mehr willkürlich auf gewerblich tätige Unternehmen begrenzt, sondern würde z.B. auch Anwalts- und Arztpraxen miteinbeziehen, die auch aus der Bereit­ stellung kommunaler Infrastruktur ihren Nutzen ziehen. Auch sollte die Bemessungsgrundlage der Steuer erweitert werden. Im Ergebnis stünden den Kommunen hierdurch jährlich rund 12 Milliarden Euro mehr zur Verfügung. Entwicklung der kommunalen Liquiditätskredite in Milliarden Euro Einkommensteuer 50 Wegen der engen, den Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden geschuldeten, steuerrechtlichen Verflechtung der Gewerbesteuer mit der Einkommen­ steuer würde letztere aber auch um rund acht Milliarden Euro geschmälert. Um dies auszugleichen und Ungerechtigkeiten bei der Besteuerung mittlerer und niedriger Einkommen abzubauen, fordert der DGB eine Wiederanhebung des drastisch gesenkten Spitzensteuersatzes für besonders hohe Einkommen. Zudem muss die Abgeltungssteuer abgeschafft werden. Dividenden und andere Kapitaleinkünfte sind wieder mit dem persönlichen Einkommensteuersatz zu belegen. Letzteres alleine würde schon zu einer Gegenfinanzierung von rund sechs Milliarden Euro beitragen. 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Quelle: Junkernheinrich 2013 26 Der aktive Staat 27 Finanzverwaltung Die besten Steuergesetze taugen nichts, wenn deren Durchsetzung nicht sicher­ gestellt ist. Jahr für Jahr ermitteln die Finanzministerien der Länder, dass die tatsächliche Personalausstattung in den Finanzämtern immer weiter hinter dem für eine gerechte und gleichmäßige Besteuerung erforderlichen Personalbedarf zurück­ bleibt. Von diesem Defizit profitieren insbesondere große Unternehmen und sehr vermögende Personen, die Gewinne und Vermögensgegenstände auf verschlungenen Pfaden auch über Grenzen hinweg bewegen. Für deren hinreichende Prüfung fehlt den zuständigen Finanzbeamten wegen zunehmender Arbeitsverdichtung regelmäßig die Zeit. Eine entsprechend ausreichend ausgestattete Finanzverwaltung würde den öffentlichen Haushalten bereits auf dem Boden bestehender Steuergesetze über die entstehenden Kosten hinaus weitere zweistellige Milliardenbeträge zuführen. Impressum Deutscher Gewerkschaftsbund Bundesvorstand Henriette-Herz-Platz 2 10178 Berlin Telefon +49 30 . 240 60-0 Telefax +49 30 . 240 60-324 E-Mail [email protected] verantwortlich für den Inhalt Claus Matecki, Mitglied des geschäftsführenden DGB-Bundesvorstandes Presserechtlich verantwortlich Sigrid Wolff, Abteilungsleiterin Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit Redaktion Abteilung Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik, Raoul Didier, Martin Stuber Satz und Druck PrintNetwork pn GmbH 28 www.dgb.de