6.2 Holomorphe Funktionen; die Cauchy-Riemann’schen Differentialgleichungen* Wir betrachten im Folgenden komplexwertige (kurz: komplexe) Funktionen f : D ⊂ C → C, wobei D eine offene Teilmenge von C ist. Ist D darüber hinaus zusammenhängend, so heißt D Gebiet. Dieses ist im Folgenden unsere Standardvoraussetzung an den Definitionsbereich der Funktion f und gilt, sofern wir nicht explizit etwas anderes annehmen. Damit eine Funktion komplexwertig sein kann, muss jeder Bildwert wieder einen Real- und einen Imaginärteil haben. Wir schreiben daher mit zwei reellen Komponentenfunktionen u und v: z = x + yi 7→ u(x, y) + v(x, y)i =: f (z), d. h. es gilt Re(f ) = u und Im(f ) = v. Beispiel 6.2 1) f (z) = ez = ex+yi = ex · eyi = ex (cos(y) + sin(y)i) = ex cos(y) + ex sin(y)i, 2) f (z) = z 2 = (x + yi)2 = x2 − y 2 + 2xyi. Im zweiten Beispiel ist etwa u(x, y) = x2 − y 2 und v(x, y) = 2xy. Bevor wir nun die Stetigkeit einer komplexen Funktion definieren, wollen wir zunächst klären, was es bedeutet, dass eine Folge (zn )n∈N ⊂ C komplexer Zahlen gegen eine komplexe Zahl z ∈ C konvergiert. Definition 6.3 Sei (zn )n∈N ⊂ C eine Folge komplexer Zahlen. Diese Folge heißt konvergent gegen z ∈ C, wenn |zn − z| → 0 für n → ∞. Dies ist gleichbedeutend mir Rezn → Rez und Imzn → Imz, also mit komponentenweiser reeller Konvergenz. Ist nun D ⊂ C eine Umgebung des Punktes a ∈ C, und ist f in D \ {a} erklärt, so schreiben wir kurz limz→a f (z) = b, falls limn→∞ f (zn ) = b für alle Folgen (zn )n∈N ⊂ C mit limn→∞ zn = a. Definition 6.4 Eine komplexe Funktion f : D ⊂ C → C heißt stetig in einem Punkt a ∈ D, falls limz→a f (z) = f (a). Sie heißt stetig in D, falls sie in jedem Punkt aus D stetig ist. Definition 6.5 Eine komplexe Funktion f : D ⊂ C → C heißt (komplex) differenzierbar in einem Punkt a ∈ D, wenn die komplexe Ableitung f (z) − f (a) d 0 f (a) := lim = f (a) z→a z−a dz existiert. Es gelten folgende Eigenschaften: 1. Ist f in a komplex differenzierbar, so ist f in a stetig. 2. Sind f, g : D → C in a ∈ D komplex differenzierbar, so existieren (i) (αf + βg)0 (a) = αf 0 (a) + βg 0 (a), (ii) (f g)0 (a) = f 0 (a)g(a) + f (a)g 0 (a), (iii) (f ◦ g)0 (a) = f 0 (g(a)) · g 0 (a). Letzteres setzt hierbei zusätzlich voraus, dass g : D → D0 in a ∈ D und f : D0 → C in g(a) ∈ D0 differenzierbar sind. Definition 6.6 (Holomorphie) Eine Funktion f : D ⊂ C → C heißt holomorph in D, wenn f in jedem Punkt von D komplex differenzierbar ist und f 0 : D → C in D stetig ist. Die Menge aller in D holomorphen Funktionen bildet einen Vektorraum, der mit O(D) bezeichnet wird. Es gilt: O(D) ⊂ C 1 (D; C). 1 Wir kommen nun zu einem wichtigen Satz, der deutlich macht, warum wir explizit von komplexer Differenzierbarkeit gesprochen haben und inwiefern sich diese von der bereits bekannten reellen Differenzierbarkeit im R2 unterscheidet. Satz 6.7 (Cauchy-Riemann’sche Differentialgleichungen) Eine komplexe Funktion f : z = x + yi 7→ u(x, y) + v(x, y)i = f (z) ist genau dann holomorph, wenn u und v als reelle Komponentenfunktionen differenzierbar sind und wenn zusätzlich die Cauchy-Riemann’schen Differentialgleichungen ∂x u(x, y) = ∂y v(x, y), ∂x v(x, y) = −∂y u(x, y) erfüllt sind. Dann gilt: f 0 (x + yi) = ∂x u(x, y) + ∂x v(x, y)i = ∂y v(x, y) − ∂y u(x, y)i. Beispiel 6.8 1) f (z) = ez : ez = ex cos(y) + ex sin(y)i ⇒ ∂x u = ex cos(y) = ∂y v ∧ ∂x v = ex sin(y) = −∂y u ⇒ f 0 (z) = ez = ex cos(y) + ex sin(y)i = ∂x u + ∂x vi, 2) f (z) = z 2 : z 2 = (x + yi)2 = x2 − y 2 + 2xyi ⇒ ∂x u = 2x = ∂y v ∧ ∂x v = 2y = −∂y u ⇒ f 0 (z) = 2z = 2x + 2yi = ∂x u + ∂x vi. Beweis (von Satz 6.7): (⇒) Sei f holomorph und z0 = x0 + y0 i ∈ D beliebig. Für reelle h 6= 0, h → 0 gilt u(x0 + h, y0 ) − u(x0 , y0 ) v(x0 , y0 + h) − v(x0 , y0 ) + i · lim h→0 h→0 h h = ∂x u(x0 , y0 ) + ∂x v(x0 , y0 )i f 0 (z0 ) = lim Andererseits gilt für reelle h 6= 0 mit ih → 0: v(x0 , y0 ) − v(x0 , y0 + h) u(x0 , y0 + h) − u(x0 , y0 ) + i · lim h→0 ih ih = −i∂y u(x0 , y0 ) + ∂y v(x0 , y0 ) f 0 (z0 ) = lim h→0 Ein Vergleich von Real- und Imaginärteilen ergibt nun, dass die Cauchy-Riemann’schen Gleichungen erfüllt sind. (⇐) Seien u, v : D ⊂ R2 → R stetig differenzierbar, und die Cauchy-Riemann’schen DGL seien erfüllt. Dann gilt für jedes feste z0 = x0 + y0 i ∈ D und für h = s + ti, |s|, |t| < 1: f (z0 + h) = u(x0 + s, y0 + t) + v(x0 + s, y0 + t)i = u(x0 , y0 ) + ∂x u(x0 , y0 )s + ∂y u(x0 , y0 )t + r1 (s, t) + i(v(x0 , y0 ) + ∂x v(x0 , y0 )s + ∂y v(x0 , y0 )t + r2 (s, t)) (s,t) (s,t) mit lim|h|→0 r1|h| = lim|h|→0 r2|h| = 0. Mit r(s + ti) := r1 (s, t) + r2 (s, t)i und den CauchyRiemann’schen DGL erhalten wir f (z0 + h) = f (z0 ) + (∂x u(x0 , y0 ) + ∂x v(x0 , y0 )i)(s + ti) + r(h). Daraus folgt wegen h = s + ti mit limh→0 r(h) h = 0: f (z0 + h) − f (z0 ) = ∂x u(x0 , y0 ) + ∂x v(x0 , y0 )i. h Zum Schluss geben wir noch ein simples Standard-Beispiel für eine Funktion, die aufgefasst als Abbildung R2 → R2 differenzierbar ist, nicht jedoch komplex differenzierbar. 1 0 > Beispiel 6.9 Sei f (x, y) = (x, −y) . Die Jacobi-Matrix lautet Jf (x, y) = . Aufgefasst als 0 −1 komplexe Funktion ist f gerade die Konjugation, f (z) = z. Diese ist wegen ∂x f1 (x, y) = 1 6= −1 = ∂y f2 (x, y) nicht holomorph, da die Cauchy-Riemann’schen DGL nicht erfüllt sind. 2