253 D Danzig (Gdansk) Die Stadt Danzig, Handelsmetropole an der Weichselmündung, war besonders während des 16.–18. Jahrhunderts ein blühendes und angesehenes Zentrum der Kirchenmusik. Wegen ihrer wechselhaften politischen Geschichte verblasste dieser Einfluss in späterer Zeit. Zwischen 970 und 980 wurde die Burg Gyddanyzc auf einer Insel zwischen Mottlau und Weichsel erbaut, bereits 999 wurde sie als Stadt bezeichnet. 1227 entstand das Dominikanerkonvent mit der Nicolaikirche. Dort wurde von Anfang an der gregorianische Choral gesungen, ein bloßes Rezitieren der Stundengebete war sogar verboten. Auch an den Pfarrkirchen der Stadt erklangen reichlich Sequenzen und Tropen. An der 1493–1502 erbauten Pfarrkirche St. Marien war schon 1385 ein Organist angestellt. Ende des 16. Jahrhunderts besaß die Kirche vier Orgeln, darunter eine von Julius Anton Friese von 1585, die M. Praetorius 1619 als die drittgrößte seiner Zeit in Deutschland aufführt. Schon im 15. Jahrhundert belegt ist die ausgiebige Verwendung auch anderer Instrumente durch Spielleute und Ratsmusiker im Gottesdienst der Hauptkirchen St. Marien, St. Johann, St. Katharinen, St. Bartholomäi, St. Barbara und St. Trinitatis. Nachdem Danzig seit 1309 zum Deutschen Orden gehörte, wurde es 1445 zur freien Stadt, zunächst noch dem Orden, nach 1466 jedoch wieder der polnischen Krone unterstellt. Die Reformation setzte sich 1522 mit dem evangelischen Prediger Jacob Hegge durch, für den 1536 eine Stelle an St. Marien geschaffen wurde. Das war im katholischen Polen problematisch, doch 1557 und 1573 erhielt die Stadt Religionsprivilegien, die im Jahr 1577 zur Religionsfreiheit erweitert wurden. Die Marienkirche nutzten zunächst abwechselnd Katholiken und Protestanten, später behielt man den lateinischen Ritus im evangelischen Gottesdienst bei und ergänzte ihn durch deutsche Psalmen und Gemeindelieder. So entstand ein für diese Zeit ungewöhnliches Nebeneinander von Lutheranern (sie stellten die Mehrheit der Bevölkerung), Katholiken und Calvinisten, das selbst den Dreißigjährigen Krieg überdauerte. Andere religiöse Richtungen wie Mennoniten oder Juden wurden zwar von den Gesetzen der Stadt unterdrückt, in der Praxis aber geduldet. Während in anderen protestantischen Gebieten die Gegenreformation tobte, gab es in Danzig sogar ein Jesuitenviertel (Altschottland) mit einer eigenen Kirche. Nach der Reformation entwickelte sich die Kirchenmusik in Danzig bis zum 17. Jahrhundert in rasantem Tempo. Man richtete Kirchenchöre und Instrumentalkapellen ein und führte Figuralmusik im Gottesdienst auf, besonders an der Marienkirche. Dazu stellte man Berufsmusiker ein, die häufig eigens zu diesem Zweck nach Danzig zogen. Bald nach 1560 wurde das Amt des Marienkantors vom Schuldienst gelöst und in ein Kapellmeisteramt umgewandelt. Auch an 254 Danzig Ansicht der Hansestadt Danzig. Kupferstich von Francesco Valegio, um 1600. den anderen Kirchen verbesserte sich das kirchenmusikalische Leben, aber die Verhältnisse an St. Marien überragten alles und waren in Größe, Ausstattung und Reputation mit denen von Fürstenhöfen vergleichbar. 1643 kam der Engländer Valentin Flood (um 1592–1636) von der Königlich-Polnischen Kapelle aus Warschau, 1637 der Italiener Carlo Farina (um 1600–1639) von der Hofkapelle aus Dresden. Als Organist an der großen Orgel wirkte ab 1623 P. Siefert, ein gebürtiger Danziger, der zuvor bei J.P. Sweelinck in Amsterdam ausgebildet worden und dann ebenfalls als Königlicher Hoforganist in Warschau tätig gewesen war. Für die Mitwirkung bei der Figuralmusik wurde ein zweiter Organist angestellt. Während der kirchenmusikalischen Blütezeit Danzigs im 17. und 18. Jahrhundert waren es die Kapellmeister an St. Marien, die das Geschehen bestimmten: Kaspar Förster der Ältere (um 1574–1652) amtierte von 1627 bis zu seinem Tod 1652. 1655 folgte ihm sein Sohn Kaspar Förster der Jüngere (1616–1673), der allerdings nur drei Jahre lang Marienkapellmeister blieb, bevor er nach Kopenhagen weiterzog. Dennoch war er einer der bedeutendsten Komponisten Danzigs, weshalb der Rat ihm den mit Abstand höchsten Lohn aller Marienkapellmeister gewährte. Wesentlich länger im Amt, bis 1686, war sein Nachfolger Johann Balthasar Erben (1626– 1686). Bemerkenswert ist, dass diese drei aufeinander folgenden Kapellmeister an der protestantischen Hauptkirche der Stadt katholisch waren, was offenbar nicht als Problem aufgefasst wurde. Nach 1686 kam der Thüringer J.V. Meder aus Riga nach Danzig. Ebenfalls aus Thüringen stammten die Brüder Maximilian Dietrich Freißlich (1673–1731) und Johann Balthasar Christian Freißlich (1678–1764), die das Amt des Marienkapellmeisters nacheinander bekleideten, bis es 1764–1780 von dem Thüringer Bach-Schüler Friedrich Christian Mohrheim (1764–1780) übernommen wurde. Er war nicht nur ein hervorragender Kapellmeister, sondern auch als Orgel- Darke, Harold Edwin virtuose bekannt. J.S. Bach selbst hatte sich 1730 für den Kapellmeisterposten interessiert. Doch das kirchenmusikalische Leben Danzigs spielte sich nicht ausschließlich an St. Marien ab. An den anderen Kirchen der Stadt gab es ebenfalls Kapellen und zum Teil einflussreiche Musikerpersönlichkeiten, wie z.B. Crato Bütner (1616–1679), der als Kapellmeister an St. Katharinen (seit ungefähr 1652) bei seinem Tod 1679 eine ansehnliche Musiksammlung hinterließ, die leider 1945 verloren ging. Dazu kam eine intensive Musikpflege am Gymnasium und der dazugehörigen Kirche St. Trinitatis, wo 1642–1678 Thomas Strutz (1621–1678) wirkte. Darüber hinaus führten die Jesuiten in Altschottland regelmäßig dramatische Dialoge auf, die musikalisch reich ausgestattet waren und beinahe religiösen Singspielen gleichkamen. Im späten 18. Jahrhundert nahmen die Qualität und Reichhaltigkeit der Danziger Kirchenmusik mehr und mehr ab. Grund dafür waren hauptsächlich finanzielle Schwierigkeiten. 1782 trat Benjamin Gotthold Siewert (1743–1811) als letzter das Amt des Marienkapellmeisters an; 1818 wurde die Kapelle wegen Geldmangels aufgelöst. Während des ganzen 19. Jahrhunderts waren die Organistenstellen nur ehrenamtlich besetzt. Das musikalische Leben verlagerte sich in den bürgerlichen Salon und für große Veranstaltungen an den Artushof. Besonders Carl Anton Reichel (1765–1849) trat als Veranstalter von Abonnementskonzerten und Oratorienaufführungen hervor. Er gab 1815–1820 die erste Musikzeitung der Stadt, das Monatsheft für Musik, heraus. Mitte des Jahres 1933 kamen in Danzig die Nationalsozialisten an die Macht. 1939 erklärte sich Gauleiter Albert Forster (1902–1952) selbst zum Staatsoberhaupt und verfügte den Anschluss Danzigs an das Deutsche Reich. Juden und Angehörige der polnischen Minderheit wurden deportiert. 1945 belagerte und eroberte die Rote Armee Danzig; durch die Kampfhandlungen wurde die Stadt fast vollständig zerstört. In den Nachkriegsmonaten wurden die meisten Deutschen durch die polnischen Behörden vertrieben und enteignet. Da die Mehrheit der Bevölkerung vor dem Krieg deutschsprachig gewesen war, hatte dies für die Stadt immense Folgen: Übrig blieb lediglich ein Anteil von nur etwa fünf Pro- 255 zent der ursprünglichen Bevölkerung. Die zerstörte Altstadt und ihre Kirchen wurden wieder aufgebaut. Die Marienkirche wurde 1955 als katholische Kirche neu geweiht und 1965 zur Basilika erhoben. Das Musikleben trugen in erster Linie Musiker aus Warschau. Die Kirchenmusik lag allerdings noch lange darnieder. Neben der antireligiösen Haltung der kommunistischen Regierung war das Fehlen von Orgeln ein großes Problem; erst 1961 schenkten in den USA lebende Polen der Marienkirche eine elektronische Orgel, die jedoch für die Aufführung größerer Musikwerke unbefriedigend war. 1985 wurde eine neue Orgel an St. Marien fertiggestellt, für die man den Prospekt der alten Orgel aus St. Johannis verwendete, der 1625–1629 erbaut worden war und die Zerstörung der Stadt unbeschadet überstanden hatte. Literatur: J. Müller-Blattau, Geschichte der Musik in Ost- und Westpreußen von der Ordenszeit bis zur Gegenwart, Königsberg 1931 • H. Rauschning, Geschichte der Musik und Musikpflege in Danzig. Von den Anfängen bis zur Auflösung der Kirchenkapellen (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Westpreußens 15), Danzig 1931 • D. Popinigis, Musica Baltica. Danzig und die Musikkultur Europas, Danzig 2000 • A. Waczkat, Danzig: Acht Jahrhunderte Kirchenmusik, in: Zentren der Kirchenmusik (Enzyklopädie der Kirchenmusik 2), hrsg. von M. Schneider und B. Bugenhagen, Laaber 2011, S. 214–238. APU Darke, Harold Edwin * 29.10.1888 London, † 28.11.1976 Cambridge Darke studierte am Royal College of Music Orgel bei Walter Parratt (1841–1924) und Komposition bei Ch.V. Stanford. 1906–1910 diente er als Organist an der Emanuel Church in Hampstead, bevor er 1916–1966 an St. Michael’s in Cornhill, London, tätig war. Seine montäglichen Mittagsorgelkonzerte machten ihn zu einer stadtbekannten Institution. 1919 gründete er die St. Michael’s Singers, mit denen er Chorfestivals veranstaltete. 1940–1941 war er Präsident des Royal College of Organists und 1941–1945 Organist an King’s College in Cambridge. 1957 spielte er E. Elgars Orgelsonate für Schallplatte 256 Daser, Ludwig ein. Darkes kirchenmusikalisches Schaffen umfasst diverse Services und Anthems, darunter auch den Weihnachtschorsatz In the Bleak Midwinter (London 1911), vor allem aber Orgelmusik, darunter eine Fantasie op. 39 (Oxford 1931) und Meditations on Brother James’s Air (Oxford 1948). Literatur: S. Webb, Darke, Harold (Edwin), in: NGroveD, Bd. 7, London 22001, S. 23. JSC Daser, Ludwig * 1526 München, † 27.3.1589 Stuttgart Als Sohn einer wohlhabenden Münchner Fischerfamilie, die zum Gesinde des Hofs der Wittelsbacher gehörte, fand Daser schon als Kapellknabe Aufnahme in die Münchner Kantorei, wo er seine Ausbildung als Sänger (Tenor) und Komponist erhielt. 1543 verließ Daser die Münchner Hofkapelle und begann an der Universität Ingolstadt ein Studium der Theologie. 1551 trat er erneut in die Münchner Kantorei ein und wurde bereits ein Jahr später zu ihrem Leiter ernannt. Von den anfallenden Kompositionsverpflichtungen übernahm er einen Teil der Motetten und die Ordinarienvertonungen. Einen tiefgreifenden Einschnitt in seiner Karriere bildete 1556 die Anstellung O. di Lassos als Tenorist an der Münchner Hofkapelle mit der wohl von Anfang an verfolgten Absicht der Übernahme ihrer Leitung. Daser scheint dem Druck durch die Konkurrenz Lassos langfristig nicht gewachsen gewesen zu sein, denn er demissionierte nach offiziellen Dokumenten um 1562 auf eigenen Wunsch aus Krankheitsgründen als Münchner Hofkapellmeister. Bis 1572 lebte er mit seiner Familie ohne feste Stellung in München von einer hohen Pension seiner ehemaligen Dienstherren und von sporadischen Kompositionsaufträgen, zum Beispiel für die Hochzeit des bayerischen Kronprinzen Wilhelm mit der Herzogin Renata von Lothringen im Jahre 1568. Erst Anfang 1571 geriet Daser wegen seiner der Sympathien für den lutherischen Glauben, in ernsthafte Schwierigkeiten. Auf Vermittlung der Wittelsbacher konnte er jedoch bereits im Januar 1572 an den luthe- rischen Hof des Württembergischen Herzogs Ludwig III. (1554–1593) nach Stuttgart wechseln, wo er in den letzten 17 Jahren seines Lebens wieder mit großem Erfolg als Kapellmeister wirkte. Dasers Schaffen umfasst ausschließlich Kirchenmusikwerke in den für die Konfessionen seiner jeweiligen Dienstherren im 16. Jahrhundert typischen Gattungen, überliefert sind sie fast ausschließlich in den Münchner und Stuttgarter Chorbüchern. Während der Münchner Zeit komponierte er mindestens 13 seiner 21 erhaltenen Motetten für vier bis acht Stimmen und 22 vier- bis sechsstimmige Messen, davon 14 Parodiemessen, 7 Choralmessen und eine Messe im freien Satz. Nach seinem Wechsel nach Stuttgart standen in seinem Motettenschaffen vor allem mehrchörige Werke für sechs bis zwölf Stimmen im Vordergrund, doch sind diese Kompositionen wegen der nicht unerheblichen Verluste im Bestand der Stuttgarter Chorbücher zu großen Teilen nicht mehr erhalten. Einen vollkommen neuen Aspekt in Dasers kompositorischem Schaffen bildeten während der Stuttgarter Jahre seine 33 deutschen geistlichen Lieder bzw. Choralvertonungen im vier- bis fünfstimmigen Satz. Hier entstanden auch seine beiden Magnificatvertonungen und die 1578 bei A. Berg in München mit drucktechnischer Unterstützung der Wittelsbacher im Rahmen der Reihe Patrocinium musices verlegte Johannespassion. Stilistisch bewegen sich die Werke Dasers, insbesondere die Messen, zwischen deutscher und frankoflämischer Tradition, unübersehbar ist dabei in den Parodiekompositionen ferner die Bevorzugung von Vorlagenmotetten klassischer frankoflämischer Komponisten wie J. des Prés, Clemens non Papa oder J. Richafort. In der stilgeschichtlichen Entwicklung der Messkomposition an der Münchner Hofkapelle stellt Daser somit das entscheidende Bindeglied zwischen Senfl und Lasso dar. Satztechnisch steht er mit seiner Bevorzugung homophon-akkordischer gegenüber linear-polyphonen Stimmführungen bereits der Generation seines Amtsnachfolgers nahe. Ausgaben: Missa Per signum crucis, in: L. Senfl, Sieben Messen zu vier bis sechs Stimmen (Sämtliche Werke, Bd. 1), David, Johann Nepomuk hrsg. von O. Ursprung und E. Löhrer, Wolfenbüttel u.a. 1937, S. 92–108; Motetten (EdM 47), hrsg. von A. Schneiders, Lippstadt 1964. Literatur: A. Sandberger, Beiträge zur Geschichte der bayerischen Hofkapelle unter Orlando di Lasso, Bd. 1 und 3, Leipzig 1894/1895, Repr. Walluf 1973 • K. Kellog, Die Messen von Ludwig Daser, 1525–1589, Diss. mschr. München 1938 • A. Schneiders, Ludwig Daser (1526–1589), Beiträge zur Biographie und Kompositionstechnik, Diss. mschr. München 1953 • A.D. McCredie, Orlando di Lasso’s Munich Circle and the Württembergische Hofkapelle at Stuttgart, in: Orlando di Lasso in der Musikgeschichte, Bericht über das Symposion der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Abhandlungen, Neue Folge 11), hrsg. von B. Schmid, München 1996, S. 175–190 • D. Golly-Becker, Die Stuttgarter Hofkapelle unter Ludwig III. (1554–1593) (Quellen und Studien zur Musik in Baden-Württemberg 4), Diss. Tübingen 1992, Stuttgart und Weimar 1999 • B. Schmid, Cantus firmus und Kanon, Anmerkungen zu Ludwig Dasers ›Missa Pater noster‹, in: Canons and Canonic Techniques, 14th–16th Centuries, Theory, Practice and Reception History, Proceedings of the International Conference, Leuven, 4–6 October 2005 (Analysis in Context, Leuven Studies in Musicology 1), hrsg. von K. Schiltz und B.J. Blackburn, Leuven und Dudley/Mass. 2007, S. 283–302 • D. Glowotz, Das Messenwerk Ludwig Dasers (1526–1589). Überlegungen zur Neubewertung eines vergessenen Münchner Hofkapellmeisters, in: Die Habsburger und die Niederlande. Musik und Politik um 1500 (Troja. Jb für Renaissancemusik 2008/2009), hrsg. von J. Heidrich, Kassel u.a. 2010, S. 161–175 • Ders., Ludwig Daser, Mittler zwischen den Traditionen. Leben und Messenwerk eines Münchner Hofkapellmeisters im 16. Jahrhundert, Göttingen 2013 (in Vorbereitung). DGL David, Johann Nepomuk * 30.11.1895 Eferding (Oberösterreich), † 22. 12.1977 Stuttgart David empfing erste musikalische Unterweisung und prägende Eindrücke als Sängerknabe des Stiftes St. Florian. Nach einer entsprechenden Ausbildung wirkte David zwischen 1915 und 1920 als Volksschullehrer im abgelegenen Peterskirchen. Neben dieser Tätigkeit betrieb er autodidaktische Kompositionsstudien, die er 257 1920–1923 an der Wiener Akademie – wo er im Fach Komposition Schüler von Joseph Marx (1882–1964) war – fortführte. Parallel zu diesen Studien lernte David in direkten Kontakten mit dem Kreis um A. Schönberg dessen Werke und Maximen kennen und schuf mit der Kammersinfonie (1924) auch eine atonale Komposition. Unter dem Einfluss der Musik der franko-flämischen Komponisten des 15. und 16. Jahrhunderts wandte sich David während seiner Zeit in Wels (ab 1924 Organist an der evangelischen Christuskirche und seit 1926 Leitung des von ihm gegründeten Bach-Chores) aber von dieser Richtung der Moderne ab und erklärte seine bis dahin entstandenen Werke für ungültig. Stattdessen folgte David nun anderen Stiltendenzen dieser Zeit, die stichwortartig mit konsequent polyphoner Schreibweise, Verzicht auf subjektiven Ausdruck und der zentralen Rolle der vokalen Stimmführung zu umreißen sind. 1934 erfolgte die im Wesentlichen durch seinen Förderer K. Straube betriebene Berufung als Kompositionslehrer und Chorleiter an die Leipziger Hochschule, die er ab 1942 leitete. Nach Kriegsende war er kurze Zeit Direktor des Salzburger Mozarteums und folgte 1948 einer Berufung an die Musikhochschule Stuttgart. Zu seinem großen Schülerkreis zählen auch Künstler, die sich späterhin völlig anderen stilistischen Richtungen verpflichtet fühlten, wie etwa Helmut Lachenmann (* 1935). Davids ästhetische Positionen kreisen um den Imperativ des Kontrapunktes, dem er in seinem Werk Geltung verschaffen wollte. Zugleich aber war dem Komponisten die emotionale Durchdringung des Werkes ein zentrales Anliegen. Es versteht sich, dass eine durch ästhetische Prämissen der 1930er-Jahre geprägte Musik, die sich dem ›Gehorsam‹ gegenüber einem abstrakten Regelwerk verschrieben hat, leicht als Inbegriff eines von den Maximen nationalsozialistisch infiltrierten Denkens verstanden werden kann. Davids Position ist hierin nicht eindeutig bestimmbar, wie auch bei vielen Repräsentanten der kirchenmusikalischen Bewegung der 20erund 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Die wiederholt angeführte Motette Heldenehrung (1942) – auf Worte Hitlers – scheint unter äußerem Druck komponiert worden zu sein. David selbst stand dem Werk distanziert gegenüber und es wurde auch nie publiziert. 503 T Tabulatur Der Begriff Tabulatur (von lat. tabula = Tafel; ital. intavolatura) bezeichnet die frühesten Aufzeichnungen von Tastenmusik mit Hilfe von Ziffern oder Buchstaben. Es gibt verschiedene Tabulatursysteme, die sich entweder an der Spielweise des Instruments (Griffnotation) oder am gleichzeitig Erklingenden (Klangnotation, Notation ›en musique‹) orientieren. Die ältesten bekannten Tabulaturen dienten der Übertragung von Vokalmusik auf die Klaviatur oder der mehrstimmigen Bearbeitung einstimmiger vokaler Vorlagen. Gelegentlich findet der Begriff auch für Aufzeichnungen in Notenschrift Anwendung, etwa im Titel der Tabulatura nova (1624) von S. Scheidt mit partiturartig übereinander angeordneten Stimmen oder in der ›italienischen Tabulatur‹ mit in der Regel mehr als fünf Notenlinien pro System, an der die Verteilung der Stimmen auf die Hände ablesbar ist. Spanische Tabulatur Auf der iberischen Halbinsel sowie in den damit verbundenen italienischen Königreichen Neapel und Sizilien wurden im 16. und 17. Jahrhundert zur Aufzeichnung von Tastenmusik in der Regel Ziffern verwendet. Dabei kamen unterschiedliche Systeme zur Anwendung. Am weitesten verbreitet war das 1557 veröffentlichte System von Vinegas de Hinestrosa (um 1510–1570), der die Töne F–e in jeder Oktave mit den Ziffern 1–7 bezeichnet. Die verschiedenen Oktavlagen werden durch Häkchen an den Ziffern gekennzeichnet; Zeichen über dem Liniensystem geben den Rhythmus an, wobei jedes Zeichen so lange gilt, bis es durch ein anderes Zeichen abgelöst wird. Deutsche Orgeltabulatur Im deutschen Sprachraum wurden für die Notation von Tastenmusik demgegenüber Tonbuchstaben verwendet. Im voll ausgebildeten System der ›Neueren deutschen Orgeltabulatur‹ geben Großbuchstaben die Töne der tiefsten Oktave an, die nächsthöhere wird mit Kleinbuchstaben notiert, und darüber bezeichnen waagerechte Linien über den Buchstaben die jeweilige Oktavlage. Alterationen werden durch eine an den Buchstaben angehängte Cauda grundsätzlich als Erhöhung angegeben (d mit Cauda kann demzufolge für dis oder es stehen). Der Rhythmus wird durch Zeichen über den Buchstaben bezeichnet, wobei wie in der modernen Balkung von Achtelnoten häufig zwei oder vier Zeichen miteinander verbunden werden. Spazien gliedern anstelle von Taktstrichen die Musik. Eine der ältesten Tabulatur-Aufzeichnungen begegnet im Engelberger Codex 102 aus dem 13. Jahrhundert. Darin findet sich ein mit Neumen versehener Hymnus auf die Orgel; zusätzlich sind Großbuchstaben beigefügt, die sich als Tonbuchstaben deuten lassen. Wenn diese Deutung zutrifft, dann läge hier die älteste schriftlich fixierte Form einer zweistimmigen Hymnen- 504 Taizé / Frère Roger Schutz bearbeitung für die Orgel vor. Auch später werden verschiedene Notationssysteme miteinander kombiniert: In der ›Älteren deutschen Orgeltabulatur‹, in Gebrauch bis kurz vor 1600, wird die Solostimme, die zumeist auf eine vokale Vorlage zurückgeht, mensural notiert, während die Gegenstimmen in Buchstaben darunter gesetzt sind. Dabei differieren die Aufzeichnungsweisen beträchtlich. Bietet der Robertsbridge-Codex (um 1325) lediglich eine in Buchstaben notierte Gegenstimme, so müssen in der Tabulatur des Adam Ileborgh (1448) jeweils die beiden hintereinander notierten Buchstaben eines Abschnitts bordunartig zusammen angeschlagen werden. In den 1512 und 1513 aufgezeichneten Tabulaturen von Arnolt Schlick (vor 1460 – nach 1521) und Hans Kotter (1480–1541) werden in unterschiedlicher Reihenfolge bis zu drei weitere Stimmen untereinander in Buchstaben notiert. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wird mit zunehmender Komplexität und Polyphonie der Orgelmusik die mensurale Notation der Oberstimme gänzlich aufgegeben. Die ›Neuere deutsche Orgeltabulatur‹ besteht nunmehr nur noch aus Buchstaben, greifbar zuerst in den Tabulaturen von E.N. Ammerbach (1571/1575) sowie im Tabulaturbuch (1607) von Bernhard Schmid (1567–1625). Später bezeugen umfangreiche Sammelhandschriften von ›intavolierter‹ Vokalmusik Verbreitung und Beliebtheit dieser Aufzeichnungsweise (vgl. die Pelpliner Tabulaturen, aufgezeichnet zwischen 1620 und 1630, und die Niederschrift von Kantaten D. Buxtehudes in der Dübensammlung). Die neuere deutsche Orgeltabulatur wurde bis weit ins 18. Jahrhundert hinein verwendet, nicht zuletzt deshalb, weil sie gegenüber der Notenschrift den Vorteil bietet, wenig Platz zu verbrauchen – dies lässt sich beispielsweise am Autograph von J.S. Bachs Orgelbüchlein beobachten, der bei Orgelchorälen, für die der ursprünglich vorgesehene Platz nicht ausreichte, den Schluss auf dem unteren Papierrand in Buchstabentabulatur notierte. Italienische Orgeltabulatur Im Unterschied zu den iberischen und deutschen Tabulaturen handelt es sich bei der italienischen Orgeltabulatur um eine Aufzeichnungsweise in Notenschrift auf zwei Liniensystemen, die in der Regel aus sechs und mehr Linien für jedes Sys- tem bestehen. Dabei können sich die beiden Notensysteme überlappen: sie dienen prinzipiell der Scheidung von rechter und linker Hand und stellen insofern einen Kompromiss aus Klang- und Griffschrift dar. Literatur: J. Wolf, Handbuch der Notationskunde, Teil 2: Tonschriften der Neuzeit, Tabulaturen, Partitur, Generalbaß und Reformversuche, Leipzig 1919 • W. Apel, Die Notation der polyphonen Musik 900–1600, Leipzig 31981 • M. Staehelin, Zu den »Gebrauchszusammenhängen« älterer Orgeltabulaturen, in: Acta organologica 27 (2001), S. 241–247 • I. Ortgies, Subsemitones in organs built between 1468 and 1721. Introduction and commentary with an annotated catalog, in: GOArt Research Reports, Bd. 3, hrsg. von Sv. Jullander, Göteborg 2003, S. 11–74 • M. Schneider, Tabulatur, in: Orgellexikon, Laaber 2007, S. 766– 769. MSC Taizé / Frère Roger Schutz Nach dem französischen Dorf Taizé in Südburgund benannte Frère Roger Schutz (* 12.5.1915 Provence [Schweiz], † 16.8.2005 Taizé) die von ihm 1949 dort als internationaler christlich-ökumenischer Männerorden begründete Communauté de Taizé mit heute weltweit ca. 100 Brüdern, den er als Prior bis zu seiner Ermordung im Jahr 2005 leitete, gefolgt vom Stuttgarter Frère Alois Löserer (* 1954). Für Christen jeder Konfession aus aller Welt entstand um die ab 1961 dort errichtete Versöhnungskirche ein Zentrum von zumal auf der Bergpredigt fußender Glaubensvermittlung, gemeinsamen Gottesdienstfeiern, Gebet und Gesang. Die hierfür geschaffenen, vor allem von J. Berthier komponierten vielsprachigen, oft in Latein erklingenden, sanglichen einund mehrstimmigen, begleiteten und unbegleiteten Lieder und Liturgie-Gesänge fanden durch die seit Mitte der 1960er-Jahre dort, später auch in außereuropäischen Ländern stattfindenden ökumenischen Taizé-Jugendtreffen von jährlich weit über 100.000 Teilnehmern aus allen Erdteilen weltweite Verbreitung und in großer Zahl auch in das deutsche christliche Gemeinde- und Jugendlied-Repertoire Eingang (1 Neues Geistliches Lied). Tal, Josef 505 Innenraum der Versöhnungskirche in Taizé vor dem Umbau 2008. Ausgaben: Communauté de Taizé (Hrsg.), Die Gesänge aus Taizé, Freiburg i.Br. 2007. Literatur: I. Chiron, Frère Roger, Gründer von Taizé. Eine Biografie, Regensburg 2009 • J.-C. Escaffit / M. Rasiwala, Die Geschichte von Taizé, Freiburg i.Br. 2009. WSC Tal, Josef (eigentlich Grünthal) * 18.9.1910 Pinne (bei Poznán), † 25.8.2008 Jerusalem Bald nach seiner Geburt zog die Familie nach Berlin, wo der Vater Dr. Julius Grünthal (fl. um 1900), ein Rabbiner, zum Leiter eines Waisenhauses und Dozenten für Altphilologie an der Hochschule für Wissenschaft des Judentums ernannt worden war. 1928–1932 studierte Tal an der Berliner Staatlichen Musikhochschule. Neben seinen Lehrern Heinz Tiessen (1887–1971), Curt Sachs (1881– 1959), Max Trapp (1887–1971) und Max Saal (1882–1948) prägte ihn P. Hindemith durch das gemeinsame Interesse an den elektronischen Experimenten Friedrich Trautweins (1888– 1956). 1934 gelang es ihm, nach Palestina zu emigrieren, wo er eine umfangreiche Kompositionstätigkeit entfaltete. 1937 wurde er Lehrer für Klavier, Komposition und Musiktheorie in der Nachfolge Stefan Wolpes (1902–1972) an der Jerusalemer Academy of Music. Er setzte sich für Neue Musik und speziell auch elektroakustische Musik ein und unterrichtete 1951–1978 an der Hebrew University. Tal erhielt zahlreiche Preise für sein umfangreiches Œuvre, in dem Musiktheater und Instrumentalmusik einen Schwerpunkt bilden. In seinen geistlichen Vokalwerken wie Kantaten und Oratorien (Exodus, 1946; The Death of Moses, 1967), finden sich vielfältige musikalische Verweise auf biblisch-jüdische Sujets, die in expressiver Manier, teils der Dodekaphonie verpflichtet, teils der elektronischen Musik verschrieben, umgesetzt werden. 506 Talea Ausgaben: Seine Werke erschienen bei IMI = Israel Music Institute, Tel Aviv. Schriften: J. Tal, Musica nova im dritten Millenium, Tel Aviv 2002; J. Tal, Tonspur. Auf der Suche nach dem Klang des Lebens, hrsg. von Ulrich Eckhardt, Berlin 2005. Literatur: P. Gradenwitz, Music and Musicians in Israel, Tel Aviv 1959. VGR Talea 1 Color Talea meint das sich wiederholende, großflächige rhythmische Schema in Motetten der Ars nova und ist neben dem wiederkehrenden melodischen Schema (Color) stilistisches Merkmal von Isorhythmie (und Isoperiodik). Talea und Color bilden zwei verschiedene Kompositions-Prinzipien und treten in einem Werk unabhängig voneinander auf, so dass sie sich auch überlagern können. Taleae finden sich anfangs in der Cantus-firmus-Stimme (Tenor, Kontratenor), werden aber auch in den Oberstimmen eingesetzt (z.B. bei Ph. de Vitry). AAU Tallis, Thomas * um 1505, † 20. oder 23.11.1585 Greenwich Tallis ist einer der bedeutendsten englischen Komponisten von Kirchenmusik des 16. Jahrhunderts; er komponierte sowohl für den katholischen als auch für den anglikanischen Ritus. Das erste Dokument über Tallis stammt von 1530, als er eine Anstellung als Organist im Benediktinerkloster von Dover hatte, einer Gründung der Kathedrale von Canterbury. 1537/1538 war er an der Pfarrkirche St. Mary-at-Hill in London tätig, an der insbesondere an hohen Festtagen anspruchsvolle Musik erklang, da Musiker aus anderen Kirchen wie auch aus der Chapel Royal herangezogen wurden. 1538 bekam er einen Posten am Augustinischen Kloster von Holy Cross at Waltham in Essex, das jedoch 1540 im Zuge der Schließung der englischen Klöster durch Heinrich VIII. (1491–1547) als eines der letzten aufgelöst und Tallis somit entlassen wurde. Wie andere herausragende Musiker wurde er aber noch im selben Jahr in die neuen Strukturen integriert und bekam eine Anstellung an der Kathedrale in Canterbury, die nach der Schließung des dortigen Benediktinerklosters der anglikanischen Kirche unterstellt wurde. 1544 wurde er Gentleman of the Chapel Royal. 1575 erhielt er zusammen mit W. Byrd von Königin Elizabeth I. (1533– 1603) das Privileg für Musikdruck, Verkauf von liniertem Papier und importierter Musik. Im gleichen Jahr wurden die Cantiones sacrae mit je 17 Motetten von Tallis und Byrd publiziert, die der Königin gewidmet waren. Tallis starb im Alter von 80 Jahren als ältestes Mitglied der Chapel Royal und als hoch angesehener Musiker. Tallis’ Musik ist von den ständigen kirchenpolitischen Veränderungen in England unter den Herrschern Heinrich VIII. (1591–1547), Edward VI. (1537–1553), Maria der Katholischen (1516–1558) und Elizabeth I. (1533–1603) bestimmt. Seine lateinische Kirchenmusik ist durch die reiche musikalische Kultur in englischen Benediktinerklöstern während der 1520er- und frühen 1530er-Jahre geprägt, sowie durch die Rekatholisierung in der Regierungszeit Marias; in der Regierungszeit Elizabeths I. hat er – wie auch andere Komponisten der Zeit – weiterhin lateinische Motetten komponiert. Seine englischsprachigen Kompositionen umfassen liturgische Musik für die anglikanische Kirche und Sätze für die häusliche Andacht wie auch einige wenige Lieder. Überliefert sind neben einigen separaten Ordinariumsteilen drei Messen, in denen – wie häufig in englischen Messen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts – das Kyrie nicht mehrstimmig vertont ist. Die Missa Puer natus est, die wahrscheinlich für das Zusammentreffen des spanischen Königs Philipp mit seiner neu vermählten Frau Maria komponiert und am 2.12.1554 in St. Paul’s Cathedral aufgeführt wurde, ist sowohl auf die Chapel Royal als auch – durch das Fehlen der hohen treble voice – auf die spanische Kapelle zugeschnitten. In ihrer Siebenstimmigkeit ist sie sehr kunstvoll komponiert. Sie ist eine Cantusfirmus-Messe, der der Weihnachtsintroitus in der Sarum-Version (1 Sarum rite) zugrunde liegt, der doppeldeutig auch auf die Erwartung eines Kronprinzen ausgelegt werden kann. Ihre Imitations- Tallis, Thomas technik verweist auf kontinentale Praktiken, deren Einsatz aber nicht unbedingt durch den speziellen Anlass begründet werden muss, wie des Öfteren behauptet wird (McCarthy, Sp. 463), sondern sich an Verfahren in englischen Messkompositionen seit den 1530er-Jahren anschließt, wie sie beispielsweise auch J. Taverners Meane Mass prägen. Das Besondere an Tallis’ Missa Puer natus ist jedoch, dass die rhythmischen Werte des Cantus firmus streng durchorganisiert sind, indem die Vokale des Puer natus-Textes mit Zahlen versehen sind (a mit 1, e mit 2, i mit 3, o mit 4, u mit 5), die in jedem Satz mit einer vorgegebenen Tondauer multipliziert werden (vgl. McCarthy, Sp. 463), im Gloria beispielsweise mit der Semibrevis. – Die fünfstimmige Missa Salve intemerata (ca. 1540) ist eine Parodiemesse, die auf einer gleichnamigen, von Tallis vertonten, wahrscheinlich in den 1520er-Jahren komponierten Votivantiphon, basiert. Insbesondere das Gloria stellt eine Bearbeitung der Antiphon dar, die das Original nochmals differenziert und verfeinert. Die Messe, bei der nur ein Viertel neu komponiert ist, bildet ein Beispiel für Tallis’ Verfahren des beständigen Umkomponierens und Verbesserns. Seine vierstimmige Messe ohne Titel wird meist in die frühe Zeit verlegt; sie gehört im Unterschied zu Salve intemerata zu den einfacheren, kurzen und weitgehend homophonen Messen, die aufgrund des Fehlens eines Cantus firmus, der auf den entsprechenden Festtag verweisen würde, wahrscheinlich für Wochentage gedacht war. Die fünfstimmige Antiphon Salve intemerata, wahrscheinlich 1527 komponiert, gehört zu Tallis’ frühesten erhaltenen Kompositionen – umfangreiche Votivantiphonen, die für private Andachten, meist der Marienverehrung, gedacht waren. Sie sind in einer für die englische Musik der Zeit typischen polyphonen, teils imitativen Faktur mit dem Wechsel von geringstimmigen und vollstimmigen Passagen verfasst. Hierzu gehören auch Ave rosa sine spinis, das wahrscheinlich etwas später entstandene Sancte Deus als Christus-Verehrung und die sechsstimmige Marienantiphon Gaude gloriosa, die allerdings auch später entstanden sein könnte. Für liturgische Zwecke entstanden die neun erhaltenen Responsorien, Choralsätze, das Magnificat und Nunc dimittis. Die frühen vierstimmigen Respon- 507 sorien sind einfach gehalten und verwenden nur Intonation und Vers; der Choral wird in den einzelnen Stimmen paraphrasiert. Die fünfstimmigen Responsorien sind länger und basieren auf dem in gleichen Notenwerten zugrunde liegenden Choral. Das fünfstimmige Magnificat und Nunc dimittis – beide im Unterschied zu den englischsprachigen Service-Kompositionen des Evening Prayer mit lateinischem Text – entstanden möglicherweise im Zusammenhang mit der in Universitäten und Gelehrtenzirkeln praktizierten lateinischen Version des Book of Common Prayer in den 1560er-Jahren. Wie Byrd hat auch Tallis nach Wiedereinsetzung der landessprachlichen Liturgie durch Elizabeth I. lateinische Motetten komponiert. Ein Teil davon ist in dem der Königin gewidmeten Druck der Cantiones sacrae von 1575 überliefert. Die sehr kunstvoll gearbeiteten Kompositionen stehen unter dem Einfluss kontinentaler Motettenbücher: Sie sind überwiegend im durchimitierenden Stil komponiert und vermeiden weitgehend die Cantus firmus-Technik; sie haben überwiegend liturgische Texte als Grundlage (z.B. O salutaris hostia, Salvator mundi, O nata lux de lumine). Die beiden Motetten auf nicht-liturgische Texte (Absterge Domine und Suscipe quaeso) gelten als besonders expressiv und sind möglicherweise den auf die kirchenpolitische Situation anspielenden Motetten Byrds vergleichbar. Ähnlich sind die ebenfalls auf liturgischen Texten basierenden, fünfstimmigen Lamentationes komponiert, die nicht publiziert wurden. Neben der üblichen phrygischen Tonart ist der Mittelteil durch außergewöhnliche Klanglichkeit geprägt. Eine Ausnahme unter Tallis’ Motetten ist die 40-stimmige Spem in alium, die nicht in die Sammlung von 1575 aufgenommen wurde. Sie ist nicht, wie man aufgrund des hier getriebenen Aufwandes denken könnte, für einen Staatsakt, sondern für einen Mäzen, wahrscheinlich den Herzog von Norfolk, Thomas Howard (1536–1572), geschrieben worden und hatte eine 40-stimmige Komposition von A. Striggio, wahrscheinlich die Motette Ecce beatam lucem oder die Messe Ecco si beato giorno, die dieser 1567 nach England mitgebracht hatte, als Vorbild. Die Stimmen verteilen sich in Tallis’ Motette auf acht fünfstimmige Chöre, sie beginnt mit einem Chor und wird dann sukzessive bis zu