Von Marx zu Marketing SEBASTIAN KNAUER Partys im noblen Seebad gehören dazu, aber auch der strenge Vorlesungsstart um 7.30 Uhr. Die Universitäten im polnischen Danzig sind modern, praxisnah, international. Teil V einer Serie über Europas Uni-Perlen. Uni-Gebäude in Danzig: Plattenbau-Charme trifft Hochglanzwerbung Die größte Überraschung war für Frank Gisder, 24, Student der Raumplanung im achten Semester an der Technischen Universität Dortmund, die einfache Anreise zu seiner neuen Auslandsuniversität. Mit der Straßenbahn ging es zum Flughafen Dortmund. Einchecken beim Billigflieger WizzAir ins polnische Gdansk, ehemals Danzig, kostete 27 Euro inklusive Steuern. Eineinhalb Stunden später schwebte der purpur-lilafarbene Airbus über die dünnbesiedelte Landschaft des nordpolnischen Pommern zum Landeanflug auf die historische Handelsstadt an der Weichselmündung. »Man ahnt gar nicht, wie nahe das liegt«, sagt Gisder. Gegen ein Ticket von 4,20 Zloty, etwas mehr als ein Euro, bringt die Buslinie B den Austauschstudenten vom Flughafen direkt zur »Politechnika Gdanska«, der Technischen Hochschule am nordwestlichen Stadtrand. Fünf Minuten Fußweg, und Frank Gisder betritt den Vorlesungssaal im zweiten Stock des ziegelroten Hauptgebäudes der traditionsreichen Hochschule. Die Universitäten Danzigs sind mit der Öffnung des Ostens in der akademischen Globalisierung angekommen. Und der polnische Studienort ist ein Musterbeispiel für die Modernisierung einer Hochschullandschaft, die einer mobilen Studentenschaft gerecht werden will – die attraktive Stadt gibt es als Zugabe obendrauf. »Später im Beruf muss ich mich doch auch auf wechselnde Arbeitsorte einstellen, um einen interessanten Job zu bekommen«, sagt die 24jährige Josephine Dahlenburg aus Stralsund, die in Danzig derzeit »Baltic Management Studies« absolviert, ein Fachprogramm für Ökonomen in Danzig der boomenden Ostseeregion. 32 »Wir haben hier eine wachsende Nachfrage aus Deutschland«, sagt Aniela Tejchman, Leiterin des Büros für Internationale Beziehungen an der Danziger Technischen Hochschule. Insbesondere über das europäische Austauschprogramm Erasmus kommen zunehmend deutsche Studenten aus den jeweiligen Partneruniversitäten zu einem meist einsemestrigen Studienaufenthalt nach Nordpolen. Der Andrang wundert wenig, offeriert die »Politechnika« doch ebenso wie die »Uniwersytet Gdanski« ein überraschend breites Studienangebot – auf »Europas längstem Campus«, wie die Universitätsverwaltung wirbt. Über 90 Kilometer erstreckt er sich. Im Norden, gegenüber dem Marinestützpunkt Gdynia, lockt die Forschungsstation für Biologen mit Robbenbeobachtung auf der Halbinsel Hela, im Süden die Danziger Innenstadt mit Ausgrabungsstätten des jüngst gegründeten Archäologie-Instituts, dazwischen das noble Seebad Sopot. Das Schnellbahn-System der baltischen Metropolregion erschließt die Strecke und ihre Verästelungen. Die Stadt bietet ihren 50 000 Studenten neben den klassischen Fächern – BWL, Internationales Management, Mathematik, Chemie, Physik, Architektur, Sozialwissenschaften – auch Disziplinen wie Schiffbautechnologie, Umwelttechnik, Journalismus oder Ozeanologie mit dem eigenem Forschungsschiff »Ozeanograf 2«. »In mari via tua«, durch das Meer ging dein Weg, steht auf der Visitenkarte der Ökonomin Renata Orlowska, die einige Dutzend Studenten der europäischen Studienaustauschprogramme Socrates und Erasmus betreut. Standen zu Sowjetzeiten noch die Kritiker der politischen Ökonomie auf dem Lehrplan, wird heute moderne Marktwirtschaft gelehrt. »Wir haben den Sprung von Marx zum Marketing gut geschafft«, sagt Orlowska. Die deutschen Studenten in Polen können sich auf ein straffes Programm einstellen. »Nee, gestern konnte ich nicht mehr zur Party«, sagt die Ökonomiestudentin Josephine. »Wir müssen am Donnerstag schon um 7.30 Uhr im Seminar sein.« Europaweit wohl ein einmaliger Stundenplan. Auch die akademische Viertelstunde c.t., die es Spätaufstehern leichter macht, rechtzeitig im Hörsaal zu sitzen, ist in Polen unbekannt. Wer zweimal die Anwesenheitsliste beim Professor nicht ausfüllt, riskiert, vom Seminar ausgeschlossen zu werden. UniSPIEGEL 5/2008 Von Marx zum Marketing FOTOS: SEBASTIAN KNAUER Wirtschaftsprüferkanzlei anzuheuern. »Polen war erst mal ein Schock«, sagt die Studentin – sie hatte sich ursprünglich auf einen Studienplatz in Irland beworben. »Aber jetzt finde ich es ganz prima«, sagt Pallein. Selbst die Unterbringung mit einer Kommilitonin auf zwölf Quadratmetern in einem Studentenwohnheim störte sie nicht, zumal in Fußnähe die wunderbar moderne Uni-Bibliothek liegt, mit Internet-Anschlüssen und großem Bestand. Das lichtdurchflutete Gebäude erinnert an ein gerade gelanStudenten im Danziger »Irish Pub«, Studentin Pallein in der Bibliothek detes Ufo, mit triebwerkartigen Lesekapseln an der Fassade. Die Rostockerin Nadine Pallein, 24, die ihr achtes Se- Auf der Höhe der Zeit, findet Philip Wieczorek, 27, Student der Elektrotechmester Betriebswirtschaft an der Universität Danzig nik im neunten Semester, sei auch die technische Ausstattung am Polytechabsolviert hat, konnte sich über Arbeit nicht beklagen. nikum, das schon vor hundert Jahren in der Schiffbaustadt Danzig gegründet Will sie auch nicht – sie möchte so schnell wie mög- worden ist. Da Wieczoreks Großeltern im ehemals deutschen Oppeln lebten, lich ihr Studium durchziehen, um später in einer beherrscht er sogar die Landessprache. Wer solches Privileg nicht besitzt, kommt nicht zu kurz: Fast alle wichtigen Studienunterlagen sind in Englisch zu bekommen. Ihre Seminararbeiten können die Studierenden ebenfalls in der internationalen Forschungssprache abliefern. Am Dienstagabend treffen sich die deutschen Erasmus-Studenten regelmäßig in Auf einen Blick der Danziger Innenstadt im Kellerlokal »Irish Pub«. Philip hat sein Jimi-HendrixUniwersytet Gdanski & T-Shirt angezogen, Josephine vergnügt sich auf der Tanzfläche. Im Sommer lässt Politechnika Gdanska sich in Sopot, dem Badeort mit der Partyhauptstraße Monte Cassino, mit zahlAdressen reichen Clubs oder Discotheken wie dem »Tropicana« oder dem »Sfinks«, nach Uniwersytet Gdanski solch einer durchtanzten Nacht gleich am weiten Sandstrand der Ostsee weiterul. Bazynskiego 1a feiern. Hinzu kommt das eher klassische Freizeitprogramm, das die Erasmus80-952 Gdansk +48 58 523 24 42 Koordinatoren der einzelnen Fakultäten bieten: Ausflüge nach Masuren zum BeiPolen http://www.univ.gda.pl spiel, auch Segeltörns sind möglich. Die Disziplin scheint nicht zu leiden. Die Doktorandin und Erasmus-Koordinatorin für Architektur, Justyna Borucka, 32, Politechnika Gdanska lobt die Arbeitsauffassung der deutschen Studis. Sie knien sich rein in die Theul. G. Narutowicza 11/12 men, die das praxisnahe Anschauungsobjekt vor der eigenen Haustür eröffnet: 80-952 Gdansk +48 58 347 20 42 der Wiederaufbau der Danziger Innenstadt nach dem Zweiten Weltkrieg. Polen http://www.pg.gda.pl Ein moderneres Thema, aber kombiniert mit postsozialistischer Realität erFakultäten (u.a.): Biologie, Geografie lebte der Raumplanungsstudent Frank Gisder bei seinem Praxiskurs. Es galt, und Ozeanologie, Ökonomie, Chemie, Ideen zu entwickeln für den Entwurf eines großen Fußballstadions zur EuroPhilologie und Geschichte, Mathematik, pameisterschaft 2012 in Warschau. Als er bei der Recherche Fotos von dem vorPhysik und Informatik, Sozialwissenschafgesehenen Baugelände machte, rückte gleich der Sicherheitsdienst an. ten, Recht und Verwaltung, Schiffbau. Insgesamt findet Frank die Betreuung durch die polnischen Lehrkräfte »sehr viel individueller« als in Dortmund. Manchmal kümmerten sich 9 ProfessoStudenten insgesamt: 50 000. ren um 20 Studenten. Anteil ausländischer Studenten: Das alltägliche Leben in Polen ist für die deutschen Studierenden durchaus beetwa ein Prozent. zahlbar. Rund 80 Euro kostet ein Platz im Studentenwohnheim, die Lebenshaltungskosten liegen deutlich niedriger als in Deutschland. Der ÖkonomieStudiengebühren: Für Studenten aus Student Mathias Merforth, 21, aus Dresden bekommt zu dem Erasmus-StiEU-Ländern ist das Studium kostenlos. pendium von 260 Euro noch ein Auslands-Bafög von 430 Euro. So lässt sich Studiengänge in Fremdsprachen sind geleben. »Ich bin schon traurig, wenn ich wieder weg muss«, sagt er. bührenpflichtig. Und in der kleinen Kantine im Erdgeschoss ihres Wohnheims in Danzig kann Lebensunterhaltskosten: sich Studentin Josephine von der Cola bis zu original selbstgemachten polnirund 350 Euro im Monat. schen Gerichten oder der paneuropäischen Pizza günstig versorgen, wenn sich in dem Zwei-Zimmer-Apartment wieder mal die Teller in der Spüle staStädte: Der »Baltic Campus« umfasst die peln. Sie hatte, als Alternative, die indonesische Insel Bali auf der Liste ihrer Städte Danzig, Sopot und Gdynia, insgeWunsch-Studienorte. »Ist doch auch exotisch hier«, sagt Josephine und prosamt rund 800 000 Einwohner. biert die polnische Gemüsesuppe. SEBASTIAN KNAUER 34 UniSPIEGEL 5/2008