Gebaute Utopie Die Gesellschaftsvision des Familistère von Guise

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Gebaute Utopie
Die Gesellschaftsvision des Familistère von Guise
Durch die grünen Hügel der Picardie führt der
Weg über das Land in Richtung Guise. Fernab der
großen Städte begleiten Straßendörfer und einzelne Gehöfte die Fahrt. Geruhsam geht es zu
in dieser Gegend, die schon bessere Zeiten erlebt hat – die Häuser vermitteln den einstigen
Wunsch nach Repräsentation, doch zerfallende
Fassaden legen Zeugnis ab von der Endlichkeit
repräsentativen Strebens.
In Guise führt die Straße auf eine kleine
Brücke zu, die sich über das Flüßchen Oise legt.
In der Flußbiegung weitet sich ein Platz auf,
der zu zwei Seiten von Bauten dieser besseren
Tage gerahmt wird: Es sind die Tage, in denen
der Ofenfabrikant Godin mit dem Familistère
einen Modellversuch unternimmt, um die Wohnverhältnisse seiner Arbeiter zu revolutionieren. Die Hitze des Spätsommers treibt hinein in
den Schatten, in den kühlen Hof seines Wohnpalastes.
Jean-Baptiste-André
Godin,
Familistère,
Ideal-
Guise,
ansicht um 1871
Fouriers Geistes Kind
Die Konzeption des Familistère geht auf einen
utopischen Entwurf zurück, den Charles Fourier
in den 1820er Jahren entwickelte. Fouriers Plan
zu einer Neuorganisation der Gesellschaft geht
von einer umgestalteten Stadtplanung aus, da
sich in seinem Verständnis Gesellschaft und
Architektur gegenseitig bedingen. Er entwirft
ein Bild der völligen Auflösung der Städte, die
durch schloßartige Baugruppen, die sogenannten
Phalanstères, ersetzt werden. In ihnen werden
kleine funktionale Gruppen, die Phalanges, zusammengefaßt: Diese Kleingruppen sollten eine
Autarkie der landwirtschaftlich geprägten Anlagen gewährleisten und eine positive gesellschaftliche Entwicklung fördern. Die Errichtung
autarker Wohneinheiten mit Bezug zur umliegenden Landschaft – bereits bei Thomas Morus’
„Utopia“ angelegt – ist ein elementarer Bestandteil von Fouriers Theorie: „Das Gebäude,
das eine Phalange bewohnt, hat keinerlei Ähnlichkeit mit unseren städtischen oder dörflichen
Bauten (...). Die Wohnungen, Pflanzungen und
Ställe einer Gesellschaft müssen sich auf wunArchitektursprache Rainer Schützeichel
derbare Weise von unseren Dörfern und Vorstädten unterscheiden, in denen Familien wohnen,
die nichts verbindet und die darum im Gegensatz zueinander handeln. An Stelle eines Chaos
von kleinen Häusern, die einander an Schmutz
und Häßlichkeit übertreffen, baut eine Phalange
sich ein großes Gebäude, das so regelmäßig ist,
wie das Grundstück es erlaubt.“(1)
Der Entwurf dieses „Wohnpalastes“ sieht verschiedene, durch überdachte und klimatisierte
Galeriestraßen – die rues intérieures – verbundene Gebäude vor. Diese funktional heterogenen
Bauten gruppieren sich um offene Höfe, zu denen
sich die Galerien orientieren.
Die Kritik an der sozialisierenden Einheit
der Familie führt in Fouriers Gesellschaftsvision zu deren teilweisen Auflösung in der Phalange: Ein Phalanstère soll auf eine Phalange
mit rund 1600 Personen beschränkt sein. Die
große Gruppe der Gemeinschaft wird gegenüber
der kleinen Gruppe der Familie durch separate
Wohnungen für die Kinder und die Ausrichtung des
Zusammenlebens auf das übergeordnete Kollektiv
betont. Das Individuum erlangt durch eine Aufweitung der sozialen Beziehungen seine Emanzipation und die ihm gebührende Erfüllung des
persönlichen Glücks im Einklang mit der Gemeinschaft. Fouriers ideale Umbildung der Gesellschaft durch bauliche Interventionen erfährt
– wie auch die der Utopien anderer Frühsozialisten – Kritik vor allem von Seiten Karl Marx’
und Friedrich Engels’, die als Voraussetzung
des gesellschaftlichen Wandels den umgekehrten
Weg propagieren. Denn „nicht die Lösung der
Wohnungsfrage löst zugleich die soziale Frage, sondern erst durch die Lösung der sozialen
Frage ... wird zugleich die Lösung der Wohnungsfrage möglich gemacht.“(2)
Die familiäre Phalange
Im Familistère von Guise haben die Lehren Fouriers ab 1859 eine bauliche Manifestation gefunden. Der Erbauer, Jean-Baptiste-André Godin,
überführt Fouriers Gedanken in ein Bauwerk, das
positiven Einfluß auf die sozialen Mißstände
haben soll. Entgegen der Meinung der Kritiker vertritt er die These, „daß der soziale
Architektursprache Rainer Schützeichel
(1) zit. nach: Benevolo, Leonardo: Die sozialen Ursprünge des Städtebaus, Gütersloh
1971, S. 68.
(2)
zit.
nach:
Schumpp,
Mechthild: Stadtbau-Utopien
und Gesellschaft, Gütersloh
1972, Anm. S. 73.
Fortschritt der Massen der fortschrittlichen
Anordnung sozialer Architektur untergeordnet
ist.“(3)
Allerdings bedürfen die theoretischen Konzeptionen des Zusammenlebens zu ihrer praktischen
Durchführbarkeit grundlegender Abwandlungen:
Der Industrielle Godin ersetzt die Konstituente
der Landwirtschaft durch industrielle Produktion – dadurch reagiert er auf die dem kapitalistischen Prinzip immanenten Bedingungen.
Der Kollektivgedanke der Phalange erfährt eine
pragmatische Reduktion: Jeder Familie wird eine
eigene Wohnung zugestanden. Die Teilnahme am
Gemeinschaftsleben ist durch entsprechende Einrichtungen möglich, ritualisierte Feierlichkeiten führen den Bewohnern die Zugehörigkeit
zur übergeordneten Gruppe vor Augen, und ein
differenziertes Erziehungssystem unterstützt
die frühe Identifikation mit dem Familistère.
Architektonische Konzeption
Godin hat die Sprache Fouriers im wörtlichen
und auch im architektonischen Sinn übernommen
und einen Palast für die arbeitende Klasse gebaut,(4) der seinen baulichen Ausdruck durch
eine Anlage von Hofbauten im weitläufigen Park
findet – der Palast als Typus soll auch der
arbeitenden Klasse offenstehen. Die Errichtung
freistehender Einfamilienhäuser lehnt er ab,
jedoch zeigt sich vor dem Hintergrund der Wohnungsnot in den städtischen Ballungsräumen die
Notwendigkeit einer Lösung der Wohnungsfrage
auf dem Land oder in Randgebieten kleinerer
Siedlungen. So wie Fourier stellt auch Godin
„den vielen Einzelhaushalten die große Wohneinheit ... und der Stadt die kleine Lebenseinheit“(5) entgegen.
Der Komplex der drei Wohngebäude ist annähernd axialsymmetrisch aufgebaut – sie gruppieren sich um einen Platz vor dem von zwei
Seitengebäuden gerahmten Mittelbau. Mit einer
Gesamtlänge von 180 Metern stellt das Familistère eine stark verkleinerte Ausführung des
Phalanstère dar, dessen Front 1200 Meter messen
sollte.
Im Inneren werden die rues intérieures, die
Fourier vorschwebten, modifiziert, indem die
Architektursprache Rainer Schützeichel
(3)
Bollerey,
Franziska:
Architekturkonzeptionen der
utopischen Sozialisten, Berlin 1991, S. 158.
(4) vgl. Ed. Archives d’Architecture Moderne: Le Familistère de Guise ou les
Equivalents de la Richesse,
Brüssel 1977, S. 146: „Da
wir aus den Hütten oder den
armseligen Behausungen jeder
einzelnen
Arbeiterfamilie
keine Paläste machen konnten, wollten wir die Wohnung
des Arbeiters in einem Palast
errichten:
das
Fami-
listère ist nichts anderes
als der Sozialpalast der Zukunft.“ (Übers. d. Verf.)
(5)
Posener,
Julius:
Uto-
pische Gemeinschaften: Fourier, Godin, Buckingham, Howard, S. 16; in: Arch+ 63/64,
Aachen 1982, S. 14-21.
Höfe der drei Wohnbauten überdacht und so zum
sozialen Mittelpunkt transformiert werden. Die
Laubengänge, von denen aus die Wohnungen der
drei oberen Etagen erreicht werden, laufen auf
allen Seiten um den Hof herum und bilden im
weitesten Sinn eine Promenade für die Bewohner.
Annick Brauman weist auf eine problematische,
nämlich die regulative Funktion hin, die der
Hof nach Godins Vorstellung auch erfüllen soll
– als Überwachungsinstrument ermöglicht er den
Bewohnern ständig die gegenseitige Kontrolle,
so daß jeder zum Hüter seines Nachbarn werden
kann.(6)
Der Zugang zu den insgesamt 465 Wohnungen
erfolgt von der Hofseite aus – sie orientieren sich mit einem Zimmer zur inneren, die
übrigen Räume befinden sich an der äußeren,
zu Park oder Platz gerichteten Fassade. Bei
Bedarf können zwei kleinere Wohnungen jeweils
zu einer größeren zusammengelegt werden, indem
die Trennwände zwischen ihnen entfernt werden.
Generell erschließt ein gemeinsames Vestibül
zwei Wohnungen. Das kleine, zum Hof geöffnete
Kabinett, das vom Vestibül aus betreten wird,
ist unter anderem als Schlafraum konzipiert;
eine in Anbetracht des Geräuschpegels im Innenhof durch spielende Kinder problematische
Nutzung. Im Raum, der sich zur Außenseite öffnet, befindet sich ein Kamin, der die zentral
gesteuerte Ventilation oder Heizung der Wohnung
besorgt.
Lüftungsöffnungen im Boden der Höfe sorgen
hier durch das Nachströmen kalter Luft aus dem
Kellergeschoß für die Lüftung und Kühlung des
überdachten Hofraums. Im Sommer kann diese Vorrichtung durch einen manuell zu bedienenden
Wasserkreislauf unterstützt werden.
Die Vertikalerschließung der viergeschossigen Bauten erfolgt über Treppenanlagen in
den Gebäudeecken, von denen die Laubengänge der
einzelnen Geschosse erreicht werden. Treppen
und Höfe wurden ursprünglich nachts von Gaslampen beleuchtet, deren Betrieb das Gaswerk
des Familistère sicherstellte. Müllschächte,
sanitäre Einrichtungen und Trinkwasserbrunnen
befinden sich ebenfalls in den Ecken der Gebäude.(7) Die Versorgung der Bewohner mit Trinkwasser, einem Heizungs- und Ventilationssystem
Architektursprache Rainer Schützeichel
(6)
vgl.
Brauman,
Architecture
of
Emancipation
and
Annick:
Programmed
Freedoms,
S. 49 f; in: Ed. Archives
d’Architecture Moderne, a.a.
O., S. 45-54.
(7) vgl. Oyon, A.: Le Familistère
de
Guise,
Paris
1865, S. 21: „(Die Treppen)
sind nachts ebenso wie der
Hof durch Gaslampen beleuchtet. Auf jedem Treppenabsatz
sind
Brunnen,
deren
vor-
treffliches Wasser mit einer
kleinen
Dampfmaschine
...
aus der Versickerung der Anschwemmungsgebiete
gesogen
wird. Das Wasser kommt in den
Reservoirs im Dachboden an,
von wo es durch Leitungen in
alle Brunnen verteilt wird.“
(Übers. d. Verf.)
und Sanitäranlagen erreicht einen Standard, der
im Wohnungsbau der Zeit kaum realisiert wird.
Die einzelnen Wohngebäude sind untereinander
auf der Erdgeschoßebene durch überdachte Passagen übereck verbunden, so dass der gesamte
Komplex trockenen Fußes durchquert werden kann.
Dieses Motiv läßt sich als Interpretation der
Verkehrsräume Charles Fouriers verstehen, der
temperierte Galerien als Orte der Kommunikation
und Begegnung vorsah – die Zusammenfassung der
Hofbauten des Familistères überwindet eine Abgrenzung der auf die eigene Mitte bezogenen
Gebäude.
In einem rückwärtigen Annex des Hauptbaus
sind Krippe und Kindergarten untergebracht,
den Wohngebäuden gegenüber befinden sich die
gemeinschaftlichen
Einrichtungen:
vis-à-vis
des Mittelbaus das Schul- und Theatergebäude,
zu seinen beiden Seiten Wirtschaftsgebäude
mit Restaurant, Casino, Café und Werkstätten.
Am Ostufer der Oise wurden das Gaswerk sowie
ein Waschhaus mit Bädern und Schwimmhalle errichtet; weiter östlich, in größerer Entfernung zum Wohnkomplex, schließt das Gelände der
Ofenfabrik an.
Paternalistischer Sozialismus
Der Fabrikant Godin steht der sozialistischen
Lehre ambivalent gegenüber: Zum einen ist er
ein Verfechter der gemäßigten Theorien des
Charles Fourier und nimmt aktiv teil am politischen Geschehen des 19. Jahrhunderts – 1871
wird er zugleich Abgeordneter in der französischen Kammer und Bürgermeister von Guise.(8)
Im selben Jahr werden in Paris seine theoretischen Betrachtungen, die Solutions Sociales,
publiziert. Zum anderen aber sieht er sich in
der Position und den Zwängen des Unternehmers,
der einer kommunistischen Idee der „Gleichheit“
mit kapitalistischem Realismus begegnet: „Die
wirkliche Gleichheit besteht nicht darin, einem
jeden einen gleichen Teil zu geben, sondern darin, einem jeden einen Teil zu geben, der seinen Bedürfnissen entspricht.“(9)
Godin handelt bei der Etablierung des Familistère in Grundzügen nach den Prinzipien des
Paternalismus. Der Fourier-Anhänger begründet
Architektursprache Rainer Schützeichel
(8)
vgl.
Balmer,
Leo:
Das
Familistère in Guise. Uebersicht, S. 59 f; in: Kunstgewerbemuseum Zürich: Produktionskommunen. 6 Versuche aus
3 Jahrhunderten, Zürich 1974,
S. 58-62.
(9)
zit.
nach:
Bollerey,
Franziska, a.a.O., S. 153.
die hierarchische Steuerung damit, das Wohl der
Arbeiter vom theoretisch-analytischen Standpunkt, aber auch aus eigener durchlebter Erfahrung beurteilen zu können. Daher kann er
die Probleme und deren Lösung gezielt in Angriff nehmen – politisch gebildet und finanziell gesichert. Anfänglich strebt er zwar die
Vereinigung von „Kapital, Arbeit und Talent“
und den hierarchischen „Aufbau von demokratisch gewählten Selbstverwaltungskörpern“ an,
die parallel zu seiner Geschäftsführung die Interessen der Arbeiter und Bewohner vertreten,
letzteres scheitert aber an der nur geringen
politischen Motivation der betroffenen Gruppe.
Die 1880 eingesetzte „Form der Assoziation büßt
nochmals an demokratischem Gehalt ein und beruht schließlich auf einer autokratischen Betriebsorganisation mit der zentralen Stellung
des Administrateur-Gérant“,(10) dem Verwaltungsleiter des Unternehmens. Hierin ist wohl
auch die von den Kritikern der Frühsozialisten
bezeichnete Kluft zwischen Idealkonstruktion
und tatsächlicher Beschaffenheit der Godinschen
Gesellschaft zu sehen.
Equivalents de la Richesse
Die soziale und finanzielle Absicherung der Arbeiter erfährt gerade im späteren Verlauf des
Modellversuchs eine äußerst fortschrittliche
Prägung. Die Theorie der Equivalents de la
Richesse – Absicherung der Arbeiter durch das
Bereitstellen von Wohnraum, Erziehung und Sozialleistungen – soll ihnen den „ihren Bedürfnissen entsprechenden Teil“ zusichern, als Entsprechung finanziellen Reichtums. Die Wohnungen
werden zu geringen Mietkosten zur Verfügung gestellt, mitsamt dem gehobenen Standard der Ausstattung. „Die besten und größten Wohnungen im
zweiten Stock kosten ungefähr 130 Fr. jährlich,
während in Paris für viel geringere Wohnungen
im dritten Stock 500 bis 600 Fr. bezahlt werden.“(11) Die Waren des täglichen Bedarfs erhalten die Bewohner in Läden, die im Erdgeschoß
der Wohngebäude eingerichtet sind, „in bester
Beschaffenheit und zu einem den Kostenpreis nur
um einen geringen Zuschlag übersteigenden Preis
in freiester Auswahl“.(12)
Architektursprache Rainer Schützeichel
(10) Kunstgewerbemuseum Zürich, a.a.O., S. 61.
(11) Huber, V. A.: Sociale
Fragen. IV. Die latente Association, Nordhausen 1866,
S. 21.
(12) ebd., S. 22.
Die Bewohner selbst tragen mit einer solidarischen Gemeinschaftskasse zur gegenseitigen
sozialen Absicherung bei: Ihre regelmäßige Beitragszahlung stellt die Finanzierung von Pensions- und Unterstützungskassen, Kranken- und
Medikamentenkassen sowie einer Mutterschaftsunterstützung sicher. Auf längere Sicht ist
dieses enklavische Prinzip der „Hausgenossenschaft“ nur bei Erhöhung oder gleichmäßig hohem
Stand der Mitgliederzahl aufrechtzuerhalten –
die beschränkte Größe liegt allerdings schon im
Entwurf der Gemeinschaft begründet und führt zu
einer schnellen Umkehr der Altersstruktur oder
stößt an die Grenzen des Wachstums. Im Fall der
Rentenzahlung mußte die Assoziation ihre Mitglieder beispielsweise ab 1954 über die staatliche Rentenkasse versichern, um deren Versorgung zu garantieren.
Zusätzlich zu ihren Löhnen steht den Arbeitern
eine finanzielle Absicherung durch diverse Stufen
der Gewinnbeteiligung offen, die von Betriebszugehörigkeit und Kapitalbeteiligung abhängen.
Eine Unterscheidung von Associés, Sociétaires,
Participants, Interéssés und Auxiliaires führt
jedoch schließlich zu nachteiligen Auswirkungen
auf das Kollektivgefühl, denn die Einordnung in
eine der Gruppen etabliert ein neues Klassensystem im Familistère, das von Mißgunst und Neid
geprägt wird.(13)
L’éducation intégrale
Godins Konzeption des mehrgliedrigen Schulsystems spiegelt die Lehren Fouriers wider, der
unter einer éducation intégrale die umfassende
Ausbildung aller menschlichen Fähigkeiten versteht. Das pädagogische Gerüst ist auf dem
„Princip der größtmöglichen Freiheit, und zwar
... ohne körperliche Züchtigung oder überhaupt
ostensible Mittel der Disciplin“(14) gegründet.
Godin betont die „Notwendigkeit, die von
individuellen Wünschen und Ideen geprägte
Erziehungstätigkeit der Eltern zugunsten einer
gemeinschaftlichen, sozialen Erziehung zu beschränken.“(15) Das eingeführte System reicht
von der Betreuung der Kleinkinder bis hin zur
Weiterbildung der Erwachsenen: In Krippe und
Architektursprache Rainer Schützeichel
(13)
vgl.
Rabaux,
René:
Die Entwicklung des Familistère seit dem 1. Weltkrieg,
S. 66; in: Kunstgewerbemuseum Zürich, a.a.O., S. 6375: „Die Gewinnspannen waren
... hoch, und das Gefälle
zwischen den Gewinnanteilen
der Participants und denen
der Associés ... machte sich
mehr und mehr bemerkbar. Dies
führte zwangsläufig dazu, daß
die Participants die Associés und diese wiederum die
Mitglieder
des
Conseil
de
Gérance beneideten, d.h. zumindest
diejenigen,
‚Befähigung’
nicht
deren
absolut
überzeugte.“
(14) Huber, V. A., a.a.O.,
S. 23 f.
(15) Erni, Stefan: Die Erziehung im Familistère – Godins Erziehungsprogramm, S.
81;
in:
Kunstgewerbemuseum
Zürich, a.a.O., S. 81-89.
Kindergarten werden die Kleinsten von ausgebildetem Personal betreut, das sich zum Teil
auch aus Bewohnern des Familistère zusammensetzt. Den erwerbstätigen Müttern ist es jederzeit erlaubt, sich vom Arbeitsplatz zu entfernen, um ihre Kinder zu stillen. Die Erziehung
ab dem dritten Lebensjahr zielt insbesondere
darauf ab, „zu unterhalten und unterrichten,
ohne dabei Zwang auszuüben ... Das Erziehungsziel soll nicht mit Zwang erreicht ..., sondern die Kinder sollen für die pädagogische
Absicht gewonnen werden“.(16) Später erfahren
sie in der Schule den demokratisch gestalteten
Unterricht, der ihre Selbständigkeit und ihr
politisches Bewusstsein fördern soll. Nach der
obligatorischen Schulausbildung – diese endet
mit dem 14. Lebensjahr – besteht für begabte
Schüler die Möglichkeit eines von der Assoziation finanzierten Studiums auf höheren Schulen.
Entwurf einer Gesellschaft
Das pädagogische Konzept Godins ermöglicht auf
der einen Seite eine egalitäre Ausbildung. Auf
der anderen Seite bedingt die Annahme einer
harmonischen Gesellschaftsentwicklung(17) die
Akzeptanz des von Godin vorgezeichneten Wegs.
Die Arbeiter werden mit sozialistischen Lehren
vertraut gemacht und zu politischer Beteiligung
motiviert, die im Aufstieg zum Associé gipfeln
kann.
„Aus der Sicht eines umfassenden Emanzipationsstrebens der gesamten Arbeiterschicht kann
ein solches aufstiegsorientiertes Reformmodell
als fragwürdig erscheinen, da es mithilft, die
Arbeiter von ihrer eigenen Klasse zu entfremden“, kritisierte hier die marxistische Kritik
strenger Observanz.(18)
Durch die kompensatorische Bildung, vor allem
aber durch die liberale Erziehung der Kinder
erhoffte sich Godin die Bildung einer neuen Generation, in der die Ideen des Familistère tief
verwurzelt sein sollten.(19) Der allgemein zugängliche Schulbesuch führt insgesamt zu einer
Hebung des Bildungsniveaus, die Erziehungsmethoden betonen die Freiheit des Individuums innerhalb der Regeln der Gemeinschaft und sollen
zur Festigung der Familistère-Idee beitragen.
Architektursprache Rainer Schützeichel
(16) ebd., S. 83.
(17) Huber, V. A., a.a.O.,
S. 20: „Die in jeder Beziehung
wohlthuende,
erfreu-
heitere,
schöne
liche,
ja
Lebenshaltung in solcher Gemeinschaft werde, hofft man,
auch
die
widerstrebenden,
andersartigen
Elemente
der
Einzelnen allmählig und ohne
Zwang sich einverleiben“.
(18) Erni, Stefan, a.a.O.,
S. 86.
(19) vgl. Oyon, A., a.a.O.,
S.
19:
„Die
dieselben
Kinder
haben
Voraussetzungen,
sie haben dieselben Spiele
gelernt und dieselben lehrreichen und moralischen Lektionen erhalten.“ (Übers. d.
Verf.)
Transfer eines Modelltypus
Daß ihr Erfolg jedoch entscheidend von der idealen, weitläufigen Situation abhängt, die Godin
in Guise vorfindet, zeigt sich am Versuch eines
weiteren Familistères in Laeken-lez-Bruxelles.
Dort entstehen auf dem Gelände einer Dependance
ab 1887 insgesamt 72 Wohnungen mit Primarschule
und Wäscherei. Die gedrängte städtische Lage
inmitten von Fabrikanlagen, zu einer Seite begrenzt vom Quai des Usines, führt dort mehr zu
sozialem Wohnungsbau denn zur Fortsetzung des
revolutionären Projekts.(20)
In Guise selbst begann man 1883 an der Rue de
Cambrai mit dem Bau eines weiteren FamilistèreGebäudes außerhalb des ursprünglichen Geländes
in der Oise-Schleife, der 1885 abgeschlossen
wurde. Bei dieser Variante fehlt mit der Glaseindeckung des Hofes ein wesentliches Merkmal
der architektonisch formulierten sozialen Bindung: Der offene Hof kann die vier Seiten des
Blocks nicht in der gleichen Weise verbinden,
wie es in den drei früheren Bauten der Fall ist.
Obwohl die Ausrichtung der Wohnungen äquivalent
und die Erschließung ebenfalls über Laubengänge
organisiert ist, unterstützt der Neubau mehr
eine Individualisierung der Bewohner als eine
genossenschaftliche Verbindung zum Kollektiv.
Das abseits errichtete Gebäude steht stellvertretend für die Entwicklung des Modellversuchs
in späterer Zeit: Die stärker werdende äußere
Einflußnahme führt zu Interessenkonflikten auch
innerhalb der Assoziation und schließlich zu
ihrer Auflösung.
Fragment der Vision
Die Zeit hat ihre Spuren an den Bauten hinterlassen. Die auf Initiative des Département
Aisne und der Stadt Guise vor einigen Jahren
begonnenen Sanierungsarbeiten greifen langsam,
und der Aufbau eines Informationszentrums steht
noch am Anfang. Viele Wohnungen des Familistère
stehen leer, wenngleich das Wohnprojekt mit
aller Macht als solches erhalten bleiben soll.
Neben der Stadtbibliothek, die ihren Platz im
noch genutzten Schulgebäude gefunden hat, soll
ein Museum entstehen, das – derzeit im Rohbau
Architektursprache Rainer Schützeichel
(20) vgl. Ed. Archives d’Architecture Moderne, a.a.O.,
S. 141: „Die Zweigniederlassung von Brüssel stellt aus
mehreren Gründen die benachteiligte Version von Guise
dar:
ökonomisch
aufgrund
der
betrachtet
Schwierigkeit
des Imports von Gütern und
Fachkräften aus Guise, vom
sozialen
Blickpunkt
gese-
hen aufgrund der Schwierigkeit der Reproduktion eines
Experiments, das stark von
der Präsenz Godins und einem
idealen
Strandort
abhing.“
(Übers. d. Verf.)
– eine wenig rücksichtsvolle Interpretation des
Ortes befürchten läßt. Dennoch: Guise hat mit
dem Erbe des Familistère ein Equivalent de la
Richesse und wird sich allmählich dessen bewußt. Vielleicht tragen die Lehren der Vergangenheit Früchte und der Geist jener besseren
Tage kehrt in dieses bauliche Zeugnis der Utopie
zurück ...
Dieser Text ist erstmals erschienen in: Bund Deutscher
Architekten (Hrsg.), Der Architekt
9-10/05,
Wohnvisi-
onen, Berlin 2005, S. 36-41.
Architektursprache Rainer Schützeichel
10
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