Wo leben wir heute? Die Zeit der Utopien ist vorbei. Was wie eine ernüchterte Feststellung klingen mag, ist das genaue Gegenteil der Ernüchterung. Es ist die Erkenntnis, dass sich im Gegensatz zu früheren Ansätzen, die die Gesellschaft gleich mitentwarfen, in den letzten Jahren eine sehr realistische, grundlegende Architektur Bahn bricht. Utopia, Nirgendland, ist in weite Ferne gerückt, auch wenn seine ideale Gesellschaftsform ein Leben in Glück und Wohlstand verspricht. Die Realität ist anders, das ist nunmehr erkannt. Zeitgenössische Entwürfe stellen zuerst einmal den gesellschaftlichen status quo fest, um darauf zu reagieren und in der Folge Wandel zu ermöglichen – nicht zu erzwingen oder nur zu ersehnen. Die Protesthaltung früherer Generationen, die in der folgenlosen Zeichnung ihre Pflicht als erfüllt erkannten, ist weitenteils abgelegt; obgleich auch sie Früchte getragen und nicht zu unterschätzende ideelle Folgen gehabt hat. Protest ist der Aktion gewichen, Fehlentwicklungen sind erkannt und können analysiert werden, um im besten Fall neue Lösungen zu finden. Neu heißt nicht modisch, auch mit innovativ ist nicht ständige Neuerfindung gemeint. Vielmehr geht es um Optimierung und subtile Fortschreibung. Einige Erkenntnisse sind alt und tradiert, andere reifen erst jetzt heran, wieder andere müssen gar auf den Kopf gestellt werden. Der Ursprung des Bauens Der Wohnungsbau ist die wohl elementarste Aufgabe der Architektur; oder, wie Martin Heidegger es ausdrückt, „Bauen ist eigentlich Wohnen“. Der Mensch räumt sich einen Platz in der Welt ein und scheidet durch Privation, durch Absonderung und Herausschneiden, einen Eigenraum von der Sphäre der Öffentlichkeit. Dieser wird in einer sehr direkten, emotionalen Weise erlebt, während sich der öffentliche, ungewohnte Raum, will man dem Bild Otto Friedrich Bollnows folgen, konzentrisch um den privaten legt. Der Mensch nähert sich der Fremde also über verArchitektursprache Rainer Schützeichel schiedene Stufen des Gewohnten an, dessen Zentrum eben der private Eigenraum darstellt. In ihm erfährt der Mensch in einem archaischen Sinn „Schutz gegen die Unbilden der Witterung“, aber auch „gegen die unerwünschte Annäherung fremder Menschen“. Beides muss möglich sein: Der Rückzug ins Private – in die „Zelle“ – und der Kontakt zum Öffentlichen. Wohnen ist im Spannungsfeld dieser Sphären angesiedelt. Grenzen konturieren und trennen beide voneinander, aufgrund ihrer notwendigen Permeabilität sollten sie aber vielmehr als Schwellen verstanden werden, wenngleich sie bei Bedarf auch eine vollständige Schließung zulassen müssen. Öffnung und Schließung finden so an gleicher Stelle statt, der jeweilige Grad ist vom Befinden des Einzelnen oder der Gesellschaft abhängig. Die Gegenüberstellung von privatem und öffentlichem Raum fördert eine Grundidee des Stadtbaus zutage: Im Stadtraum, in dem die Einzelnen innerhalb einer übergeordneten Gemeinschaft in exklusiven Bereichen wohnen, findet sich die gesellschaftliche Organisation. Eine Verschränkung der Idee von Stadt und Haus ermöglicht eine subtile Widmung öffentlicher und privater Bereiche, die im Haus die Räumlichkeit der Stadt abbildet. Das Konzept der Wohnhöfe Auerberg des Architekten Uwe Schröder übersetzt dieses stadtbauliche Verständnis in eine architektonische Form, die sich aus dem höheren Zweck entwickelt. Das menschliche Grundbedürfnis von Schutz und Gemeinschaft findet sowohl im privaten wie im ordnenden öffentlichen Raum Ausdruck. Haus und Stadtraum stehen hier in wechselseitiger Abhängigkeit. © Peter Oszvald Uwe Schröder, Wohnhöfe Auerberg, Bonn, 1998-2003 Nuancen der Gesellschaft Die Gesellschaft, deren Bedürfnisse letztlich erst Architektur hervorbringen, hat einen bedeutenden Wandel erfahren: Klassische, etablierte Muster lösen sich teilweise auf, an ihre Stelle treten neue Konzepte des Wohnens und Zusammenlebens. Dabei ist zu beachten, dass vermeintlich moderne Leitbilder wie die Individualisierung stets vor dem Hintergrund der Gesellschaft oder schlicht der „Hausgemeinschaft“ verstanArchitektursprache Rainer Schützeichel den werden müssen: Eine historische Betrachtung der Gesellschaftsmodelle lässt eine Tendenz zu eigenbestimmten Veränderungen der Klassen- oder später Milieuzugehörigkeit erkennen. Dies etabliert insofern eine zunehmende Individualisierung, als dass die Abgrenzung und die damit verbundene Ausbildung individueller Lebensstile zum Spiegel des eigenen sozialen Status’ wird. Mit dem Aufbrechen industriegesellschaftlicher Formen und ihrem unmittelbaren Zusammenhang etwa von Klassenzugehörigkeit und Geschlechterrolle sind heute sehr viel mehr Menschen in der Lage oder dem Zwang, eigene Lebensentwürfe zu verwirklichen. Dieser in Teilen gezwungene Wandel kann zuletzt auch zu neuen Gesellschaftsformen führen, die von den tradierten abweichen. Patchwork-Familien, SingleHaushalte und Zweck-WGs könnten so als Symptome eines tiefgehenden Gesellschaftswandels gesehen werden. Im geschilderten Wandlungsprozess ist das Individuum nur Teil einer Gemeinschaft, da alle mit den gleichen oder ähnlichen Bedingungen konfrontiert sind. Demnach stellt Individualisierung nach Bart Lootsma lediglich eine „notwendige Zwischenphase auf dem Weg zu neuen Formen des menschlichen Zusammenlebens“ dar. Partizipatorische Modelle wie das der Wiener Sargfabrik von BKK-3 nehmen die Wechselbeziehung zwischen dem Einzelnen und seiner Umwelt, die der Soziologe Achim Hahn zum einen als hinnehmend, zum anderen als prägend beschreibt, schon im Planungsprozess vorweg: Die Bewohner bilden eine Interessensgemeinschaft, die gleiche Ziele am gleichen Ort verfolgt – ihre Konstellation ist vom Einzelnen nur bedingt zu verändern und muss daher hingenommen werden. Durch Austausch entstehen gemeinsame Vorstellungen und damit Vokabeln, die auf die Planung des Gebäudes zurückwirken und dessen Gestalt prägen. Die 1969 von Erich Schneider-Wessling in Köln begründete Initiative „Urbanes Wohnen“ wirkte in einem ähnlichen Prozess auf eine großstädtische Lebensform hin, der grundlegende gesellschaftliche Veränderungen vorausgehen sollten. Die Bürger haben hier selbst aktiv die Bauten verändert – in Wien behielten die Architekten, von den späteren Nutzern kontrolliert, die planerische Hoheit. Dieses basisdemokratische Modell hat in Architektursprache Rainer Schützeichel © Hertha Hurnaus BKK-3, MISS Sargfabrik, Wien, 1999-2000 Köln wie in Wien allen Beteiligten neue Blickwinkel eröffnet, um auch abwegig erscheinende Ideen in Erwägung zu ziehen. Franz Sumnitsch von BKK-3 hielt rückblickend fest: „Nur wenn man dem sogenannten Unsinn eine Chance gibt, ist ernsthafte Arbeit möglich.“ Das Projekt von blauraum architekten in der Hamburger Bogenallee präsentiert sich, ähnlich wie die Sargfabrik, mit einer unverkennbaren Fassade und wirkt schon aufgrund des eigenwilligen Äußeren identitätsstiftend für seine Bewohner. Das Gebäude separiert unmissverständlich den Bereich der Hausgemeinschaft von dem der umliegenden Stadtgemeinschaft. Durch Öffnung und Drehung der ausgestülpten Boxen wird diese Geste architektonisch verstärkt, inhaltlich vollzieht sich jedoch eine Umkehrung: Die Bereiche werden in gewisser Weise veröffentlicht, sie nehmen Teile des Straßenraums für sich in Anspruch und konfrontieren das Innen mit dem Außen. Die Vorstellung von Individualität prägt hier das Gebäude, obgleich die Idee der Gemeinschaft als „Überzug“ die individuellen Bestrebungen vereint. © Christian Schaulin blauraum architekten, Bogenallee 10-12, Hamburg, 20042005 Gemeinsam individuell Wohnen ist letztlich nur in der Gemeinschaft möglich, denn alle Individuen – die Produzenten einer Gemeinschaft – stehen ständig in gegenseitiger Beeinflussung. Ein gemeinsamer Konsens evoziert jedoch Abgrenzungswünsche und verspricht paradoxerweise Individualität durch Wiederholung des immer Gleichen. Nicht zuletzt bedient sich die Werbung der durch sie selbst propagierten Identitätskonstruktion zur Absatzsteigerung. Der „Konsum bestimmter Produkte“, stellt der Soziologe Hartmut Häußermann fest, wird „oft zum Ausdruck persönlicher Unverwechselbarkeit stilisiert. Mit dem Verweis auf die Einzigartigkeit des Abnehmers läßt sich Massenproduktion ankurbeln.“ Konsumgüter sind kollektiv erkennbare Symbole, die Auskunft über den sozialen Status des Besitzers geben. Nur durch dieses allgemein verständliche Vokabular, das schon einen Konsens voraussetzt, ist Individualität überhaupt lesbar. Architektursprache Rainer Schützeichel Zeitgenössische Wohnmodelle reagieren auf diesen Wunsch der „Verbraucher“ – hier als Bewohner verstanden – und wollen abseits der architektonischen Stangenware maßgeschneiderte Lösungen anbieten. Als Beispiele sind hier Allmann Sattler Wappners Haus der Gegenwart in München und Pile Up des Architekten Hans Zwimpfer zu nennen, die den Typus des Einfamilienhauses interpretieren. Ersteres stellt die klassische Wohntypologie auf den Kopf und gewichtet Individualität und Gemeinschaft in gleicher Weise. Es entfernt sich nicht vom freistehenden Einzelhaus und stellt daher eine mögliche Lösung für den vorstädtischen Siedlungsgürtel dar, der zu Genüge mit gesichtslosen Traumhäusern durchsetzt ist. Inwieweit das Haus modifiziert werden kann, oder ob es letztlich doch nur variable Ausstattungsdetails anbietet, wird sich zeigen müssen – der Prototyp sollte jedenfalls im Hinblick auf die Konzeption des Zusammenlebens betrachtet werden, nicht als architektonisches Trade Mark. Im Gegensatz dazu versteht sich Pile Up als Alternative zum Einfamilienhaus im verdichteten Wohnungsbau. Damit reagiert der Architekt auf eine Ambivalenz, die der Wunsch nach den eigenen vier Wänden in sich birgt. Das Gemeinschaftskonzept liegt auch diesem Modell zugrunde, die individuelle Entfaltung soll durch selbstgewählte Grundrisse gewährleistet werden. Eine gezielte, europaweite Vermarktung erkennt die grundsätzlich ähnlichen Forderungen, die insbesondere die Mittelschicht an das Wohnen stellt, und variiert Konstruktion und Form des einzelnen Bauwerks je nach Erfordernis. Beide Entwürfe nutzen Werbestrategien, um auf sich aufmerksam zu machen – diese sind allerdings nur bedingt Selbstzweck, denn zuerst bedarf es der öffentlichen Aufmerksamkeit, um neue Ideen im Wohnungsmarkt zu etablieren. © Florian Holzherr Allmann Sattler Wappner, Haus der Gegenwart, München, 2004-2005 © Johannes Marburg Zwimpfer Partner/Zapco Ltd., Pile Up, Rheinfelden, 20052006 Bleibender Wandel Wohnmodelle entstehen vor einem speziellen zeitlichen, politischen und gesellschaftlichen Hintergrund. Das Verständnis, Architektur bedinge die Gesellschaftsbildung, ist unter anderem bereits von Friedrich Engels kritisiert Architektursprache Rainer Schützeichel worden, denn er sah darin das größte Hindernis frühsozialistischer Gesellschaftsentwürfe – „erst durch die Lösung der sozialen Frage ... wird zugleich die Lösung der Wohnungsfrage möglich gemacht.“ Architektur und Gesellschaft bedingen sich wechselseitig, aber die Herausbildung der Letzteren geht der Ersteren voraus. Gesellschaftsbildung manifestiert sich vor allem in der Architektur; durch spätere Abstraktion ursprünglicher Zweckerfüllung entwickelt sich schließlich der symbolische Ausdruck. Architektur kann auf spezielle Bedürfnisse reagieren und Wandel ermöglichen, sie ist aber zuerst das Produkt ihrer Zeit. Bisweilen gelingt es, historische Konzepte durch Interpretation und Modifikation auf zeitgenössische Aufgaben anzuwenden: Den Wohnhäusern der Münchner Theresienhöhe von Rohnke, Hild und K liegt ein Entwurf zugrunde, der in einer Zeit von Wohnungsnot und notwendiger Bedarfsdeckung entstand. Zeit und Gesellschaft haben sich geändert. Die wörtliche Übersetzung könnte die heutigen Ansprüche nicht erfüllen, durch Erweiterung des Vokabulars können jedoch gezielte Anpassungen erfolgen. So wie die Sprache einem stetigen Wandel unterzogen ist, kann auch die Architektur ihren Wortschatz erweitern, ohne dabei die Wortstämme verändern oder gar verleugnen zu müssen. © Michael Heinrich Rohnke Hild und K, Theresienhöhe, München, 2003 Dieser Text ist erstmals erschienen in: Kay von Keitz, Sabine Voggenreiter (Hrsg.), Das andere Wohnen. Schneider-Wessling Erich und die nächste Generation, Ausstellungskatalog, Köln 2006, S. 16-18. Neudruck in: Kay von Keitz, Sabine Voggenreiter (Hrsg.), plan06 wohnen3, Köln 2007, S. 52-55. Architektursprache Rainer Schützeichel