Gebaute Utopie Die Gesellschaftsvision des Familistère von Guise Durch die grünen Hügel der Picardie führt der Weg über das Land in Richtung Guise. Fernab der großen Städte begleiten Straßendörfer und einzelne Gehöfte die Fahrt. Geruhsam geht es zu in dieser Gegend, die schon bessere Zeiten erlebt hat – die Häuser vermitteln den einstigen Wunsch nach Repräsentation, doch zerfallende Fassaden legen Zeugnis ab von der Endlichkeit repräsentativen Strebens. In Guise führt die Straße auf eine kleine Brücke zu, die sich über das Flüßchen Oise legt. In der Flußbiegung weitet sich ein Platz auf, der zu zwei Seiten von Bauten dieser besseren Tage gerahmt wird: Es sind die Tage, in denen der Ofenfabrikant Godin mit dem Familistère einen Modellversuch unternimmt, um die Wohnverhältnisse seiner Arbeiter zu revolutionieren. Die Hitze des Spätsommers treibt hinein in den Schatten, in den kühlen Hof seines Wohnpalastes. Jean-Baptiste-André Godin, Familistère, Ideal- Guise, ansicht um 1871 Fouriers Geistes Kind Die Konzeption des Familistère geht auf einen utopischen Entwurf zurück, den Charles Fourier in den 1820er Jahren entwickelte. Fouriers Plan zu einer Neuorganisation der Gesellschaft geht von einer umgestalteten Stadtplanung aus, da sich in seinem Verständnis Gesellschaft und Architektur gegenseitig bedingen. Er entwirft ein Bild der völligen Auflösung der Städte, die durch schloßartige Baugruppen, die sogenannten Phalanstères, ersetzt werden. In ihnen werden kleine funktionale Gruppen, die Phalanges, zusammengefaßt: Diese Kleingruppen sollten eine Autarkie der landwirtschaftlich geprägten Anlagen gewährleisten und eine positive gesellschaftliche Entwicklung fördern. Die Errichtung autarker Wohneinheiten mit Bezug zur umliegenden Landschaft – bereits bei Thomas Morus’ „Utopia“ angelegt – ist ein elementarer Bestandteil von Fouriers Theorie: „Das Gebäude, das eine Phalange bewohnt, hat keinerlei Ähnlichkeit mit unseren städtischen oder dörflichen Bauten (...). Die Wohnungen, Pflanzungen und Ställe einer Gesellschaft müssen sich auf wunArchitektursprache Rainer Schützeichel derbare Weise von unseren Dörfern und Vorstädten unterscheiden, in denen Familien wohnen, die nichts verbindet und die darum im Gegensatz zueinander handeln. An Stelle eines Chaos von kleinen Häusern, die einander an Schmutz und Häßlichkeit übertreffen, baut eine Phalange sich ein großes Gebäude, das so regelmäßig ist, wie das Grundstück es erlaubt.“(1) Der Entwurf dieses „Wohnpalastes“ sieht verschiedene, durch überdachte und klimatisierte Galeriestraßen – die rues intérieures – verbundene Gebäude vor. Diese funktional heterogenen Bauten gruppieren sich um offene Höfe, zu denen sich die Galerien orientieren. Die Kritik an der sozialisierenden Einheit der Familie führt in Fouriers Gesellschaftsvision zu deren teilweisen Auflösung in der Phalange: Ein Phalanstère soll auf eine Phalange mit rund 1600 Personen beschränkt sein. Die große Gruppe der Gemeinschaft wird gegenüber der kleinen Gruppe der Familie durch separate Wohnungen für die Kinder und die Ausrichtung des Zusammenlebens auf das übergeordnete Kollektiv betont. Das Individuum erlangt durch eine Aufweitung der sozialen Beziehungen seine Emanzipation und die ihm gebührende Erfüllung des persönlichen Glücks im Einklang mit der Gemeinschaft. Fouriers ideale Umbildung der Gesellschaft durch bauliche Interventionen erfährt – wie auch die der Utopien anderer Frühsozialisten – Kritik vor allem von Seiten Karl Marx’ und Friedrich Engels’, die als Voraussetzung des gesellschaftlichen Wandels den umgekehrten Weg propagieren. Denn „nicht die Lösung der Wohnungsfrage löst zugleich die soziale Frage, sondern erst durch die Lösung der sozialen Frage ... wird zugleich die Lösung der Wohnungsfrage möglich gemacht.“(2) Die familiäre Phalange Im Familistère von Guise haben die Lehren Fouriers ab 1859 eine bauliche Manifestation gefunden. Der Erbauer, Jean-Baptiste-André Godin, überführt Fouriers Gedanken in ein Bauwerk, das positiven Einfluß auf die sozialen Mißstände haben soll. Entgegen der Meinung der Kritiker vertritt er die These, „daß der soziale Architektursprache Rainer Schützeichel (1) zit. nach: Benevolo, Leonardo: Die sozialen Ursprünge des Städtebaus, Gütersloh 1971, S. 68. (2) zit. nach: Schumpp, Mechthild: Stadtbau-Utopien und Gesellschaft, Gütersloh 1972, Anm. S. 73. Fortschritt der Massen der fortschrittlichen Anordnung sozialer Architektur untergeordnet ist.“(3) Allerdings bedürfen die theoretischen Konzeptionen des Zusammenlebens zu ihrer praktischen Durchführbarkeit grundlegender Abwandlungen: Der Industrielle Godin ersetzt die Konstituente der Landwirtschaft durch industrielle Produktion – dadurch reagiert er auf die dem kapitalistischen Prinzip immanenten Bedingungen. Der Kollektivgedanke der Phalange erfährt eine pragmatische Reduktion: Jeder Familie wird eine eigene Wohnung zugestanden. Die Teilnahme am Gemeinschaftsleben ist durch entsprechende Einrichtungen möglich, ritualisierte Feierlichkeiten führen den Bewohnern die Zugehörigkeit zur übergeordneten Gruppe vor Augen, und ein differenziertes Erziehungssystem unterstützt die frühe Identifikation mit dem Familistère. Architektonische Konzeption Godin hat die Sprache Fouriers im wörtlichen und auch im architektonischen Sinn übernommen und einen Palast für die arbeitende Klasse gebaut,(4) der seinen baulichen Ausdruck durch eine Anlage von Hofbauten im weitläufigen Park findet – der Palast als Typus soll auch der arbeitenden Klasse offenstehen. Die Errichtung freistehender Einfamilienhäuser lehnt er ab, jedoch zeigt sich vor dem Hintergrund der Wohnungsnot in den städtischen Ballungsräumen die Notwendigkeit einer Lösung der Wohnungsfrage auf dem Land oder in Randgebieten kleinerer Siedlungen. So wie Fourier stellt auch Godin „den vielen Einzelhaushalten die große Wohneinheit ... und der Stadt die kleine Lebenseinheit“(5) entgegen. Der Komplex der drei Wohngebäude ist annähernd axialsymmetrisch aufgebaut – sie gruppieren sich um einen Platz vor dem von zwei Seitengebäuden gerahmten Mittelbau. Mit einer Gesamtlänge von 180 Metern stellt das Familistère eine stark verkleinerte Ausführung des Phalanstère dar, dessen Front 1200 Meter messen sollte. Im Inneren werden die rues intérieures, die Fourier vorschwebten, modifiziert, indem die Architektursprache Rainer Schützeichel (3) Bollerey, Franziska: Architekturkonzeptionen der utopischen Sozialisten, Berlin 1991, S. 158. (4) vgl. Ed. Archives d’Architecture Moderne: Le Familistère de Guise ou les Equivalents de la Richesse, Brüssel 1977, S. 146: „Da wir aus den Hütten oder den armseligen Behausungen jeder einzelnen Arbeiterfamilie keine Paläste machen konnten, wollten wir die Wohnung des Arbeiters in einem Palast errichten: das Fami- listère ist nichts anderes als der Sozialpalast der Zukunft.“ (Übers. d. Verf.) (5) Posener, Julius: Uto- pische Gemeinschaften: Fourier, Godin, Buckingham, Howard, S. 16; in: Arch+ 63/64, Aachen 1982, S. 14-21. Höfe der drei Wohnbauten überdacht und so zum sozialen Mittelpunkt transformiert werden. Die Laubengänge, von denen aus die Wohnungen der drei oberen Etagen erreicht werden, laufen auf allen Seiten um den Hof herum und bilden im weitesten Sinn eine Promenade für die Bewohner. Annick Brauman weist auf eine problematische, nämlich die regulative Funktion hin, die der Hof nach Godins Vorstellung auch erfüllen soll – als Überwachungsinstrument ermöglicht er den Bewohnern ständig die gegenseitige Kontrolle, so daß jeder zum Hüter seines Nachbarn werden kann.(6) Der Zugang zu den insgesamt 465 Wohnungen erfolgt von der Hofseite aus – sie orientieren sich mit einem Zimmer zur inneren, die übrigen Räume befinden sich an der äußeren, zu Park oder Platz gerichteten Fassade. Bei Bedarf können zwei kleinere Wohnungen jeweils zu einer größeren zusammengelegt werden, indem die Trennwände zwischen ihnen entfernt werden. Generell erschließt ein gemeinsames Vestibül zwei Wohnungen. Das kleine, zum Hof geöffnete Kabinett, das vom Vestibül aus betreten wird, ist unter anderem als Schlafraum konzipiert; eine in Anbetracht des Geräuschpegels im Innenhof durch spielende Kinder problematische Nutzung. Im Raum, der sich zur Außenseite öffnet, befindet sich ein Kamin, der die zentral gesteuerte Ventilation oder Heizung der Wohnung besorgt. Lüftungsöffnungen im Boden der Höfe sorgen hier durch das Nachströmen kalter Luft aus dem Kellergeschoß für die Lüftung und Kühlung des überdachten Hofraums. Im Sommer kann diese Vorrichtung durch einen manuell zu bedienenden Wasserkreislauf unterstützt werden. Die Vertikalerschließung der viergeschossigen Bauten erfolgt über Treppenanlagen in den Gebäudeecken, von denen die Laubengänge der einzelnen Geschosse erreicht werden. Treppen und Höfe wurden ursprünglich nachts von Gaslampen beleuchtet, deren Betrieb das Gaswerk des Familistère sicherstellte. Müllschächte, sanitäre Einrichtungen und Trinkwasserbrunnen befinden sich ebenfalls in den Ecken der Gebäude.(7) Die Versorgung der Bewohner mit Trinkwasser, einem Heizungs- und Ventilationssystem Architektursprache Rainer Schützeichel (6) vgl. Brauman, Architecture of Emancipation and Annick: Programmed Freedoms, S. 49 f; in: Ed. Archives d’Architecture Moderne, a.a. O., S. 45-54. (7) vgl. Oyon, A.: Le Familistère de Guise, Paris 1865, S. 21: „(Die Treppen) sind nachts ebenso wie der Hof durch Gaslampen beleuchtet. Auf jedem Treppenabsatz sind Brunnen, deren vor- treffliches Wasser mit einer kleinen Dampfmaschine ... aus der Versickerung der Anschwemmungsgebiete gesogen wird. Das Wasser kommt in den Reservoirs im Dachboden an, von wo es durch Leitungen in alle Brunnen verteilt wird.“ (Übers. d. Verf.) und Sanitäranlagen erreicht einen Standard, der im Wohnungsbau der Zeit kaum realisiert wird. Die einzelnen Wohngebäude sind untereinander auf der Erdgeschoßebene durch überdachte Passagen übereck verbunden, so dass der gesamte Komplex trockenen Fußes durchquert werden kann. Dieses Motiv läßt sich als Interpretation der Verkehrsräume Charles Fouriers verstehen, der temperierte Galerien als Orte der Kommunikation und Begegnung vorsah – die Zusammenfassung der Hofbauten des Familistères überwindet eine Abgrenzung der auf die eigene Mitte bezogenen Gebäude. In einem rückwärtigen Annex des Hauptbaus sind Krippe und Kindergarten untergebracht, den Wohngebäuden gegenüber befinden sich die gemeinschaftlichen Einrichtungen: vis-à-vis des Mittelbaus das Schul- und Theatergebäude, zu seinen beiden Seiten Wirtschaftsgebäude mit Restaurant, Casino, Café und Werkstätten. Am Ostufer der Oise wurden das Gaswerk sowie ein Waschhaus mit Bädern und Schwimmhalle errichtet; weiter östlich, in größerer Entfernung zum Wohnkomplex, schließt das Gelände der Ofenfabrik an. Paternalistischer Sozialismus Der Fabrikant Godin steht der sozialistischen Lehre ambivalent gegenüber: Zum einen ist er ein Verfechter der gemäßigten Theorien des Charles Fourier und nimmt aktiv teil am politischen Geschehen des 19. Jahrhunderts – 1871 wird er zugleich Abgeordneter in der französischen Kammer und Bürgermeister von Guise.(8) Im selben Jahr werden in Paris seine theoretischen Betrachtungen, die Solutions Sociales, publiziert. Zum anderen aber sieht er sich in der Position und den Zwängen des Unternehmers, der einer kommunistischen Idee der „Gleichheit“ mit kapitalistischem Realismus begegnet: „Die wirkliche Gleichheit besteht nicht darin, einem jeden einen gleichen Teil zu geben, sondern darin, einem jeden einen Teil zu geben, der seinen Bedürfnissen entspricht.“(9) Godin handelt bei der Etablierung des Familistère in Grundzügen nach den Prinzipien des Paternalismus. Der Fourier-Anhänger begründet Architektursprache Rainer Schützeichel (8) vgl. Balmer, Leo: Das Familistère in Guise. Uebersicht, S. 59 f; in: Kunstgewerbemuseum Zürich: Produktionskommunen. 6 Versuche aus 3 Jahrhunderten, Zürich 1974, S. 58-62. (9) zit. nach: Bollerey, Franziska, a.a.O., S. 153. die hierarchische Steuerung damit, das Wohl der Arbeiter vom theoretisch-analytischen Standpunkt, aber auch aus eigener durchlebter Erfahrung beurteilen zu können. Daher kann er die Probleme und deren Lösung gezielt in Angriff nehmen – politisch gebildet und finanziell gesichert. Anfänglich strebt er zwar die Vereinigung von „Kapital, Arbeit und Talent“ und den hierarchischen „Aufbau von demokratisch gewählten Selbstverwaltungskörpern“ an, die parallel zu seiner Geschäftsführung die Interessen der Arbeiter und Bewohner vertreten, letzteres scheitert aber an der nur geringen politischen Motivation der betroffenen Gruppe. Die 1880 eingesetzte „Form der Assoziation büßt nochmals an demokratischem Gehalt ein und beruht schließlich auf einer autokratischen Betriebsorganisation mit der zentralen Stellung des Administrateur-Gérant“,(10) dem Verwaltungsleiter des Unternehmens. Hierin ist wohl auch die von den Kritikern der Frühsozialisten bezeichnete Kluft zwischen Idealkonstruktion und tatsächlicher Beschaffenheit der Godinschen Gesellschaft zu sehen. Equivalents de la Richesse Die soziale und finanzielle Absicherung der Arbeiter erfährt gerade im späteren Verlauf des Modellversuchs eine äußerst fortschrittliche Prägung. Die Theorie der Equivalents de la Richesse – Absicherung der Arbeiter durch das Bereitstellen von Wohnraum, Erziehung und Sozialleistungen – soll ihnen den „ihren Bedürfnissen entsprechenden Teil“ zusichern, als Entsprechung finanziellen Reichtums. Die Wohnungen werden zu geringen Mietkosten zur Verfügung gestellt, mitsamt dem gehobenen Standard der Ausstattung. „Die besten und größten Wohnungen im zweiten Stock kosten ungefähr 130 Fr. jährlich, während in Paris für viel geringere Wohnungen im dritten Stock 500 bis 600 Fr. bezahlt werden.“(11) Die Waren des täglichen Bedarfs erhalten die Bewohner in Läden, die im Erdgeschoß der Wohngebäude eingerichtet sind, „in bester Beschaffenheit und zu einem den Kostenpreis nur um einen geringen Zuschlag übersteigenden Preis in freiester Auswahl“.(12) Architektursprache Rainer Schützeichel (10) Kunstgewerbemuseum Zürich, a.a.O., S. 61. (11) Huber, V. A.: Sociale Fragen. IV. Die latente Association, Nordhausen 1866, S. 21. (12) ebd., S. 22. Die Bewohner selbst tragen mit einer solidarischen Gemeinschaftskasse zur gegenseitigen sozialen Absicherung bei: Ihre regelmäßige Beitragszahlung stellt die Finanzierung von Pensions- und Unterstützungskassen, Kranken- und Medikamentenkassen sowie einer Mutterschaftsunterstützung sicher. Auf längere Sicht ist dieses enklavische Prinzip der „Hausgenossenschaft“ nur bei Erhöhung oder gleichmäßig hohem Stand der Mitgliederzahl aufrechtzuerhalten – die beschränkte Größe liegt allerdings schon im Entwurf der Gemeinschaft begründet und führt zu einer schnellen Umkehr der Altersstruktur oder stößt an die Grenzen des Wachstums. Im Fall der Rentenzahlung mußte die Assoziation ihre Mitglieder beispielsweise ab 1954 über die staatliche Rentenkasse versichern, um deren Versorgung zu garantieren. Zusätzlich zu ihren Löhnen steht den Arbeitern eine finanzielle Absicherung durch diverse Stufen der Gewinnbeteiligung offen, die von Betriebszugehörigkeit und Kapitalbeteiligung abhängen. Eine Unterscheidung von Associés, Sociétaires, Participants, Interéssés und Auxiliaires führt jedoch schließlich zu nachteiligen Auswirkungen auf das Kollektivgefühl, denn die Einordnung in eine der Gruppen etabliert ein neues Klassensystem im Familistère, das von Mißgunst und Neid geprägt wird.(13) L’éducation intégrale Godins Konzeption des mehrgliedrigen Schulsystems spiegelt die Lehren Fouriers wider, der unter einer éducation intégrale die umfassende Ausbildung aller menschlichen Fähigkeiten versteht. Das pädagogische Gerüst ist auf dem „Princip der größtmöglichen Freiheit, und zwar ... ohne körperliche Züchtigung oder überhaupt ostensible Mittel der Disciplin“(14) gegründet. Godin betont die „Notwendigkeit, die von individuellen Wünschen und Ideen geprägte Erziehungstätigkeit der Eltern zugunsten einer gemeinschaftlichen, sozialen Erziehung zu beschränken.“(15) Das eingeführte System reicht von der Betreuung der Kleinkinder bis hin zur Weiterbildung der Erwachsenen: In Krippe und Architektursprache Rainer Schützeichel (13) vgl. Rabaux, René: Die Entwicklung des Familistère seit dem 1. Weltkrieg, S. 66; in: Kunstgewerbemuseum Zürich, a.a.O., S. 6375: „Die Gewinnspannen waren ... hoch, und das Gefälle zwischen den Gewinnanteilen der Participants und denen der Associés ... machte sich mehr und mehr bemerkbar. Dies führte zwangsläufig dazu, daß die Participants die Associés und diese wiederum die Mitglieder des Conseil de Gérance beneideten, d.h. zumindest diejenigen, ‚Befähigung’ nicht deren absolut überzeugte.“ (14) Huber, V. A., a.a.O., S. 23 f. (15) Erni, Stefan: Die Erziehung im Familistère – Godins Erziehungsprogramm, S. 81; in: Kunstgewerbemuseum Zürich, a.a.O., S. 81-89. Kindergarten werden die Kleinsten von ausgebildetem Personal betreut, das sich zum Teil auch aus Bewohnern des Familistère zusammensetzt. Den erwerbstätigen Müttern ist es jederzeit erlaubt, sich vom Arbeitsplatz zu entfernen, um ihre Kinder zu stillen. Die Erziehung ab dem dritten Lebensjahr zielt insbesondere darauf ab, „zu unterhalten und unterrichten, ohne dabei Zwang auszuüben ... Das Erziehungsziel soll nicht mit Zwang erreicht ..., sondern die Kinder sollen für die pädagogische Absicht gewonnen werden“.(16) Später erfahren sie in der Schule den demokratisch gestalteten Unterricht, der ihre Selbständigkeit und ihr politisches Bewusstsein fördern soll. Nach der obligatorischen Schulausbildung – diese endet mit dem 14. Lebensjahr – besteht für begabte Schüler die Möglichkeit eines von der Assoziation finanzierten Studiums auf höheren Schulen. Entwurf einer Gesellschaft Das pädagogische Konzept Godins ermöglicht auf der einen Seite eine egalitäre Ausbildung. Auf der anderen Seite bedingt die Annahme einer harmonischen Gesellschaftsentwicklung(17) die Akzeptanz des von Godin vorgezeichneten Wegs. Die Arbeiter werden mit sozialistischen Lehren vertraut gemacht und zu politischer Beteiligung motiviert, die im Aufstieg zum Associé gipfeln kann. „Aus der Sicht eines umfassenden Emanzipationsstrebens der gesamten Arbeiterschicht kann ein solches aufstiegsorientiertes Reformmodell als fragwürdig erscheinen, da es mithilft, die Arbeiter von ihrer eigenen Klasse zu entfremden“, kritisierte hier die marxistische Kritik strenger Observanz.(18) Durch die kompensatorische Bildung, vor allem aber durch die liberale Erziehung der Kinder erhoffte sich Godin die Bildung einer neuen Generation, in der die Ideen des Familistère tief verwurzelt sein sollten.(19) Der allgemein zugängliche Schulbesuch führt insgesamt zu einer Hebung des Bildungsniveaus, die Erziehungsmethoden betonen die Freiheit des Individuums innerhalb der Regeln der Gemeinschaft und sollen zur Festigung der Familistère-Idee beitragen. Architektursprache Rainer Schützeichel (16) ebd., S. 83. (17) Huber, V. A., a.a.O., S. 20: „Die in jeder Beziehung wohlthuende, erfreu- heitere, schöne liche, ja Lebenshaltung in solcher Gemeinschaft werde, hofft man, auch die widerstrebenden, andersartigen Elemente der Einzelnen allmählig und ohne Zwang sich einverleiben“. (18) Erni, Stefan, a.a.O., S. 86. (19) vgl. Oyon, A., a.a.O., S. 19: „Die dieselben Kinder haben Voraussetzungen, sie haben dieselben Spiele gelernt und dieselben lehrreichen und moralischen Lektionen erhalten.“ (Übers. d. Verf.) Transfer eines Modelltypus Daß ihr Erfolg jedoch entscheidend von der idealen, weitläufigen Situation abhängt, die Godin in Guise vorfindet, zeigt sich am Versuch eines weiteren Familistères in Laeken-lez-Bruxelles. Dort entstehen auf dem Gelände einer Dependance ab 1887 insgesamt 72 Wohnungen mit Primarschule und Wäscherei. Die gedrängte städtische Lage inmitten von Fabrikanlagen, zu einer Seite begrenzt vom Quai des Usines, führt dort mehr zu sozialem Wohnungsbau denn zur Fortsetzung des revolutionären Projekts.(20) In Guise selbst begann man 1883 an der Rue de Cambrai mit dem Bau eines weiteren FamilistèreGebäudes außerhalb des ursprünglichen Geländes in der Oise-Schleife, der 1885 abgeschlossen wurde. Bei dieser Variante fehlt mit der Glaseindeckung des Hofes ein wesentliches Merkmal der architektonisch formulierten sozialen Bindung: Der offene Hof kann die vier Seiten des Blocks nicht in der gleichen Weise verbinden, wie es in den drei früheren Bauten der Fall ist. Obwohl die Ausrichtung der Wohnungen äquivalent und die Erschließung ebenfalls über Laubengänge organisiert ist, unterstützt der Neubau mehr eine Individualisierung der Bewohner als eine genossenschaftliche Verbindung zum Kollektiv. Das abseits errichtete Gebäude steht stellvertretend für die Entwicklung des Modellversuchs in späterer Zeit: Die stärker werdende äußere Einflußnahme führt zu Interessenkonflikten auch innerhalb der Assoziation und schließlich zu ihrer Auflösung. Fragment der Vision Die Zeit hat ihre Spuren an den Bauten hinterlassen. Die auf Initiative des Département Aisne und der Stadt Guise vor einigen Jahren begonnenen Sanierungsarbeiten greifen langsam, und der Aufbau eines Informationszentrums steht noch am Anfang. Viele Wohnungen des Familistère stehen leer, wenngleich das Wohnprojekt mit aller Macht als solches erhalten bleiben soll. Neben der Stadtbibliothek, die ihren Platz im noch genutzten Schulgebäude gefunden hat, soll ein Museum entstehen, das – derzeit im Rohbau Architektursprache Rainer Schützeichel (20) vgl. Ed. Archives d’Architecture Moderne, a.a.O., S. 141: „Die Zweigniederlassung von Brüssel stellt aus mehreren Gründen die benachteiligte Version von Guise dar: ökonomisch aufgrund der betrachtet Schwierigkeit des Imports von Gütern und Fachkräften aus Guise, vom sozialen Blickpunkt gese- hen aufgrund der Schwierigkeit der Reproduktion eines Experiments, das stark von der Präsenz Godins und einem idealen Strandort abhing.“ (Übers. d. Verf.) – eine wenig rücksichtsvolle Interpretation des Ortes befürchten läßt. Dennoch: Guise hat mit dem Erbe des Familistère ein Equivalent de la Richesse und wird sich allmählich dessen bewußt. Vielleicht tragen die Lehren der Vergangenheit Früchte und der Geist jener besseren Tage kehrt in dieses bauliche Zeugnis der Utopie zurück ... Dieser Text ist erstmals erschienen in: Bund Deutscher Architekten (Hrsg.), Der Architekt 9-10/05, Wohnvisi- onen, Berlin 2005, S. 36-41. Architektursprache Rainer Schützeichel 10