Hauptseminar „Konstruktionen und Verbvalenz“ Seminarleiterin: Prof. Dr. Karin Pittner VALENZ UND KONSTRUKTIONSGRAMMATIK Britta Szymczak Stettiner Straße 32 45739 Oer-Erkenschwick [108010103160] [6. Fachsemester] WS 2012/13 2 Inhaltsverzeichnis 0. Vorbemerkungen 3 1. Zum Verständnis des Begriffs ‚Valenz’ 3 1.1. Valenz aus Sicht der Dependenzgrammatik 4 1.2. Valenz aus Sicht der Generativen Grammatik 6 1.2.1. Logische Valenz 7 1.2.2. Semantische Valenz 7 1.2.3. Morphosyntaktische Valenz 8 1.3 Die „Valenzmisere“ 8 2. Konstruktionsgrammatik – Rettung aus der Misere? 12 2.1. Adele Goldberg 15 2.2. Joachim Jacobs 20 3. Zusammenfassung 23 4. Literaturverzeichnis 25 3 0. Vorbemerkungen In meiner Hausarbeit „Valenz und Konstruktionsgrammatik“ verfolge ich das Ziel – in dem hier gegebenen Rahmen -, Valenz als ein derzeit nicht wegzudenkendes fundamentales Phänomen der deutschen Grammatik in seinem umgebenden Forschungsfeld zu verorten. Diese Verortung wird zeigen, dass es sich bei Valenz um ein vielfältig umschriebenes Theoriegebilde handelt, welches aktuell weder konkret begrifflich greifbar gemacht, noch zur umfassenden Erklärung sprachlicher Handlungen herangezogen werden kann - diesbezügliche Reaktionen des fachwissenschaftlichen Diskurses, im Besonderen der Konstruktionsgrammatik, aber richtungsweisend sind. Exemplarisch werde ich zwei unterschiedliche Ansätze der Konstruktionsgrammatik konkreter darstellen: Adele Goldbergs Ansatz zeigt, dass eine Negation der Verbvalenz und somit ein Ersetzen der Valenztheorie durch die Konstruktionsgrammatik problematisch ist. Joachim Jacobs schafft mit seinen Ausführungen im Sinne einer Symbiose aus Verbvalenz und Konstruktionen einen vielversprechenden Ansatz zur Aktualisierung und Ergänzung der Valenztheorie1. Im Anschluss an das Hauptseminar „Konstruktionen und Verbvalenz“ und unter Berücksichtigung der zentralen Rolle des Verbs in der Valenztheorie, beziehen sich meine folgenden Ausführungen ausschließlich auf die Verbvalenz und Verbformen in Aktiv-Sätzen2. In Anbetracht des beabsichtigten Umfangs meiner Hausarbeit und der beeindruckenden, nahezu unüberschaubaren Fülle an fachwissenschaftlicher Literatur, beschränke ich meine Ausführungen im Folgenden auf die Skizzierung der für meine zu bearbeitende Fragestellung relevanten Aspekte und weise jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit von mir. 1. Zum Verständnis des Begriffs ´Valenz´ Valenz bezeichnet ein Phänomen, welches den spezifischen Informationsgehalt einzelner Lexeme über ihr überzufälliges Vorkommen in bestimmten syntaktischen Umgebungen und unter semantischen Bedingungen beschreibt. Valenz wird in zahlreichen Grammatikmodellen aufgegriffen, auf verschiedensten Ebenen und aus 1 2 Verschiedene Quellen prophezeien gar eine „konstruktionsgrammatische Wende“ der Valenztheorie. In Abgrenzung zu Passiv- oder Infinitiv-Verbformen für die abweichende Ausführungen nötig wären. 4 verschiedensten Perspektiven definiert3, modifiziert, benannt sowie verschiedensten Bedingungen untergeordnet. Die Valenztheorie ist als autonomes Phänomen zu verstehen, welches in zahlreichen Grammatiken – im Folgenden besonders bedeutsam sind Dependenz-, Generative und Konstruktions-Grammatiken - aufgegriffen wurde und wird. Valenzträger, Aktant und Zirkumstant der Valenztheorie, in der Dependenzgrammatik Valenzträger, Ergänzung und Angabe genannt, gelten in der Generativen Grammatik als Kopf, Komplement und Adjunkt. Trotz allgemeiner Uneinheitlichkeit und Unsicherheit in der Handhabung gilt Valenz als produktive Theorie4. Im Folgenden möchte ich auf das Phänomen Valenz im Konsens der verschiedenen Definitionsversuche eingehen. Um einer gewissen Einheitlichkeit der Bezeichnung Rechnung zu tragen, verwende ich in meinen Formulierungen für die Elemente der Valenztheorie einheitlich die deutschen Äquivalente der ursprünglichen Begrifflichkeit Tesniéres: Aktant und Zirkumstant. 1.1. Valenz aus Sicht der Dependenzgrammatik Der Verbale Nexus5, der bei den meisten europäischen Sprachen im Zentrum steht, läßt [sic!] sich mit einem kleinen Drama vergleichen. Wie das Drama umfaßt [sic!] er notwendig ein Geschehen und meist auch noch Akteure und Umstände. (Tesniére 1980:93) Man kann so das Verb mit einem Atom vergleichen, an dem Häkchen angebracht sind, so daß [sic!] es – je nach Anzahl der Häkchen – eine wechselnde Zahl von Aktanten an sich ziehen und in Abhängigkeit halten kann.6 Die Anzahl der Häkchen, die ein Verb aufweist, und dementsprechend die Anzahl der Aktanten, die es regieren kann, ergibt das, was man die Valenz des Verbs nennt. (Tesniére 1980:161) Anhand dieser Metaphern entwickelte Lucien Tesniére auf Basis der Dependenzgrammatik eine Idee von Valenz7 bezogen auf die lexikalische Kategorie, an welcher sich das Phänomen am besten beobachten lässt – das Verb. Einzelne Lexeme gelten als syntaktische Einheiten. Tesniére betonte die Einheit von Lexikon und 3 Zu beachten ist hier, dass eine Definition des Valenzbegriffs im Sinne einer klassischen Definition bis heute noch nicht gelungen ist. Die folgenden Definitionen sind vielmehr als Arbeitshypothesen zu verstehen. 4 Ihr sprachdidaktisches Potential ist landesweit anerkannt. Die Valenztheorie ist führend in der Vermittlung von Deutsch als Fremdsprache, ihre Terminologie ist in Deutsch-als-FremdspracheLehrwerken übernommen. Es existieren einsprachige sowie kontrastive Valenzwörterbücher und Dependenz-Valenz-Grammatiken. (vgl. Herder Institut der Universität Leipzig und Institut für deutsche Sprache Mannheim) 5 Gemeint ist der zentrale Knoten in der Satzstruktur. 6 Vgl. Konnexion (Bußmann 2008:361) 7 Unabhängig von Tesniére wurde der Valenzbegriff auch von anderen Linguisten eingeführt. Tesniéres Valenztheorie hat sich aber mit dem größten Erfolg im wissenschaftlichen Diskurs durchgesetzt. 5 syntaktischer Struktur, aus der sich kombinatorisch vom Lexem ausgehend Satzkonstruktionen ergeben8. Satzkonstruktionen sind passiv und prädeterminiert (vlg. Welke 2011:172). Die erste der beiden Metaphern bezeichnet die Abhängigkeitsstruktur zwischen syntaktischen Einheiten – besonders die zwischen Verb und anderen Satzgliedern -, welche Tesniére der Sprache zugrunde legt9, die zweite beschreibt eine spezielle Ergänzungsbedürftigkeit einiger – zunächst nur Verben – Lexeme. „Unter Valenz des Verbs versteht man die Leerstellen, die für eine bestimmte Zahl und Art von Ergänzungen […] eröffnet werden.“, lautet es bei Pittner (2008:45)10. Im Rahmen der Dependenzgrammatik11 entwickelte Tesniére ein entsprechendes Satzmodell, in welchem vom Verb als oberstes Regens die übrigen Satzglieder abhängig sind. In diesem Abhängigkeitsverhältnis erscheinen Subjekt und Objekt als gleichgestellte Dependentien12, die zusammen mit Adverbialen in direkter Abhängigkeit vom Verb stehen. Von diesen direkten Dependentien wiederum hängen – bezogen auf das jeweils zugehörige Substantiv - weitere Dependentien13 ab. (1) baut (V) Junge (Subst) (Subj) Schneemann (Subst) (Obj) ein (Art) einen (Adj) Die hier dargestellte Satzstruktur veranschaulicht die Relationen der hierarchischen Dependenz der einzelnen Satzglieder. Daraus ergibt sich eine Einteilung der Verben sowohl nach der Anzahl der Dependentien als auch nach deren Rektion: Tesniére unterscheidet null-, ein-, zwei-, dreiwertige Verben. (2) Nullwertig: schneien Es14 schneit. (3) Einwertig: schlafen /Franz/ schläft. (4) Zweiwertig: bauen /Ein kleiner Junge/ baut /einen Schneemann/. (5) Dreiwertig: schenken /Franz/ schenkt /dem kleinen Jungen/ /eine weiche Mütze/ für den Schneemann. Umstritten ist, ob es auch vierwertige Verben geben kann – ob das Dativ-Objekt also obligatorisch ist oder nicht.15 Vlg. „Top-Down“-Analyse (Jacobs 2009:495); Vgl. Coene & Willems (2006:2) Das Verb drückt das Geschehen aus, Aktanten sind die im Geschehen mitspielenden, Zirkumstanten die das Geschehen umschreibenden Umstände. (vgl. Pittner 2008:43) 10 Oder aber etwas allgemeiner: „Valenz ist Ergänzungsbedürftigkeit. Valenz ist die Fähigkeit von Verben, Ergänzungen zu verlangen.“ (Welke 2011:45) 11 Zur Verdeutlichung der Begriffe Dependenz, Rektion und Valenz Dependenz sagt folgendes aus: B ist von A abhängig; Es handelt sich bei der Dependenz um einen Umkehrschluss zur Rektion. 12 Zu bemerken ist hier, dass das Subjekt bei Tesniére nicht mehr entsprechend der traditionellen Schulgrammatik mit dem Verb im Mittelpunkt, den übrigen Satzgliedern übergeordnet, steht. (vgl. Helbig/ Schenkel 1982:26; vgl. Helbig 1965:14; vgl. Welke, 1988:92) 13 Artikel, Adjektive, etc. 14 Bei „es“ handelt es sich hier um ein semantisch leeres Pronomen, ein Expletivpronomen. 8 9 6 (6) ?Vierwertig: bringen /Der kleine Junge/ schreibt /dem Weihnachtsmann/ /einen Brief/ /mit seinen Wünschen/. Erster Aktant ist üblicherweise das Subjekt, zweiter Aktant das Akkusativ-Objekt, dritte und vierte16 Aktanten andere (Genitiv- oder Dativ-) Objekte. Daraus folgt eine vorwiegende Rektion17 von Nominativ-Ergänzungen vor Akkusativ-, Genitiv- und Dativergänzungen. Tesniére bezieht sich bei allen Ausführungen zunächst auf die Beschreibung einzelner Dependenzen zwischen oberstem Regens und dessen Aktanten. (vgl. Pittner & Berman 2010:43ff.; Beispiele B.S.) 1.2. Valenz aus Sicht der Generativen Grammatik Die Generative Grammatik18 griff den oben beschriebenen ursprünglichen Valenzbegriff auf, entwickelte ihn weiter und reicherte ihn mit Aspekten wie Subkategorisierung19, semantischen Merkmalen, Tiefenkasus u. a. an. Sie unterscheidet sich im Relationsbegriff20 von der Dependenzgrammatik, was sich auch auf das Phänomen Valenz auswirkt. Die Generative Grammatik betont eine Trennung von Lexikon und syntaktischer Struktur, nicht mehr einzelne Lexeme sondern Phrasen gelten als syntaktische Einheiten. (7) baut (V) Nom-NP (Subj) Ein Junge Akk-NP (Obj) einen Schneemann (vgl. mit Bsp. (1)) (8) [Franz] [VP schenkt [NP dem kleinen Jungen] [NP eine weiche Mütze] [PP für den Schneemann]]. Die Generative Grammatik ersetzt die Abhängigkeit der Dependenzgrammatik also – besonders Beispiel (8) veranschaulicht dieses – durch hierarchische Teil-GanzesBeziehungen der Phrasenstruktur. Mit Hilfe von Formations-, Verzweigungs- und Lexikonregeln erfolgt die Bildung sog. Kernsätze. Alle Sätze, die nicht Kernsätze sind, Vgl. Problematik des „freien Dativs“ (Pittner & Berman 2010:54ff.) Vgl. Fußnote 15 17 Zur Verdeutlichung der Begriffe Dependenz, Rektion und Valenz Rektion sagt folgendes aus: A bestimmt die Erscheinungsform (Kasus, Numerus, Genus) von B.; Es handelt sich bei der Rektion um einen Umkehrschluss zur Dependenz; „R. kann unter Valenz subsumiert werden, insofern Valenzträger die morphologische Form der von ihnen >>regierten<< (abhängigen) Elemente bestimmen (>>regieren<<).“ (Bußmann 2008:580); Valenz als Theorie kann also, wie bereits genannt, auch unabhängig von Dependenz und Rektion bestehen. 18 Als übergeordneter Sammelbegriff zu verstehen; Eine Darstellung aller, den Valenzbegriff anreichernden Grammatiktheorien würde den hier gegebenen Rahmen sprengen. 19 Synonym zu Rektion; Hier wird – im Gegensatz zu o. g. Wertigkeit der Verben bei Tesniére - das Subjekt nicht im Subkategorisierungsrahmen erfasst. 20 Konstituenz statt Dependenz 15 16 7 gelten als Transformationen derjenigen. Auch hier gelten Satzgefüge als prädeterminiert durch Köpfe (vgl. Welke 2011:172). Ansätze, die andersherum Köpfe als prädeterminiert durch die Satzgefüge ansehen, wie bspw. die Kasusgrammatik Fillmores, werden nachdrücklich in Frage gestellt21: In den Kasusgrammatiken wird etwas verselbstständigt und in die nominale Umgebung des Prädikats verlegt, was in der semantischen Struktur des Prädikats bzw. in den semantischen Merkmalen des Verbs bereits angelegt und von dort entscheidend determiniert ist. Es wurde […] bisher noch nicht überzeugend bewiesen, daß [sic!] die Unterschiede der semantischen Kasus nicht einfach durch die lexikalische Bedeutung des Verbs gegeben sind. (Helbig 1982:56; 1992:24). Keine der beiden Perspektiven kann von sich behaupten, mehr als eine Arbeitshypothese zu sein. Ebenso plausibel wie die Generative Grammatik die erste einnimmt, verfechtet die spätere Konstruktionsgrammatik22 ihren Standpunkt aus der zweiten Perspektive. Helbig (1992) beschreibt das Phänomen Valenz aus logischer, semantischer sowie morphosyntaktischer Perspektive (vgl. ebd.:7ff.; Beispiele B. S.)23: 1.2.1. Logische Valenz Die Valenzträger und ihre Aktanten werden als logische Prädikate24 mit spezifischen Argumentforderungen behandelt. (9) P (x, y)25 (9a) HELF (x, y) Franz hilft dem kleinen Jungen. Die Unterscheidung von zero-place-predicates, one-place-predicates u.a. erfolgt gemäß der Zahl der von ihnen bereitgestellten Argumentstellen.26 1.2.2. Semantische Valenz Jedes Verb hat ein bestimmtes Theta-Raster. Es vergibt bestimmte Theta-Rollen, mit jeweils bestimmten semantischen Beschränkungen an seine Argumente. Eine einheitliche Definition steht hier noch aus, exemplarisch sind folgende semantische Rollen zu nennen: Agens, Patiens/ Thema, Rezipient, Experiencer, Stimulus, (Instrument und Benefaktiv)27.28 Semantisch beschränkt werden diese Rollen durch bestimmte Merkmale, bspw. „± belebt“, „± human“ und „± abstrakt“29. 21 Zu beachten ist hier, dass die in 2.1. dargestellte Konstruktionsgrammatik Goldbergs auf u. a. eben dieser Fillmore´schen Kasusgrammatik aufbaut. 22 Vgl. 2. 23 Vgl. auch Pittner & Berman (2010:49ff.) 24 Vgl. Prädikatenlogik 25 Prädikat (argument x, argument y) 26 Zu beachten ist hier die häufige Mitberücksichtigung fakultativer Ergänzungen; Parallelität zum Wertigkeitsbegriff Tesnieres (s. 1.1.) 27 Es ist umstritten, ob es sich bei den durch Klammern abgegrenzten semantischen Rollen um AktantenRollen handelt oder um Zirkumstanten. 8 (10) /Franz/ schenkt /dem kleinen Jungen/ /eine weiche Mütze/ für den Schneemann. Agens (+belebt) Rezipient (+belebt) Patiens/ Thema (-belebt) 1.2.3. Morphosyntaktische Valenz Die syntaktischen Realisierungsformen der Aktanten und Zirkumstanten30 kommen zum Ausdruck. Nominativ-, Akkusativ-, Dativ-, Genitiv- und Präpositional-Phrasen sowie dass-Sätze, abhängige Fragesätze, abhängige Verbzweitsätze und satzwertige zuInfinitiv-Phrasen können in Form von Subjekten, Akkusativ-, Dativ- und GenitivObjekten sowie Komplementsätzen realisiert werden. (11) Viele Kinder bejubeln, dass der Schneemann so dick geworden ist. Nom-NP Subj. V Präd. akkusativischer dass-Satz Akk-Obj. 1.3. Die „Valenzmisere“31 Im Besonderen aus der ersten Metapher Tesniéres lässt sich ein zentrales Anliegen der Valenztheorie herauslesen: Die Unterscheidung der Aktanten von den Zirkumstanten.32 Diesbezüglich existiert in der Forschungslandschaft ein breites Feld an möglichen Testverfahren. Bereits der Weglasstest Tesniéres ergab, dass eine eindeutige Definition lediglich für die obligatorischen Aktanten möglich ist: Ein Satzglied, das sich nicht weglassen lässt, ohne dass der Satz ungrammatisch wird oder das Verb seine Bedeutung verändert, ist eine obligatorische Ergänzung. (Pittner & Berman 2010:45).33 Obligatorische Aktanten füllen also jeweils eine Leerstelle des Verbs. Dieser Sachverhalt kann für Subjekte, Objekte und auch für Adverbiale34 gelten.35 (12) /Franz/ gibt /dem kleinen Jungen/ /frohe Wünsche/ /mit auf den Weg/. 28 Vgl. Fillmore 1968, 1971; Vgl. Qualitative Valenz (Tesniére 1980) Vgl. Helbig/ Schenkel 1982 30 Kennzeichnung durch Setzung in Klammern 31 „Was Jacobs ‚Valenzmisere’ nennt ist die Misere mehr oder minder aller grammatischer Kategorien […]. Man kann alle diese theoretischen Begriffe nicht durch eine einfach 1:1-Zuordnung, d. h. invariant, auf konkrete empirische Merkmale zurückbeziehen.“ (Welke 2011:59); Gemeint ist die theoretischmethodische Krise des Valenzbegriffs, die im Folgenden ausgeführt wird. 32 Welke bemerkt – auf Sprachen des sog. Nominativ-Akkusativ-Typs gehörend - hierzu: „Diese zunächst am Verb getroffene Differenzierung ist grundsätzlicher Natur.“ (s. ebd. 2011:45).; Anzumerken ist, dass es sich bei Aktanten stets um Substantive oder äquivalente Formen (u. a. Pronomina) handelt, bei Angaben stets um Adverbien oder äquivalente Formen (u. a. Substantive). 33 Tesniére ging zunächst von einer klaren Zweiteilung zwischen obligatorischen Ergänzungen (darunter fasste er Subjekte und Objekte) und freien Zirkumstanten (darunter fasste er Adverbiale) aus. Diese Annahme wurde im weiteren Entwicklungsverlauf der Valenztheorie widerlegt (vgl. Fußnote 36). 34 Direktionaladverbiale sowie wenige statische Lokaladverbiale sind aufgrund ihrer Verbspezifik valenzgebundene Aktanten. 35 Auf seltene und umstrittene Ausnahmen wie bspw. Instrumentalbestimmungen, vonPräpositionalphrasen beim Passiv und Aktanten von Verben wie benehmen, dauern u. ä. möchte ich in Anbetracht des begrenzten Umfangs der Hausarbeit nicht näher eingehen. 29 9 (12a) *Gibt /dem kleinen Jungen/ /frohe Wünsche/ /mit auf den Weg/. obligat. Subj (12b) */Franz/ gibt /dem kleinen Jungen/ /mit auf den Weg/. obligat. Akk-Obj (12c) */Franz/ gibt /frohe Wünsche/ /mit auf den Weg/. obligat. Dat-Obj (12d) */Franz/ gibt /dem kleinen Jungen/ /frohe Wünsche/. obligat. Direktionaladverbial Als schwierig stellt sich die Unterscheidung von fakultativen Aktanten36 und den Zirkumstanten dar, sie betrifft unter Ausgrenzung der oben als obligatorisch definierten Satzglieder vorrangig Lokal- und Modaladverbiale, aber auch Objekte37, welche sowohl als obligatorische wie fakultative Aktanten als auch als Zirkumstanten auftreten können. (13) Der dicke Schneemann steht dem kleinen Jungen im Weg. Lokaladverbial (13a) *Der dicke Schneemann steht dem kleinen Jungen. obligat. Ergänzung, Bedeutungsveränderung des Verbs Fakultative Aktanten füllen eine Leerstelle eines Verbs – dieses Verb ist somit nicht beliebig -, beeinflussen die Grammatikalität und die Semantik des Gesamtsatzes aber nicht. (14) Der dicke Schneemann steht dem kleinen Jungen gut. Modaladverbial (14a) Der dicke Schneemann steht dem kleinen Jungen. fakultat. Ergänzung, wird mitverstanden (14b)*Der dicke Schneemann sitzt dem kleinen Jungen gut. nicht beliebig hinzufügbar, „setzen“ eröffnet keine Leerstellen für „dem kleinen Jungen“ und „gut“38 Besonders deutlich wird in (13a) und (14a), dass derselbe Satz in zwei verschiedenen Kontexten zugleich grammatisch und ungrammatisch sein kann.39 Zirkumstanten treten völlig unabhängig von Verb, Grammatikalität und Semantik auf. (15) Der kleine Junge liebt den dicken Schneemann heiß und innig. Modaladverbial (15a) Der kleine Junge liebt den dicken Schneemann. Zirkumstant Nach dem Scheitern sowohl der Abstrichmethode Grebes (1959) als auch der Durchführung diverser ähnlicher Testverfahren40 rückt Engel (1977) für einen neuen 36 Eine Untergruppe, die sich erst im Entwicklungsverlauf der Valenztheorie herausgebildet hat. Tesniére ging zuvor von der ausnahmslosen Obligatheit der Ergänzungen aus. 37 Helbig stellte fest, dass bspw. in Sätzen mit Modalverben und Sätzen mit Kontrastierung auch (normalerweise) obligatorische Ergänzungen weglassbar sind. (vgl. Pittner & Berman 2010:46f.) 38 Anders beim Verb „stehen“ (vgl. (14)) 39 Vgl. „Sehweise“ Grebes (vgl. Welke 2011:48) und die von Helbig (1982) beschriebene Perspektivität von Verben (vgl. Pittner & Berman 2010:54) 40 Bei allen durchgeführten Verfahren war die getestete Größe die der Obligatheit. Engel (1977): „[Es B.S.] wurden häufig ungeprüfte oder auch widersprüchliche Annahmen als selbstverständlich hingestellt; manche Forscher glaubten das Problem zu lösen, indem sie der alten Soße einen neuen Namen gaben.“ (ebd.:98) 10 Definitionsansatz die Rektion in den Mittelpunkt der Untersuchungen. Auch hier ergibt sich lediglich eine allgemeine Unterscheidung zwischen Aktanten und Zirkumstanten: Angaben sind Glieder, die von allen Elementen einer Wortklasse abhängen können. Ergänzungen sind Glieder, die nur von bestimmten Elementen einer Wortklasse abhängen (können). Oder: Ergänzungen sind subklassenspezifische41 Glieder. (vgl. Engel 1977:100) Helbig (1982) bedient sich – erneut vom Kriterium der Obligatheit ausgehend - des Chomsky´schen Konstrukts von Tiefen- und Oberflächenstruktur42 und entwickelt daran43 die o. g. Dreiteilung aus obligatorischen Ergänzungen, fakultativen Ergänzungen und freien Angaben44, welche sich auch heute noch in der Valenztheorie halten kann. Aktanten sind demnach in der Tiefenstruktur des Verbs45, „im Stellenplan des Verbs[, B.S.] verankert“ (ebd.:33). In der Oberflächenstruktur können sie obligatorisch oder fakultativ in Erscheinung treten. Aus dem jeweiligen sprachlichen oder situativen Kontext ergibt sich, ob bestimmte Aktanten mitverstanden, ergänzt oder aufgrund ihrer Unbestimmtheit46 ausgelassen werden können.47 Diese sind somit - in dem jeweiligen sprachlichen und situativen Kontext – fakultative Aktanten (vgl. Welke 2011:50). Äquivalent drückt Helbig (1982) sich in der Sprache der logischen Valenz aus: Danach ergibt sich die Menge der fakultativen Aktanten aus der Differenz der Menge der Argumente des logischen Prädikats und ihren tatsächlich morphosyntaktisch realisierten Formen: (16) {Argumente des logischen Prädikats} – {Morphosyntaktisch realisierte Formen} = {fakultative Aktanten}.48 (vgl. Pittner & Berman 2010:50ff.) Kein einziger der hier dargestellten Versuche in Form von Testverfahren und detaillierter Beschreibung des Problemfeldes vermag die ausstehende Abgrenzung des fakultativen Aktanten von freien Zirkumstanten zu leisten. Die Tests scheitern auffällig an der Realität des Sprachgebrauchs: Sowohl das Urteil der Sprachgemeinschaft über „Subklassenspezifik“ ist synonym zu „Rektion“ Tiefenstrukturen vereinen alle möglichen Bedeutungsvarianten eines Satzes, denen nur die grundlegende semantische Relation gemeinsam ist. Eine Tiefenstruktur kann demnach mehrere mögliche Oberflächenstrukturen haben – jeweils eine kommt in der spezifischen Sprachhandlung zum Ausdruck.; vgl. Chomsky (1965) 43 Erneut mittels verschiedener Tests, „Weglassbarkeit eines Aktanten in einem einfachen Aussagesatz“, „Weglassbarkeit eines Aktanten bei Veränderung der Bedeutung ‚von einem aktuellen in ein potentielles Geschehen’“ und „Weglassbarkeit eines Aktanten bei Kontrastierung“ (vgl. Pittner 2010:46) 44 Helbig nennt sie auch „absolut-obligatorische Ergänzungen“, „relativ-obligatorische Ergänzungen“ und „freie Angaben“. 45 Vlg. Tiefenkasus 46 Gemeint sind bspw. „(irgend-)ein“, „(irgend-)etwas“, etc. 47 „Die Weglassbarkeit ist jedoch ein stark kontextabhängiges, graduelles Phänomen, wie Helbig (1982) feststellt.“ (Pitnner & Berman 2010:46). 48 Parallelität zu Tesniére, laut dem die Valenzrealisierung nicht der Valenzpotenz entsprechen muss. 41 42 11 bspw. die Korrektheit der separaten Sätze mit einerseits fakultativen Aktanten, andererseits freien Zirkumstanten als auch deren Urteil über die Nachstellung von einerseits fakultativen Aktanten, andererseits freier Zirkumstanten kommt zu keinem eindeutigen Ergebnis. Daraus folgt: Der Grund des Scheiterns aller Unterscheidungsversuche, die Intuition der Sprecher, stellt das aktuell einzige Unterscheidungskriterium dar.49 Darüber hinaus offenbart die Valenztheorie Schwächen bezüglich der Erklärung des Vorkommens des freien Dativs (s. (17)), der Direktiva (s. (18)) und des Objektsprädikativs (s. (19)50) sowie bestimmter idiomatischer, idiosynkratischer und u. U. elliptischer Phrasen in Sprachhandlungen (s. (20)), die sie nicht im gegebenen Definitionsrahmen zu beseitigen vermag (vgl. Welke 2011:167ff.). (17) Der kleine Junge schreibt dem Weihnachtsmann einen Brief mit seinen Wünschen. (18) Franz zischte auf dem Schlitten den Berg hinunter. (19) Bei der Schneeballschlacht lachten sie sich krank. (20) Weg mit dem Herbstschmuck! (Jetzt beginnt die Adventszeit.) In (17), (18) und (19) stellt sich die Frage, ob jemandem schreiben, hinunterzischen, kranklachen u. ä. als eigenständige Verben mit eigener Valenz gelten sollten. (20) ist als Phrase aus Richtungsadverb und Präpositionalphrase, ohne Verb, schlichtweg nicht durch die Valenztheorie zu erklären, ähnliche Satzgefüge werden in der germanistischen Linguistik nahezu ignoriert (vgl. Jacobs 2008:15). Das ändert jedoch nichts an ihrem häufigen Vorkommen als idiomatisierte oder idiosynkratische Wendung im Sprachgebrauch. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Valenz über die verschiedensten Definitionen erfasst wird, die das Phänomen so uneinheitlich strukturieren und mit ihm verfahren, dass es weder auf einen Begriff gebracht werden kann noch in der Verfassung ist, das Vorkommen aller möglichen Sprachhandlungen umfassend zu erklären. Welke (2011) kritisiert die Dominanz des methodisch-formalen Aspekts, der der bereits ausführlich beschriebenen Abgrenzungsproblematik scheinbar anhaftet. Er manifestiere sich in der Starrheit, mit der die Linguisten an der Invarianz-Forderung51 49 Es liegt also im Ermessen eines jeden Sprechers, abhängig von Situation und Kontext der Sprachhandlung, über die Beteiligtheit des jeweiligen Adverbials/ Objekts zu urteilen. 50 Resultative betrachte ich als Unterkategorie der Objektsprädikativa. 51 „Denn eine Definition im klassischen Sinne setzt voraus, dass es invariante Merkmale geben muss, also Merkmale, die allen Exemplaren einer zu beschreibenden Kategorie gleichermaßen zukommen. […] Disjunktion [, wie hier zwischen Obligatheit und Rektion, B.S.] ist methodologisch wegen der Invarianzforderung vom Standpunkt der klassischen Definitionsmethode aus nicht zulässig […].“ (Welke 2011:58) 12 festhalten, mit der sie eine klassische Definition im Sinne einer kriteriengeleiteten formalen Abgrenzung für eine Intuition anstreben. Er plädiert für eine Abgrenzung über die Kombination der Kriterien Obligatheit52 und Rektion53 in Form einer Disjunktion54 (vgl. ebd.:46f.)). Den Beginn des Abgrenzungsproblems scheint Welke55 in der Entwicklungsphase der Valenztheorie zu sehen, in der sich die anfängliche Annahme Tesniéres über die ausschließliche Obligatheit von Aktanten nicht verifizieren ließ und man dennoch daran festhielt, sie von den Zirkumstanzen formal eindeutig56 abgrenzen zu wollen. Welke sieht einen Lösungsansatz in der Wahl einer Prototypenmethode. Das erscheint in Anbetracht der o. g. Problematik mit der Realität des Sprachgebrauchs plausibel. Welke (2011) definiert für alle Ergänzungen eine klassische Familienähnlichkeit über den Prototyp einer obligatorischen und regierten Ergänzung, von dem alle anderen Ergänzungen in einem der beiden Kriterien abweichen dürfen. Obligatheit und Rektion werden als Indizien für Valenz behandelt (vgl. Welke 2011:62). Weiterhin setzt er auf eine „[…] Verbindung zwischen projektionistischem und konstruktionsbasiertem57 Herangehen:“ (ebd.:183). Ausgehend vom Eintrag der Grundvalenz eines Verbs im Lexikon seien Abweichungen in Form von Reduktion und Erweiterung möglich, die in den Bereich kreativen Sprachgebrauchs fielen. Auf diese Weise könnten situationsgemäße Anpassungen des Verbs an Konstruktionen, reale und bedeutsame Sprachhandlungen, ohne Änderung der Grundvalenz58 vorkommen (vgl. ebd.:184). 2. Konstruktionsgrammatik – Rettung aus der Misere? Bei in 1.3. genannten Schwächen bezüglich Sprachhandlungen, der unregelmäßigen Realität des Sprachgebrauchs59, ansetzend, greift die Konstruktionsgrammatik60 die Begriff der Valenztheorie: „Valenz liegt vor, wenn eine syntaktische Einheit obligatorisch und/ oder regiert ist.“ (Welke 2011:47); Zu beachten ist hier das „nicht ausschließende Oder“, in Form des „und/ oder“. 53 Auch Subklassenspezifik; „Dependenz: Eine syntaktische Einheit ist Dependens, wenn sie weglassbar (fakultativ) und/ oder regiert ist.“ (Welke 2011:47); Zu beachten ist hier das „nicht ausschließende Oder“, in Form des „und/ oder“. 54 „Valenz: Eine syntaktische Einheit ist Ergänzung, wenn sie nicht weglassbar (obligatorisch) und/ oder regiert ist.“ (Welke 2011:47) Das bedeutet u. a. die Möglichkeit obligatorische, unregierte und fakultative, regierte Elemente unter einem Begriff zu fassen. 55 Ähnliche Schlüsse zieht er in Bezug auf eine allgemeine (klassische) Definitionsproblematik im grammatischen Diskurs. (vgl. Welke 2011:59) 56 In Form einer klassischen Definition 57 Vgl. 2. 58 Hierzu siehe Welke 1988a/b 59 Gemeint ist die für die Erfassung in Dependenz- und Generativer Grammatik zu unregelmäßige Realität des Sprachgebrauchs. 60 Parallel zur Generativen Grammatik als übergeordneter Sammelbegriff zu verstehen (vgl. Fußnote 18) 52 13 Valenztheorie auf. Die Konstruktionsgrammatik entwickelte sich im Konsens der Generativen Grammatik zielgerichtet darauf, den theoretischen Umgang mit idiomatischen, idiosynkratischen und u. U. elliptischen Wendungen61 zu verbessern: Nicht nur regelmäßige sprachliche Muster, auch sprachliche Wendungen, deren Struktur nicht oder nur geringfügig verallgemeinerbar sind, seien bedeutungstragend für die Theoriebildung62. Sie wendet sich also von Annahmen wie der Universalgrammatik63 und der Verleugnung metaphorischen Sprechens ab. Ebenso entledigt sie sich der Vorstellung von Tiefen- und Oberflächenstruktur - es gäbe nur eine Schicht, die an der Oberfläche der Sprachhandlung liegt. Konstruktionen64 gelten als elementare Bausteine sprachlichen Wissens65, alle Sprachhandlungen, die mehr als ein Lexem umfassen, als Kombination aus mehreren Konstruktionen: (21) Der kleine Junge gibt Franz einen Becher Kakao. Kombination aus SubjektPrädikat-Konstruktion ([SUBJ PRED]), Ditransitivkonstruktion (GEBEN), PräsensKonstruktion („gibt“), zwei verschiedener Nominalphrasenkonstruktionen ([NP NEIGENNAME] [NP DetAKK N]) und der lexikalischen Konstruktionen Junge, Franz, Becher, Kakao, der, klein-, gib-, ein- (vgl. Fischer & Stefanowitsch 2006:7; Beispiele B. S.). Varianten der Konstruktion entsprechen Varianten in der Satzaussage.66 Synonyme gibt es nicht, denn die Konstruktionsgrammatik ist „[…] strikt nicht-modular […]“ (Fischer & Stefanowitsch 2006:7). Konstruktionen existieren unabhängig von Köpfen, sie können die Bedingungen des Kopfes, des Verbs, verändern und seine Bedeutung determinieren.67 Konstruktionen gelten als „[…] form-meaning correspondences that exist independently of particular verbs. That is, it is argued that constructions themselves carry meaning, independently of the words in the sentence.“ (Goldberg 1995:1). Verben haben hier eine untergeordnete Funktion, denn die Valenz des Verbs könne Äußerungen im realen Sprachgebrauch nur unvollständig erfassen68 - besonders 61 Gemeint sind Sprichwörter, Mundarten u. ä. Gemeint ist die „[…] Unterscheidung zwischen regulärer Kerngrammatik und idiosynkratischer Peripherie.“ (Fischer & Stefanowitsch 2006:10) 63 Vgl. „2.3. Modularität und Angeborenheit“ (Fischer & Stefanowitsch 2006:7f.) 64 Gemeint sind gelernte, autonome Form-Bedeutungsgebilde (vgl. Coene & Willems 2006:2); Zu beachten ist unbedingt der Bedeutungsunterschied zwischen der Konstruktion (meistens Phrase) der Generativen Grammatik und der Konstruktion der Konstruktionsgrammatik. Die Phrase repräsentiert Grammatikregeln, während die Konstruktion im Sinne der Konstruktionsgrammatik Grammatikregeln mit lexikalischer Bedeutung verknüpft darstellt. 65 Auch einzelne Lexeme gelten als Konstruktionen. 66 Parallele zur Valenztheorie, allerdings von oppositionellen Standpunkten aus: Die Valenztheorie geht von einer Polysemie des Verbs aus, die Konstruktionsgrammatik von einer Polysemie der Konstruktionen. 67 Vgl. Welke (2011:178); vgl. „Top-Down“-Analyse (Jacobs 2009:495); Vgl. Coene & Willems (2006:2) 68 Die hier formulierte Absage an einen lexembasierten projektionistischen Gehalt der Konstruktionsgrammatik, die Valenztheorie, macht das in 1.3. ausgeführte Abgrenzungsproblem zwischen vom Verb geforderten bzw. nicht geforderten Elementen hinfällig. 62 14 die o. g. verblosen Wendungen blieben erklärungsbedürftig69. Eine Anknüpfung an den Ansatz Tesniéres bedeutet der in der Konstruktionsgrammatik aufgestellte Zusammenhang zwischen Lexemen und Konstruktionen, es wird keine Unterscheidung zwischen Lexikoneinträgen und Grammatikregeln gemacht.70 „So stellt sich das Sprachsystem als Kontinuum vom Lexikon über idiomatische und halbidiomatische Fügungen bis zu abstrakten grammatischen Strukturen dar.“ (Fischer & Stefanowitsch 2006:3) Im Rückschluss bedeutet das ebenfalls eine Kritik an der Trennung von Lexikon und syntaktischer Struktur, wie sie, wie oben genannt, in der Generativen Grammatik besteht. Folgend möchte ich die wichtigsten allgemeinen Eigenschaften von Konstruktionen kurz darstellen: - Implikation von Derivations- und Flexionsmorphologie (22) [ver-V]/DISTRIBUTIV (verschenken) oder [N-e]/PLURAL (Wege) - Implikation einmorphemiger und mehrmorphemiger lexikalischer Einheiten (23) Fach, lehr-, Lehrer, Fachlehrer - Implikation konventionalisierter Mehrwortausdrücke (24) Schwein gehabt. - Implikation lexikalisch voll oder teilweise spezifizierter variabler Mehrwortausdrücke (bspw. idiomatische Wendungen) (25) Den Kopf in den Sand stecken., [NPAKK bauen]/ ‚etwas Unerwünschtes tun’ Mist bauen - Implikation abstrakter, lexikalisch nicht ausgefüllter syntaktischer Strukturen (bspw. phrasale Kategorien) (26) [NPNOM V NPAKK], Der kleine Junge baut einen Schneemann. - Implikation einer untereinander verbindenden Struktur über systematische Generalisierungen, Vererbungsbeziehungen sowie Kategorisierungslinks (vgl. Fischer & Stefanowitsch 2006:6; Beispiele B. S.) In allen Theorien, die unter dem Begriff „Konstruktionsgrammatik“ subsumiert werden können, existieren über das bisher ausgeführte hinaus Unterschiede bezüglich des Konstruktionsbegriffs, der Beschreibung des Inventars sowie allgemeiner theoretischer Prämissen (vgl. Fischer & Stefanowitsch 2006:8ff.). Im Folgenden möchte ich zwei ausgewählte Theorien detaillierter aufgreifen, die Fragestellung verfolgend: 69 Vgl. 1.3. „Each construction will be a form-meaning pair (F.M) where F is a set of conditions on syntactic and phonological form and M is a set of conditions on meaning and use. (Lakoff 1987:467); Vgl. „2.3. Modularität und Angeborenheit“ (Fischer & Stefanowitsch 2006:7) 70 15 Stellt die Konstruktionsgrammatik eine Chance dar, die Schwachstellen71 der Valenztheorie zu füllen? Wie könnte eine Kombination solch gegenläufiger72 Analyseverfahren gelingen? 2.1. Adele Goldberg Das zur Zeit nach wie vor einflussreichste konstruktionsgrammatische Modell für die Analyse der Satz- und Verbsyntax stammt von Adele Goldberg (vgl. ihre Arbeit Constructions aus dem Jahr 1995 und verschiedene andere Beiträge, u.a. Goldberg 1992, 1996, 1997, 1999, 2002, 2003 sowie 2005). Eine kritische Auseinandersetzung mit den Basisprämissen dieses Modells steht auch nach 10 Jahren noch aus. (Coene & Willems 2006:2) Adele Goldberg löst das Problem der Polysemie sprachlicher Handlungen über den Transfer zweier Hypothesen: Sie instanziiert semantische Invarianz von Verben in verschiedenartige Konstruktionen und gelangt so zu konstruktioneller Polysemie (vgl. Coene & Willems 2006:2,10). Goldberg spricht sich vehement gegen einen lexembasierten projektionistischen Gehalt der Konstruktionsgrammatik – und damit gegen die Valenztheorie - aus und verweist auf die Schwächen der letztgenannten bezüglich der Erklärung des freien Dativs, der Direktiva, des Objektsprädikativs und idiosynkratischer, idiomatischer, u. U. elliptischer Wendungen73. Die Bedeutung eines Satzes resultiere aus der Bedeutung der Lexeme und der kombinierten Konstruktionen (vgl. Goldberg 1995:16). Goldberg unterscheidet für das Englische u. a. ditransitive Konstruktionen, Konstruktionen der verursachten Bewegung, resultative, intransitive und konative Konstruktionen74 (vgl. Coene & Willems 2006:4,7f.). In Anbetracht des unter 1.3. bereits angedeuteten Sachverhalts, dass Verben sich nicht beliebig an Konstruktionen anpassen, führt Goldberg eine Unterscheidung von Argument- und Partizipantenrollen ein: Sind die konkreten Partizipanten-Rollen eines Verbs „semantically compatible“ (Goldberg 1995:50) zu den allgemeinen Argumentrollen75 einer Konstruktion, gelingt die „Instantiierung“ (Goldberg 1995:43).76 71 Vgl. 1.3. Hiermit meine ich die oppositionellen Ausgangspunkte (Verb vs. Konstruktion) der Analysen 73 Vgl. 1.3. 74 X CAUSES Y to RECEIVE Z, X CAUSES Y to MOVE Z, X CAUSES Y to BECOME Z, X MOVES, X DIRECTS ACTION at Y; Die Entwicklung der Goldberg´schen KxG aus Fillmores Frame semantics wird hier deutlich (vlg. Coene & Willems 2006:7f.). 75 Gemeint sind Verallgemeinerungen der Partizipanten-Rollen 76 Auch: Elaborierung (1995:386) oder Spezifizierung (2006:39); (vgl. u. a. Goldberg 1995:1,29,35) 72 16 (27) Sem CAUSE-RECEIVE< R: instance, means HAND Syn V agt <hander SUBJ rec pat > handee handed > OBJ OBJ2 Bereits dieser Ursprung der Goldberg´schen Partizipantenrollen führt jedoch zurück zu einem projektionistischen Ansatz (vgl. Welke 2011:185ff). Auch zeigt sich hier der oben bereits angedeutete drastische Unterschied zur Valenztheorie: Repräsentiert in letztgenannter die Valenz eines Verbs das Allgemeine – die Grammatik -, repräsentieren es in der Konstruktionsgrammatik nach Goldberg die allgemeinen Argumentrollen einer Konstruktion. Das erklärt die Verb-Unabhängigkeit von Konstruktionen. Das gleiche Verb kann hierbei sowohl einhergehend mit der Konstruktion die gleiche Bedeutung (s. (28)) als auch semantische Modifikationen kausaler (s. (29)) oder modaler Art – hier (s. (29)) ein für die Valenzgrammatik problematisches Resultativ - instantiieren. (28) Der kleine Junge schreibt einen Brief an den Weihnachtsmann. „central sense“ (29) Der kleine Junge schreibt sich die Finger wund. „causal relation“ Ebenso können auch Bedingungen oder begleitende Aktivitäten – darüber hinaus hier (s. (30)) ein für die Valenzgrammatik problematisches Direktiv - vom Verb ausgedrückt werden: (30) Der kleine Junge träumt sich durch die Schulstunde. „co-occuring activity“ (vgl. Goldberg 1995:394f.; Beispiele B. S.) In (29) wird deutlich, dass die lexikalische Bedeutung einzelner Lexeme und deren Kombination nicht immer auf die Bedeutung des Satzes schließen lässt – anhand der Valenztheorie wäre diese Beispiel-Konstruktion nicht zu realisieren. Schreiben fordert normalerweise kein Reflexiv. Die Verbbedeutung fügt sich in die Konstruktionsbedeutung ein, mit der Aufgabe letztere zum Ausdruck zu bringen.77 Schreiben ist in diesem Beispiel der Vorgang, der beim Subjekt einen versehrten physischen Zustand zur Folge hat. Schreiben erhält also – ausschließlich innerhalb dieser Konstruktion - eine neue Bedeutung als Reflexives Verb sich schreiben. (Vgl. Coene & Willems 2006:5f.) (29a) *Der kleine Junge lernt sich die Finger wund. (29a) zeigt allerdings, dass die Anpassung der Verben an die Konstruktionen nicht immer funktioniert, die hier einsetzbaren Verben nicht beliebig sind. Verben müssen Eigenschaften mitbringen, die ihr mögliches Umfeld spezifizieren (vgl. Welke 2011:184f.). Das verleugnet Goldberg. Auch idiosynkratische, elliptische Wendungen „Die Funktion der Verben besteht Goldberg zufolge […] darin, eine von den Verben […] unabhängige konstruktionelle Bedeutung […] auf eine spezifische Weise zu realisieren.“ (Coene & Willems 2006:5f.) 77 17 können verwirklicht werden, da Konstruktionen, wie oben genannt, unabhängig von Verben selbstständige bedeutungstragende Einheiten sind: Fälle wie (31) gelten als relativ abstrakte Konstruktion der sprachspezifischen Peripheriegrammatik, basierend auf einem gemeinsamen Wissenshorizont78. (31) Weg mit dem Herbstschmuck! (Jetzt beginnt die Adventszeit.) Goldberg zufolge können dementsprechend die polysemen Konstruktionen alleinig durch die Kernbedeutung von Verben verwirklicht werden, indem die konstruktionellen Bedeutungen durch die jeweils feste Kernbedeutung des Verbs beeinflusst werden. „The verb […] is associated with one or a few basic senses which must be integrated into the meaning of the construction.“ (Goldberg 1995:11). Dadurch entstehen Bedeutungsnuancen. Die neuen Verbbedeutungen, bspw. etwas wund schreiben, etwas durchträumen, die im syntaktischen Gefüge auftreten können, sind nicht auf lexikalische verbale Polysemie zurückzuführen, sondern existieren nur innerhalb der jeweiligen sprachlichen Handlung, innerhalb der konstruktionellen Bindung. Hier ist anzumerken, dass es allerdings genau die Verben mit ihrer lexikalischen Bedeutung sind, die laut Goldberg eben die Polysemie der Konstruktionen realisieren. Das bedeutet: Nicht die Konstruktionen selber sind polysem, sie werden es erst in ihrer Realisierung durch kompatible Verben (vgl. Coene & Willems 2006:20). „Goldbergs konstruktionelle Bedeutungen sind damit bestenfalls als Normbedeutungen von Konnexionskomplexen einzustufen, die aber allemal in den lexikalischen Bedeutungen einzelner Verben fundiert sind.“ (Coene & Willems 2006:28). Der vermeintliche Vorteil der Goldberg´schen Theorie: „[…] it is not necessary to posit an additional verb sense for each new syntactic configuration in which the verb appears.” (s. Goldberg 1995:9). Fraglich werden Goldbergs Ausführungen bei syntaktischen Gefügen (s. (32)), die auch mit der Valenztheorie erfasst werden könnten: (32) Franz gibt dem kleinen Jungen einen heißen Kakao aus. Im Sinne der Valenztheorie könnte es sich beim Verb ausgeben (statt geben) um ein dreiwertiges handeln, dessen Leerstellen regelgerecht durch ein Subjekt, ein obligatorisches Dativ-Objekt sowie ein obligatorisches Akkusativ-Objekt realisiert sind. Wie berechtigt Goldbergs Konstruktionsgrammatik hier ihre Existenz? Semantische Beziehungen zwischen Konstruktionen werden durch „Inheritance“ (Goldberg 1995:74) bestimmt: 78 Vlg. “Szene Encoding Hypothesis” (Welke 2011:176) 18 - Subpart Links drücken die strukturelle Beziehung zwischen einer Objekts- und einer Subjektsprädikativkonstruktion aus. (33a) ist sozusagen als „intransitive resultative construction“ (Goldberg 1995:79) von (33) in (33) enthalten. (33) Er klopft den Schnee fest. (33a) Der Schnee wird fest. - Polysemy Links drücken verschiedene Ableitungen von type-Konstruktionen aus. Während (34) die ursprüngliche Bedeutung ausdrückt (central sense), drücken (34a) und (34b) Ableitungen derer aus (conditions of satisfaction imply). (34) Franz schenkt dem kleinen Junge eine Mütze. „X CAUSES Y TO RECEIVE Z“ (34a) Franz verspricht dem kleinen Jungen einen heißen Kakao. „X ENABLES Y TO RECEIVE Z“ (34b) Franz erlaubt dem kleinen Jungen eine Fahrt auf seinem Schlitten. „X ENABLES Y TO RECEIVE Z“ Auch hier wird, wie oben bereits angemerkt, überaus deutlich, dass die Polysemie erst mit der Realisierung der Konstruktion durch die Verben schenken, versprechen, erlauben zum Ausdruck kommt. Setzte man lediglich das Verb schenken in (34), (34a) und (34b) ein, drückten alle Konstruktionen den „central sense“ aus. - Instance Links drücken das Verhältnis zwischen type- und token-Konstruktionen aus. - Metaphorical Links drücken die Beziehung zwischen bedeutungsähnlichen Konstruktionen aus. (35) Der kleine Junge baut den Schneemann zu riesiger Größe. (35a) Der kleine Junge baut den Schneemann imposant. (vgl. Goldberg 1995:74f. ; Beispiele B.S.) Goldberg definiert die prototypische Konstruktionsbindung, „pattern of polysemy“ (ebd.:75f.), nicht als „[…] Abstraktion aus den einzelnen Konstruktionsbedeutungen, sondern [als B. S.] eine Familie ähnlicher Konstruktionsbedeutungen“ (Welke 2011:175), die auf eine prototypische Bedeutung ausgeweitet werden können. Die Polysemie von Konstruktionen ist demnach nicht herleitbar aus Lexemen oder anderen Konstruktionen (vgl. Coene & Willems 2006:5). Hier bleibt Folgendes fraglich: Beispielsweise kann nach Goldberg die Caused-Motion-Konstruktion (s. (36)) auf eine abstraktere, im Sinne einer metaphorischen Erweiterung, Konstruktion (s. (37)) ausgeweitet werden. Trotzdem kann (37) auch als konkrete Konstruktion angesehen werden (38). (36) „X CAUSES Y TO MOVE Z“ konkrete Ortsveränderung, konkreter Fall von (37) 19 (37) „X CAUSES Y TO BECOME Z“ abstraktere Zustandsveränderung auf Grund lage von (36) (38) Bei der Schneeballschlacht lachten sie sich krank. Der Unterschied zwischen abstrakter und konkreter Konstruktion wird nicht anhand von eindeutigen Kriterien begründbar. Auch die Unterscheidungen zwischen konkreten Konstruktionen scheinen oft willkürlich. Ebenso Goldbergs „intended-result relation“(Coene & Willems 2006:16)79: (39) „X DIRECTS ACTION AT Y“ Hier wird eine Mitbedeutung im Sinne eines angestrebten Ziels der Handlung postuliert, die sich nicht zwangsläufig bestätigen muss: (39a) Der kleine Junge wirft einen Schneeball nach Franz. Laut Goldberg strebt der kleine Junge das Ziel an, Franz abzuwerfen. Allerdings ist es ebenso vorstellbar, dass der kleine Junge Franz lediglich erschrecken oder ärgern möchte, indem Franz den an sich vorbeifliegenden Schneeball bemerkt (vgl. Coene & Willems 2006:15f.; Beispiele B.S.). Goldberg verfährt ähnlich der Generativen Grammatik und trennt Lexikoneintrag und Grammatikregeln voneinander. Welke (2011) bemerkt, „[…] dass man Einzelnes und Allgemeines nicht so grundsätzlich auseinander reißen […]“ (ebd.:187), in der Verwendung, also in Anwesenheit einer Konstruktion nicht voneinander isolieren kann80 (vgl. Coene & Willems 2006:3). Auch Goldbergs Ansatz ist nicht frei vom Einfluss der Sprecherintention im konkreten Sprachgebrauch sowie dem spezifischen Kontext81, bspw. in ihrer Begründung der einzelnen „senses“ von polysemen ditransitiven Konstruktionen sowie in ihrem Zusammenfall von Semantik und Pragmatik (vgl. Coene & Willems 2006:21ff.). Auch gelingt ihr keine eindeutige Unterscheidung der Konstruktionen von lexikalischen Bedeutungen sowie der Bedeutungen von Konstruktionen und der Interpretation von konkreten Sätzen im Hinblick auf außersprachliche Sacherverhalte (Geschehnisse und Handlungen) (vgl. Coene & Willems 2006:29). Jedoch leugnet sie den verbalen Beitrag zu Konstruktionen, damit zur gesamten Satzbedeutung - ein offensichtlicher Trugschluss: Konstruktionen und konstruktionelle Bedeutungen scheinen plausibel, jedoch nur neben lexikalischen Bedeutungen und Verb-Valenzen (vgl. Coene & Willems 2006:28). 79 Vgl. Goldberg (1995:63) Die Trennung funktioniere nur in frühen Stadien des Spracherwerbs, nicht aber, sobald grundlegende Konstruktionen bereits im Sprachschatz vorhanden seien. 81 Vgl. „Scene Encoding Hypothesis“ (Welke 2011:176) 80 20 2.2. Joachim Jacobs Joachim Jacobs greift das Phänomen Valenz auf, da trotz der in 1.3. beschriebenen theoretisch-methodischer Problematik „[…] die Phänomenbereiche, die Gesetzen der Valenztheorie gehorchen, wesentlich umfangreicher sind als üblicherweise angenommen wird[...]“ (Jacobs 1992:94) und gibt der Diskussion über dessen Handhabung eine, auch für die Konstruktionsgrammatik, neue Richtung: Er setzt auf eine Symbiose aus konstruktivistischen und projektionistischen82 Analysemethoden83 (vgl. Jacobs 2008:5). Jacobs Motivation ist es vorrangig, falsche grammatikalische Parallelen84 – so wie sie in den im ersten Abschnitt meiner Arbeit ausgeführten monistischen Ansätzen u. U. gezogen wurden85 – zu vermeiden. Dies scheint ebenfalls ganz im Sinne Coenes & Willems (2006), welche in ihrer Kritik an Goldbergs Konstruktionsgrammatik folgendes äußern: Im Gegensatz zur KxG halten wir es […] für unabdingbar, dass die drei Ebenen der Bezeichnung, der konstruktionellen Bedeutungen und der lexikalischen Bedeutungen von Wörtern (insbesondere Verben) nicht miteinander verwechselt werden. Dies setzt voraus, dass Verben im Vergleich zu den Konstruktionen weder im Hinblick auf ihre lexikalischen Bedeutungen noch auf ihre satzkonstituierende Funktion als sekundäre sprachliche Einheiten einer Sprache eingestuft werden. (ebd.:29) Beide o. g. Analysemethoden stehen gleichrangig nebeneinander zur Wahl86, Kriterium für die Entscheidung stellt die Enge der Verwandtschaft mit dem Prototyp einer Valenzbindung87 dar. Jacobs revolutioniert den Valenzbegriff: Ein wesentlicher Grund für die inflationäre Vermehrung der Deutungen des Valenzbegriffs war also, daß [sic!] man die Tatsache, daß [sic!] in anderen als den klassischen Beispielen verschiedene Interpretationen von Valenz(bindung) zu verschiedenen Ergebnissen führen, den Interpretationen angelastet hat, statt sie als einen Hinweis auf die heterogene Natur der zu analysierenden Phänomene zu werten. (Jacobs 1994:11) Er impliziert die Prototypenforderung Welkes in seinem Ansatz, indem er es über den Zwischenschritt seiner multidimensionalen Valenztheorie88, in der er die vielfältigen Definitionsversuche 82 des Phänomens aufgreift, Kriterien für eine typische Gemeint sind auf Valenz basierende Laut Welke (2011) ist das „[…] der effizienteste Weg, die […] Problemlage zu bewältigen.“ (vgl. ebd.:183) 84 Bspw. Analyse einer komplexen syntaktischen Konstruktion mit einer Bottom-Up-Methode oder aber Analyse einer Valenz-Kookkurrenz mit der Top-Down-Methode (vgl. Jacobs 2009:495) 85 Zu dieser Problematik vgl. Jacobs (2008) 86 Jacobs rechnet beiden eine gleiche generative Kapazität an (vgl. Jacobs 2008:34) 87 Ansätze dazu bereits in Jacobs (1995:71) 88 Vgl. (Jacobs 1994 a, geschrieben 1987, weiterentwickelt in Jacobs 1992a, 1994b, 1995, 2002) 83 21 Valenzbindung erarbeitet. Dazu vergleicht er typische Valenz-Kookkurrenzen89 mit typischen Konstruktions-Kookkurrenzen90 anhand der voneinander unabhängigen Kriterien Lokalität, Asymmetrische Konkretheit, Ausnahmslosigkeit, Umgebungsabhängigkeit und Prädikat-Argument-Beziehung und kommt zu dem Ergebnis, dass die prototypische Valenzbindung alle Kriterien in sich vereint91. Konstruktionsbindungen dagegen sind bezüglich keines einzigen Kriteriums eindeutig festgelegt92. Daraus ergibt sich beim Abgleich der Kookkurrenzgesetzmäßigkeiten93 eines bestimmten Verbs mit den o.g. Kriterien der verbspezifische Grad der Prototypik. Kookkurrenzgesetzmäßigkeiten schaffen eine Verbindung zum realen Sprachgebrauch, indem sie das sprachlich bedingte überzufällige Auftreten bestimmter Zeichen abstrahieren: (40) Der kleine Junge baut einen dicken Schneemann. (41) Der kleine Junge baut Mist. Kookkurrenzgesetzmäßigkeiten für diese beiden Sätze könnten lauten: KG (40) Formen des Verbs bauen in der Bedeutung ‚etwas herstellen’ kommen zusammen mit einer Akkusativ-NP vor, die das Objekt, das hergestellt wird, spezifiziert. KG (41) Formen des Verbs bauen kommen zusammen mit der NP Mist vor und bilden dabei Phrasen mit der Bedeutung ‚etwas Unerwünschtes tun’. Es können auch mehrere Kookkurrenzgesetzmäßigkeiten für ein und denselben Satz formuliert werden, bspw.: KG2 (41) Formen des Verbs bauen kommen zusammen mit einer Akkusativ-NP vor und bilden mit dieser ein einstelliges Prädikat. (vgl. Jacobs 2009:493; Beispiele B. S.) Somit kann auf einer beiden (Valenz- und Konstruktions-Kookkurrenz) KookkurrenzTypen gemeinsamen Kriterienbasis das Für und Wider für die entsprechenden Analysemethoden abgewogen werden. Jacobs beschreibt einen sozusagen fließenden Übergang, ein Kontinuum von der Valenz- zur Konstruktionstheorie, indem er der Valenztheorie den Gegenstandsbereich eher nicht-idiomatisierter, der Konstruktionstheorie den Gegenstandsbereich eher idiomatisierter Konstruktionen 89 Bspw. Objekt-Verb-Kookkurrenzen, vgl. Valenzwörterbücher Vgl. phraseologische Lexika 91 „+Lokalität“, „+Asymmetrische Konkretheit“, „+Ausnahmslosigkeit“, „+Umgebungsabhängigkeit“ und „+Prädikat-Argument-Beziehung“ 92 „±Lokalität“, „±Asymmetrische Konkretheit“, „±Ausnahmslosigkeit“, „±Umgebungsabhängigkeit“ und „±Prädikat-Argument-Beziehung“ 93 Jacobs legt für jedes Verb eine Vielzahl spezieller sog. Kookkurrenzgesetzmäßigkeiten fest, in welchen die Bedingungen für die Kookkurrenz-Fähigkeit des speziellen Verbs in verschiedenen Lesarten ausgedrückt werden. 90 22 zuschreibt. Das entspricht der mehr oder weniger prototypischen Valenzkookkurrenz, die die Kriterien als weniger oder mehr idiomatisierte Konstruktion ausweisen. Eine mehr prototypische Valenzkookkurrenz und damit eine weniger idiomatisierte Konstruktion wäre bspw. KG (40) (s. (42)), der man begründend die Valenz des Verbs bauen sowie deren schrittweise Sättigung durch die geforderten Elemente zugrunde legt: (42) Valenz an Formen von bauen (in einer Lesart)94 Kat: /nom˟/akkˠ Valenzforderung, kategorial (Kasus) Sem: λyλx [BAUEN (x,y)] Assoziation über semantische Argumentstellen Eine weniger prototypische Valenzkookkurrenz und damit eine mehr idiomatisierte Konstruktion wäre bspw. KG (41)95 (s. (42a)), in der eine Form von bauen die freie Variable X instantiiert und somit eine Verbindung mit der NP Mist eingeht: (42a) Mist-bauen-Konstruktion Phongraph Mist X Kat [MistNP,akk XV, BAUEN] Sem λx[ETWAS UNERWÜNSCHTES TUN(x)] Für Objektsprädikative wie bspw. das Resultativ (43) schlägt Jacobs auf Basis der Kookkurrenzgesetzmäßigkeit KG (43)96 eine Valenzbindungsanalyse vor: (43) Bei der Schneeballschlacht lachten sie sich krank. KG (43): Formen des Verbs lachen kommen mit einer Akkusativ-NP und einer prädikativen XP vor und bilden dabei Phrasen mit der Bedeutung ‚X lacht, und das führt dazu, dass NP XP ist’. Als problematisch könnte sich bei einer solchen Analyse lediglich die kategorische Eigenschaft „-Prädikat-Argumentbeziehung“ erweisen. In diesem Fall sollte man einen produktiven lexikalischen Prozess annehmen, der an jemanden X lachen als Variante des Verbs lachen zwei zusätzliche Argumentstellen vergibt, die in derartigen Phrasen durch eine Akkusativ-NP und eine prädikative XP gesättigt werden (vgl. Jacobs 2009:494 ff.). Vgl. „Sehweise“ Grebes (vgl. Welke 2011:48) und die von Helbig (1982) beschriebene Perspektivität von Verben (vgl. Pittner & Berman 2010:54) 95 Die entsprechenden kategorischen Eigenschaften sind: „+Lokalität“, „-Asymmetrische Konkretheit“, „U Ausnahmslosigkeit“, „+Umgebungsabhängigkeit“ und „-Prädikat-Argument-Beziehung“ 96 Die entsprechenden kategorischen Eigenschaften sind: „+Lokalität“, „+Asymmetrische Konkretheit“, „+ Ausnahmslosigkeit“, „+Umgebungsabhängigkeit“ und „-Prädikat-Argument-Beziehung“ 94 23 Auch für idiomatische, elliptische Sätze hat die Jacob´sche Konstruktionsgrammatik eine Erklärung: (44) Weg mit dem Herbstschmuck! (Jetzt beginnt die Adventszeit.) Sem (44): DIRill(sp,adr, [GO-END(x,w) & DER-HERBSTSCHMUCK(x) & WEG(w)]) Es handele sich um eine direktive Illokution, also den Ausdruck der Sprecherabsicht in der konkreten Sprachhandlung, demnach um ein eigenständiges, wenn auch elliptisches, Satzgefüge. Es drückt ein direktional-prädikatives Verhältnis aus, dessen konkrete Bedeutung – bspw. Befehl, Rat, Aufforderung - aus dem jeweiligen Kontext zu schließen ist. Jacobs erfasst diese Sätze unter Annahme konkreter komplexer Konstruktionen97, bspw. (44a): (44a) Die Adv-mit-Direktiv-Konstruktion: Phon /X mit Y/ Kat [UXAdv,dir [PPmitP YNP,dat]] Sem DIRill(sp,adr, [GO-END(x,w) & Y´(x) & X´(w)]) Diesem Ansatz folgend lassen sich weitere idiomatische Wendungen erfassen, deren Idiosynkrasien nicht innerhalb projektionistischer Grammatiken erfasst werden könnten (vgl. Jacobs 2008:15ff.). Scheinbar bietet Jacobs Symbiose aus Verbvalenz und Konstruktionen für alle realen Sprachhandlungen Erklärungsmöglichkeiten. 3. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Valenz trotz der damit einhergehenden Probleme und Mängel ein essentielles Phänomen der deutschen Grammatik ist. Der Versuch Goldbergs, Valenzen mittels Konstruktionen überflüssig zu machen, ist teilweise nicht überzeugend. Weder Valenzen noch Konstruktionen scheinen alleinig für eine umfassende Erklärung sprachlicher Handlungen geeignet. Joachim Jacobs wagt einen neuen Weg, eine Symbiose beider Phänomene, zu einem offensichtlich fruchtbaren Konzept. 97 Zur genauen Definition s. Jacobs (2008) 24 Auch Welke (2011) bemerkt: Die Konstruktionsgrammatik gibt als Ergänzung der Valenztheorie (oder auch umgekehrt die Valenztheorie als Ergänzung der Konstruktionsgrammatik) den Schlüssel zur Lösung des Problems der ‚überschüssigen’ Argumente an die Hand: Konzeptuelle Anpassung ist keine Anpassung an irgendwelche sprachfrei (syntax- und formfrei) gedachten Konzepte (Bedeutungen), sondern Anpassung an Konstruktionen, die es bereits unabhängig von dem zu fusionierenden Verb gibt. (ebd.:190) 25 4. Literaturverzeichnis Bußmann, Hadumod (2008): Lexikon der Sprachwissenschaft. Vierte, durchgesehene und bibliographisch ergänzte Auflage unter Mitarbeit von Hartmut Lauffer. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag. Engel, Ulrich (1977): Sytax der deutschen Gegenwartssprache. Berlin: Schmidt. Fischer, Kerstin / Stefanowitsch, Anatol (Hgg.) 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