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Dorothea Trebesius
Komponieren als Beruf
Moderne Europäische Geschichte
Herausgegeben von Hannes Siegrist und Stefan Troebst
Band 4

Dorothea Trebesius
Komponieren 
als Beruf
Frankreich und die DDR im Vergleich
1950-1980
WALL S TEIN VERL AG
3
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung
der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur,
der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften
in Ingelheim am Rhein
und der Johanna und Fritz Buch Gedächtnisstiftung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbiliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2012
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond und Frutiger
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf
Umschlagillustration: Anne Schmidt, Leipzig
Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen
ISBN (Print) 978-3-8353-1067-4
ISBN (E-Book, pdf ) 978-3-8353-2286-8
Inhalt
Einleitung.
Komponieren als Beruf in Frankreich und der DDR . . . . . . . . . . Komponisten und Musiker in der historischen,
soziologischen und musikwissenschaftlichen Forschung . . . . Die Professionalisierung des Komponistenberufes . . . . . . . Der Komponistenberuf in Frankreich und der DDR
im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitliche Eingrenzung, Quellen und Aufbau der Arbeit . . . . 7
11
19
23
28
Teil I
Komponisten, Staat und Künstlerpolitik in Frankreich und der DDR
1. Musikpolitik als Künstlerpolitik.
Akteure, Ziele und Felder in Frankreich und der DDR . . . . . 1.1 »La guerre des musiciens«.
Der »Krieg der Musiker« und die Künstlerpolitik in Frankreich 1.2 Die Künstlerpolitik in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Leitvorstellungen und Modelle staatlicher Künstlerpolitik
in Frankreich und der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Komponist, Staat und Markt.
Das Auftragswesen als Institution der Künstlerpolitik . . . . . 2.1 Almosen oder Auszeichnung?
Der Wandel des staatlichen Auftragswesens in Frankreich . . . 2.2 Vom »staatlichen« zum »gesellschaftlichen«
Auftragswesen in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Von der Kunstförderung zur Regulierung
des musikalischen Feldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
38
60
84
91
93
110
127
Teil II
Musikalisches Wissen und die kompositorische Ausbildung
3. Die höhere musikalische Bildung und
das Kompositionsstudium in Frankreich und der DDR . . . . . 3.1 Ziele und Organisation der höheren musikalischen Bildung
in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Das Kompositionsstudium am Conservatoire National
Supérieur de Musique de Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 »Wir brauchen mehr Tutti-Komponisten«.
Musikhochschulen in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . 135
139
154
172
3.4 Zwischen Berufsbildung und Disziplin.
Das Kompositionsstudium an den Musikhochschulen
der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Die Akademisierung professionellen Wissens
in Frankreich und der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wettbewerbe, Preise und künstlerische Leistung . . . . . . . . 4.1 Der Prix de Rome de composition musicale . . . . . . . . . . 4.2 Die Meisterschülerausbildung an der Akademie der Künste
der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Kompositorische Leistung im musikalischen Feld . . . . . . . . 192
206
213
216
227
243
Teil III
Institutionalisierung und Organisation des Komponistenberufes
5. Komponisten in Frankreich und der DDR .
Berufsbedingungen und Karrieremuster . . . . . . . . . . . . 5.1 Soziale Herkunft und geographische Mobilität . . . . . . . . . 5.2 Berufsbild und Karriereverläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Berufsorganisationen in Frankreich und der DDR . . . . . . . 6.1 Verwertung von Rechten, künstlerische Qualität und
gesellschaftliche Anerkennung.
Berufsorganisationen in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Regeln und Bedingungen der Beruflichkeit.
Der Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler
der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Ziele und Funktionen von Berufsorganisationen
in Frankreich und der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
249
259
263
266
279
296
Schluss. Die Professionalisierung von Komponisten
im Kultur- und Wohlfahrtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . 337
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
Einleitung. 
Komponieren als Beruf in Frankreich und der DDR
Wer ist ein Komponist? Ist er ein Genie, ein Schöpfer des Absoluten, ist er
Avantgardist oder ist er Angehöriger der kreativen Klasse, die das wirtschaftliche Wachstum von Städten und Regionen fördern soll? Derartige Bilder
über den Komponisten1 spiegeln die unterschiedlichen Vorstellungen von
seiner Rolle, Funktion und Position in der Gesellschaft. Als Leitbilder sind
sie das Ergebnis gesellschaftlicher Bedeutungszuweisungen, politischer und
ökonomischer Rahmenbedingungen, aber auch individueller und kollektiver Strategien der Komponisten, die sich als Experten für das Schaffen von
Musik inszenieren und dabei soziale, ökonomische und berufliche Interessen
verfolgen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts orientierten sich die modernen
Künstler auch am Leitbild des freien bürgerlichen Berufes oder der akademischen Profession, womit sich Vorstellungen von professioneller Autonomie, kollektiver Selbstorganisation sowie der Regulierung marktbezogener
Erwerbstätigkeit verbanden.2 Vor diesem Hintergrund fragt die vorliegende
Arbeit nach der Konstruktion und Praxis des Komponistenberufes in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Frankreich und der DDR im Vergleich. Sie untersucht insbesondere, ob das Modell der »Profession« in dieser
Zeit das dominierende Leitbild für die Rolle, Funktion und Position des
Komponisten darstellte. Die Arbeit betrachtet also Komponieren als Beruf
und analysiert dessen Professionalisierung von den 1950er Jahren bis in die
1980er Jahre. Sie verfolgt diesen Prozess am Beispiel der Komponisten zeitgenössischer »ernsthafter« Musik und geht davon aus, dass die Professionalisierung des Komponisten nicht allein von innermusikalischen Prozessen
bestimmt ist, sondern ganz wesentlich durch den jeweiligen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontext. Die These der vorliegenden Studie
über Komponisten in Frankreich und der DDR lautet, dass in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts in beiden Ländern das Professionsmodell als
Leitbild der Komponisten in den Vordergrund rückte. Dieses konkurrierte
mit anderen, teilweise älteren Vorstellungen wie dem »Handwerker«, dem
»Genie« oder dem »Intellektuellen« und der »Intel­ligenz«, ergänzte diese aber
auch.
1 Komponisten sind auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Regel
männlich. Aus diesem Grund wird die weibliche Berufsbezeichnung nicht verwendet.
2 Vgl. Ruppert, Wolfgang, Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte
der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1998, S. 557.
7
Einleitung
Der Prozess der Professionalisierung des Komponisten ist eng mit der
Autonomisierung von Kunst verknüpft – eine Entwicklung, die der Soziologe Pierre Bourdieu als Entstehen eines »künstlerischen Feldes«3 beschreibt.
Laut Bourdieu beruht dies auf folgenden Faktoren: auf der Konstituierung
einer Gruppe spezialisierter Produzenten, auf spezifischen Konsekrationsinstanzen und auf der Existenz eines Marktes. Dass sich Komponisten als eine
soziale Gruppe begreifen und so wahrgenommen werden, ist demnach sowohl eine Bedingung als auch das Ergebnis der Ausprägung eines »musikalischen Feldes«. Allerdings vernachlässigt Bourdieu, der seine Theorie anhand der Kunst des 19. Jahrhunderts entwickelt hat, eine Instanz, die in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erheblich an Bedeutung gewann, nämlich den kulturellen Wohlfahrtsstaat.4 Der Kultur- und Wohlfahrtsstaat bildete in dieser Zeit die vierte, gegenüber dem Markt in gewisser Weise dominierende Bedingungsachse. Das musikalische Feld fungiert im Folgenden, in
Anlehnung an Bourdieus Arbeiten über das »Feld der Produktion symbo­
lischer Güter«,5 als Konzept, das gleichzeitig die künstlerischen wie die
kunstexternen Bestimmungen von Musikwerken und Komponisten begreift,
da es soziales und künstlerisches Handeln an Strategien und Prozesse zurückbindet, die hier unter dem Gesichtspunkt der Verberuflichung und Professionalisierung untersucht werden.6
Innerhalb dieses analytischen Rahmens setzt die Studie drei Perspektiven
auf den Komponisten miteinander in Beziehung. Sie betrachtet erstens die
Konstituierung der Berufsgruppe, zweitens die damit verbundenen Selbstund Fremdbilder, Normen und Bedeutungszuweisungen und drittens den
gesellschaftlichen und politischen Kontext der Professionalisierung. Die
Komponisten werden erstens als eine Gruppe definiert, die sich unter anderem durch ihre Handlungsregeln, ihre gesellschaftliche Stellung und durch
ihr Verhältnis zu anderen musikalischen Berufsgruppen charakterisieren
3 Bourdieu, Pierre, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt/Main 2001.
4 Zum Wohlfahrtsstaat: Hennock, Ernest Peter, History of the Welfare State, in: International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, 2004, S. 16439-16445;
Schmidt, Manfred G. (Hg.), Der Wohlfahrtsstaat. Eine Einführung in den historischen und interna­tionalen Vergleich, Wiesbaden 2007.
5 Vgl. Bourdieu, Pierre, Le marché des biens symboliques, in: L’Année Sociologique
22 (1971), S. 49-126.
6 Vgl. auch den Vorschlag von Lutz Raphael, Diskurse, Lebenswelten und Felder als
analytische Instrumente für die Produktion von Kultur zu nutzen: Raphael, Lutz,
Diskurse, Lebenswelten und Felder. Implizite Vorannahmen über das soziale Handeln von Kulturproduzenten im 19. und 20. Jahrhundert, in: Hardtwig, Wolfgang,
Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996, S. 165-181.
8
Einleitung
lässt. Sie versucht, ihre Autonomieansprüche und die von ihr als notwendig
erachteten Handlungsspielräume im musikalischen Feld durchzusetzen.
Dazu mobilisiert sie Ressourcen und bedient sich spezifischer Strategien.
Das berufliche Handeln der Komponisten und ihre Konstituierung als soziale Gruppe ist schließlich auch wesentlich durch das Entstehen künstlerischer Institutionen und Organisationen bedingt. Diese hatten sich seit dem
späten 18. Jahrhundert herausgebildet, als sich das Musiksystem funktional
differenzierte. In der zweiten Hälfte des 18. und im 19. Jahrhundert, in der
Zeit der »bürgerlichen Musikkultur«,7 etablierte sich ein Konzertwesen mit
privat, kommunal oder staatlich gestützten Orchestern, spezifischen Ausbildungsstätten für Musiker sowie künstlerischen Organisationen wie Kunstakademien oder Berufsverbänden. Im musikalischen Feld bildeten sich neue
Rollen wie die des »Komponisten« und »Schöpfers« gegenüber dem »Interpreten« und »ausführenden« Musiker.8 Das geistige Eigentum bescheinigte
den Komponisten »Talent«, vor allem aber »Originalität«. Es grenzte damit
die musikalischen Rollen zusätzlich voneinander ab und hierarchisierte die
Berufe intern.9
Damit verfestigen Institutionen und Organisationen gesellschaftliche Zuschreibungen und Bedeutungszuweisungen. Die vorliegende Studie analysiert zweitens diese Zuschreibungen und Bedeutungszuweisungen. Als
Selbst- und Fremdbilder, Normen und Vorstellungen prägten sie das Handeln von Akteuren wie Komponisten, Gesetzgeber oder Bürokratie. Was
bedeutete es, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Komponist zu sein?
Wie inszenierten sich Komponisten als Experten für ästhetische und sogar
gesellschaftliche Probleme? Die diesbezüglichen Leitfragen der vorliegenden
Studie sind: Sollte der Künstler autonom, unabhängig von sozialen Bezügen
agieren oder sozial vermitteln? Sollte er mit seiner Musik politische Themen
aufgreifen oder sich jenseits aktueller gesellschaftlicher Debatten stellen?
Solche Fragen haben die Komponisten schon in den ersten Jahrzehnten des
20. Jahrhunderts beschäftigt. Nach den Erfahrungen im Nationalsozialismus
stellten sie sich in verschärfter Form. Aber auch die Gesellschaft und der
Staat sprachen den Komponisten und ihren Werken eine bestimmte Bedeutung zu, worauf die Künstler wiederum reagierten. Diese Zuschreibungen
7 Smudits, Alfred, Wandlungsprozesse der Musikkultur, in: Motte-Haber, Helga de la,
Hans Neuhoff (Hg.), Musiksoziologie, Laaber 2007, S. 111-145, S. 114.
8 Vgl. Mittmann, Jörg-Peter, Musikerberuf und bürgerliches Bildungsideal, in: Koselleck, Reinhart (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II. Bildungsgüter
und Bildungswissen, Stuttgart 1990, S. 237-258.
9 Vgl. Kawohl, Friedemann, Urheberrechte, in: Motte-Haber, Helga de la, Hans Neuhoff (Hg.), Musiksoziologie, Laaber 2007, S. 276-296.
9
Einleitung
binden das Schaffen von Kunst in einen gesellschaftlichen und politischen
Kontext, der den Rahmen für das Handeln der Komponisten bildet.
Die Arbeit fragt drittens anhand der staatlichen Kultur- und Musikpolitik, die seit dem frühen und mittleren 20. Jahrhundert die Regeln des musikalischen Feldes beeinflusste, nach den gesellschaftlichen und politischen
Rahmenbedingungen der Professionalisierung. Die Regierungen und Bürokratien in Frankreich und der DDR waren aktiv an der Professionalisierung
der Komponisten beteiligt. Der Staat diente jedoch auch als Arena, in der
unterschiedliche Deutungen über Musik und den Komponisten ausgehandelt und politisch umgesetzt wurden. In der Arbeit wird zu zeigen sein, wie
der Staat die Musik gesellschaftlich aufwertete und eine Künstlerpolitik
schuf, die in spezifischer Weise auf den Komponisten zielte. Welche Funktion übernahm der Staat für die Professionalisierung, wie strukturierte sein
Eingreifen den Markt für musikalische Produkte? Welche musikpolitischen
Ziele und Leitlinien entwickelten Regierung, Verwaltung und Parteien in
Frankreich und der DDR ? Mit welchen Argumenten formulierten die Komponisten ihre Ansprüche an den Staat? Zu Recht weisen Studien über das
künstlerische Feld in der DDR darauf hin, dass die Dominanz des politischen Feldes der bei Bourdieu angelegten »tendenziellen Gleichberechtigung«10
der Felder zuwiderlief. Für die DDR ist damit im Anschluss an Bourdieu das
»politische Kapital« als entscheidendes Differenzierungsmerkmal staatssozialistischer Gesellschaften einzuführen.11 Daraus leitet sich die Frage ab, wie
die im Vergleich zu Frankreich besonders starke politikförmige Organisation
des musikalischen Feldes das berufliche Handeln der Komponisten beeinflusste.
Durch diese drei Perspektiven verbindet die vorliegende Arbeit Forschungen zur Geschichte des Künstlers und zur Professionalisierung von Berufen
mit geschichtswissenschaftlichen Zugängen zum Gesellschaftsvergleich.
Diese Forschungsstränge, Theorien und Debatten werden im Folgenden vertieft, auf ihre Relevanz für die Frage »Komponieren als Beruf« überprüft und
kritisch weiter entwickelt.
10 Ohlerich, Gregor, Sozialistische Denkwelten. Modell eines literarischen Feldes der
SBZ /DDR 1945 bis 1953, Heidelberg 2005, S. 63.
11 Vgl. Bourdieu, Pierre, Politisches Kapital als Differenzierungsprinzip im Staatssozialismus, in: Dölling, Irene, Pierre Bourdieu. Die Intellektuellen und die Macht,
Hamburg 1991, S. 33-40.
10
Komponisten und Musiker in der historischen, soziologischen
und musikwissenschaftlichen Forschung
Sozial- und kulturhistorische Studien untersuchen den sozio-ökonomischen
Status sowie die gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen der
Beruflichkeit von Komponisten und Musikern. Für die Zeit vom 18. bis zum
20. Jahrhundert bestimmen sie dabei verschiedene Leitbilder und Rollen.
Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass sich Komponieren als spezia­
lisierte, abgrenzbare Tätigkeit, die dann vergütet oder entlohnt wird, im
19. Jahrhundert entwickelte, allerdings selten in dieser Reinform existierte.
Trotzdem konnte auf der Grundlage dieser Spezialisierung und Abgrenzung
die kompositorische Tätigkeit seitdem teilweise professionsförmig organisiert
und Komponieren zum Beruf und zur modernen Profession gemacht werden.
Dieser Prozess wurde zuerst von der englischen sozial- und wirtschaftshistorischen Forschung untersucht. Sie beschäftigte sich seit den 1980er Jahren
mit der Geschichte der Musiker und Komponisten und beschreibt diese
Gruppen in der Tradition des anglo-amerikanischen Begriffs der Profession
als »liberal profession« (freier Beruf ). Wegweisend für eine ganze Reihe von
Arbeiten zu diesem Thema ist das Werk des Sozial- und Wirtschaftshistorikers Cyril Ehrlich über die musikalische Profession von 1870 bis 1930. Laut
Ehrlich gelang es ihr nicht, sich einen angemessenen Status zu erarbeiten,
sich über die Grenzen zwischen »Amateuren« und »professionals« zu einigen
oder anerkannte Ausbildungsstätten zu schaffen. Er betont schließlich, dass
die Professionalisierung der musikalischen Berufe keinen Erfolg hatte.12
Auch Deborah Rohr, die die Professionalisierungsbestrebungen englischer
Musiker und Komponisten zwischen 1750 und 1850 untersuchte, stellt fest,
dass die Strategien der Künstler ihr Ziel nur teilweise erreichten. Sie seien
deshalb bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mehrheitlich »Handwerker« geblieben.13 Der Handwerker arbeitete in der Regel an einer kirchlichen oder
höfischen Einrichtung nach den Anweisungen seines Auftraggebers und im
12 Ehrlich, Cyril, The Music Profession in Britain since the Eighteenth Century. A
Social History, Oxford 1985; in dessen Tradition: Bashford, Christina (Hg.), Music
and British culture 1785-1914. Essays in honour of Cyril Ehrlich, Oxford 2006; darin: Olleson, Philip, Samuel Wesley and the music profession, S. 23-38.
13 Rohr, Deborah, The careers of British musicians, 1750-1850. A profession of artisans,
Oxford 2001. Deborah Rohr schreibt die misslungene Professionalisierung in letzter
Instanz der Konnotation von Musik mit Weiblichkeit zu, da Frauen im 19. Jahrhundert ihre Bildung vor allem im Bereich der Musik vervollständigten und es deswegen
besonders viele weibliche Amateure gab. Sie vernachlässigt jedoch, dass damit eine
professionelle Schließung gerade erst recht möglich wurde: In dem Maße, wie
Frauen zunehmend als Amateure bezeichnet wurden, konnten sie die Musik immer
11
Einleitung
Rahmen der adligen oder konfessionellen Konventionen. In Bezug auf seine
Stellung am Hof wird er auch als »Hofkünstler«14 beschrieben, der in der
Regel eine feste, wenn auch untergeordnete Stellung innehatte und seine
Werke für die konkreten Bedürfnisse seines jeweiligen Auftraggebers schrieb.
Die adlige Patronage ermöglichte es einigen Komponisten wie Georg Friedrich Händel in begrenztem Maße ihre sozialen und beruflichen Aspirationen
zu verwirklichen und ihre kompositorische Karriere zu sichern, welche sich
allein durch den Verkauf der Werke auf einem bürgerlichen Musikmarkt
noch nicht entfalten konnte.15
Der im 19. Jahrhundert entstehende bürgerliche Musikmarkt16 und das
bürgerliche Musikleben mit einem Konzertwesen und Musikverlagen ermöglichten es dem Komponisten, sich aus traditionellen höfischen und
kirchlichen Beziehungen zu lösen. Dabei wurde seine Rolle sozial und kulturell aufgewertet, er übernahm nun eine Reihe von Funktionen und folgte
dabei unterschiedlichen Leitbildern. Der Soziologe Norbert Elias zeigt am
Beispiel von Wolfgang Amadeus Mozart, wie riskant die Emanzipation zum
»freien Künstler« war. Mozart löste sich aus seiner Funktion als Hofkünstler
nur um den Preis wirtschaftlichen Scheiterns, da der Musikmarkt zu dieser
Zeit noch nicht voll ausgeprägt war.17 So wie andere freie Künstler betätigte
sich auch Mozart als »Unternehmer«18, organisierte Konzertreisen und präsentierte seine Werke im Ausland.19 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-
14
15
16
17
18
19
12
weniger zum Beruf machen. Männliche Musiker konnten dann ihren Beruf professionell schließen und sich so erst professionalisieren.
Über dieses Selbstverständnis und die gesellschaftliche Rolle des Komponisten im
18. Jahrhundert: Beer, Axel, Musik zwischen Komponist, Verlag und Publikum,
Tutzing 2000. Dass das Patronagesystem nicht auf das 18. Jahrhundert beschränkt
blieb und sich auch auf großbürgerliche Schichten ausdehnte zeigt Myriam
Chimènes. Sie untersucht den Einfluss des großbürgerlichen und adligen Mäzenatentums auf das musikalische Schaffen in Paris. Vgl. Chimènes, Myriam, Mécènes
et musiciens. Du salon au concert à Paris sous la IIIè République, Paris 2004.
Vgl. Burrows, Donald, Händel in London, in: Ehrmann-Herfort, Sabine, Ludwig Finscher, Giselher Schubert (Hg.), Europäische Musikgeschichte, Kassel 2002, S. 461-498.
Vgl. McVeigh, Simon, A Free Trade in Music. London during the Long 19th Century in a European Perspective, in: Journal of Modern European History 5 (2007),
H. 1, S. 57-93. Über das Musikverlagswesen: Rasch, Rudolf, Music publishing in
Europe 1600-1900. Concepts and issues, bibliography, Berlin 2005.
Elias, Norbert, Mozart. Zur Soziologie eines Genies, Frankfurt/Main 1991.
Weber, William (Hg.), The Musician as Entrepreneur 1700-1914. Managers, Charlatans, and Idealists, Bloomington and Indianapolis 2004.
Über die Reisen von Virtuosen und Musikern aus europäischer Perspektive: Meyer,
Christian (Hg.), Le musicien et ses voyages. Pratiques, réseaux et représentations,
Berlin 2003. Die Reisen in eine globalgeschichtliche Betrachtung europäischer
Einleitung
derts inszenierten sich Komponisten erfolgreich als »Nationalkomponisten«
und übernahmen die Aufgabe, ihre Nation durch musikalische Werke zu
präsentieren und symbolisch von anderen abzugrenzen. Sie wurden gegenüber ausländischen Künstlern bevorzugt und weckten, durchaus mit dem
Ziel, die kompositorische Konkurrenz zu verdrängen, in einigen Fällen sehr
erfolgreich das Interesse an ihren Werken (»Nationalopern«).20
Schließlich stand der Komponist als »moderner Künstler« in einer spezifischen Beziehung zum Bürgertum und entwickelte sich in einem spannungsreichen Verhältnis zur kulturellen Moderne.21 Er wurde zwar, wie Ludwig van Beethoven, von großen Teilen des bürgerlichen Publikums als
»Genie«22 verklärt, es gelang ihm jedoch nicht, sich vollständig in die soziale
und kulturelle Formation des Bürgertums zu integrieren.23 Gleichwohl versuchten sich die Künstler im frühen 20. Jahrhundert ähnlich den bürger­
lichen Bildungsberufen zu professionalisieren, um die von ihnen angestrebte
sozio-kulturelle Zugehörigkeit zum (Bildungs-)Bürgertum zu festigen und
sich auf dem musikalischen Markt zu behaupten.24 Der Markt des frühen
20. Jahrhundert war durch eine zunehmende Konkurrenz populärkultureller
Angebote gekennzeichnet und wandelte sich massiv durch Prozesse der
20
21
22
23
24
Kunst stellend: Osterhammel, Jürgen, Globale Horizonte europäischer Kunstmusik,
1860-1930, in: GG 38 (2012), H. 1, S. 86-132.
Vgl. Ther, Philipp, Geschichte und Nation im Musiktheater Deutschlands und Ostmitteleuropas, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 50 (2002), H. 2, S. 119-140.
Leider deutet Ther die These nur an, dass die Nationalkomponisten vor allem ein
zentral- oder ostmitteleuropäisches Phänomen gewesen seien, da die soziale Stellung
der Komponisten in Frankreich und Italien schon etablierter war und sie deswegen
andere Strategien verfolgen konnten.
Vgl. Ruppert, Künstler; Budde, Gunilla, Stellvertreterkriege. Politik mit Musik des
deutschen und englischen Bürgertums im frühen 19. Jahrhundert, in: Journal of
Modern European History 5 (2007), H. 1, S. 95-118; Pieper, Antje, Music and the
Making of Middle-Class Culture. A Comparative History of Nineteenth-Century
Leipzig and Birmingham, London 2008.
DeNora, Tia, Beethoven and the Construction of Genius. Musical Politics in
­Vienna, 1792-1803, Berkeley 1996.
Vgl. Hein, Dieter, Bürgerliches Künstlertum. Zum Verhältnis von Künstlern und
Bürgern auf dem Weg in die Moderne, in: Hein, Dieter, Andreas Schulz, Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996, S. 102117.
Unter diesem Aspekt begreift der Musikwissenschaftler Christian Kaden, allerdings
in einigen Teilen normativ und ohne die Professionssoziologie rezipiert zu haben,
Professionalismus in der Musik. Er fasst die Professionalisierung als ein Ergebnis
von Spezialisierung, Monetarisierung und Kommerzialisierung. Vgl. Kaden, Christian,
Professionalismus in der Musik. Eine Herausforderung an die Musikwissenschaft, in:
Kaden, Christian (Hg.), Professionalismus in der Musik, Essen 1999, S. 17-32.
13
Einleitung
Technisierung und mechanischen Reproduktion musikalischer Werke.25 In
der Rolle des »Autors« und »Urhebers« versuchte der Komponist mithilfe
von Institutionen wie dem geistigen Eigentum, seine Werke marktförmig zu
verwerten und seine moralischen und ökonomischen Rechte zu sichern.26 Er
grenzte sich dabei auch von anderen musikalischen, möglicherweise konkurrierenden Tätigkeiten ab. Alles in allem waren jedoch die Monopolisierungsund Schließungsstrategien von Künstlern weit weniger erfolgreich als die
von wissenschaftlichen und bürgerlichen Berufen, wie neuere Arbeiten über
Schriftsteller und Bildende Künstler zeigen.27 Die bisherige Forschung begründete das mit den strukturellen Eigenheiten künstlerischer Tätigkeiten
und künstlerischer Arbeit, zum Beispiel der Trennung zwischen »Brotberuf«
und »künstlerischer Berufung« oder der mangelnden Einigkeit über Kriterien künstlerischer »Qualität«.28
Sich als Profession zu inszenieren war nur eine mögliche Strategie der
Künstler, Autonomiebestrebungen durchzusetzen oder materielle und soziale
Ressourcen zu erlangen. Seit dem späten 19. Jahrhundert verfolgten sie die
alternative Strategie, sich als »Intellektuelle« zu positionieren.29 Die Arbeiten,
die sich mit den Intellektuellen beschäftigen, verfolgen diese Selbst- und
Fremdzuschreibungen und verweisen auf die Interdependenz von ästhetischer und politischer Positionierung.30 Ebenso zählten sich die Komponisten
25 In wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive: Peacock, Alan, Ronald Weir, The
Composer in the market place, London 1975.
26 Kawohl, Friedemann, Martin Kretschmer, Von Tondichtern und DJs – Urheberrecht zwischen Melodieneigentum und Musikpraxis, in: Hofmann, Jeanette (Hg.),
Wissen und Eigentum. Geschichte, Recht und Ökonomie stoffloser Güter, Bonn
2006, S. 189-220.
27 McClelland, Charles E., Prophets, paupers, or professionals? A social history of
everyday visual artists in modern Germany, 1850-present, Oxford u. a. 2003; Scheideler, Britta, Zwischen Beruf und Berufung. Zur Sozialgeschichte der deutschen
Schriftsteller von 1880 bis 1933, Frankfurt/Main 1997.
28 Eine typische Defizitgeschichte erzählen auch: Frederickson, Jon, James F. Rooney,
How the Music Occupation failed to become a profession, in: International Review
of the Aesthetics and Sociology of Music 21 (1990), H. 2, S. 189-206. Im Gegensatz
dazu bestimmt Hans Peter Thurn Kunst sowohl als »Beruf« als auch als »Lebensform«. Vgl. Thurn, Hans Peter, »Kunst als Beruf«, in: Gerhards, Jürgen (Hg.), Soziologie der Kunst. Produzenten, Vermittler und Rezipienten, Opladen 1997, S. 193124.
29 Fulcher, Jane, The Composer as Intellectual. Music and Ideology in France 19141940, Oxford 2005.
30 Die Spannung zwischen politischem Engagement und ästhetischen Autonomiebestrebungen beschreibt Michel Alten anhand der kommunistischen Künstler in Frankreich
und ihrem Verhältnis zur Sowjetunion, ohne dies jedoch in eine theoretische oder
systematische Fragestellung einzubetten. Vgl. Alten, Michèle, Musiciens français dans
14
Einleitung
zu den »geistig« Tätigen und grenzten sich damit von den manuell Arbeitenden ab. Im Staatssozialismus griff das Konzept der Intelligenz31 diese Trennung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit auf und privilegierte die
Komponisten gesellschaftlich, indem sie zur Intelligenz gezählt wurden.
Auch die berufsständische Politik des Nationalsozialismus hatte schon
länger vorgetragene Forderungen der Künstler zu einem stärkeren staatlichen
Schutz der Profession befriedigt. Die (neo-)korporatistische Strategie, das
berufliche Feld durch die Organisation in Verbänden zu schließen, ging
einher mit der Politik des nationalsozialistischen Regimes, das die Künstler
in Kammern zusammenfasste und sie wirtschaftlich förderte. Es knüpfte
hier an frühere Professionalisierungsbestrebungen an und traf sich in dieser
Hinsicht mit den Interessen der Künstler, die es allerdings aushöhlte oder
instrumentalisierte. Die Instrumentalisierung der Künstler etwa für Propagandazwecke beraubte sie eines Großteils ihrer Autonomie und trug massiv
zu ihrer Deprofessionalisierung bei.32 Nicht zuletzt beruhte die Schließung
der Berufsgruppe auf rassistischer und politischer Diskriminierung. Jüdische
Künstler erhielten Berufsverbote, andere wurden in ihrer Berufsausübung
massiv eingeschränkt. Auch in Frankreich ließ sich spätestens seit den 1930er
Jahren der Ruf nach einer Berufsorganisation für Komponisten und Musiker
nicht mehr überhören. Inspiriert von faschistischen (neo-)korporativen
­Modellen wandelte auch das Vichy-Regime die professionellen Forderungen
der Künstler in ein korporatistisches Projekt um. Auch hier gingen die staatlichen Ziele der Disziplinierung und Instrumentalisierung mit dem alten
Ziel der Profession zusammen, das musikalische Leben in Frankreich zu
reformieren und ein Großteil der Profession profitierte von der damit verbundenen Nationalisierung.33 Es wird zu zeigen sein, welche professionellen
la guerre froide (1945-1956). L’indépendance artistique face au politique, Paris 2001;
grundlegend zu den Intellektuellen im Vergleich: Charle, Christophe, Vordenker der
Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1997.
31 Vgl. Jessen, Ralph, »Bildungsbürger«, »Experten«, »Intelligenz«. Kontinuität und
Wandel der ostdeutschen Bildungsschichten in der Ulbricht-Ära, in: Ehrlich,
­Lothar, Gunther Mai (Hg.), Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht, Köln 2000,
S. 113-134.
32 Vgl. Kater, Michael H., Die mißbrauchte Muse. Musiker im Dritten Reich, München 2000; Jarausch, Konrad H., Die unfreien Professionen. Überlegungen zu den
Wandlungsprozessen im deutschen Bildungsbürgertum 1900-1955, in: Kocka, Jürgen (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich,
Bd. II: Wirtschaftsbürger und Bildungsbürger, Göttingen 1995, S. 200-222.
33 Simon, Yannick, Composer sous Vichy (1940-1944), in: Feneyrou, Laurent (Hg.),
Résistances et utopies sonores, Paris 2005, S. 39-47; Chimènes, Myriam (Hg.), La
vie musicale sous Vichy, Paris 1999; Bertrand Dorléac, Laurence, L’ordre des artistes
et l’utopie corporatiste. Les tentatives de régir la scène artistique française entre juin
15
Einleitung
Forderungen der Komponisten schließlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfüllt wurden und welche Kontinuitäten und Brüche sich zu vorherigen Professionalisierungsstrategien feststellen lassen.
Kunstsoziologische Forschungen über die Komponisten und Künstler in
Frankreich und der DDR verweisen auf den grundlegenden Wandel des
Verhältnisses dieser Gruppen zu Markt und Staat in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts. Der Soziologe Pierre-Michel Menger charakterisierte in
zahlreichen Publikationen den Arbeitsmarkt der Komponisten in Frankreich, der durch eine zunehmende Dominanz des Staates und eine abnehmende Bedeutung des Musikmarktes gekennzeichnet sei. Er untersuchte,
inwieweit das die Karriereverläufe von Komponisten seit den 1960er Jahren
betraf.34 Mengers Arbeiten gehören zu einer Reihe von Publikationen, die
am heutigen Centre de Sociologie du Travail et des Arts über das Schaffen von
Kunst, den Kunstmarkt oder die künstlerischen Berufe in Frankreich entstanden sind.35 Für die DDR zeigen die Soziologen Paul Kaiser und KarlSiegbert Rehberg, wie der Markt durch alternative kulturpolitische Instrumente ersetzt und die Künstler nicht-marktförmig entlohnt werden sollten.
Laut Rehberg und Kaiser gewann in der DDR das Leitbild des Hofkünstlers
wieder an Ansehen.36 Im Bereich der Musik wurde das Musikverlagssystem37
verstaatlicht und Institutionen wie das Auftragswesen oder das Urheberrecht
sollten den Markt korrigieren. Es wird zu zeigen sein, dass die Kulturpolitik
sowohl in Frankreich als auch in der DDR einen weitergehenden Wandel
der Beruflichkeit der Komponisten provozierte. Hier wie dort unterstützte
34
35
36
37
16
1940 et août 1944, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine (1990), H. mai,
S. 64-85; Sapiro, Gisèle: Les professions intellectuelles entre l’État, l’entrepreneuriat
et l’industrie, in: Le mouvement social 214, (2006), H. janvier-mars, S. 3-18.
Vgl. Menger, Pierre-Michel, La condition du compositeur et le marché de la musique contemporaine, Paris 1980. Dieses Buch ist später in erweiterter Form veröffentlicht worden: Menger, Pierre-Michel, Le Paradoxe du Musicien. Le compositeur, le mélomane et l’État dans la société contemporaine, Paris 2001.
Federführend war hier Raymonde Moulin mit ihren Arbeiten zu den Bildenden
Künstlern. Vgl. Moulin, Raymonde, L’artiste, l’institution et le marché, Paris 1992.
Vgl. Kaiser, Paul, »Hofkünstler« im »Arbeiter- und Bauernstaat«? Zur Sozialfigur des
bildenden Künstlers in der DDR , in: Fischer, Joachim, Hans Joas (Hg.), Kunst,
Macht und Institution. Studien zur philosophischen Anthropologie, soziologischen
Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg,
Frankfurt/Main u. a. 2003, S. 622-639; Kaiser, Paul, Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.),
Abstraktion im Staatssozialismus. Feindsetzungen und Freiräume im Kunstsystem
der DDR , Weimar 2003.
Vgl. Hinterthür, Bettina, Noten nach Plan. Die Musikverlage in der SBZ /DDR .
Zensursystem, zentrale Planwirtschaft und deutsch-deutsche Beziehungen bis Anfang der 1960er Jahre, Stuttgart 2006.
Einleitung
der Staat diesen Wandel durch einen spezifischen institutionellen Rahmen,
beispielsweise bei der Förderung von Musik und Komponisten, bei der musikalischen Bildung und Ausbildung oder den Berufsorganisationen.
Die Komponisten in der DDR sind bisher vorwiegend unter musikwissenschaftlichen Gesichtspunkten erforscht worden. Diese Arbeiten beschäftigen sich in der Regel mit dem Verhältnis von Kunst und politischer Macht
sowie mit der Frage, wie die musikpolitischen Institutionen das Entstehen
und die Ästhetik von Werken beeinflussten.38 Ein Großteil der Forschung
konzentriert sich überdies auf die Zeit bis 1961. Gezeigt wird, wie die Komponisten in dem Spannungsfeld zwischen staatlicher Förderung und daraus
abgeleiteten (politischen) Forderungen agierten und wie sich das auf ihre
musikalische Praxis auswirkte.39 Die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen interessieren in der musikwissenschaftlichen Forschung vielfach
nur als Rahmen für das Entstehen von Werken. Der eigentliche Fokus liegt
auf der Komposition.40 Die meisten Arbeiten beschränken sich zudem auf
die kleine Zahl der Komponisten der musikalischen Avantgarde in der DDR
oder auf berühmte Künstler.
Die vorliegende Studie erweitert die soziologische und musikwissenschaftliche Forschung zu Künstlern und Komponisten in Frankreich und der DDR
in mehrerer Hinsicht. Sie verknüpft die Geschichte der Komponisten mit
der Theorie der Professionalisierung und des musikalischen Feldes. Sie beansprucht, das Handeln von Komponisten als durch Institutionen vermittelt
zu erklären und bindet deren Vorstellungen, Sinnproduktionen und Bedeu38 Vgl. Berg, Michael (Hg.), Die unerträgliche Leichtigkeit der Kunst. Ästhetisches
und politisches Handeln in der DDR , Köln 2007; Berg, Michael, Albrecht von
Massow, Nina Noeske (Hg.), Zwischen Macht und Freiheit. Neue Musik in der
DDR , Köln 2004; Tischer, Matthias (Hg.), Musik in der DDR . Beiträge zu den
Musikverhältnissen eines verschwundenen Staates, Berlin 2005; Klingberg, Lars,
»Politisch fest in unseren Händen«. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR , Kassel u. a. 1997; Köster, Maren, Musik-Zeit-Geschehen.
Zu den Musikverhältnissen in der SBZ , Saarbrücken 2002; Noeske, Nina, Musikalische Dekonstruktion. Neue Instrumentalmusik in der DDR , Köln 2007; Stöck,
Gilbert, Neue Musik in den Bezirken Halle und Magdeburg zur Zeit der DDR .
Kompositionen – Politik – Institutionen, Leipzig 2008.
39 Akribisch stellt Daniel zur Weihen die staatlichen und musikalischen Institutionen
für die Zeit bis zum Mauerbau dar. Vgl. Zur Weihen, Daniel, Komponieren in der
DDR . Institutionen, Organisationen und die erste Komponistengeneration bis 1961,
Köln 1999.
40 Konzeptuell oder theoretisch verbunden werden diese beiden Ebenen selten. Eine
Ausnahme: Sporn, Christiane, Musik unter politischen Vorzeichen. Parteiherrschaft
und Instrumentalmusik in der DDR seit dem Mauerbau. Werk- und Kontextanalysen,
Saarbrücken 2007. Sporn arbeitet mit einem soziologisch fundierten Machtbegriff.
17
Einleitung
tungszuweisungen sowie ihr Handeln an den gesellschaftlichen und politischen Kontext zurück. Sie betrachtet Komponisten als Profession und fragt
damit neben dem Besonderen auch nach dem Allgemeinen. Insofern relativiert sie die individualisierende Sicht auf die Künstler, die etwa in musikwissenschaftlichen Biographien »großer« Komponisten eingenommen wird.41
Sie bezweifelt aber auch die in Teilen der Kunst- und Künstlersoziologie
vertretene These, dass der Künstler unmöglich professionalisiert werden
könne. Diese Arbeiten, die die Definition, wer ein Künstler ist, vor allem
dem künstlerischen Individuum und seiner Berufung zuschreiben, nehmen
in gewisser Weise eine ähnlich individualisierende Sicht ein wie die musikwissenschaftliche Forschung.42 Individuelle Beurteilungen und Erfahrungen
werden im Folgenden nicht außer Acht gelassen, man kann jedoch davon
ausgehen, dass die Komponisten immer wieder zu definieren versuchten,
was Künstlerschaft sei und dabei nicht nur als Individuen handelten, sondern sich als eine Gruppe begriffen. Sie verständigten sich über formelle und
informelle Regeln der Beruflichkeit etwa in Entscheidungsprozessen über
die Vergabe von Stipendien und Auftragswerken aber auch in den Diskussionen über die Ziele musikalischer Bildung. Die Studie betrachtet die soziale
Stellung und Beruflichkeit des Komponisten aus einer Außenperspektive.
Sie untersucht aber auch die Binnendifferenzierung und das Selbstverständnis der Komponisten, welches sich beispielsweise in Diskussionen um Ausbildungsprogramme oder die Funktion von Berufsorganisationen manifestiert. Professionalisierung wird hier gleichermaßen als ein individueller wie
kollektiver Prozess betrachtet, der seine besondere Dynamik gerade aus der
Spannung zwischen beiden Polen bezieht.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wandelten sich die gesellschaftliche Bedeutung von Musik und die kulturellen Zuschreibungen ebenso wie
die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen des Komponierens. Da der Staat in dieser Zeit verstärkt als Professionalisierungsakteur
41 Allerdings geht die Musiksoziologie auch sozialgeschichtlichen Fragestellungen
nach, etwa: Salmen, Walter, Hans Neuhoff, Anne Weber-Krüger, Der soziale Status
des Musikers, in: Motte-Haber, Helga de la, Hans Neuhoff (Hg.), Musiksoziologie,
Laaber 2007, S. 183-212.
42 Vgl. McClelland, Prophets; Scheideler, Beruf. Der Soziologe Eliot Freidson betont
dagegen den geringen Grad der beruflichen Autonomie der Künstler, was dazu
führte, dass sich diese nicht professionalisieren konnten. Er misst dabei unterschiedslos die Empirie an einem Idealtypus, ohne Professionalisierung als einen
Prozess zu begreifen, der nicht in allen vorher ausgewählten Kriterien erfolgreich
verlaufen muss. Vgl. Freidson, Eliot, Pourquoi l’art ne peut pas être une profession,
in: Menger, Pierre-Michel, Jean-Claude Passeron (Hg.), L’art de la recherche. Essais
en l’honneur de Raymonde Moulin, Paris 1994, S. 117-136.
18
Einleitung
auftrat, intensivierten schließlich alle Seiten ihre Bestrebungen, das Kom­
ponieren zur gesellschaftlich geregelten Profession zu machen. Ältere Ansätze zur Professionalisierung haben diese Funktion des Staates noch nicht
genügend beachtet.43 Ziel der Arbeit ist es, am Beispiel des Komponisten die
Professionalisierung künstlerischer Berufe aufzuzeigen. Sie wurde jedoch in
verschiedenen Gesellschaften und politischen Systemen unterschiedlich gestaltet. Die Arbeit nimmt aus diesem Grunde Ähnlichkeiten und Unterschiede in Frankreich und der DDR in den Blick und will diese verstehen
und erklären.
Die Professionalisierung des Komponistenberufes
Eine Profession ist ein Beruf besonderen Typs.44 Abhängig von der theoretischen Perspektive unterscheiden sich allerdings die Kriterien der Abgrenzung von Profession und Beruf. Die angloamerikanische und angelsächsische soziologische Forschung stellte seit den 1960er Jahren bei den
entsprechenden Berufsgruppen vor allem die Autonomie der Profession gegenüber Markt, Staat und den Klienten in den Mittelpunkt. In dieser Lesart
erscheinen Professionen als Expertengruppen, die den Zugang zum Beruf,
seine Ausübung und professionelle Ethik selbst regulieren. Sie besitzen gegenüber ihren Klienten ein erhebliches Machtpotential. Seit den 1980er Jahren kritisierte unter anderem die historische komparatistische Forschung mit
Blick auf den mitteleuropäischen Weg der Professionalisierung von Ärzten,
Rechtsanwälten, Ingenieuren und Lehrern, aber auch Studien über den Zusammenhang von Professionalisierung und Geschlecht, die Kriterien dieses
43 Obwohl McClelland über das 20. Jahrhundert arbeitet, konzipiert er den Staat nicht
systematisch als einen Professionalisierungsakteur, sondern betrachtet die Künstler
fast ausschließlich unter dem Aspekt von Marktzugang und Marktkontrolle. Vgl.
McClelland, Prophets, bes. S. 209-219.
44 Beruf soll folgendermaßen bestimmt sein: »Beruf ist eine spezifische Kombination
von Funktionen und Kompetenzen, Fähigkeiten und Rechten, Einstellungen und
Praktiken, kollektiven Mentalitäten und Ritualen. Er bildet eine vergleichsweise
stabile Grundlage für die Arbeit, den sozialen Status, den Erwerb, die Lebensführung und die Lebenschancen. (…) Er begründet und legitimiert Rolle, Positionen
und Ansprüche und prägt das Denken, Bewußtsein und Verhalten von Individuen
und Gruppen.« Vgl. Siegrist, Hannes, Berufe im Gesellschaftsvergleich. Rechtsanwälte in Deutschland, Italien und der Schweiz, in: Haupt, Heinz-Gerhard, Jürgen
Kocka (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt/Main 1996, S. 207-238, S. 208.
19
Einleitung
Ansatzes.45 Sie seien anhand eines bestimmten historischen Erfahrungsraumes
gebildet und implizierten ein ahistorisches und teleologisches Verständnis von
Professionalisierung. Das zentrale Merkmal der Autonomie sei in großen Teilen Europas, wo diese Berufe im 19. Jahrhundert in besonderer Weise durch
die Bürokratie und den Staat geformt wurden, anders begründet und institutionalisiert worden als in England und in den USA .46 An der Frage der Ausbildung sei diese Kritik beispielhaft erläutert: strebten die Professionen in den
USA über die professional schools die alleinige Kontrolle über die Ausbildung
an, war sie in Deutschland und Frankreich vorwiegend staatlich getragen. Die
historische und vergleichende Forschung betont die Kontextabhängigkeit und
Prozesshaftigkeit der Professionalisierung, die zu verschiedenen Ausprägungen von Professionen führt. Zudem untersucht sie gleichermaßen Prozesse der
De-Professionalisierung. Allerdings verwendet die historische Forschung den
Merkmalskatalog der sozialwissenschaftlichen Arbeiten als heuristisches Raster, um die Konturen der Professionalisierung zu erkennen.
Profession meint, im Anschluss an diese Forschungsansätze, einen Bildungsberuf, der auf einem abstrakten, systematisierten, tendenziell wissenschaftlichen Wissen beruht und dessen Inhaber eine spezialisierte, abgrenzbare Tätigkeit ausübt. Das professionelle Wissen wird in »höheren«, in der
Regel akademischen Bildungseinrichtungen erworben und weitergegeben
und dient, wie eine professionelle Kultur, die sich in beruflichen Normen,
Ethiken und Standards manifestiert, der Abgrenzung gegenüber »Laien« und
anderen Berufen. Professionen bieten Dienstleistungen für zentrale Funktionen der Gesellschaft und des individuellen Lebens an, sie gelten als Experten für Dimensionen wie Gesundheit, Recht, Moral oder Kunst. Basierend
auf dieser spezifischen Funktion verwalten sie die zugehörigen Wissensgüter
und beanspruchen davon ausgehend ein hohes Prestige, einen angemessenen
45 Vgl. Burrage, Michael, Rolf Torstendahl (Hg.), Professions in theory and history.
Rethinking the study of the professions, London 1990; Siegrist, Hannes (Hg.), Bürgerliche Berufe. Sozialgeschichte der freien und akademischen Berufe im internationalen Vergleich, Göttingen 1988; Siegrist, Hannes, The Professions in NineteenthCentury Europe, in: Kaelble, Hartmut (Hg.), The European way. European Societies
during the Nineteenth and Twentieth Centuries, New York 2004, S. 68-88; Jarausch,
Konrad H., The unfree professions. German lawyers, teachers, and engineers, 19001950, New York 1990; Costas, Ilse, Professionalisierungsprozesse akademischer Berufe und Geschlecht. Ein internationaler Vergleich, in: Barrieren und Karrieren,
Berlin 2000, S.13-32; Huerkamp, Claudia, Frauen im Arztberuf im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland und die USA im Vergleich, in: Hettling, Manfred (Hg.), Was
ist Gesellschaftsgeschichte?, München 1991, S. 135-145.
46 Zu Osteuropa: McClelland, Charles, Stephan Merl, Hannes Siegrist (Hg.), Professionen im modernen Osteuropa. Professions in modern Eastern Europe, Berlin 1995.
20
Einleitung
sozialen Status, spezifische Formen der Beschäftigung und ein gewisses Maß
an Autonomie gegenüber den Klienten und Laien.
Diese Definition bestimmt ein spezifisches Wissen als konstitutiv für das
Entstehen von Professionen, womit sich die Professionsforschung mit neueren Ansätzen der Wissenschaftsgeschichte und der Wissenschaftssoziologie
verbinden lässt.47 Demnach verwalten Professionen ein berufliches Wissen,
welches sie reflektieren und kodifizieren und damit so verallgemeinern, dass
es akademisch lehrbar wird.48 Zugleich differenzieren sich die Professionen
weiter aus, wenn sich das als gesellschaftlich relevant erachtete Wissen erweitert.49 Allerdings löste sich im 19. Jahrhundert die enge Kopplung von Wissen und Professionen und die modernen Professionen bezogen sich nun auf
ihre spezifische Funktion in der Gesellschaft. Im 20. Jahrhundert verwalteten auf der Grundlage sozialer Differenzierung verschiedene soziale Gruppen das für die jeweiligen gesellschaftlichen Teilbereiche zentrale Wissen.
Überträgt man die Frage, wie sich Berufsgruppen durch spezifische Wissensgüter und Wissensordnungen konstituieren, wie sie dieses Wissen verwalten und gegenüber konkurrierenden Wissensbeständen und Berufen
behaupten, auf die Künstler, lassen sich Komponisten als Profession begreifen. Die vorliegende Arbeit schließt damit an solche Forschungsansätze an,
die die kognitive und symbolische Dimension der Professionalisierung in
den Vordergrund stellen. Sie fragt nach dem professionellen Wissen und den
Inszenierungen und Praktiken dieses Wissens. Nach welchen Regeln wurde
dieses Wissen, das sowohl theoretischer als auch praktischer Natur sein
konnte, erworben, kontrolliert und hierarchisiert? Welcher Art waren die
Regeln professionellen Handelns und gelang es den Komponisten, sie durchzusetzen? Die Professionalisierung des Komponisten bezieht sich auf die
Konstruktion und Regulierung einer spezifischen Kompetenz und Expertise. Diese Expertise bildet die Legitimation künstlerischer Praktiken, exklusiver Rechte und der Behauptung einer beruflichen Autonomie innerhalb
47 An dieser Stelle sei nur eine zentrale Studie über die Professionen genannt: Abbott,
Andrew, The System of Professions. An Essay on the Division of Expert Labor,
Chicago 1988.
48 Stichweh, Rudolf, Professionen in einer funktional differenzierten Gesellschaft, in:
Combe, Arno, Werner Helsper (Hg.), Pädagogische Professionalität, Frankfurt/
Main 1996, S. 49-69, S. 51.
49 Stichweh, Rudolf, Wissen und die Professionen in einer Organisationsgesellschaft,
in: Klatetzki, Thomas, Veronika Tacke (Hg.), Organisation und Profession. Wiesbaden 2005, S. 31-44, S. 42. Ob das zu einer »Auflösung« oder »Aushöhlung« der
traditionellen Professionen führt, wie Stichweh behauptet, soll hier nicht weiter
diskutiert werden. Die These der Aushöhlung begründet sich nicht zuletzt in einem
engen Professionenbegriff, den Stichweh zugrunde legt.
21
Einleitung
und außerhalb der Berufsgruppe. Sie wird an Universitäten, bzw. höheren
Bildungseinrichtungen begründet und weitergegeben, durch die praktische
Berufsausübung vertieft und durch die künstlerische Anerkennung in Kooptations- und Gutachterverfahren bestätigt.
Wer ein Komponist sei oder welche Wissensformen und persönlichen
Fähigkeiten einen Künstler charakterisieren (müssen), ist zu verschiedenen
Zeiten unterschiedlich beantwortet worden. Aus diesem Grund liegt der
Untersuchung eine vergleichsweise weite und abstrakte Definition des Komponisten zugrunde. Die Arbeit versteht den Komponisten als kreativ Tätigen
und als Experten für die Produktion symbolischer Formen – der Musik – sowie für die damit verbundenen Praxisformen und Dienstleistungen. Die
historischen Akteure selbst grenzten sich von anderen Berufen und Tätigkeiten ab. Sie taten dies, indem sie durch Schließungsstrategien Statusgruppen
organisierten50 und dabei berufliche Grenzen zogen. Die vorliegende Arbeit
folgt diesen Grenzziehungen, indem sie sich dafür interessiert, welche Akteure, Organisationen und Institutionen nach welchen Kriterien definierten,
wer ein Komponist sei und ob diese Kriterien konkurrierenden Deutungen
gegenüber durchgesetzt werden konnten. Die Fragestellung wird in Anlehnung an die neuere Institutionensoziologie operationalisiert, indem die Arbeit analysiert, wie institutionelle Leitideen ausgehandelt werden.51 Leitideen
sind eine jeweils als gültig empfundene Bestimmung von Beruflichkeit, von
50 Vgl. Collins, Randall, Schließungsprozesse und die Konflikttheorie der Professionen, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 12 (1987), H. 2, S. 46-60, S. 52.
51 Institutionen stellen bestimmte Ordnungsleistungen symbolisch dar. Ordnungsleistungen können sich in materiellen Zeichen, aber auch in Handlungen, Gesten,
Habitus oder Persönlichkeitsentwürfen ausdrücken. Auch Leitideen sind ein symbolischer Ausdruck von Ordnungsleistungen, »eine als gültig empfundene Bestimmung dessen, was beispielsweise […] ›die Kunst‹, ›die Universität‹ etc. jeweils sein
sollen«. Leitideen sind ein »Kampfprodukt« – entstanden aus einer Vielzahl umkämpfter und konkurrierender Deutungskonzepte und Ideen – und deswegen auch
von unterschiedlichen Situationen, Interessen und Trägerschichten abhängig. Vgl.
Rehberg, Karl-Siegbert, Institutionen, Kognitionen, Symbole. Institutionen als
symbolische Verkörperungen, in: Maurer, Andrea, Michael Schmid (Hg.), Neuer
Institutionalismus. Zur soziologischen Erklärung von Organisation, Moral und Vertrauen, Frankfurt/Main 2002, S. 39-56, S. 49; vgl. Maurer, Andrea, Michael Schmid,
Die ökonomische Herausforderung der Soziologie?, in: Maurer, Andrea, Michael
Schmid (Hg.), Neuer Institutionalismus. Zur soziologischen Erklärung von Organisation, Moral und Vertrauen, Frankfurt/Main 2002, S. 9-38; Rehberg, Karl-Siegbert, Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien. Eine Einführung in systematischer Absicht, in: Melville, Gert (Hg.),
Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster
in Vergangenheit und Gegenwart, Köln 2001, S. 3-49.
22
Einleitung
der sozialen und kulturellen Rolle des Komponisten, von Formen und Inhalten professionellen Wissens. Damit grenzen Akteure, Strategien, Organisationen und Institutionen der Professionalisierung den Komponistenberuf
gegenüber anderen Tätigkeiten ab, schließen die Gruppe und bilden den
Rahmen für die Debatten über die Rolle und Funktion des Komponisten.
Überlässt man den historischen Akteuren die Definition darüber, wer ein
Komponist sei, lässt sich daran noch einmal die Argumentation der geschichtswissenschaftlichen Forschung zur Professionalisierung verdeutlichen.
Diese betonte, Professionalisierung führe nicht auf ein überzeitliches, überräumliches Ziel hin, das für alle Berufe in gleichem Maße gelte und ausschließlich anhand eines Merkmalskataloges bestimmt werden könne. Sie sei
vielmehr ein Projekt und ein Prozess, die in ihrem Bezug zu historischen und
gesellschaftlichen Bedingungen zu bestimmen seien. Daraus kann man
schlussfolgern, dass der Begriff der Profession vor allem als heuristisches Mittel dient, der es ermöglicht, einen Idealtypus zu konstruieren. Dieser wurde
historisch von keiner Profession erreicht, erlaubt es jedoch, sowohl erfolgreiche als auch weniger erfolgreiche Versuche der Professionalisierung in den
Blick zu nehmen. Insofern kann sich ein Merkmal, eine Tätigkeit oder ein
ganzer Beruf mehr oder weniger umfassend professionalisieren, aber ebenso
de-professionalisieren.52 An diesem Prozess sind Akteure mit unterschiedlichen Interessen beteiligt, z. B. der Staat, der Experten braucht und Ausbildungsstätten schafft, marktförmige Akteure, die spezifische Produkte nachfragen und eine Spezialisierung begünstigen und die professionellen Akteure
selber, die sich als Experten inszenieren, sich kollektiv organisieren und von
Laien und konkurrierenden Berufsgruppen abgrenzen. Bezieht man das auf
den Untersuchungsgegenstand, bedeutet das, dass die Professionalisierung
zwar in der DDR wie auch in Frankreich stattfand, sich ihre konkrete Form,
ihre jeweilige Funktion und ihre Bedeutung jedoch abhängig vom kulturellen, politischen, sozialen und rechtlichen Kontext unterschiedlich ausprägten. Um die Ähnlichkeiten und Unterschiede der Ausprägungen zu untersuchen, bietet die historische Vergleichsforschung die geeigneten Ansätze.
Der Komponistenberuf in Frankreich und der DDR im Vergleich
Der sozial- und kulturhistorische Vergleich stellt nach Hartmut Kaelble zwei
oder mehr Gesellschaften gegenüber, um Ähnlichkeiten und Unterschiede
sowie Prozesse der Annäherung und Auseinanderentwicklung zu erfor-
52 Vgl. Siegrist, Berufe, S. 211.
23
Einleitung
schen.53 Er will diese verstehen und erklären, indem er sie entweder als Ergebnis gemeinsamer historischer und zeitgenössischer Bezugspunkte, gegenseitiger Wahrnehmungen sowie trans- bzw. internationaler Entwicklungen
und Transfers oder als Ergebnis differierender Kontextbedingungen und
Traditionen begreift. Die vorliegende Arbeit über die Professionalisierung
von Komponisten verfolgt den Gesellschafts- und Kulturvergleich zwischen
Frankreich und der DDR auf der Ebene eines spezifischen Phänomens – den
Bedingungen und Formen der Beruflichkeit.54 Der Idealtypus der Profession
dient dabei als »tertium comparationis«, das die Vergleichseinheiten miteinander in Beziehung setzt.55 Das tertium, das übergeordnete Dritte, ist der
Punkt, auf den die Vergleichseinheiten bezogen und die spezifische Fragestellung, unter der die beiden Gesellschaften betrachtet werden. Sie lautet:
Wie wurde der kompositorische Beruf in zentralistischen, demokra­tischen
oder staatssozialistischen Systemen geformt?
Systematische Vergleiche zwischen Frankreich und der DDR sind bisher
selten durchgeführt worden,56 die Forschung konzentrierte sich stärker auf
53 Kaelble, Hartmut, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1999, S. 12. Die Literatur zum Vergleich ist breit, hier nur
einige ausgewählte Beispiele: Haupt, Heinz-Gerhard, Jürgen Kocka, Historischer
Vergleich. Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: Haupt, HeinzGerhard, Jürgen Kocka, Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, S. 9-46; Haupt, Heinz-Gerhard, Historische Komparatistik in der internationalen Geschichtsschreibung, in: Budde,
Gunilla, Sebstian Conrad, Oliver Janz, Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 137-149; Haupt, Heinz-Gerhard, Jürgen
Kocka (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt/Main 1996; Kaelble, Hartmut, Jürgen
Schriewer (Hg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichtsund Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main 2003.
54 Auf diese notwendige Beschränkung hatte auch schon Marc Bloch hingewiesen, der
nicht Nationen oder Gesellschaften miteinander vergleichen wollte, sondern »soziale
Milieus«. Vgl. Bloch, Marc, Für eine vergleichende Geschichtsbetrachtung der
­europäischen Gesellschaften, in: Middell, Matthias, Steffen Sammler (Hg.), Alles
Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten, Leipzig 1994,
S. 121-167, S. 122.
55 Siegrist, Hannes, Perspektiven der vergleichenden Geschichtswissenschaft. Gesellschaft, Kultur und Raum, in: Kaelble, Hartmut, Jürgen Schriewer (Hg.), Vergleich
und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften,
Frankfurt/Main 2003, S. 305-339.
56 Vgl. jedoch: Höpel, Thomas, Die Kunst dem Volke. Städtische Kulturpolitik in
Leipzig und Lyon 1945-1989, Leipzig 2011 und mit einigen vergleichenden Bezügen
zwischen Frankreich und der DDR : Droit, Emmanuel, Le projet éducatif socialiste
en RDA (1949-1989). Influences, évolution et mise en comparaison, in: Gessmann,
24
Einleitung
gegenseitige Wahrnehmungen57 und Beziehungen.58 Dabei hatte schon im
Jahr 1994 Hartmut Kaelble auf die Möglichkeit und Fruchtbarkeit eines
Vergleichs zwischen Frankreich und der DDR hingewiesen. Dieser könne
auf der Grundlage struktureller Gemeinsamkeiten wie den Familienstruk­
turen, dem Sozialstaat oder der Zentralisierung stattfinden.59 In der vorliegenden Studie bildet die zentralistische Kulturpolitik in Frankreich und der
DDR die strukturelle Gemeinsamkeit und begründet den Vergleich. Beide
Staaten werden gleichermaßen einem zentralistischen Kulturpolitikmodell
zugeordnet, welches durch ein Kulturministerium gekennzeichnet ist, das im
nationalen Rahmen als ein starker Akteur auftritt, einen Großteil der Finanzierung von Kultur trägt und die Kulturpolitik bis in die Gemeinden und
den Alltag hinein beeinflusst.60 Innerhalb des 1959 gebildeten französischen
Kulturministeriums wurde im Jahr 1966 eine spezialisierte administrative
Einheit für die musikalischen Belange geschaffen. In der DDR führte das
Ministerium für Kultur seit dem Jahr 1954 die von der Sowjetischen Militäradministration eingeleitete Zentralisierung des kulturellen Bereichs fort.61
Beide Staaten inszenierten sich darüber hinaus als Kulturnation und bauten
57
58
59
60
61
Martin (Hg.), Bildung in Frankreich und Deutschland. Ideale und Politiken im
Vergleich, Münster 2006, S. 96-115.
Vgl. Röseberg, Dorothee (Hg.), Images de la France en République Démocratique
Allemande. Une histoire oubliée, Paris u. a. 2004.
Aus französischer Perspektive: Wenkel, Christian, Les relations entre la France et la
»patrie de Brecht«. La France et les Français face à l’action culturelle de la RDA et
la Culture est-allemande 1954-1970, in: Marès, Antoine (Hg.), Culture et politique
étrangère des démocraties populaires, Paris 2007, S. 47-62; Pfeil, Ulrich, Die »anderen« deutsch-französischen Beziehungen. Die DDR und Frankreich 1949-1990, Weimar u. a. 2004; Pfeil, Ulrich, Die DDR und Frankreich (1949-1973), in: Pfeil, Ulrich. (Hg.), Die DDR und der Westen. Transnationale Beziehungen 1949-1989,
Berlin 2001, S. 207-236.
Vgl. Kaelble, Hartmut, Die DDR im internationalen Vergleich, in: Kaelble, Hartmut, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte der DDR , Stuttgart
1994, S. 559-580, S. 651 ff. Auf historische Parallelen zwischen Frankreich und der
DDR weist auch Ingo Kolboom hin: Kolboom, Ingo, Frankreichs »ferner Osten«
oder: Was ist »französisch« an den neuen Bundesländern?, in: Dokumente 1 (2000),
S. 7-17.
Höpel, Thomas, Geschichte der Kulturpolitik in Europa. Vom nationalen zum europäischen Modell, in: Middell, Matthias (Hg.), Dimensionen der Kultur- und
Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Hannes Siegrist zum 60. Geburtstag, Leipzig
2007, S. 184-205, S. 195.
Vgl. Dietrich, Gerd, Politik und Kultur in der Sowjetischen Besatzungszone
Deutschlands (SBZ ) 1945-1949, Bern 1993; Hartmann, Anne, Wolfram Eggeling,
Sowjetische Präsenz im kulturellen Leben der SBZ und frühen DDR 1945-1953,
Berlin 1998.
25
Einleitung
den kulturellen Wohlfahrtsstaat seit den 1950er Jahren ständig aus, indem
sie Elemente des Kulturstaats wie die Kultivierung des Bürgers mit Elementen des Wohlfahrtsstaates (allgemeiner oder erleichterter Zugang zur Kultur)
kombinierten. Beide Staaten betrieben die Demokratisierung des Kulturzugangs und die »Erziehung« und »Kultivierung« des Bürgers durch Kunst und
Kultur.
Die Ziele, Leitlinien und Maßnahmen der jeweiligen nationalen Kulturund Musikpolitik differierten allerdings erheblich, betrachtet man die stärker liberale und demokratische Kulturpolitik im französischen Fall und das
staatssozialistische, parteiliche und autoritäre Kulturpolitikmodell in der
DDR .62 In Frankreich konnten die lokalen kulturpolitischen Akteure inhaltlich eigenständiger agieren63 und der Musikmarkt blieb auch für die staat­
lichen Akteure eine wichtige Bedingung der Beruflichkeit. Der französische
Staat intervenierte zwar zunehmend im musikalischen Feld, er vertrat jedoch
keine einheitliche ästhetische Ideologie. In der DDR agierten die Künstler
in einem Spannungsfeld zwischen politischer Kontrolle und politischer Förderung. Die Kulturpolitik der DDR war als Herrschaftspolitik von Regierung und Partei an den Einfluss der Sowjetunion gebunden und Kunst galt
prinzipiell nicht als autonomes Feld. Mit dem Konzept des »Sozialistischen
Realimus« versuchten kulturpolitische Akteure zu definieren und politisch
durchzusetzen, was »gute« und »förderungswürdige« Kunst sei.64 Die Komponisten mussten sich mit diesem Anspruch auseinandersetzen und sich ihm
im Prinzip unterordnen. Aus diesem Grund werden die die DDR kennzeichnenden Herrschaftsstrukturen, der Machtanspruch der SED und der Versuch, eine »sozialistische« Lebensweise zu implementieren ebenso thematisiert, wie der Eigensinn der Akteure und Aushandlungsprozesse von Normen
und Vorstellungen, bei denen die Vorgaben des Machtzentrums variiert
wurden. Der »Zentralismus« wurde im Laufe des Untersuchungszeitraumes
sowohl in Frankreich als auch in der DDR mehrfach infrage gestellt. In
beiden Staaten stand die Kultur- und Musikpolitik in einem Spannungsfeld
zwischen den Hauptstädten und »Zentren« Berlin und Paris sowie den
62 Vgl. Veitl, Anne, Noémi Duchemin, Maurice Fleuret. Une politique démocratique
de la musique, 1981-1986, Paris 2000; Eling, Kim, The Politics of Cultural Policy in
France, New York 1999; Veitl, Anne, Politiques de la musique contemporaine. Le
compositeur, la »recherche musicale« et l’État en France de 1958 à 1991, Paris 1997;
Zur DDR : Jäger, Manfred, Kultur und Politik in der DDR . 1945-1990, Köln 1994.
63 Poirrier, Philippe, Vincent Dubois (Hg.), Les collectivités locales et la culture. Les
formes de l’institutionnalisation, XIXe-XXe siècles, Paris 2002.
64 Vgl. Kott, Sandrine, Zur Geschichte des kulturellen Lebens in DDR -Betrieben.
Konzepte und Praxis betrieblicher Kulturarbeit, in: Archiv für Sozialgeschichte 39
(1999), S. 167-195, S. 167.
26
Einleitung
»Städten zweiter Ordnung«65 wie Lyon oder Leipzig. Wiederholt wurden
Schritte zur Dezentralisierung Frankreichs gefordert. In der DDR konkurrierten Städte wie Leipzig oder Dresden, die sich als traditionelle Musikstädte verstanden, mit Berlin. Dennoch konzentrierten sich in beiden Staaten wichtige musikalische Einrichtungen in den Hauptstädten, einige
wurden aufgewertet, andere neu geschaffen. Die Spannung zwischen der
Hauptstadt und den anderen Städten gehörte zu den Standardthemen der
musikpolitischen Auseinandersetzungen. Davon waren auch die professionellen Strategien der Komponisten betroffen.
Frankreich und die DDR sind zwei Vergleichseinheiten, die hinreichend
ähnlich (zentralistische Kulturpolitik) und genügend verschieden (demokratisches vs. autoritäres Modell von Kulturpolitik) sind, um den Vergleich
sinnvoll durchführen zu können. Seit der Gründung der Kulturministerien
wurden Kultur und Musik stärker denn je zuvor ein Feld staatlichen Handelns. Aber auch die besonderen Beziehungen zwischen beiden Ländern
machen den Vergleich sinnvoll. Studien, die das untersuchten, haben neben
den strukturellen Gemeinsamkeiten vor allem auf den Umstand hingewiesen, dass eine Gruppe aus vornehmlich linken Künstlern und Intellektuellen
in Frankreich ein starkes Interesse an der DDR entwickelte. Dieses Interesse
beruhte nicht nur auf Kontakten zwischen Franzosen und späteren DDR Bürgern, die sich aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus ergeben hatten, sondern auch auf dem Bild der DDR als dem »anderen Deutschland«. Sie sahen in der DDR eine mögliche Verwirklichung der deutschen
Kulturnation und dieses Interesse mündete in ein konkretes Engagement
zunächst auf der Ebene nicht-staatlicher Beziehungen.66
So liegt es nahe, nach Kulturtransfers67, gegenseitigen Wahrnehmungen
und Beziehungen zwischen Frankreich und der DDR zu fragen. Nicht nur
an dieser Stelle entgrenzten sowohl die musikpolitischen Akteure als auch
die Komponisten in beiden Ländern den nationalen Rahmen. Sie ordneten
die Musikpolitik, die Aktivitäten von Komponisten sowie musikalische
Werke durch Verweise und Praktiken in trans- und internationale Bezüge
65 Höpel, Thomas, Städtische Kulturpolitik im 20. Jahrhundert zwischen lokalen Besonderheiten und nationalen sowie europäischen Mustern. Leipzig und Lyon im
Vergleich, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2008, H. 2, S. 31-47.
66 Vgl. Wenkel, Christian, Auf der Suche nach einem anderen Deutschland. Die Beziehungen Frankreichs zur DDR im Spannungsfeld von Perzeption und Diplomatie,
Dissertation Institut d’Études Politiques/Ludwig-Maximilians-Universität München, Paris/München Fassung Juni 2009; Röseberg, Dorothee (Hg.), Frankreich
und »Das andere Deutschland«. Analysen und Zeitzeugnisse, Tübingen 1999.
67 Vgl. Espagne, Michel, Sur les limites du comparatisme en histoire culturelle, in:
Genèses 17 (1994), S. 112-121.
27
Einleitung
ein, wie in der Arbeit des Öfteren gezeigt wird. Auch wenn der Fokus der
Arbeit auf dem Vergleich liegt, greift die vorliegende Studie an dieser Stelle
aktuelle geschichtswissenschaftliche Debatten über die Transnationalisierung auf, indem sie untersucht, inwiefern die Akteure politische, künstlerische und professionelle Strategien und Interessen mit Hinweisen auf nationale, internationale und transnationale Muster und Zwänge begründeten.68
An diesem Punkt wird die traditionelle Definition des Vergleichs erweitert,
indem die Vergleichseinheiten zwar gegenübergestellt, aber auch Prozesse
zwischen ihnen betrachtet werden. Die vorliegende Studie verbindet damit
vergleichende mit transfer- und verflechtungsgeschichtlichen Ansätzen.69
Zeitliche Eingrenzung, Quellen und Aufbau der Arbeit
Der Zeitrahmen der Untersuchung erstreckt sich von den 1950er Jahren bis
in die 1980er Jahre, der Schwerpunkt liegt allerdings auf den 1960er und
1970er Jahren, die sowohl in Frankreich als auch in der DDR durch einen
massiven gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und ökonomischen
Wandel gekennzeichnet sind,70 der sich auch in der staatlichen Kulturpolitik
68 Middell, Matthias, Kulturtransfer und transnationale Geschichte, in: Middell, Matthias (Hg.), Dimensionen der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, Leipzig 2007,
S. 49-69.
69 Vgl. zum Verhältnis von Transfer, Vergleich und transnationaler Geschichte: Middell, Matthias, Kulturtransfer und Historische Komparatistik – Thesen zu ihrem
Verhältnis, in: Comparativ 10 (2000), H.1, S. 7-41; Paulmann, Johannes, Neue historische Literatur, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 267 (1998), H. 3, S. 649-685; Eisenberg, Christiane, Kulturtransfer
als historischer Prozess. Ein Beitrag zur Komparatistik, in: Kaelble, Hartmut, Jürgen
Schriewer (Hg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichtsund Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main 2003, S. 399-417 und die Erweiterung
von Vergleich und Transfer um die histoire croisée: Werner, Michael, Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der histoire croisée und die
Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002),
H. 4, S. 607-636; Kaelble, Hartmut, Die Debatte über Vergleich und Transfer und
was jetzt?, URL: http://geschichte-transnational.clio-online.net/forum/id=574&
type=diskussionen, letzter Zugriff: 28. April 2012; Siegrist, Hannes, Transnationale
Geschichte als Herausforderung der wissenschaftlichen Historiografie, URL: http://
geschichte-transnational.clio-online.net/forum/id=575&type=artikel, letzter Zugriff: 28. April 2012.
70 Vgl. Haupt, Heinz-Gerhard, Jörg Requate (Hg.), Aufbruch in die Zukunft. Die
1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR , ČSSR und
Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Weilerswist 2004; Jarausch, Konrad H.,
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Einleitung
verfolgen lässt. Vielfach wurden allerdings seit den 1960er Jahren Entwicklungen umgesetzt, die in den 1950er Jahren angestoßen wurden. Die im
französischen Kulturministerium für die Musik zuständige administrative
Einheit, die Musikdirektion, wurde gegründet, nachdem die französische
Gesellschaft seit dem Ende der 1950er Jahre intensiv über Musik debattiert
hatte. Die Musikdirektion reformierte in den folgenden Jahren in ständigem
Austausch mit den Komponisten, aber auch eigene Vorstellungen verfolgend, die Institutionen und Organisationen des musikalischen Feldes wie
die Ausbildungsorte oder die Akademie der Künste. In Frankreich wurden
in den 1960er und 1970er Jahren wichtige musikpolitische Innovationen entworfen und durchgesetzt. Die Musikpolitik der 1980er Jahre knüpfte, bei
allen neuen Akzenten, vielfach an die vorangegangenen Maßnahmen an.
Nachdem in der DDR die kulturpolitischen Prämissen, Ziele und Maßnahmen seit dem Ende der 1940er Jahre formuliert worden waren, bildete sich
in den 1960er Jahren das »Grundmodell« des Verhältnisses von Politik und
Kunst heraus.71 Die kulturpolitischen Leitlinien verfestigten sich in dieser
Zeit, wurden aber nach harten Auseinandersetzungen mit den Künstlern
auch ein Stück weit an deren Bedürfnisse angepasst.72 Musikpolitische Ins­
trumente und Felder wie das Auftragswesen wurden weiterentwickelt und
musikalische Einrichtungen wie die Musikhochschulen im Kontext der
Hochschulpolitik reformiert.
Die vorliegende Arbeit fasst eine breitgefächerte internationale Literatur
zusammen und stützt sich auf verschiedene Materialien und Archivbestände.
Die musikpolitische Verwaltung und musikpolitische Felder wie das Auftragswesen und die Ausbildung werden anhand der Bestände des jeweiligen
Kulturministeriums in den Archives Nationales in Paris und Fontainebleau,
bzw. im Bundesarchiv und in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO ) für das ZK der SED untersucht. Da die Akten des Ministeriums für Kultur der DDR in Teilen noch
nicht zugänglich sind, wurden die entsprechenden Informationslücken
Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; Doe­
ring-Manteuffel, Anselm, Lutz Raphael (Hg.), Nach dem Boom. Perspektiven auf
die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008.
71 Mittenzwei, Werner, Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland
1945-2000, Berlin 2003, S. 198.
72 In diesem Sinne argumentiert auch Mary Fulbrook dafür, die 1960er und 1970er
Jahre stärker als bisher als eine zeitliche Einheit zu begreifen und unter dem Begriff
der »Normalisierung« zu analysieren. Vgl. Fulbrook, Mary, Theoretische Überlegungen zur DDR -Geschichte. Die französische DDR -Forschung in vergleichender Perspektive, in: Kott, Sandrine, Emmanuel Droit (Hg.), Die ostdeutsche Gesellschaft.
Eine transnationale Perspektive, Berlin 2006, S. 278-285.
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