Danzig - Laaber

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D
Danzig (Gdansk)
Die Stadt Danzig, Handelsmetropole an der
Weichselmündung, war besonders während des
16.–18. Jahrhunderts ein blühendes und angesehenes Zentrum der Kirchenmusik. Wegen ihrer
wechselhaften politischen Geschichte verblasste dieser Einfluss in späterer Zeit.
Zwischen 970 und 980 wurde die Burg Gyddanyzc auf einer Insel zwischen Mottlau und
Weichsel erbaut, bereits 999 wurde sie als Stadt
bezeichnet. 1227 entstand das Dominikanerkonvent mit der Nicolaikirche. Dort wurde von Anfang an der gregorianische Choral gesungen, ein
bloßes Rezitieren der Stundengebete war sogar
verboten. Auch an den Pfarrkirchen der Stadt
erklangen reichlich Sequenzen und Tropen. An
der 1493–1502 erbauten Pfarrkirche St. Marien
war schon 1385 ein Organist angestellt. Ende des
16. Jahrhunderts besaß die Kirche vier Orgeln,
darunter eine von Julius Anton Friese von 1585,
die M. Praetorius 1619 als die drittgrößte seiner
Zeit in Deutschland aufführt. Schon im 15. Jahrhundert belegt ist die ausgiebige Verwendung auch
anderer Instrumente durch Spielleute und Ratsmusiker im Gottesdienst der Hauptkirchen St.
Marien, St. Johann, St. Katharinen, St. Bartholomäi, St. Barbara und St. Trinitatis.
Nachdem Danzig seit 1309 zum Deutschen
Orden gehörte, wurde es 1445 zur freien Stadt,
zunächst noch dem Orden, nach 1466 jedoch
wieder der polnischen Krone unterstellt. Die
Reformation setzte sich 1522 mit dem evangelischen Prediger Jacob Hegge durch, für den 1536
eine Stelle an St. Marien geschaffen wurde. Das
war im katholischen Polen problematisch, doch
1557 und 1573 erhielt die Stadt Religionsprivilegien, die im Jahr 1577 zur Religionsfreiheit erweitert wurden. Die Marienkirche nutzten zunächst abwechselnd Katholiken und Protestanten, später behielt man den lateinischen Ritus im
evangelischen Gottesdienst bei und ergänzte ihn
durch deutsche Psalmen und Gemeindelieder. So
entstand ein für diese Zeit ungewöhnliches Nebeneinander von Lutheranern (sie stellten die
Mehrheit der Bevölkerung), Katholiken und Calvinisten, das selbst den Dreißigjährigen Krieg
überdauerte. Andere religiöse Richtungen wie
Mennoniten oder Juden wurden zwar von den
Gesetzen der Stadt unterdrückt, in der Praxis
aber geduldet. Während in anderen protestantischen Gebieten die Gegenreformation tobte, gab
es in Danzig sogar ein Jesuitenviertel (Altschottland) mit einer eigenen Kirche.
Nach der Reformation entwickelte sich die
Kirchenmusik in Danzig bis zum 17. Jahrhundert in rasantem Tempo. Man richtete Kirchenchöre und Instrumentalkapellen ein und führte
Figuralmusik im Gottesdienst auf, besonders an
der Marienkirche. Dazu stellte man Berufsmusiker ein, die häufig eigens zu diesem Zweck nach
Danzig zogen. Bald nach 1560 wurde das Amt
des Marienkantors vom Schuldienst gelöst und
in ein Kapellmeisteramt umgewandelt. Auch an
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Danzig
Ansicht der Hansestadt Danzig. Kupferstich von Francesco Valegio, um 1600.
den anderen Kirchen verbesserte sich das kirchenmusikalische Leben, aber die Verhältnisse an St.
Marien überragten alles und waren in Größe,
Ausstattung und Reputation mit denen von Fürstenhöfen vergleichbar. 1643 kam der Engländer
Valentin Flood (um 1592–1636) von der Königlich-Polnischen Kapelle aus Warschau, 1637 der
Italiener Carlo Farina (um 1600–1639) von der
Hofkapelle aus Dresden. Als Organist an der
großen Orgel wirkte ab 1623 P. Siefert, ein gebürtiger Danziger, der zuvor bei J.P. Sweelinck
in Amsterdam ausgebildet worden und dann ebenfalls als Königlicher Hoforganist in Warschau
tätig gewesen war. Für die Mitwirkung bei der
Figuralmusik wurde ein zweiter Organist angestellt.
Während der kirchenmusikalischen Blütezeit
Danzigs im 17. und 18. Jahrhundert waren es
die Kapellmeister an St. Marien, die das Geschehen bestimmten: Kaspar Förster der Ältere (um
1574–1652) amtierte von 1627 bis zu seinem
Tod 1652. 1655 folgte ihm sein Sohn Kaspar
Förster der Jüngere (1616–1673), der allerdings
nur drei Jahre lang Marienkapellmeister blieb,
bevor er nach Kopenhagen weiterzog. Dennoch
war er einer der bedeutendsten Komponisten
Danzigs, weshalb der Rat ihm den mit Abstand
höchsten Lohn aller Marienkapellmeister gewährte. Wesentlich länger im Amt, bis 1686, war
sein Nachfolger Johann Balthasar Erben (1626–
1686). Bemerkenswert ist, dass diese drei aufeinander folgenden Kapellmeister an der protestantischen Hauptkirche der Stadt katholisch waren,
was offenbar nicht als Problem aufgefasst wurde.
Nach 1686 kam der Thüringer J.V. Meder
aus Riga nach Danzig. Ebenfalls aus Thüringen
stammten die Brüder Maximilian Dietrich Freißlich (1673–1731) und Johann Balthasar Christian Freißlich (1678–1764), die das Amt des Marienkapellmeisters nacheinander bekleideten, bis
es 1764–1780 von dem Thüringer Bach-Schüler
Friedrich Christian Mohrheim (1764–1780) übernommen wurde. Er war nicht nur ein hervorragender Kapellmeister, sondern auch als Orgel-
Darke, Harold Edwin
virtuose bekannt. J.S. Bach selbst hatte sich 1730
für den Kapellmeisterposten interessiert.
Doch das kirchenmusikalische Leben Danzigs spielte sich nicht ausschließlich an St. Marien ab. An den anderen Kirchen der Stadt gab
es ebenfalls Kapellen und zum Teil einflussreiche
Musikerpersönlichkeiten, wie z.B. Crato Bütner
(1616–1679), der als Kapellmeister an St. Katharinen (seit ungefähr 1652) bei seinem Tod 1679
eine ansehnliche Musiksammlung hinterließ, die
leider 1945 verloren ging. Dazu kam eine intensive Musikpflege am Gymnasium und der dazugehörigen Kirche St. Trinitatis, wo 1642–1678
Thomas Strutz (1621–1678) wirkte. Darüber hinaus führten die Jesuiten in Altschottland regelmäßig dramatische Dialoge auf, die musikalisch
reich ausgestattet waren und beinahe religiösen
Singspielen gleichkamen.
Im späten 18. Jahrhundert nahmen die Qualität und Reichhaltigkeit der Danziger Kirchenmusik mehr und mehr ab. Grund dafür waren
hauptsächlich finanzielle Schwierigkeiten. 1782
trat Benjamin Gotthold Siewert (1743–1811) als
letzter das Amt des Marienkapellmeisters an;
1818 wurde die Kapelle wegen Geldmangels aufgelöst. Während des ganzen 19. Jahrhunderts
waren die Organistenstellen nur ehrenamtlich
besetzt. Das musikalische Leben verlagerte sich
in den bürgerlichen Salon und für große Veranstaltungen an den Artushof. Besonders Carl Anton Reichel (1765–1849) trat als Veranstalter
von Abonnementskonzerten und Oratorienaufführungen hervor. Er gab 1815–1820 die erste
Musikzeitung der Stadt, das Monatsheft für Musik, heraus.
Mitte des Jahres 1933 kamen in Danzig die
Nationalsozialisten an die Macht. 1939 erklärte
sich Gauleiter Albert Forster (1902–1952) selbst
zum Staatsoberhaupt und verfügte den Anschluss
Danzigs an das Deutsche Reich. Juden und Angehörige der polnischen Minderheit wurden deportiert. 1945 belagerte und eroberte die Rote
Armee Danzig; durch die Kampfhandlungen
wurde die Stadt fast vollständig zerstört. In den
Nachkriegsmonaten wurden die meisten Deutschen durch die polnischen Behörden vertrieben
und enteignet. Da die Mehrheit der Bevölkerung
vor dem Krieg deutschsprachig gewesen war,
hatte dies für die Stadt immense Folgen: Übrig
blieb lediglich ein Anteil von nur etwa fünf Pro-
255
zent der ursprünglichen Bevölkerung. Die zerstörte Altstadt und ihre Kirchen wurden wieder
aufgebaut. Die Marienkirche wurde 1955 als
katholische Kirche neu geweiht und 1965 zur
Basilika erhoben. Das Musikleben trugen in erster Linie Musiker aus Warschau. Die Kirchenmusik lag allerdings noch lange darnieder. Neben der antireligiösen Haltung der kommunistischen Regierung war das Fehlen von Orgeln
ein großes Problem; erst 1961 schenkten in den
USA lebende Polen der Marienkirche eine elektronische Orgel, die jedoch für die Aufführung
größerer Musikwerke unbefriedigend war. 1985
wurde eine neue Orgel an St. Marien fertiggestellt, für die man den Prospekt der alten Orgel
aus St. Johannis verwendete, der 1625–1629 erbaut worden war und die Zerstörung der Stadt
unbeschadet überstanden hatte.
Literatur:
J. Müller-Blattau, Geschichte der Musik in Ost- und
Westpreußen von der Ordenszeit bis zur Gegenwart,
Königsberg 1931 • H. Rauschning, Geschichte der
Musik und Musikpflege in Danzig. Von den Anfängen bis zur Auflösung der Kirchenkapellen (Quellen
und Darstellungen zur Geschichte Westpreußens 15),
Danzig 1931 • D. Popinigis, Musica Baltica. Danzig
und die Musikkultur Europas, Danzig 2000 • A.
Waczkat, Danzig: Acht Jahrhunderte Kirchenmusik,
in: Zentren der Kirchenmusik (Enzyklopädie der Kirchenmusik 2), hrsg. von M. Schneider und B. Bugenhagen, Laaber 2011, S. 214–238.
APU
Darke, Harold Edwin
* 29.10.1888 London, † 28.11.1976 Cambridge
Darke studierte am Royal College of Music Orgel bei Walter Parratt (1841–1924) und Komposition bei Ch.V. Stanford. 1906–1910 diente er
als Organist an der Emanuel Church in Hampstead, bevor er 1916–1966 an St. Michael’s in
Cornhill, London, tätig war. Seine montäglichen
Mittagsorgelkonzerte machten ihn zu einer
stadtbekannten Institution. 1919 gründete er die
St. Michael’s Singers, mit denen er Chorfestivals
veranstaltete. 1940–1941 war er Präsident des
Royal College of Organists und 1941–1945 Organist an King’s College in Cambridge. 1957
spielte er E. Elgars Orgelsonate für Schallplatte
256
Daser, Ludwig
ein. Darkes kirchenmusikalisches Schaffen umfasst diverse Services und Anthems, darunter auch
den Weihnachtschorsatz In the Bleak Midwinter
(London 1911), vor allem aber Orgelmusik, darunter eine Fantasie op. 39 (Oxford 1931) und
Meditations on Brother James’s Air (Oxford
1948).
Literatur:
S. Webb, Darke, Harold (Edwin), in: NGroveD, Bd.
7, London 22001, S. 23.
JSC
Daser, Ludwig
* 1526 München, † 27.3.1589 Stuttgart
Als Sohn einer wohlhabenden Münchner Fischerfamilie, die zum Gesinde des Hofs der Wittelsbacher gehörte, fand Daser schon als Kapellknabe Aufnahme in die Münchner Kantorei, wo er
seine Ausbildung als Sänger (Tenor) und Komponist erhielt. 1543 verließ Daser die Münchner
Hofkapelle und begann an der Universität Ingolstadt ein Studium der Theologie. 1551 trat er erneut in die Münchner Kantorei ein und wurde
bereits ein Jahr später zu ihrem Leiter ernannt.
Von den anfallenden Kompositionsverpflichtungen übernahm er einen Teil der Motetten und die
Ordinarienvertonungen. Einen tiefgreifenden
Einschnitt in seiner Karriere bildete 1556 die Anstellung O. di Lassos als Tenorist an der Münchner Hofkapelle mit der wohl von Anfang an verfolgten Absicht der Übernahme ihrer Leitung.
Daser scheint dem Druck durch die Konkurrenz
Lassos langfristig nicht gewachsen gewesen zu
sein, denn er demissionierte nach offiziellen Dokumenten um 1562 auf eigenen Wunsch aus
Krankheitsgründen als Münchner Hofkapellmeister. Bis 1572 lebte er mit seiner Familie ohne
feste Stellung in München von einer hohen Pension seiner ehemaligen Dienstherren und von
sporadischen Kompositionsaufträgen, zum Beispiel für die Hochzeit des bayerischen Kronprinzen Wilhelm mit der Herzogin Renata von Lothringen im Jahre 1568. Erst Anfang 1571 geriet
Daser wegen seiner der Sympathien für den lutherischen Glauben, in ernsthafte Schwierigkeiten. Auf Vermittlung der Wittelsbacher konnte
er jedoch bereits im Januar 1572 an den luthe-
rischen Hof des Württembergischen Herzogs
Ludwig III. (1554–1593) nach Stuttgart wechseln, wo er in den letzten 17 Jahren seines Lebens
wieder mit großem Erfolg als Kapellmeister
wirkte.
Dasers Schaffen umfasst ausschließlich Kirchenmusikwerke in den für die Konfessionen
seiner jeweiligen Dienstherren im 16. Jahrhundert typischen Gattungen, überliefert sind sie
fast ausschließlich in den Münchner und Stuttgarter Chorbüchern. Während der Münchner
Zeit komponierte er mindestens 13 seiner 21
erhaltenen Motetten für vier bis acht Stimmen
und 22 vier- bis sechsstimmige Messen, davon
14 Parodiemessen, 7 Choralmessen und eine
Messe im freien Satz. Nach seinem Wechsel nach
Stuttgart standen in seinem Motettenschaffen
vor allem mehrchörige Werke für sechs bis zwölf
Stimmen im Vordergrund, doch sind diese Kompositionen wegen der nicht unerheblichen Verluste im Bestand der Stuttgarter Chorbücher zu
großen Teilen nicht mehr erhalten. Einen vollkommen neuen Aspekt in Dasers kompositorischem Schaffen bildeten während der Stuttgarter Jahre seine 33 deutschen geistlichen Lieder
bzw. Choralvertonungen im vier- bis fünfstimmigen Satz. Hier entstanden auch seine beiden
Magnificatvertonungen und die 1578 bei A.
Berg in München mit drucktechnischer Unterstützung der Wittelsbacher im Rahmen der Reihe Patrocinium musices verlegte Johannespassion. Stilistisch bewegen sich die Werke Dasers,
insbesondere die Messen, zwischen deutscher
und frankoflämischer Tradition, unübersehbar
ist dabei in den Parodiekompositionen ferner die
Bevorzugung von Vorlagenmotetten klassischer
frankoflämischer Komponisten wie J. des Prés,
Clemens non Papa oder J. Richafort. In der stilgeschichtlichen Entwicklung der Messkomposition an der Münchner Hofkapelle stellt Daser
somit das entscheidende Bindeglied zwischen
Senfl und Lasso dar. Satztechnisch steht er mit
seiner Bevorzugung homophon-akkordischer
gegenüber linear-polyphonen Stimmführungen
bereits der Generation seines Amtsnachfolgers
nahe.
Ausgaben:
Missa Per signum crucis, in: L. Senfl, Sieben Messen
zu vier bis sechs Stimmen (Sämtliche Werke, Bd. 1),
David, Johann Nepomuk
hrsg. von O. Ursprung und E. Löhrer, Wolfenbüttel
u.a. 1937, S. 92–108; Motetten (EdM 47), hrsg. von
A. Schneiders, Lippstadt 1964.
Literatur:
A. Sandberger, Beiträge zur Geschichte der bayerischen Hofkapelle unter Orlando di Lasso, Bd. 1 und
3, Leipzig 1894/1895, Repr. Walluf 1973 • K. Kellog,
Die Messen von Ludwig Daser, 1525–1589, Diss.
mschr. München 1938 • A. Schneiders, Ludwig Daser (1526–1589), Beiträge zur Biographie und Kompositionstechnik, Diss. mschr. München 1953 • A.D.
McCredie, Orlando di Lasso’s Munich Circle and the
Württembergische Hofkapelle at Stuttgart, in: Orlando di Lasso in der Musikgeschichte, Bericht über
das Symposion der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Abhandlungen,
Neue Folge 11), hrsg. von B. Schmid, München 1996,
S. 175–190 • D. Golly-Becker, Die Stuttgarter Hofkapelle unter Ludwig III. (1554–1593) (Quellen und
Studien zur Musik in Baden-Württemberg 4), Diss.
Tübingen 1992, Stuttgart und Weimar 1999 • B.
Schmid, Cantus firmus und Kanon, Anmerkungen zu
Ludwig Dasers ›Missa Pater noster‹, in: Canons and
Canonic Techniques, 14th–16th Centuries, Theory,
Practice and Reception History, Proceedings of the
International Conference, Leuven, 4–6 October 2005
(Analysis in Context, Leuven Studies in Musicology
1), hrsg. von K. Schiltz und B.J. Blackburn, Leuven
und Dudley/Mass. 2007, S. 283–302 • D. Glowotz,
Das Messenwerk Ludwig Dasers (1526–1589). Überlegungen zur Neubewertung eines vergessenen Münchner Hofkapellmeisters, in: Die Habsburger und die
Niederlande. Musik und Politik um 1500 (Troja. Jb
für Renaissancemusik 2008/2009), hrsg. von J. Heidrich, Kassel u.a. 2010, S. 161–175 • Ders., Ludwig
Daser, Mittler zwischen den Traditionen. Leben und
Messenwerk eines Münchner Hofkapellmeisters im
16. Jahrhundert, Göttingen 2013 (in Vorbereitung).
DGL
David, Johann Nepomuk
* 30.11.1895 Eferding (Oberösterreich), † 22.
12.1977 Stuttgart
David empfing erste musikalische Unterweisung
und prägende Eindrücke als Sängerknabe des
Stiftes St. Florian. Nach einer entsprechenden
Ausbildung wirkte David zwischen 1915 und
1920 als Volksschullehrer im abgelegenen Peterskirchen. Neben dieser Tätigkeit betrieb er
autodidaktische Kompositionsstudien, die er
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1920–1923 an der Wiener Akademie – wo er im
Fach Komposition Schüler von Joseph Marx
(1882–1964) war – fortführte. Parallel zu diesen
Studien lernte David in direkten Kontakten mit
dem Kreis um A. Schönberg dessen Werke und
Maximen kennen und schuf mit der Kammersinfonie (1924) auch eine atonale Komposition.
Unter dem Einfluss der Musik der franko-flämischen Komponisten des 15. und 16. Jahrhunderts wandte sich David während seiner Zeit in
Wels (ab 1924 Organist an der evangelischen
Christuskirche und seit 1926 Leitung des von
ihm gegründeten Bach-Chores) aber von dieser
Richtung der Moderne ab und erklärte seine bis
dahin entstandenen Werke für ungültig. Stattdessen folgte David nun anderen Stiltendenzen dieser Zeit, die stichwortartig mit konsequent polyphoner Schreibweise, Verzicht auf subjektiven
Ausdruck und der zentralen Rolle der vokalen
Stimmführung zu umreißen sind. 1934 erfolgte
die im Wesentlichen durch seinen Förderer K.
Straube betriebene Berufung als Kompositionslehrer und Chorleiter an die Leipziger Hochschule, die er ab 1942 leitete. Nach Kriegsende war er
kurze Zeit Direktor des Salzburger Mozarteums
und folgte 1948 einer Berufung an die Musikhochschule Stuttgart. Zu seinem großen Schülerkreis zählen auch Künstler, die sich späterhin völlig anderen stilistischen Richtungen verpflichtet
fühlten, wie etwa Helmut Lachenmann (* 1935).
Davids ästhetische Positionen kreisen um den
Imperativ des Kontrapunktes, dem er in seinem
Werk Geltung verschaffen wollte. Zugleich aber
war dem Komponisten die emotionale Durchdringung des Werkes ein zentrales Anliegen. Es
versteht sich, dass eine durch ästhetische Prämissen der 1930er-Jahre geprägte Musik, die
sich dem ›Gehorsam‹ gegenüber einem abstrakten Regelwerk verschrieben hat, leicht als Inbegriff eines von den Maximen nationalsozialistisch infiltrierten Denkens verstanden werden
kann. Davids Position ist hierin nicht eindeutig
bestimmbar, wie auch bei vielen Repräsentanten
der kirchenmusikalischen Bewegung der 20erund 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Die wiederholt angeführte Motette Heldenehrung (1942) –
auf Worte Hitlers – scheint unter äußerem Druck
komponiert worden zu sein. David selbst stand
dem Werk distanziert gegenüber und es wurde
auch nie publiziert.
503
T
Tabulatur
Der Begriff Tabulatur (von lat. tabula = Tafel;
ital. intavolatura) bezeichnet die frühesten Aufzeichnungen von Tastenmusik mit Hilfe von Ziffern oder Buchstaben. Es gibt verschiedene Tabulatursysteme, die sich entweder an der Spielweise
des Instruments (Griffnotation) oder am gleichzeitig Erklingenden (Klangnotation, Notation
›en musique‹) orientieren. Die ältesten bekannten Tabulaturen dienten der Übertragung von
Vokalmusik auf die Klaviatur oder der mehrstimmigen Bearbeitung einstimmiger vokaler Vorlagen. Gelegentlich findet der Begriff auch für Aufzeichnungen in Notenschrift Anwendung, etwa
im Titel der Tabulatura nova (1624) von S. Scheidt
mit partiturartig übereinander angeordneten Stimmen oder in der ›italienischen Tabulatur‹ mit in
der Regel mehr als fünf Notenlinien pro System,
an der die Verteilung der Stimmen auf die Hände ablesbar ist.
Spanische Tabulatur
Auf der iberischen Halbinsel sowie in den damit
verbundenen italienischen Königreichen Neapel
und Sizilien wurden im 16. und 17. Jahrhundert
zur Aufzeichnung von Tastenmusik in der Regel
Ziffern verwendet. Dabei kamen unterschiedliche Systeme zur Anwendung. Am weitesten verbreitet war das 1557 veröffentlichte System von
Vinegas de Hinestrosa (um 1510–1570), der die
Töne F–e in jeder Oktave mit den Ziffern 1–7
bezeichnet. Die verschiedenen Oktavlagen werden durch Häkchen an den Ziffern gekennzeichnet; Zeichen über dem Liniensystem geben den
Rhythmus an, wobei jedes Zeichen so lange gilt,
bis es durch ein anderes Zeichen abgelöst wird.
Deutsche Orgeltabulatur
Im deutschen Sprachraum wurden für die Notation von Tastenmusik demgegenüber Tonbuchstaben verwendet. Im voll ausgebildeten System
der ›Neueren deutschen Orgeltabulatur‹ geben
Großbuchstaben die Töne der tiefsten Oktave
an, die nächsthöhere wird mit Kleinbuchstaben
notiert, und darüber bezeichnen waagerechte Linien über den Buchstaben die jeweilige Oktavlage.
Alterationen werden durch eine an den Buchstaben angehängte Cauda grundsätzlich als Erhöhung angegeben (d mit Cauda kann demzufolge für dis oder es stehen). Der Rhythmus wird
durch Zeichen über den Buchstaben bezeichnet,
wobei wie in der modernen Balkung von Achtelnoten häufig zwei oder vier Zeichen miteinander
verbunden werden. Spazien gliedern anstelle von
Taktstrichen die Musik.
Eine der ältesten Tabulatur-Aufzeichnungen
begegnet im Engelberger Codex 102 aus dem
13. Jahrhundert. Darin findet sich ein mit Neumen versehener Hymnus auf die Orgel; zusätzlich sind Großbuchstaben beigefügt, die sich als
Tonbuchstaben deuten lassen. Wenn diese Deutung zutrifft, dann läge hier die älteste schriftlich
fixierte Form einer zweistimmigen Hymnen-
504
Taizé / Frère Roger Schutz
bearbeitung für die Orgel vor. Auch später werden verschiedene Notationssysteme miteinander
kombiniert: In der ›Älteren deutschen Orgeltabulatur‹, in Gebrauch bis kurz vor 1600, wird
die Solostimme, die zumeist auf eine vokale Vorlage zurückgeht, mensural notiert, während die
Gegenstimmen in Buchstaben darunter gesetzt
sind. Dabei differieren die Aufzeichnungsweisen
beträchtlich. Bietet der Robertsbridge-Codex (um
1325) lediglich eine in Buchstaben notierte Gegenstimme, so müssen in der Tabulatur des Adam
Ileborgh (1448) jeweils die beiden hintereinander notierten Buchstaben eines Abschnitts bordunartig zusammen angeschlagen werden. In den
1512 und 1513 aufgezeichneten Tabulaturen von
Arnolt Schlick (vor 1460 – nach 1521) und Hans
Kotter (1480–1541) werden in unterschiedlicher
Reihenfolge bis zu drei weitere Stimmen untereinander in Buchstaben notiert.
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wird mit
zunehmender Komplexität und Polyphonie der
Orgelmusik die mensurale Notation der Oberstimme gänzlich aufgegeben. Die ›Neuere deutsche Orgeltabulatur‹ besteht nunmehr nur noch
aus Buchstaben, greifbar zuerst in den Tabulaturen von E.N. Ammerbach (1571/1575) sowie
im Tabulaturbuch (1607) von Bernhard Schmid
(1567–1625). Später bezeugen umfangreiche Sammelhandschriften von ›intavolierter‹ Vokalmusik Verbreitung und Beliebtheit dieser Aufzeichnungsweise (vgl. die Pelpliner Tabulaturen, aufgezeichnet zwischen 1620 und 1630, und die Niederschrift von Kantaten D. Buxtehudes in der
Dübensammlung). Die neuere deutsche Orgeltabulatur wurde bis weit ins 18. Jahrhundert
hinein verwendet, nicht zuletzt deshalb, weil sie
gegenüber der Notenschrift den Vorteil bietet,
wenig Platz zu verbrauchen – dies lässt sich beispielsweise am Autograph von J.S. Bachs Orgelbüchlein beobachten, der bei Orgelchorälen, für
die der ursprünglich vorgesehene Platz nicht ausreichte, den Schluss auf dem unteren Papierrand
in Buchstabentabulatur notierte.
Italienische Orgeltabulatur
Im Unterschied zu den iberischen und deutschen
Tabulaturen handelt es sich bei der italienischen
Orgeltabulatur um eine Aufzeichnungsweise in
Notenschrift auf zwei Liniensystemen, die in der
Regel aus sechs und mehr Linien für jedes Sys-
tem bestehen. Dabei können sich die beiden Notensysteme überlappen: sie dienen prinzipiell der
Scheidung von rechter und linker Hand und stellen insofern einen Kompromiss aus Klang- und
Griffschrift dar.
Literatur:
J. Wolf, Handbuch der Notationskunde, Teil 2: Tonschriften der Neuzeit, Tabulaturen, Partitur, Generalbaß und Reformversuche, Leipzig 1919 • W. Apel,
Die Notation der polyphonen Musik 900–1600, Leipzig 31981 • M. Staehelin, Zu den »Gebrauchszusammenhängen« älterer Orgeltabulaturen, in: Acta organologica 27 (2001), S. 241–247 • I. Ortgies, Subsemitones in organs built between 1468 and 1721. Introduction and commentary with an annotated catalog,
in: GOArt Research Reports, Bd. 3, hrsg. von Sv.
Jullander, Göteborg 2003, S. 11–74 • M. Schneider,
Tabulatur, in: Orgellexikon, Laaber 2007, S. 766–
769.
MSC
Taizé / Frère Roger Schutz
Nach dem französischen Dorf Taizé in Südburgund benannte Frère Roger Schutz (* 12.5.1915
Provence [Schweiz], † 16.8.2005 Taizé) die von
ihm 1949 dort als internationaler christlich-ökumenischer Männerorden begründete Communauté de Taizé mit heute weltweit ca. 100 Brüdern,
den er als Prior bis zu seiner Ermordung im Jahr
2005 leitete, gefolgt vom Stuttgarter Frère Alois
Löserer (* 1954). Für Christen jeder Konfession
aus aller Welt entstand um die ab 1961 dort errichtete Versöhnungskirche ein Zentrum von zumal auf der Bergpredigt fußender Glaubensvermittlung, gemeinsamen Gottesdienstfeiern, Gebet und Gesang. Die hierfür geschaffenen, vor
allem von J. Berthier komponierten vielsprachigen, oft in Latein erklingenden, sanglichen einund mehrstimmigen, begleiteten und unbegleiteten Lieder und Liturgie-Gesänge fanden durch die
seit Mitte der 1960er-Jahre dort, später auch in
außereuropäischen Ländern stattfindenden ökumenischen Taizé-Jugendtreffen von jährlich weit
über 100.000 Teilnehmern aus allen Erdteilen
weltweite Verbreitung und in großer Zahl auch
in das deutsche christliche Gemeinde- und Jugendlied-Repertoire Eingang (1 Neues Geistliches Lied).
Tal, Josef
505
Innenraum der Versöhnungskirche in Taizé vor dem Umbau 2008.
Ausgaben:
Communauté de Taizé (Hrsg.), Die Gesänge aus
Taizé, Freiburg i.Br. 2007.
Literatur:
I. Chiron, Frère Roger, Gründer von Taizé. Eine Biografie, Regensburg 2009 • J.-C. Escaffit / M. Rasiwala, Die Geschichte von Taizé, Freiburg i.Br. 2009.
WSC
Tal, Josef (eigentlich Grünthal)
* 18.9.1910 Pinne (bei Poznán), † 25.8.2008 Jerusalem
Bald nach seiner Geburt zog die Familie nach
Berlin, wo der Vater Dr. Julius Grünthal (fl. um
1900), ein Rabbiner, zum Leiter eines Waisenhauses und Dozenten für Altphilologie an der
Hochschule für Wissenschaft des Judentums ernannt worden war.
1928–1932 studierte Tal an der Berliner Staatlichen Musikhochschule. Neben seinen Lehrern
Heinz Tiessen (1887–1971), Curt Sachs (1881–
1959), Max Trapp (1887–1971) und Max Saal
(1882–1948) prägte ihn P. Hindemith durch das
gemeinsame Interesse an den elektronischen
Experimenten Friedrich Trautweins (1888–
1956).
1934 gelang es ihm, nach Palestina zu emigrieren, wo er eine umfangreiche Kompositionstätigkeit entfaltete. 1937 wurde er Lehrer für
Klavier, Komposition und Musiktheorie in der
Nachfolge Stefan Wolpes (1902–1972) an der
Jerusalemer Academy of Music. Er setzte sich
für Neue Musik und speziell auch elektroakustische Musik ein und unterrichtete 1951–1978
an der Hebrew University.
Tal erhielt zahlreiche Preise für sein umfangreiches Œuvre, in dem Musiktheater und Instrumentalmusik einen Schwerpunkt bilden. In seinen geistlichen Vokalwerken wie Kantaten und
Oratorien (Exodus, 1946; The Death of Moses,
1967), finden sich vielfältige musikalische Verweise auf biblisch-jüdische Sujets, die in expressiver Manier, teils der Dodekaphonie verpflichtet, teils der elektronischen Musik verschrieben,
umgesetzt werden.
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Talea
Ausgaben:
Seine Werke erschienen bei IMI = Israel Music Institute, Tel Aviv.
Schriften:
J. Tal, Musica nova im dritten Millenium, Tel Aviv
2002; J. Tal, Tonspur. Auf der Suche nach dem Klang
des Lebens, hrsg. von Ulrich Eckhardt, Berlin 2005.
Literatur:
P. Gradenwitz, Music and Musicians in Israel, Tel
Aviv 1959.
VGR
Talea 1 Color
Talea meint das sich wiederholende, großflächige rhythmische Schema in Motetten der Ars nova und ist neben dem wiederkehrenden melodischen Schema (Color) stilistisches Merkmal von
Isorhythmie (und Isoperiodik). Talea und Color
bilden zwei verschiedene Kompositions-Prinzipien und treten in einem Werk unabhängig voneinander auf, so dass sie sich auch überlagern
können. Taleae finden sich anfangs in der Cantus-firmus-Stimme (Tenor, Kontratenor), werden aber auch in den Oberstimmen eingesetzt
(z.B. bei Ph. de Vitry).
AAU
Tallis, Thomas
* um 1505, † 20. oder 23.11.1585 Greenwich
Tallis ist einer der bedeutendsten englischen Komponisten von Kirchenmusik des 16. Jahrhunderts; er komponierte sowohl für den katholischen als auch für den anglikanischen Ritus.
Das erste Dokument über Tallis stammt von
1530, als er eine Anstellung als Organist im Benediktinerkloster von Dover hatte, einer Gründung der Kathedrale von Canterbury. 1537/1538
war er an der Pfarrkirche St. Mary-at-Hill in London tätig, an der insbesondere an hohen Festtagen anspruchsvolle Musik erklang, da Musiker
aus anderen Kirchen wie auch aus der Chapel
Royal herangezogen wurden. 1538 bekam er einen Posten am Augustinischen Kloster von Holy
Cross at Waltham in Essex, das jedoch 1540 im
Zuge der Schließung der englischen Klöster durch
Heinrich VIII. (1491–1547) als eines der letzten
aufgelöst und Tallis somit entlassen wurde. Wie
andere herausragende Musiker wurde er aber
noch im selben Jahr in die neuen Strukturen integriert und bekam eine Anstellung an der Kathedrale in Canterbury, die nach der Schließung des
dortigen Benediktinerklosters der anglikanischen
Kirche unterstellt wurde. 1544 wurde er Gentleman of the Chapel Royal. 1575 erhielt er zusammen mit W. Byrd von Königin Elizabeth I. (1533–
1603) das Privileg für Musikdruck, Verkauf von
liniertem Papier und importierter Musik. Im gleichen Jahr wurden die Cantiones sacrae mit je 17
Motetten von Tallis und Byrd publiziert, die der
Königin gewidmet waren. Tallis starb im Alter
von 80 Jahren als ältestes Mitglied der Chapel
Royal und als hoch angesehener Musiker.
Tallis’ Musik ist von den ständigen kirchenpolitischen Veränderungen in England unter den
Herrschern Heinrich VIII. (1591–1547), Edward VI. (1537–1553), Maria der Katholischen
(1516–1558) und Elizabeth I. (1533–1603) bestimmt. Seine lateinische Kirchenmusik ist durch
die reiche musikalische Kultur in englischen Benediktinerklöstern während der 1520er- und frühen 1530er-Jahre geprägt, sowie durch die Rekatholisierung in der Regierungszeit Marias; in der
Regierungszeit Elizabeths I. hat er – wie auch andere Komponisten der Zeit – weiterhin lateinische Motetten komponiert. Seine englischsprachigen Kompositionen umfassen liturgische Musik für die anglikanische Kirche und Sätze für die
häusliche Andacht wie auch einige wenige Lieder.
Überliefert sind neben einigen separaten Ordinariumsteilen drei Messen, in denen – wie häufig in englischen Messen des 15. und frühen 16.
Jahrhunderts – das Kyrie nicht mehrstimmig vertont ist. Die Missa Puer natus est, die wahrscheinlich für das Zusammentreffen des spanischen
Königs Philipp mit seiner neu vermählten Frau
Maria komponiert und am 2.12.1554 in St. Paul’s
Cathedral aufgeführt wurde, ist sowohl auf die
Chapel Royal als auch – durch das Fehlen der
hohen treble voice – auf die spanische Kapelle
zugeschnitten. In ihrer Siebenstimmigkeit ist sie
sehr kunstvoll komponiert. Sie ist eine Cantusfirmus-Messe, der der Weihnachtsintroitus in der
Sarum-Version (1 Sarum rite) zugrunde liegt, der
doppeldeutig auch auf die Erwartung eines Kronprinzen ausgelegt werden kann. Ihre Imitations-
Tallis, Thomas
technik verweist auf kontinentale Praktiken,
deren Einsatz aber nicht unbedingt durch den
speziellen Anlass begründet werden muss, wie
des Öfteren behauptet wird (McCarthy, Sp. 463),
sondern sich an Verfahren in englischen Messkompositionen seit den 1530er-Jahren anschließt,
wie sie beispielsweise auch J. Taverners Meane
Mass prägen. Das Besondere an Tallis’ Missa
Puer natus ist jedoch, dass die rhythmischen
Werte des Cantus firmus streng durchorganisiert
sind, indem die Vokale des Puer natus-Textes
mit Zahlen versehen sind (a mit 1, e mit 2, i mit 3,
o mit 4, u mit 5), die in jedem Satz mit einer
vorgegebenen Tondauer multipliziert werden (vgl.
McCarthy, Sp. 463), im Gloria beispielsweise
mit der Semibrevis. – Die fünfstimmige Missa
Salve intemerata (ca. 1540) ist eine Parodiemesse, die auf einer gleichnamigen, von Tallis vertonten, wahrscheinlich in den 1520er-Jahren
komponierten Votivantiphon, basiert. Insbesondere das Gloria stellt eine Bearbeitung der Antiphon dar, die das Original nochmals differenziert und verfeinert. Die Messe, bei der nur ein
Viertel neu komponiert ist, bildet ein Beispiel für
Tallis’ Verfahren des beständigen Umkomponierens und Verbesserns. Seine vierstimmige Messe ohne Titel wird meist in die frühe Zeit verlegt;
sie gehört im Unterschied zu Salve intemerata zu
den einfacheren, kurzen und weitgehend homophonen Messen, die aufgrund des Fehlens eines
Cantus firmus, der auf den entsprechenden Festtag verweisen würde, wahrscheinlich für Wochentage gedacht war.
Die fünfstimmige Antiphon Salve intemerata, wahrscheinlich 1527 komponiert, gehört zu
Tallis’ frühesten erhaltenen Kompositionen – umfangreiche Votivantiphonen, die für private Andachten, meist der Marienverehrung, gedacht
waren. Sie sind in einer für die englische Musik
der Zeit typischen polyphonen, teils imitativen
Faktur mit dem Wechsel von geringstimmigen
und vollstimmigen Passagen verfasst. Hierzu gehören auch Ave rosa sine spinis, das wahrscheinlich etwas später entstandene Sancte Deus als
Christus-Verehrung und die sechsstimmige Marienantiphon Gaude gloriosa, die allerdings
auch später entstanden sein könnte. Für liturgische Zwecke entstanden die neun erhaltenen
Responsorien, Choralsätze, das Magnificat und
Nunc dimittis. Die frühen vierstimmigen Respon-
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sorien sind einfach gehalten und verwenden nur
Intonation und Vers; der Choral wird in den
einzelnen Stimmen paraphrasiert. Die fünfstimmigen Responsorien sind länger und basieren
auf dem in gleichen Notenwerten zugrunde liegenden Choral. Das fünfstimmige Magnificat
und Nunc dimittis – beide im Unterschied zu
den englischsprachigen Service-Kompositionen
des Evening Prayer mit lateinischem Text – entstanden möglicherweise im Zusammenhang mit
der in Universitäten und Gelehrtenzirkeln praktizierten lateinischen Version des Book of Common Prayer in den 1560er-Jahren.
Wie Byrd hat auch Tallis nach Wiedereinsetzung der landessprachlichen Liturgie durch Elizabeth I. lateinische Motetten komponiert. Ein
Teil davon ist in dem der Königin gewidmeten
Druck der Cantiones sacrae von 1575 überliefert. Die sehr kunstvoll gearbeiteten Kompositionen stehen unter dem Einfluss kontinentaler Motettenbücher: Sie sind überwiegend im durchimitierenden Stil komponiert und vermeiden
weitgehend die Cantus firmus-Technik; sie haben überwiegend liturgische Texte als Grundlage (z.B. O salutaris hostia, Salvator mundi, O
nata lux de lumine). Die beiden Motetten auf
nicht-liturgische Texte (Absterge Domine und
Suscipe quaeso) gelten als besonders expressiv
und sind möglicherweise den auf die kirchenpolitische Situation anspielenden Motetten Byrds
vergleichbar. Ähnlich sind die ebenfalls auf liturgischen Texten basierenden, fünfstimmigen Lamentationes komponiert, die nicht publiziert wurden. Neben der üblichen phrygischen Tonart ist
der Mittelteil durch außergewöhnliche Klanglichkeit geprägt. Eine Ausnahme unter Tallis’
Motetten ist die 40-stimmige Spem in alium, die
nicht in die Sammlung von 1575 aufgenommen
wurde. Sie ist nicht, wie man aufgrund des hier
getriebenen Aufwandes denken könnte, für einen Staatsakt, sondern für einen Mäzen, wahrscheinlich den Herzog von Norfolk, Thomas
Howard (1536–1572), geschrieben worden und
hatte eine 40-stimmige Komposition von A. Striggio, wahrscheinlich die Motette Ecce beatam lucem oder die Messe Ecco si beato giorno, die
dieser 1567 nach England mitgebracht hatte, als
Vorbild. Die Stimmen verteilen sich in Tallis’
Motette auf acht fünfstimmige Chöre, sie beginnt
mit einem Chor und wird dann sukzessive bis zu
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