Kreativität als Zusammenspiel von Assoziation und Inhibition

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Kreativität als Zusammenspiel von Assoziation und Inhibition
Gottfried Vosgerau, Universität Tübingen
Einleitung
Der Begriff Kreativität findet vor allem Anwendung in zwei Gebieten: In der Wissenschaft und in der Kunst. In beiden Gebieten gilt Kreativität als Kernkompetenz, ohne
die ein erfolgreiches Arbeiten nicht möglich ist.
In der Kunst wird Kreativität hauptsächlich verbunden mit Originalität, also dem Schaffen von etwas Neuem. Ein kreatives Kunstwerk zeichnet sich dadurch aus, dass es Material, Handwerk und Tradition in einer genuin neuen Art und Weise verbindet und dadurch eine neue Aussage enthält. Der kreative Schaffensprozess kann also als das Auffinden einer neuen Form des Ausdrucks beschrieben werden. Das gilt für den Literaten,
der neue Wörter, neue Konstruktionen und neue Welten erfindet, wie für den Musiker,
der Geräusche in neuer Art und Weise zu Stücken verbindet, wie für den bildenden
Künstler, der aus der Unzahl von Materialien einige auswählt, um sie gezielt zu einem
Ganzen zu komponieren. Bei allen diesen künstlerischen Schaffensprozessen geht es
darum, etwas in einer neuen Art und Weise auszudrücken.
In der Wissenschaft hat Kreativität auch sehr viel mit Originalität zu tun. Es geht hier
nicht so sehr darum, neue Ausdrucksweisen zu finden, sondern vielmehr darum, neue
Lösungsmöglichkeiten für alte und neue Probleme zu entwickeln. Auch hier spielen
Tradition und gängige Methoden eine große Rolle. Aufbauend auf dem Fundus der Methoden und Formalisierungen werden neue Wege des Problemlösens gefunden.
Im Sinne des Findens neuer Wege des Problemlösens wird Kreativität auch im Alltag
verwendet. Wenn z.B. ein Handwerker neue Lösungen für Probleme findet (z.B. weil
ihm die nötigen Werkzeuge und Materialien nicht zur Verfügung stehen), dann sind wir
bereit, ihn kreativ zu nennen. Im Gegensatz dazu steht ein Mensch, der Probleme immer
nur „nach Kochrezept“ angeht und nie versucht, neue Wege für dieses Problem zu entdecken. Diesen Gegensatz von starrem zu kreativen Verhalten finden wir auch in der
Kunst und Wissenschaft.
Die Grenze zwischen unkreativ starrem und kreativem Verhalten scheint allerdings fließend zu sein. Einen Menschen, der sein Auto fotografiert, um es mit Hilfe des Fotos in
einer Zeitschrift zum Verkauf anzubieten, wollen wir wohl kaum kreativ nennen. Einen
Künstler allerdings, der Autos fotografisch in Szene setzt, um damit die Dekadenz unserer Gesellschaft zu illustrieren, gestehen wir dabei sehr viel Kreativität zu. Der Fall eines Menschen, der sein Auto für Erinnerungszwecke fotografiert, scheint irgendwo dazwischen zu liegen. Kreativität scheint also auf einem Kontinuum zu liegen, dessen Pole
auf der einen Seite Starrheit und Einfallslosigkeit und auf der anderen Seite Genialität
genannt werden könnten.
Auf der letztgenannten Seite des Kontinuums gibt es ebenfalls eine unklare Grenze: den
berühmten Übergang von Genialität zu Wahnsinn. Zwar ist klar, dass die allermeisten
psychisch Kranken weit davon entfernt sind, genial genannt werden zu können. Dennoch scheint es unter so genannten genialen Menschen häufiger solche zu geben, die
durch abnormales Verhalten auffällig werden oder sich einer psychiatrischen Behandlung unterziehen müssen.1
In diesem Vortrag möchte ich eine Analyse von Kreativität vorstellen, die auf kognitionswissenschaftlichen und neurowissenschaftlichen Theorien gründet. Demnach ist
Kreativität als ein besonderes Verhältnis zwischen zwei Prozessen zu verstehen, der
Assoziation und der Inhibition. Diese Beschreibung des Phänomens erlaubt eine Einordnung von Kreativität auf einem Kontinuum von krankhafter kognitiver Starrheit über
normale Kreativität und Genialität zu krankhafter Überassoziativität, wie sie z.B. bei
Sprachstörungen von schizophrenen Patienten vorliegt. Aus meiner Analyse ergeben
sich einige Rahmenbedingungen für die neurowissenschaftliche Erforschung von Kreativität einerseits und der kognitiven/komputationalen Theoriebildung andererseits.
Zunächst werde ich einen kurzen Überblick über verschiedene Herangehensweisen aus
der Kognitionswissenschaft geben, um dann in einem zweiten Teil auf die kognitivneuronalen Prozesse der Assoziation und Inhibition näher einzugehen. Im letzten Teil
werde ich auf die Implementierung von Kreativität eingehen, wie sie im Gehirn vorliegen könnte, und Rahmenbedingungen aufzeigen, die eine Implementierung auf Computern erfüllen müsste.
Kreativität in den Kognitionswissenschaften
Kreativität ist in den Kognitionswissenschaften hauptsächlich im Zusammenhang mit
wissenschaftlichem Denken diskutiert worden. Es wurden viele Untersuchungen durchgeführt, in denen die Arbeitsweise von erfolgreichen Wissenschaftlern im Mittelpunkt
stand. Dieses Interesse nährte sich teilweise aus dem Bestreben, kreative Programme zu
schreiben, die die menschliche Fähigkeit zum Finden neuer Problemlösungen simulieren.
Die von Hadamard2 eingeführte Beschreibung von vier Stadien des kreativen Prozesses
bilden bis heute den Rahmen für kognitionswissenschaftliche Untersuchungen.3 Der
kreative Prozess beginnt mit einer Phase der Vorbereitung (preparation), in der auf der
Grundlage einer breiten Wissensbasis ein Problem entdeckt wird. Häufig ist die präzise
Formulierung des Problems bis zum Ende des gesamten kreativen Prozesses nicht möglich; das Gefühl der Unruhe, des Interesses oder der Neugier in Bezug auf das bestimmte Problem entsteht allerdings schon in dieser ersten Phase. Es folgt die Phase der Inkubation (incubation), in der das Problem unbewusst verarbeitet wird, wobei durch freie
(d.h. nicht durch bewusste rationale Prozesse gelenkte) Assoziationen zu neuen und
überraschenden Verbindungen mit anderen Problemen und Lösungen führen können.
Den dritten Schritt bildet die Einsicht (illumination), in der die unbewusst gestaltete
Lösung auf Grund ihrer Stärke plötzlich ins Bewusstsein kommt. Hier stellt sich häufig
der so genannte Aha-Effekt ein. Im letzten Schritt der Überprüfung (verification) wird
der neue Einfall kritisch geprüft. Nur Einfälle, die den Regeln und Methoden der jeweiligen Domäne gerecht werden, können bestehen. Wallas4 beschreibt noch ein weiteres
Stadium der Ausarbeitung (elaboration), auf das ich hier aber nicht eingehen möchte.
Meines Erachtens können die beiden letzten Stadien (Überprüfung und Ausarbeitung)
1 Zur Nähe von Kreativität und Wahnsinn siehe U. Kraft (2004). Verrückte Genies. Gehirn und Geist, 5,
46-52.
2 Hadamard, J. (1949). The psychology of invention in the mathematical field. Princeton, NJ: Princton
University Press.
3 Vgl. Langley, P. & Jones, R. (1988). Computational model of scientific insight. In R. J. Sternberg
(Hrsg.), The Nature of Creativity. Cambridge: Cambridge University Press.
4 Wallas, G. (1926). The Art of Thought. New York: Harcourt-Brace.
hier außer Betracht bleiben, da sie auch bei nicht-kreativen Prozessen wie z.B. dem
Nachvollziehen und Erweitern von Ideen Anderer oder dem schulbuchmäßigen Auffinden von Standardlösungen vorliegen. Sie sind daher nicht essentiell Teil des kreativen
Schaffensprozesses. Selbst das dritte Stadium, die plötzliche Einsicht, findet sich auch
beim Erlernen bekannter Lösungen zu bestimmten Problemen und ist daher nicht zum
Kern der Kreativität zu rechnen.
Entscheidend scheinen bei dieser Beschreibung von Kreativität vor allem zwei Punkte
zu sein: die Wissensgrundlage und die assoziative Verbindung. Kreativität wird hier
beschrieben als eine neue Kombination von Bekanntem. Ohne eine fundierte Kenntnis
eines Gebietes ist die kreative Entwicklung von Ideen und Lösungen scheinbar nicht
möglich. Es bedarf einer großen Wissensbasis, aus der geschöpft werden kann, um neue
Kombinationen des Bekannten zu finden. Allerdings reicht eine umfassende Kenntnis
des Gebiets nicht aus. Die erfolgreiche Suche nach Querverbindungen und Parallelen
stellt einen weiteren kognitiven Prozess dar, der nicht mit der Größe der Wissensbasis
korreliert. So gibt es viele Fälle von Menschen, die zwar eine große Kenntnis in einem
bestimmten Gebiet besitzen, aber trotzdem nicht viel Kreatives dazu beisteuern.5
Essentiell ist aber auch, dass die assoziativen Verbindungen, die im Laufe des kreativen
Prozesses hergestellt werden, nicht aus dem Ruder laufen. Eine gezielte Auswahl der
erfolgreichen Verbindungen muss erfolgen, da sonst nur eine Unzahl an unsinnigen
Verknüpfungen entstehen würden. Der Aha-Effekt scheint eine erfolgreiche Auswahl zu
markieren. Die lebhafte Assoziation der kreativen Person muss also kontrolliert bleiben,
d.h. sie muss immer wieder eingeschränkt und dadurch in eine Richtung gelenkt werden. Zu den zwei genannten Charakteristiken von Kreativität kommt also noch die einschränkende Kontrolle der assoziativen Prozesse hinzu.
Im Folgenden möchte ich näher auf die Realisierung dieser beiden Prozesse – Assoziation und gezielter Inhibition – näher eingehen.
Assoziation und Inhibition
Semantische Netzwerke sind in den Kognitionswissenschaften ein beliebtes Mittel,
Wissensrepräsentationen darzustellen. Sie erlauben die Erklärung einer Vielzahl von
Effekten, unter anderem auch der Assoziation.6 Die grundlegende Idee ist, dass jedes
Konzept oder Wort durch einen Knoten in einem Netz repräsentiert ist. Wird ein bestimmter Knoten aktiviert, so werden automatisch umliegende Knoten bis zu einem gewissen Grad mitaktiviert (activation spreading), so dass ihr Abrufen erleichtert wird. Da
jeder Knoten mit einer Vielzahl anderer Knoten verbunden ist, führt das Aktivieren eines Knotens automatisch zu einer Aktivationskette, die endlich eine ganze Region im
Netz aktiviert sein lässt. Den Mittelpunkt dieser Region stellt der ursprünglich aktivierte
Knoten da; zum Rand hin nimmt die Aktivation immer stärker ab.
Assoziationen können in diesem Modell leicht als Produkt einer solchen Aktivationsausbreitung erklärt werden. Von einem beliebigen Konzept kommen wir durch
automatische Aktivation benachbarter Knoten zu andern Konzepten, von da aus wieder
zu anderen und so weiter. Diese Erklärung wird insbesondere auch der Phänomenologie
von Assoziationsketten gerecht. Je größer die Wissensbasis ist, desto länger können
diese Assoziationsketten werden. Die Variation assoziativer Verknüpfungen hängt also
wesentlich von der Menge des im semantischen Netz gespeicherten Wissens ab.
Die Idee semantischer Netze inspirierte Newell zu der Problemraum-Hypothese.7 Ge5 Vgl. auch Langley, P. & Jones, R. (1988), a.a.O.
6 siehe z.B. Minsky, M., ed. (1968), Semantic Information Processing, MIT Press, Cambridge, MA.
7 Newell, A. (1980). Reasoning, problem solving, and decision processes: The problem space hypothesis.
mäß dieser Hypothese ist ein Problemlöseprozess eine Suche in einem Problemraum.
Der Problemraum wird aufgespannt durch die verschiedenen möglichen Operationen,
die in einer Situation ausgeführt werden können. Die Basis des Problemraumes stellt die
Ausgangssituation als unterster Knoten dar. Die verschiedenen Operationen führen zu
neuen Situationen, die als Knoten in der darüber liegenden Schicht repräsentiert werden.
Es gibt nun verschiedene Kombinationen von Operationen, die zu dem gleichen Ergebnis führen. Diese unterschiedlichen Möglichkeiten entsprechen verschiedenen Pfaden
im Problemraum. Falls es eine Lösung des Problems gibt, wird diese Lösung der oberste
Punkt in diesem Netz sein. Problemlösen kann nun als Suche nach dem kürzesten Pfad
durch den Problemraum beschrieben werden.
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Nehmen wir an, drei Missionare und zwei Menschenfresser müssen einen Fluss überqueren mit einem Boot, das nur drei Menschen
Platz bietet. Das Problem ist, dass die Menschenfresser niemals in der Überzahl sein
dürfen, da sie sonst sofort einen Missionar verspeisen würden. Das Problem kann in
folgendem Problemraum dargestellt werden:
Mann kann leicht sehen, dass es viele Lösungen zu diesem Problem gibt. Einige sind
eleganter als andere, da sie direkte Wege zum Ziel darstellen (ohne eine oder mehrere
Ebenen zurückzugehen).
Auf der Grundlage der Problemraum-Hypothese entwickelte Simon8 eine Theorie der
Kreativität, an der ich vor allem einen Punkt herausheben möchte. In der Phase der InIn R. Nickerson (Ed.), Attention and performance VIII. Hillsdale, NJ. Lawrence Erlbaum.
8 Simon, H.A. (1977). Boston studies in the philosophy of science: Vol. 54. Models of discovery. Boston:
Reidel.
kubation geschieht eine Suche im Problemraum, die, vor allem bei komplexen Problemen und damit verbundenen komplexen Problemräumen, nicht erfolgreich ist. Bei dieser Suche werden allerdings wichtige Teile des Problemraumes zu so genannten Chunks
zusammengefasst. Ein Chunk ist eine Einheit, die mehrere Wissenseinheiten zusammenfasst. Statt mir z.B. die Zahl 22041724 als acht Ziffern zu merken, kann ich sie zu
einem Chunk „Kants Geburtstag“ zusammenfassen und so das Arbeitsgedächtnis erheblich entlasten. Bei einem erneuten Nachdenken über das Problem kann also wesentlich
effizienter vorgegangen werden, da nicht mehr alle Pfade einzeln überdacht werden,
sondern größere Stücke derselben als Einheiten zur Verfügung stehen.
Darüber hinaus greift hier ein Mechanismus, den Simon selective forgetting nennt. Unbrauchbare Teile des Problemraumes werden schlicht vergessen. Das selektive Vergessen stellt somit eine Auswahl an vielversprechenden Möglichkeiten zur Verfügung.
Durch die beiden Mechanismen des Chunking und des selektiven Vergessens wird somit der oftmals enorm große Problemraum deutlich eingeschränkt und damit zugänglich
für gezielte Überlegungen. Wenn diese beiden Mechanismen gut ausgebildet sind, können kreative Wege des Problemlösens gefunden werden.
Der entscheidende Punkt an Simons Theorie ist meines Erachtens, dass hier die nötige
Auswahl, die angesichts der Vielzahl von Möglichkeiten getroffen werden muss, als
Vergessensprozess beschrieben wird. Die vielen Möglichkeiten, die aus einer assoziationsartigen Aktivationsausbreitung in Netzen resultieren, müssen eingeschränkt werden,
und das bedeutet nichts anderes, als dass die Ausbreitung gezielt gehemmt werden
muss. Eine Möglichkeit, das zu gewährleisten, ist das selektive Vergessen.
Dieselbe Grundidee findet sich auch bei Maher,9 der in seinem Artikel eine Erklärung
für das Symptom der unverständlichen Äußerungen bei Schizophrenen zu geben versucht. Ein Symptom von Schizophrenie ist eine wirre und unverständliche Sprache. Die
Äußerungen, die die Patienten machen, scheinen weder einen Sinn zu ergeben noch
sinnvoll in den Zusammenhang eingebettet zu sein. Auf Grund der Analyse solcher unverständlichen Äußerungen stellt Maher die Theorie auf, dass normale Assoziationsketten im semantischen Netz ausgelöst werden, die jedoch bei Schizophrenen nicht gestoppt werden. Normalerweise, wenn wir etwas ausdrücken wollen, werden über Assoziationsmechanismen mehrere Wörter aktiviert. Falls ein passendes Wort dabei ist, was
zu dem zu äußernden Gedanken passt, wird der Assoziationsprozess gestoppt. Im
krankhaften Fall sind jedoch die inhibitorischen Mechanismen, die die Assoziationsmechanismen zum Stillstand bringen, gestört. Dies führt dazu, dass häufig unpassende
Worte gewählt werden, so dass die produzierten Äußerungen unverständlich werden
und wirr scheinen. In der Tat erzielen diese Patienten bei Messungen der Assoziativität
überdurchschnittliche Resultate.
Als ein Beispiel sei folgende hypothetische Äußerung (angelehnt an Mahers Beispiel)
angeführt: Nehmen wir an, der Patient möchte etwa sagen: "Doktor, ich habe Schmerzen in der Brust und frage mich, ob ich einen Herzinfarkt habe". Bei der Auswahl der
Wörter könnten z.B. folgende Assoziationsketten auftreten, die nicht gehemmt werden:
Doktor – Schwester – Neffe, Schmerzen – unwohl – übel, Brust – Herz – Liebe, fragen
– verneinen – verbieten, Herzinfarkt – Gefahr. Der tatsächlich geäußerte Satz könnte
nun lauten: "Mein Neffe, ich habe eine üble Liebe und ich verbiete, dass ich in Gefahr
bin".
Laut Maher ist also eine Störung der inhibitorischen Prozesse verantwortlich für eine
Art Über-Assoziation, die als Resultat unverständliche und wirre Sätze hat. Bei gesun9 Maher, B. (2003), 'Schizophrenia, Abberrant Utterance and Delusion of Control: The Disconnection of
Speech and Thought, and the Connection of Experience and Belief', Mind and Language 18(1), 1-22.
den Menschen allerdings führen diese inhibitorischen Prozesse zu einer geeigneten
Auswahl von Wörtern aus dem vorhandenen Wortschatz. Bei Simon spielen inhibitorische Prozesse, nämlich das selektive Vergessen, eine ganz ähnliche Rolle: Sie sind für
eine geeignete Auswahl von möglichen Pfaden im Problemraum unabdingbar.
Wenn diese Auswahl nicht oder nur ungenügend stattfindet, sollte dies zu ähnlichen
Effekten führen wie im Falle der wirren Äußerungen von Schizophrenen. Wirre Theorien über mögliche Zusammenhänge und unverständliche Pläne, Probleme zu lösen,
sollten in solchen Fällen auftreten. Es ist plausibel anzunehmen, dass bei manchen Schizophrenen die Störung der inhibitorischen Prozesse auch auf dieser Ebene des Problemlösens stattfindet. Eine schöne Illustrierung, wie so etwas aussehen kann, wird uns in
dem Film "A Beautiful Mind"10 gezeigt. Der Film erzählt die Geschichte des genialen
John F. Nash, der für seine Formulierung so genannter nicht-kooperativer Spiele den
Nobelpreis erhielt. Nash war tatsächlich schizophren, wie sich im Laufe seiner Karriere
herausstellte. In dem Film wird eindrücklich gezeigt, wie er hinter einer Unzahl von
unterschiedlichen Zeitungsartikeln aus unterschiedlichen Zeitungen Querverbindungen
sieht, hinter denen er Geheimcodes russischer Geheimorganisationen vermutet.
Selbstverständlich ist Schizophrenie, und der Fall Nash im Besonderen, sehr viel komplexer. Die genannten Symptome von Über-Assoziation, die einerseits zu unverständlichen Äußerungen und andererseits zu nicht-nachvollziehbaren Gedankengebäuden führen, scheinen aber durchaus als Störung inhibitorischer Prozesse beschreibbar. Dies gilt
auch für manche Fälle von Halluzinationen, sowohl bei Schizophrenen als auch bei gesunden Menschen unter besonderen Umständen.11 Im Normalfall scheinen also zwei
Mechanismen im Widerstreit zu stehen: assoziative Prozesse einerseits, die Verbindungen zwischen verschiedenen Wörtern, Konzepten oder Problemen und Lösungen herstellen, und inhibitorische Prozesse andererseits, die eine Auswahl aus der bereitgestellten Vielfalt von Möglichkeiten treffen.
Wenn die inhibitorischen Prozesse gestört sind, führt dies zu Über-Assoziationen. Wenn
die assoziativen Prozesse ausfallen, dürfte dies zur Ideenlosigkeit, Unfähigkeit der Entscheidungsfindung, verarmter Sprache und ähnlichem führen. Bei gesunden Menschen
befinden sich diese beiden Prozesse allerdings in einem ausgewogenen Verhältnis. Bei
besonders kreativen Menschen (bzw. Prozessen) scheinen die inhibitorischen Prozesse
zwar nicht aufgehoben, aber dennoch schwächer zu sein, so dass die assoziativen Prozesse mehr in den Vordergrund treten. So können kreativer Sprachgebrauch, aber auch
kreative Ideen in wissenschaftlichen Bereichen entstehen. Kreativität scheint unter dieser Analyse auf einem Kontinuum zu sein, das sich von gänzlicher mentaler Starrheit
über normales Verhalten und Kreativität bis hin zu schizophrenen Symptomen erstreckt.
Im Folgenden möchte ich nun noch kurz auf mögliche Implementierungen von Kreativität und ihre Rahmenbedingungen, die sich aus meiner Analyse ergeben, eingehen.
Implementierung von Kreativität
Nach meiner Analyse entsteht Kreativität durch ein spezifisches Verhältnis zwischen
assoziativen und inhibitorischen Prozessen. Für eine Implementierung von Kreativität,
sei es im menschlichen Gehirn oder auf einem Computer, scheint es also angemessen,
von zwei Modulen auszugehen. Erstens ein Wissensmodul, das als assoziatives Netz
organisiert ist. Wichtig hierbei ist, dass die Wissensbasis reich genug ist, um tatsächlich
10 "A Beautiful Mind" (2001), Universal Studios and DreamWorks LLC
11 "Nach meiner Ansicht herrscht aber immer Überaktivität in dem Hirngebiet, das die Bilder hervorbringt. Nur entsteht diese manchmal durch direkte starke Anregung, manchmal durch Wegfall von Hemmungen." Erich Kasten (2000): 'Halluzinationen', Spektrum der Wissenschaft (12), S. 73
neuartige Verknüpfungen zu erlauben. Die Verknüpfungen erfolgen durch eine sich
wolkenartig ausbreitende Aktivierung, ausgehend von einem Knoten. Dies führt zu Assoziationsketten, die neuartige Verknüpfungen bekannter Wissensinhalte zur Folge haben.
Das zweite Modul muss eine gezielte Hemmung der assoziativen Prozesse leisten. Das
heißt zum einen, dass die Aktivierungen im assoziativen Netz soweit gehemmt werden,
dass die assoziativen Prozesse zum Erliegen kommen. Auf der anderen Seite muss diese
Hemmung eine gezielte sein und darf nicht zufällig operieren. Kreativität kann nur entstehen, wenn eine sinnvolle Auswahl der angebotenen Verknüpfungen erfolgreich stattfindet.
Was das erste Modul angeht, so gibt es genügend gut belegte und gut funktionierende
Modelle sowohl in der Psychologie und Hirnforschung, als auch in der KünstlichenIntelligenz-Forschung. Ich werde daher nicht näher auf dieses Modul eingehen, da die
wesentlichen Probleme hier gelöst scheinen.12
Viel schwieriger stellt sich das zweite Modul dar. Das Hauptproblem hierbei dürfte
nicht so sehr bei den inhibitorischen Prozessen liegen, sondern viel mehr bei der Gerichtetheit dieser Prozesse. Das Hauptaugenmerk der Hirnforschung sollte daher auf das
Modul der inhibitorischen Prozesse gelegt werden, über das meines Wissens noch nicht
sehr viel bekannt ist. Ich werde etwas später ein paar Überlegungen und Vorschläge
dazu anstellen. Auch für eine erfolgreiche kognitive Modellierung13 von Kreativität
sollte dieser Punkt stärker ins Blickfeld rücken. Mir ist bisher keine Architektur bekannt, die auf dem Prinzip der Inhibition automatisch erfolgender Aktivation beruht.
Aber auch hier gilt, dass die größte Schwierigkeit die Zielgerichtetheit der inhibitorischen Prozesse sein dürfte. Ich denke aber, dass einige wertvolle Anregungen zur Lösung dieses Problems aus der Neurowissenschaft kommen können.
Zunächst zu den inhibitorischen Prozessen selbst. Es gibt in der neueren Forschung
Hinweise darauf, dass der Neurotransmitter Glutamat eine entscheidende Rolle bei
Schizophrenie spielt.14 Bei gesunden Menschen führt ein Glutamat-Mangel zu ähnlichen Symptomen, wie sie bei Schizophrenen beobachtbar sind, u.a. auch zu Beeinträchtigungen der kognitiven Leistung (Schlussfolgern, Problemlösen). Bei Schizophrenen
führt ein künstliches Anheben des Glutamat-Spiegels zur Verbesserung vieler Symptome. Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass Glutamat generell für eine selektive
Inhibition von Signalen zuständig ist.15 Das bedeutet, dass Glutamat wie ein Filter
wirkt, der nur bestimmte Signale zur Weiterverarbeitung zur Verfügung stellt. Glutamat-Mangel könnte also zu genau dem führen, was Maher16 für den Fall der wirren und
unverständlichen Sprache beschreibt, nämlich zur Über-Assoziation. Wie oben angeführt, könnten ähnliche Mechanismen zu einer Über-Assoziation im Bereich des Problemlösens und Schlussfolgerns führen, die sich ihrerseits als kognitive Störungen äu-
12 siehe z.B. W. Hilberg (1984): Assoziative Gedächtnisstrukturen und Funktionale Komplexität. Oldenbourg Verlag, München; T. Kohonen (1988): Self- Organization and Associative Memory. Springer Series
in Information Sciences. Springer, Berlin, Heidelberg, 2. Auflage.
13 Kognitive Modellierung ist das Schreiben und Testen eines ausführbaren Programms, das als Modell
menschlicher Kognition fungiert.
14 D.C. Goff und J.T. Coyle (2001): The emerging role of glutamate in the pathophysiology and treatment of schizophrenia. American Journal of Psychiatry, 158(9), S.1367-1377.
15 Daniel C. Javitt und Joseph T. Coyle (2004): Wenn Hirnsignale verrückt spielen. Spektrum der Wissenschaft, Dezember 2004.
16 Maher (2003), a.a.O.
ßern. Glutamat scheint daher ein geeigneter Kandidat für die Implementierung der geforderten inhibitorischen Prozesse im menschlichen Gehirn zu sein.
Die Frage der Gerichtetheit bleibt aber immer noch offen. Im Falle des menschlichen
Gehirns bedeutet dies, dass die Mechanismen zur Steuerung von Glutamat gefunden
werden müssen. Eine Bedingung für Gerichtetheit ist zweifelsohne die Existenz eines
Ziels. Eine Entscheidung darüber, ob ein gewisser Prozess erfolgreich war oder nicht,
kann nur erfolgen, wenn das Ziel des Prozesses bekannt ist. Dafür ist allerdings nicht
nötig, ja gar nicht möglich, dass dieses Ziel schon in allen Einzelheiten zur Verfügung
steht. Im Falle von Sprache bedeutet das, dass der Sprecher das Ziel haben muss, einen
gewissen Inhalt auszudrücken. Da er die Bedeutung der Worte, die er benutzt, kennt,
kann er unter verschiedenen Möglichkeiten die geeignetste auswählen. Im Falle von
Problemlösen muss das Ziel in sofern bekannt sein, als dass klar sein muss, was überhaupt als mögliche Lösung in Betracht kommt. Dieses recht vage Ziel dürfte durchaus
ausreichen, um eine geeignete Auswahl zu treffen.
Einen möglichen Mechanismus für die Auswahl stellt das so genannte KomparatorModell von Firth17 dar. Dieses Modell wurde ursprünglich zur Erklärung von Motorkontrolle und deren spezifischen Störungen entwickelt. Es wurde vor allem versucht,
spezifische Symptome der Schizophrenie mit Hilfe dieses Modells zu erklären.18 Die
wesentliche Grundidee ist, dass Handlungen dadurch gesteuert werden, dass sie während der ganzen Ausführung ständig mit dem Handlungsziel bzw. Zielzustand verglichen werden. Sobald Abweichungen von tatsächlicher Handlung und erwünschter
Handlung auftreten, können Korrekturen vorgenommen werden. Der besondere Trick
bei diesem Modell ist, dass noch vor der Handlung selbst eine Vorhersage über die
Handlung erstellt wird, die dann einerseits mit dem Ziel und andererseits mit der tatsächlichen Handlung abgeglichen werden kann. Ich will hier aber nicht weiter auf die
Einzelheiten eingehen.
Die Grundidee eines Komparators, der Ziele mit dem Vorgefundenen vergleicht, scheint
mir ein plausibler Kandidat für die Steuerung inhibitorischer Prozesse bzw. des Glutamats zu sein. Die neuen Verknüpfungen, die über Assoziationsketten entstehen, könnten
ständig mit der Lösungsvorstellung bzw. mit dem auszudrückenden Gedanken verglichen werden. Sobald der Komparator eine Übereinstimmung meldet, wird Glutamat
ausgeschüttet und die assoziative Suche nach neuen Verknüpfungen beendet bzw. eingeschränkt. Auf diese Art und Weise wäre eine zielgerichtete Auswahl der zur Verfügung gestellten Möglichkeiten über inhibitorische Prozesse gewährleistet. Für eine kognitive Modellierung ließe sich dieses Modell gut übernehmen; das weitergehende Problem dürfte vor allem die Entstehung der Zielvorstellung sein.
Die vorliegende Analyse von Kreativität leistet eine Einordnung des Phänomens auf
einem Kontinuum, das normales Verhalten, Kreativität und krankhafte Extremfälle einschließt. Sie ist inspiriert von und eingebettet in verschiedene Ansätze und Erkenntnisse
der Kognitionswissenschaft und der Neurowissenschaften. Daher bietet sie nicht nur
eine Analyse des Phänomens, sondern vor allem auch einen Rahmen für die weitere
Erforschung der Implementierungen von Kreativität. Dieser Rahmen erstreckt sich auch
auf die Philosophie des Geistes, in der die Idee der gezielten Inhibition bisher zu wenig
17 Frith, C.D.; Blakemore, S. & Wolpert, D.M. (2000), 'Abnormalities in the awareness and control of
action', Philosophical Transactions of the Royal Society of London B 355(1404), 1771-1788.
18 Frith, C.D. (1992), The Cognitive Neuropsychology of Schizophrenia, Erlbaum, Hillsdale; Campbell, J.
(1999), 'Schizophrenia, the Space of Reasons, and Thinking as a Motor Process', The Monist 82(4), 609625.
beachtet wurde. Ich vermute, dass sich dieses Konzept nicht nur im Bereich Problemlösen und Kreativität gewinnbringend anwenden lässt, sondern auch in anderen Bereichen
menschlicher Kognition, wie z.B. Gedankenentstehung, Überzeugungsausbildung,
Wahrnehmung, etc.
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