4.2 Quotientenvektorräume

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c Rudolf Scharlau
306 LinAlg II – Version 1 – 6. Juni 2006
4.2
Quotientenvektorräume
Zum Verständnis der folgenden Konstruktion ist es hilfreich, sich noch einmal den
Abschnitt 1.4 über Restklassen vom Beginn der Vorlesung zu vergegenwärtigen.
Etwas mehr über die Motivation für die Einführung der Quotientenvektorräume
erfahren wir weiter unten bei sogenannten Homomorphiesatz 4.2.7.
Definition 4.2.1 Es sei V ein K-Vektorraum und U ⊆ V ein Untervektorraum.
Der Quotientenvektorraum (auch Faktorraum genannt) V /U (lies: “V nach U”)
ist als Menge definiert als
V /U := {v + U | v ′ ∈ V },
also als Menge aller affinen Unterräume mit fester Richtung U.
Als technische Grundlage für alles weitere klären wir zunächst, wann zwei affine
Unterräume mit Richtungsraum U, gegeben durch v und v ′ in V , übereinstimmen.
Hilfssatz 4.2.2 Für v, v ′ ∈ V gilt
v + U = v′ + U
⇐⇒
v − v′ ∈ U
Beweis: “=⇒”: Es gilt insbesondere v ∈ v ′ + U, d. h. es existiert u ∈ U mit
v = v ′ + u. Also ist v − v ′ = u ∈ U.
“⇐=”: Es existiert u0 ∈ U mit v − v ′ = u0 . Sei nun x ∈ v + U beliebig, d. h.
es existiert u ∈ U mit x = v + u. Dann gilt
x = v ′ + (v − v ′ ) + u
= v ′ + (u0 + u)
und u0 + u ∈ U, also auch x ∈ v ′ + U. Sei umgekehrt x ∈ v ′ + U beliebig, d. h.
es existiert u ∈ U mit x = v ′ + u′. Dann gilt
x = v + (v ′ − v) + u′
= v − (v − v ′ ) + u′
= v − u0 + u′
= v + (u′ − u0 )
und u′ − u0 ∈ U, also auch x ∈ v + U.
Die Konstruktion des Quotientenraums V /U hat eine weitgehende Analogie zu
den Restklassen ganzer Zahlen, d.h. zur aus Abschnitt 1.4 bekannten Konstruktion der Menge (die dann ein Ring wird) Z/mZ. Bevor wir die Verknüpfungen
auf dem Quotientenraum definieren, wollen wir diese Analogie auf der Ebene der
unterliegenden Mengen beschreiben. Vorgegeben ist wie gesagt ein fester Untervektorraum U (genau wie bei der Kongruenz von Zahlen eine natürliche Zahl m
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fixiert ist). Durch die Bedingung “v − v ′ ∈ U” wird eine Relation zwischen zwei
Vektoren v und v ′ definiert, also eine Relation auf V . Man könnte diese Relation
als Kongruenz modulo U bezeichnen. Entscheidend ist nun, daß diese Relation
eine Äquivalenzrelation auf V ist.
Wir wollen das hier nicht nachrechnen, weisen aber darauf hin, daß die Untergruppeneigenschaften von U hierbei voll eingehen. Wenn man genau hinsieht,
folgen die Eigenschaften einer Äquivalenzrelation sogar aus 4.2.2, denn die linke Seite der dort formulierten Äquivalenz hat offenbar die drei gewünschen
Eigenschaften Reflexivität, Symmetrie und Transitivität.
Die Äquivalenzklassen dieser Relation sind nun genau die affinen Unterräume.
Genauer ist die Äquivalenzklasse von v ∈ V , also die Menge aller v ′ , die in obiger
Relation mit v stehen, genau gleich v + U.
Bisher haben wir den Quotientenvektorraum nur als Menge konstruiert. Zur Definition der Verknüpfungen auf V /U benötigen wir als Vorbereitung folgenden
Hilfsatz, der analog zu dem Hilfssatz 1.4.12 über die Kongruenz modulo m von
Zahlen ist:
Hilfssatz 4.2.3
a) Seien v1 , v1′ , v2 , v2′ ∈ so, daß
v1 + U = v1′ + U
v2 + U = v2′ + U.
Dann gilt auch
(v1 + v2 ) + U = (v1′ + v2′ ) + U.
b) Seien v, v ′ ∈ V so, daß
v + U = v′ + U
und α ∈ K. Dann gilt auch
αv + U = αv ′ + U.
Beweis: Beide Teile folgen unmittelbar aus dem vorigen Hilfssatz und den Untervektorraum- Eigenschaften von U:
zu a): Nach 4.2.2 ist v1 − v1′ ∈ U und v2 − v2′ ∈ U, also auch (v1 − v1′ ) + (v2 −
′
v2 ) ∈ U. Umschrieben liefert (v1 + v2 ) − (v1′ + v2′ ) ∈ U, wiederum mit 4.2.2 also
(v1 + v2 ) + U = (v1′ + v2′ ) + U, wie gewünscht.
zu b): Es ist v − v ′ ∈ U, also auch αv − αv ′ = α(v − v ′ ) ∈ U, also αv + U =
′
αv + U, wieder mit zweimaliger Verwendung von 4.2.2.
Nun können wir auf V /U die gewünschte Vektorraumstruktur definieren.
Satz 4.2.4 Sei V ein K-Vektorraum, U ⊆ V ein Untervektorraum
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a) Durch
(v1 + U) + (v2 + U) := (v1 + v2 ) + U
α(v + U) := αv + U
werden zwei Verknüpfungen
V /U × V /U
K × V /U
−→
−→
V /U
V /U
sinnvoll definiert.
b) Der Quotientenraum V /U zusammen mit diesen Verknüpfungen ist ein KVektorraum.
c) Die sogenannte kanonische Abbildung πU : V → V /U, v 7→ v + U ist eine
lineare Abbildung.
Beweis zu a): Es ist zu zeigen, daß die rechte Seite (v1 + v2 ) + U bzw (αv) + U
nur von v1 + U und v2 + U (bzw. α und v + U) abhängt, aber nicht von v1 , v2
(bzw. α) selbst. Das ist genau die Aussage von 4.2.3.
zu b): alle Gesetze überprüft man durch einfaches Nachrechnen, neutrales
Element (“Nullvektor”) in V /U ist U = 0 + U ∈ V /U, negatives zu v + U ist
(−v) + U.
zu c) Die beiden Linearitätseigenschaften ergeben sich unmittelbar aus der
Definition der Addition und der Multiplikation mit Skalaren.
Strukturell gesehen ist c) der wichtigste Teil des Satzes. Seine gewünschte Gültigkeit erzwingt die Definition der Verknüpfungen auf V /U, aber unverzichtbar
bleibt die Aussage 4.2.3, die der Definition erst Sinn gibt.
Wenn der zur Bildung des Faktorraumes herangezogenen Unterraum U feststeht,
bzw. aus dem Zusammenhang hervorgeht, schreibt man oft auch einfach
v + U =: v
für
v ∈ V,
genau wie bei Restklassen ganzer Zahlen. Die Verknüpfungen auf V /U lesen sich
dann als
v + w = v + w , v, w, ∈ V
αv = αv
, α ∈ K, v ∈ V,
was wieder nur die Linearität der kanonischen Abbildung von V auf V /U ausdrückt.
Wir stellen schließlich noch fest, daß der Kern von πU genau gleich U ist: für
beliebiges v ∈ V gilt
v ∈ Kern πU ⇐⇒ πU (v) = 0
⇐⇒ v + U = 0 + U = U
⇐⇒ v ∈ U,
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die letzte Äquivalenz nach Hilfssatz 4.2.2. Wenn wir schließlich noch beachten,
daß πU offensichtlich surjektiv ist, so liefert die Dimensionsformel für lineare
Abbildungen als Spezialfall den folgenden wichtigen Satz.
Satz 4.2.5 ein Untervektorraum. Dann ist der Quotientenraum V /U wieder endlich erzeugt und es gilt
dim V /U = dim V − dim U.
Eine andere Herleitung der Dimension von V /U liefert der folgende Satz, für den
wir an den Begriff der direkten Summe zweier Unterräume erinnern.
Satz 4.2.6 Die Voraussetzungen seien wie in 4.2.5 und ferner W ⊆ V ein Komplement zu U (d. h. V = W ⊕ U). Dann gilt W ∼
= V /U. Genauer ist die Einschränkung der kanonischen Abbildung
W −→ V /U,
w 7−→ w + U
ein Isomorphismus von K-Vektorräumen.
Beweis:
(1) Die in Frage stehende Abbildung sei kurz mit ψ bezeichnet, also ψ = πU |W .
Wir wissen bereits, daß πU , erst recht also ψ, linear ist.
(2) ψ ist surjektiv: sei v + U ∈ V /U vorgegeben. Gesucht ist w ∈ W mit
ψ(w) = v + U, d. h. w + U = v + U. Wegen der vorausgesetzten Zerlegung
von V als (direkte) Summe können wir schreiben
v = w + u,
w ∈ W,
u ∈ U.
Hieraus folgt mit 4.2.2 unmittelbar, daß v + U = w + U ist, dieses w ist
also bereits das Gesuchte.
(3) ψ ist injektiv. Sei w ∈ Kern ψ, also w + U = 0 + U. Dann ist w ∈ U, also
w ∈ W ∩ U, also w = 0 nach Voraussetzung. Also ist Kern ψ = {0}, wie
gewünscht.
Zusammen mit der Dimensionsformel für direkte Summen liefert der letzte Satz
auch einen neuen Beweis für 4.2.5: es ist dim V /U = dim W = dim V − dim U
(weil dim U + dim W = dim V ).
Wir wollen hervorheben, daß Satz 4.2.6 eine stärkere Aussage enthält als nur die
Dimensionsformel. Auf den ersten Blick scheint der Satz etwas abstrakt, da er vom
Quotientenvektorraum handelt. In Wirklichkeit macht er aber eine unmittelbar
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einsichtige geometrische Aussage: jeder zu U parallele affine Unterraum v + U
besitzt genau einen Schnittpunkt w mit W :
(v + U) ∩ W = {w}.
Wenn etwa V = R2 ist und U = R~b eine Gerade, so kann man für W jede von
U verschiedene Gerade nehmen: W = R~c mit ~c 6∈ R~b. Die Aussage ist dann, daß
jede Parallele zu U genau einen Schnittpunkt mit W hat.
Entsprechendes gilt für eine Ebene (d. h. einen zweidimensionalen Untervektorraum) U im R3 und eine nicht in U enthaltene Gerade W .
Wir kommen nun zu einem wichtigen Satz, den es übrigens analog auch für Gruppen und Ringe gibt und der einer der Hauptgründe für die Einführung von Faktorräumen (allgemeiner: “Faktorstrukturen” von algebraischen Strukturen) ist:
der Faktorraum ist der “natürliche Lebensraum” für lineare Abbildungen (Homomorphismen), die auf U verschwinden (Zitat aus dem Buch Lineare Algebra
von Jänich).
Satz 4.2.7 (Homomorphiesatz für Vektorräume)
a) Es sei F : V → W eine lineare Abbildung. Weiter sei U ⊆ V ein Untervektorraum mit U ⊆ Kern F . Dann gibt es eine eindeutig bestimmte lineare
Abbildung F ′ : V /U → W mit F = F ′ ◦ πU , d.h. das Diagramm
πU
F
-
-
V
W
F′
?
V /U
ist kommutativ. Der Homomorphismus F ′ heißt auch der von F induzierte
Homomorphismus.
b) Unter den Voraussetzungen von a) ist Bild F = Bild F ′ . Insbesondere ist F ′
surjektiv genau dann, wenn F surjektiv ist.
c) Unter den Voraussetzungen von a) ist Kern F ′ = (Kern F )/U. Insbesondere
ist F ′ injektiv genau dann, wenn U = Kern F ist.
Wenn wir die unter b) und c) genannten Spezialfälle zusammenfassen, so ist
insbesondere geklärt, wann der induzierte Homomorphismus F ′ bijektiv, also ein
Isomorphismus ist. Somit enthält der Homomorphiesatz auch ein Werkzeug, um
Isomorphismen zu konstruieren. Wir illustrieren das an dem folgenden Satz, in
dem wir den Dualraum eines Unterraumes beschreiben.
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Satz 4.2.8 Es V ein endlichdimensionaler K-Vektorraum und U ein Untervektorraum. Dann ist der Dualraum von U in natürlicher Weise isomorph zu einem
Faktorraum des Dualraumes von V . Genauer induziert die Abbildung
V ∗ → U ∗ , ϕ 7→ ϕ|U
einen Isomorphismus V ∗ /U ◦ ∼
= U ∗ , wobei wie früher U ◦ der Annulator von U
ist.
Unter Benutzung der Dimensionsformel für den Faktorraum sowie der Gleichheiten dim V = dim V ∗ , dim U = dim U ∗ ergibt sich hiermit erneut die Dimension
des Annulators aus Satz 4.1.5.
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