Neue CDs: Vorgestellt von Norbert Meurs

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Freitag, 02.01.2015
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Norbert Meurs
„Klangliche Delikatesse“
Antonio Vivaldi
Concerti per flauto
Maurice Steger (Blockflöte)
I Barocchisti
Leitung: Diego Fasolis
HMC 902190
„Betörend verströmende, glockenklare Töne“
La Pazza
A madman’s apology
Flavio Ferri-Benedetti (Countertenor)
Il Profondo
Resonando RN-10001
„Ein wahrer Schatz“
Sviatoslav Richter – Complete Decca, Philips & DG Recordings
Decca 478 6778, 51 CDs
„Hochkarätige Interpretation“
Johannes Brahms
THE PIANO TRIOS
Oliver Schnyder Trio
RCA 88843095422
Signet Treffpunkt Klassik – Neue CDs
Zur ersten Sendung im Neuen Jahr begrüßt Sie Norbert Meurs. Guten Morgen! Vier
Neuerscheinungen habe ich Ihnen mit ins Studio gebracht: Konzerte für Blockflöte von
Antonio Vivaldi mit dem wahren Überflieger auf seinem Instrument: Maurice Steger, dann La
Pazza – die Apologie eines Verrückten mit dem Countertenor Flavio Ferri-Benedetti und dem
Ensemble Il Profondo –, da geht es um alle möglichen Verrücktheiten in der Musik des
frühen 17. Jahrhunderts. Ferner eine opulente Kassette mit den Aufnahmen, die der große
Svjatoslav Richter in fast 40 Jahren für die Universal bzw. die Vorgänger-Firmen Philips,
Deutsche Grammophon und Decca eingespielt hat; insgesamt 51 CDs, die schon einmal den
100. Geburtstag des russischen Pianisten im März dieses Jahres einläuten. Schließlich ein
Album des Oliver Schnyder Trios mit den Klaviertrios von Johannes Brahms.
Beginnen wir aber mit Flötentönen, wie man sie noch selten gehört hat:
Vivaldi: Concerto G-Dur RV 443, 3. Satz
2’00
Ein unglaublich rasantes Tempo! Da fragt man sich unwillkürlich, wie der Mann dazwischen
noch atmet? Maurice Steger heißt er. Und obwohl man ihn auf dem CD Cover dafür halten
könnte, ist der Schweizer Blockflötenvirtuose kein Youngster mehr, sondern Anfang 40. Und
er hat mit allem zusammen gespielt, was Rang und Namen hat, von der Musica Antiqua Köln
über das English Chamber Orchestra bis zur Akademie der Alten Musik Berlin. Zusammen
mit dem Ensemble I Barocchisti unter Leitung von Diego Fasolis hat sich Steger nun an
Vivaldis Flötenkonzerte gemacht, hier das in G-Dur RV 443, und offenbar sind sich die
Musiker darin einig, die schwindelerregende Virtuosität dieser Musik voll auszureizen. Was
aber am bewundernswertesten ist: wie es Steger noch bei diesem Tempo gelingt, all die
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Verzierungen, die Arpeggien, Tonleiterpassagen, Intervallsprünge , Triller usw. mit Ausdruck
zu erfüllen und den großen Bogen nie aus dem Blick zu verlieren. Dabei geben ihm Diego
Fasolis und das Ensemble I Barocchisti gehöriges Feuer.
Andererseits gibt es auch Sätze, in denen sie auszuloten scheinen, wie dehnbar das Tempo
für die Blockflöte ist. Etwa in dem Largo „Il Sonno“ – „Der Schlaf“ aus dem Concerto „La
notte“.
Vivaldi: Concerto G-Moll RV 439, 4. Und 5. Satz
3’45
Am Ende verlieren sich die Flötentöne im Dunkel der Nacht. Die beiden Schlusssätze aus
dem Concerto „La notte“ von Antonio Vivaldi. Maurice Steger und das hervorragende
Ensemble I Barocchisti unter Diego Fasolis suchen hier förmlich die Extreme, die bei Vivaldi
natürlich schon angelegt sind. Und noch etwas wird in diesen Beispielen deutlich: wie
ungemein farbig und effektvoll das Orchester agiert, dicht und gleichzeitig doch immer
transparent, was nicht zuletzt auch der hervorragenden Aufnahmetechnik zu verdanken ist.
Maurice Steger beschränkt sich auf seiner CD sinnvollerweise nicht allein auf die
eigentlichen Concerti für Blockflöte und Orchester, was auf die Dauer vielleicht doch etwas
eintönig würde. Nein, er bezieht auch einige Konzerte für mehrere Instrumente ein, in denen
der Flöte gleichberechtigt und ähnlich virtuos z. B. Oboe, Violine und Fagott gegenübertreten. So ein Kammerkonzert ist „La Pastorella“ mit zahlreichen pastoralen „della natura"Effekten, Anklängen zumal an Volksmusik. Diego Fasolis unterstreicht diesen Charakter
noch dadurch, indem er ein hurdy gurdy hinzuzieht, eine Drehleier, die er übrigens selbst
übernimmt. So filigran und ziseliert, wie die Musiker hier miteinander dialogisieren,
konzertieren – ist das an klanglicher Delikatesse kaum zu überbieten: „La pastorella“:
Vivaldi: Concerto D-Dur RV 95,
9’25
La Pastorella – das Concerto D-Dur RV 95 von Antonio Vivaldi. Eines der Flötenkonzerte
des Komponisten, die Maurice Steger zusammen mit dem Schweizer Ensemble I Barocchisti
unter Leitung von Diego Fasiolis für harmonia mundi aufgenommen hat. Einfach hinreißend!
Auch unser nächstes Ensemble stammt aus der Schweiz, und zwar aus Basel. Es erinnert
daran, dass hier eine der erfolgreichsten Talentschmieden der alten Musik zu Hause ist: die
Schola cantorum basiliensis, ohne die die Szene der historischen Aufführungspraxis wohl
kaum so quicklebendig wäre . Alle Mitglieder des Ensembles mit dem schönen Namen
Il Profondo haben hier studiert und sich 2008 zusammengetan. Im Kern sind das acht BassoContinuo Spieler, zu denen hier noch eine Harfe kommt. Als Hauptperson aber gesellt sich
zu ihnen der italienische Counter Flavio Ferri-Benedetti, mit dem man vor zwei Jahren
bereits eine erste CD eingespielt hat. Nun also: La Pazza: die Apologie eines Verrückten –
der gleichzeitig für Viele spricht, seien sie nun verrückt aus Wahn, Liebe oder Dummheit. Die
Musik des frühen 17. Jahrhunderts ist voll von ihnen. „S‘io son pazzo“ – „wenn ich verrückt
bin, was kümmerts euch?“ heißt es z. B. bei einem anonymen Komponisten:
Anonymus: S‘io son pazzo
3’15
Der Counter Flavio Ferri- Benedetti, der auch mal umstandslos in die Baritonlage wechselt,
wenn es der Text nahelegt. „S‘io son pazzo“ – „wenn ich verrückt bin, was kümmerts euch?“
So der Titel dieser Canzone eines anonymen Komponisten. Und hier zeigt sich bereits, worin
die besondere Gabe Ferri-Benedettis besteht: nämlich zu charakterisieren, einen Text in all
seinen Facetten in musikalische Gesten zu übersetzen. Wer den Counter einmal auf der
Bühne erlebt hat, z. B. in Basel oder Frankfurt, konnte sich von seinem umwerfenden
komödiantischen Talent überzeugen. Und ab und zu wünscht man sich, dass sich auch die
tadellosen Instrumentalisten von seinem Temperament etwas mehr hätten anstecken lassen.
Vielleicht könnte man Ferri-Benedetti als Charakter-Counter bezeichnen. Zwar verfügt er
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über betörend verströmende, glockenklare Töne, neigt mitunter aber zu einer gewissen
Schärfe, die er freilich meist geschickt in seine Interpretation einzubauen weiß.
Zusammen mit den Musikern von Il Profondo hat er zum Thema „Verrücktheiten“ gründlich
recherchiert, offenbar auch Handschriften konsultiert und dabei z. T. wenig Bekanntes
zutage gefördert. So Kompositionen von Barbara Strozzi, Benedetto Ferrari oder Francesca
Caccini. Die Gesangstücke sind, wie damals häufig, zweistimmig, also fast skizzenhaft
überliefert. Das bedeutet, dass sie für Il Profondo eigens eingerichtet wurden. Diese Aufgabe
hat der Cembalist und Spiritus Rector des Ensembles, Johannes Keller, mit großem
Stilgefühl gelöst. Eines der interessantesten Stücke des Programms ist zweifellos „La
Pazzia“ – wieder von einem anonymen Autor. Passend zum Thema der Verrücktheit besteht
es aus lauter Bruchstücken, es wirkt zerrissen – und zwar textlich wie musikalisch. Die
erzählende Person unterbricht sich dauernd selbst, wechselt abenteuerlich die Perspektiven
und Themen oder verfällt in unterschiedliche Dialekte. Johannes Keller hat versucht, diese
Brechungen auch instrumentatorisch zu unterstreichen, u. a. durch Einbeziehung von
Mandoline und Colascione, einer Laute mit besonders kleinem Korpus.
Anonymus: „La Pazzia“
12’40
„Ich kann nicht mehr spielen, die Saite der Hoffnung ist zu verstimmt“ heißt es im Text – ja,
und zum Schluss reißt sie dann ganz. Das waren Flavio Ferri- Benedetti und das Ensemble
Il Profondo mit „La Pazzia“ – die Verrücktheit – von einem anonymen Autor.
Herausgekommen ist ihre interessante CD beim Label Resonando.
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs, vorgestellt heute von Norbert Meurs.
Am 20. März (nach gregorianischem Kalender) würde er 100 Jahre alt: Svjatoslav
Teofilowitsch Richter, einer der großen Pianisten des 20. Jahrhunderts, manche meinen
sogar: der größte. Er selbst stand solchen Superlativen mehr als skeptisch gegenüber. Als er
sich auf einem Plakat einmal als bester Pianist der Welt angekündigt sah, wollte er seinen
Auftritt glatt absagen: „Ich kann dieser Legende niemals gerecht werden“, seufzte er,
„niemals, ich werde nicht mehr spielen. Das ist das Ende.“ Das war es glücklicherweise
nicht. Denn sonst wären zahlreiche der Aufnahmen, die zum Jubiläum wiederveröffentlicht
werden, nicht mehr entstanden. Immerhin gehört Richter wohl zu den bestdokumentierten
Pianisten seiner Zeit. So veröffentlicht die Universal zum 100. eine Kassette mit sage und
schreibe 51 CDs – Aufnahmen, die Richter zwischen 1956 und 92 für die Vorgängerfirmen:
Deutsche Grammophon, Philips und Decca gemacht hat. Ein wahrer Schatz! Zum großen
Teil handelt es sich dabei um Live-Mitschnitte. Im Gegensatz zu vielen Pianisten heute,
kümmerte sich der durchaus schwierige Richter wenig darum, ob sie ihn immer in allerbester
Form zeigten. Für ihn waren sie Momentaufnahmen, die ein Hier und Jetzt spiegelten und an
denen er häufig genug selbst harsche Kritik übte. Er bestand darauf, ein fehlbarer Mensch zu
sein – auch am Klavier.
Diese Bemerkung scheint mir notwendig, um der Erwartung zu begegnen, sämtliche 51 CDs
präsentierten ein Best of Richter. Für viele gilt das, aber daneben gibt es auch manch nicht
ganz so Geglücktes, weniger Inspiriertes. Die CDs bieten einen großen Querschnitt durch
ein gigantisches Lebenswerk, von Bach bis Schostakowitsch, und doch kann dieser
Querschnitt nicht einmal beanspruchen, repräsentativ zu sein. Dazu fehlt zu viel: die
Aufnahmen aus Russland, aus Amerika (vor allem die vom sensationellen New Yorker
Debut), überhaupt manch berühmte Aufnahme, die für andere Labels entstand, so von
Bachs „Wohltemperiertem Klavier“, Händels Klaviersuiten, Schuberts B-Dur-Sonate usw.
Trotzdem bleibt genug. Und man muss sich einfach ein wenig durch Richters riesiges
Repertoire durchhören, um auf das Außerordentliche zu stoßen. Fangen wir also an – mit
Joseph Haydn:
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Haydn: Klaviersonate Es-Dur HobXVI:52, 3. Satz
5‘15
An Lakonie und trockenem Witz kaum zu überbieten: Svjatoslav Richter mit dem Finale aus
der letzten Es-Dur-Sonate von Joseph Haydn, übrigens eine von neun Haydn-Sonaten, die
in der Jubiläums-Kassette enthalten sind. Der Konzert-Mitschnitt entstand im November
1966 in Ferrara. Richter rückt Haydn hier fast schon in die Nähe der französischen
Clavicenisten. Rameaus „La Poule“, dieses eigensinnig hackende Huhn, lässt bei den
Tonrepetitionen zu Beginn deutlich grüßen. Und dies ist für Richter der Auftakt zu einem
wahren Feuerwerk von virtuosen Figurationen, Läufen und Akkordbrechungen. Das ist aber
nicht das Entscheidende: Den eigentlichen Witz entwickelt er aus dem Spiel mit den Pausen,
denen er immer etwas Unvorhersehbares gibt. Er spielt mit den Erwartungen seines
Publikums, das Musizieren wird für ihn zum Dialog.
Das ist durchaus typisch, und es gilt auch für das Andante von Brahms‘ 1. Klaviersonate.
Das Thema dieses Variationssatzes ist ein altdeutsches Minnelied. Brahms unterlegt den
Text sogar den Noten: „Verstohlen geht der Mond auf, blau, blau, Blümelein“. Die erste
Hälfte wird – so die Anweisung – vom Vorsänger gesungen, die zweite von Allen, also vom
Chor. Wobei das Singen natürlich nur auf dem Klavier stattfindet. Wie Richter diese Situation
allein akustisch umsetzt, ist einfach phänomenal. Dabei macht er kaum mehr, als in den
Noten steht: gibt dem Vorsänger nur etwas rhetorische Freiheit und ihm und dem Chor: Luft
zum Atmen.
Brahms: Klaviersonate op. 1, 2. Satz
6‘00
Das Andante aus Brahms 1. Klaviersonate – ein so schlichter wie schwieriger Satz, in dem
sich scheinbare Naivität und Tiefe miteinander verbinden. Wie Svjatoslav Richter das spielt,
bzw. wie er das 1986 in Mantua gespielt hat, ist einfach einzigartig. Richter zielt immer ins
Zentrum der Musik. Wobei schon erstaunlich ist, dass er die beiden frühen, sonst meist
sträflich vernachlässigten Sonaten von Brahms überhaupt des Öfteren in seine Programme
aufnahm. Wie so vieles andere.
Richters Weg war einer mit vielen Hürden gewesen. In der Ukraine als Sohn eines
deutschen Pianisten geboren, konnte er sich lange nicht entscheiden, welche Richtung er
einschlagen solle. Als er mit 22 ans Moskauer Konservatorium ging, war er ziemlich spät
dran. Angeblich hat er bei dem berühmten Heinrich Neuhaus lediglich zwei Werke, darunter
die Liszt-Sonate, studiert, mit ihm ansonsten allgemein über Musik diskutiert. Dafür, dass die
immer im Zentrum für ihn stand, fand er später in seinen Konzerten ein eindrückliches Bild:
Der Saal war abgedunkelt. Im Scheinwerferkegel allein die Noten, nicht der Pianist.
Nach dem Krieg wurde Richter allmählich zu einer Berühmtheit. Gerade auch im Westen, wo
er lange Jahre von Staats wegen nicht konzertieren durfte. Als Van Cliburn den
Tschaikowski-Wettbewerb in Moskau gewann und Richter hörte, berichtete er tief
beeindruckt: „Das ist das gewaltigste Klavierspiel, das ich je gehört habe.“ Richter war eine
Legende. 1960, bei seinem sensationellen Debut in New York konnte man sie endlich auch
im Westen überprüfen. Es war ein spätes Debut mit 46 Jahren – und nicht das letzte. Richter
klagte noch oft über die fürchterliche Anspannung, die es bedeutete, immer wieder zum
ersten Mal vor ein neues, hysterisch erwartungsvolles Publikum treten zu müssen – und das
in einem Alter, in dem andere Pianisten das lange hinter sich hatten.
Sicher, auch im Westen hatte man einzelne seiner Aufnahmen kennen gelernt. Vielleicht
auch den phänomenalen Mitschnitt von Mussorgskys „Bildern einer Ausstellung“ von 1958
aus Sofia. Es gibt viele virtuose Aufnahmen des Zyklus, wohl aber kaum eine, die
gleichzeitig so tief lotet, so facettenreich ist. Kaum eine setzt Mussorgskys schockierenden
Realismus so um. Wenn Svjatoslav Richter z. B. „das Ballett der Kücklein in ihren
Eierschalen“ spielt, führt er nicht nur die impressionistischen Vorgriffe im Mittelteil vor,
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sondern auch die rhythmischen Verrenkungen, die irrwitzigen, scheinbar noch
unkoordinierten Bewegungen der Kücklein. In größtem Gegensatz dazu das anschließende
Portrait zweier Juden: „Samuel Goldenberg und Schmuyle“ – der Reiche mit herrischer
Gebärde, der Arme vor Unterwürfigkeit nur so winselnd: Richter spielt das nicht karikierend,
sondern schlüpft gleichsam in beide Figuren hinein: Er spielt ihr Drama und deckt das
Dämonische, das Tragische ihrer Beziehung auf.
Mussorgsky: Bilder einer Ausstellung,
3‘30
„Ballett der Kücklein in ihren Eierschalen“, „Samuel Goldenberg und Schmuyle“
Trotz lausiger Tonqualität hört man doch, welche phantastischen Klangfarben Richter hier
dem Flügel entlockt. Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ in dem grandiosen Mitschnitt
aus dem Jahre 1958 aus Sofia.
Bei 51 Richter-CDs fällt die Auswahl naturgemäß schwer. (Eigentlich müsste man etwas
Bach spielen, eine der Englischen oder Französischen Suiten. Oder eine der 16 Einspielungen von Beethoven-Sonaten, dann Mozart, Chopin, die Liszt-Konzerte, Schubert,
Schumann, zu schweigen von Rachmaninow, Prokofjew oder Britten, mit dem Richter auch
viel musiziert hat. Dann eine der Kammermusikaufnahmen, etwa der Beethoven CelloSonaten mit Rostropowitsch – die längst Referenzstatus haben, oder die Mitschnitte von
legendären Liederabenden mit Dietrich Fischer-Dieskau und Peter Schreier. In dieser
Sendung ist das leider nicht zu leisten.) Daher: Mut zur Lücke und ein Stück, das man
vielleicht nicht unbedingt erwarten würde. Ein Stück, das kaum ins allgemeine PianistenRepertoire vorgedrungen ist, mit dem Svjatoslav Richter aber beweist, wie unrecht man dem
Komponisten tut, der laut Hans Pfitzner allein auf die Welt gekommen ist, um den
„Freischütz“ zu komponieren: Carl Maria von Weber. Seine Klaviersonaten werden kaum
gespielt – und wenn, dann tut sich da meist ein merkwürdiger Zwiespalt auf : zwischen
brillanter Virtuosität und innigster Romantik. Es wirkt oft, als hätte sich Weber nicht so richtig
entscheiden können. Richter zeigt jedoch, dass beides zusammengehört, dass der virtuose
Spuk wie die Schlichtheit des Volkslieds nur zwei Seiten derselben romantischen Medaille
sind. „Der Freischütz“ ist auch hier gar nicht so weit weg:
Weber: Klaviersonate Nr. 3 d-Moll, 3. Satz
5‘50
Aberwitzig virtuos. Bei Svjatoslav Richter wird dieses Finale aus Webers Klaviersonate Nr. 3
d-Moll zum romantischen Zauberspuk. Das war ein Livemitschnitt von 1966 aus Locarno
und nur eine Entdeckung von vielen, die man in der Jubiläumskassette zu Richters
100. Geburtstag machen kann. 51 CDs mit Aufnahmen aus 36 Jahren, bei Decca zu äußerst
wohlfeilem Preis erschienen: Die einzelne CD kommt auf knapp zwei Euro.
Oft ist es ja so, dass Komponisten ihre Werke verteidigen müssen gegen ein vermeintlich
taubes Publikum. Selten passiert es, dass ein Werk gegenüber seinem Komponisten
verteidigt wird. So geschehen gerade im Falle Brahms. Der tat eigentlich alles, um seine
frühe Fassung des H-Dur-Klaviertrios op. 8 schlecht zu machen. In einem Brief an seinen
Verleger Simrock sprach er von einem zweifelhaften Product, mit vielem Häßlichen und
vielen unnützen Schwierigkeiten darin. Und er kredenzte Simrock ein, so wörtlich,
„verneuertes Trio“, von dem er im Übrigen auch nicht behaupte, es sei gut. Typisch
Brahmssches Understatement und Verwirrspiel. Mit der Folge, dass die zweite Fassung des
Trios die erste bis auf den heutigen Tag so ziemlich verdrängt hat.
Auf sein schnödes Schreiben an Simrock hat Brahms kürzlich eine Antwort bekommen – von
unverhoffter Seite und nach immerhin gut 120 Jahren. Urheber ist der Schweizer Pianist
Oliver Schnyder, der sich von Brahms persönlich getroffen und in die Rolle des Verteidigers
gedrängt fühlt, des Verteidigers „zweier ungleicher Schwestern vor dem mutlosen,
schlechtmacherischen Urteil ihres Erzeugers.“ Und Schnyder bombardiert Brahms mit
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Fragen: Ob er denn überhaupt kapiert habe, was er da komponiert habe? Und das Ganze
gipfelt in der Mutmaßung, warum er so immun sei gegen aufrichtige Bewunderung?
„Womöglich finden Sie selber keinen Zugang zu Ihrer Seele und damit zu den klingenden
Wundern, die sie uns hinterlässt.“
Dieser Brief an Brahms ziert das Booklet einer neuen Gesamtaufnahme der Klaviertrios, in
der endlich einmal wieder die frühe Fassung des op. 8 gleichberechtigt neben der späteren
steht. Und so leidenschaftlich engagiert der Brief geschrieben ist, gehen die Musiker auch
ans Werk. Das sind neben dem Pianisten Oliver Schnyder der Geiger Andreas Janke und
der Cellist Benjamin Nyffenegger, beide haben Solopositionen beim Zürcher Tonhalle
Orchester inne. Hören wir sie mit dem Finale aus der Erstfassung des H-Dur-Trios, in dem
Brahms noch Beethovens Liederzyklus „An die ferne Geliebte“ zitiert – „Nimm sie hin denn
diese Lieder“ – eine Melodie, die in der Beziehung von Robert und Clara Schumann immer
eine ganz besondere Rolle spielte, und mit der Brahms sich also auch musikalisch in deren
Biographie einschreibt. Vielleicht war das ein Grund für ihn, in der späteren Fassung darauf
zu verzichten. Wer weiß?
Brahms: Klaviertrio Nr. 1 H-Dur op. 8, 4. Satz
9’30
Das Finale aus der frühen Fassung des H-Dur Trios von Johannes Brahms, gespielt vom
Schweizer Oliver Schnyder Trio. Ein leidenschaftliches Plädoyer für diese immer noch
unterschätzte Version, die uns den jungen, noch alles andere als abgeklärten Brahms vor
Augen bzw. Ohren führt. Die Musiker spielen noch nicht lange zusammen – erst seit zwei
Jahren, und doch agieren sie geradezu schlafwandlerisch miteinander. Energiegeladen, in
jedem Moment präsent, homogen und absolut gleichberechtigt. Die bei dieser Besetzung oft
heikle Klangbalance gelingt ihnen vorzüglich. Wunderbar ausgehört sind gerade die
Übergänge, an denen die Musik zu verdämmern, sich aufzulösen scheint.
Mit einem Wort: Das Oliver Schnyder Trio spielt sich mit dieser Aufnahme gleich in die
vorderste Reihe der an hochkarätigen Interpretationen nicht eben armen Diskographie der
Brahms-Trios. Hier noch ein letztes Beispiel – das Scherzo aus dem 2. Klaviertrio in C-Dur
op. 87:
Brahms: Klaviertrio Nr. 2 C-Dur op. 87, 3. Satz
4‘25
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs. Zum Abschluss spielte das Oliver Schnyder Trio das
Finale aus dem 3. Klaviertrio in c-Moll von Johannes Brahms. Zu dieser Gesamtaufnahme
der Brahms-Trios kann man nur gratulieren. Erschienen ist sie bei RCA.
Die genauen Angaben zu den heute vorgestellten CDs finden Sie wie immer auf unserer
Internetseite www.swr2.de. Dort können Sie die Sendung nachlesen und auch noch eine
Woche lang nachhören. Am Mikrophon verabschiedet sich damit Norbert Meurs. Hier geht es
jetzt weiter mit dem Kulturservice und den neuesten Nachrichten.
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