74 Rezensionen Dabei erweisen sich die älteren, das Korsett des Alexandriners wahrenden Übersetzungen in prosodischer wie auch syntaktischer Hinsicht als überraschend adäquat; in den spärlichen zitierten Aufführungsbelegen wird der Höreindruck der Deklamation als erstaunlich prosanah beschrieben. Die hier konstatierte “Vermessung der Rede” (341) kontrastiert mit einer weitgehenden Tilgung der Rhetorik in der dramatischen Rede (im Sinne einer Preisgabe sprachlicher Ordnungsschemata) in den jüngeren Übersetzungen. In letzteren wird damit eine neue, poetologisch für Racine wie auch soziokulturell vor Mitte des 18. Jh.s. kaum relevante Kategorie erschlossen, nämlich die der (primär sprachlich basierten) Psychologisierung der Charaktere. Trotz weitgehender Ausblendung der Schauspielpraxis des 18. Jh.s. mit ihrem Wandel vom deklamatorisch-rhetorischen zum ‘natürlichen’ Schauspielstil gelingt es Nebrig auf äußerst eindrucksvolle Weise, poetologische, mediale und damit verbunden sprachlich-performative Aspekte der Theaterkultur des 18. Jh.s. auf der Basis von Übersetzungsvergleichen zu erschließen und damit nicht nur einen entscheidenden Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der französischen Klassik im deutschsprachigen Raum zu leisten, sondern überdies auch den Materialfundus für weitere Forschungen bereit zu stellen: Der dritte Teil der Studie bietet ein wunderbar ausführliches, für Theaterwissenschaftler, Übersetzer und Philologen gleichermaßen hilfreiches Repertoire-Verzeichnis der Racine-Aufführungen im deutschsprachigen Raum bis 1841 sowie eine annotierte Übersetzungsbibliographie bis 1846. München KATHARINA KEIM Wilfried Floeck, María Francisca Vilches de Frutos (Eds.): Teatro y Sociedad en la España actual. Teoría y práctica del teatro 13. Madrid: Iberoamericana, 2004, 391 Seiten. Dieser Sammelband umfasst 25 Beiträge, die im September 2003 anlässlich des internationalen Forum Modernes Theater, Bd. 23/1 (2008), 74–76. Gunter Narr Verlag Tübingen Symposiums zum Thema Teatro y Sociedad en la España actual in Schloss Rauischholzhausen präsentiert wurden. Damit gliedert er sich in eine ansehnliche Reihe von Titeln ein, die sich in den letzten Jahren aus verschiedenen Blickwinkeln der Frage nach neueren Entwicklungen im spanischen Gegenwartstheater gewidmet haben. Den roten Faden für den vorliegenden Sammelband legen die Herausgeber mit ihrer Ausgangsthese, im aktuellen spanischen Theater zeichne sich inhaltlich die Tendenz zu einem verstärkten politischen und gesellschaftskritischen Engagement ab. Zugleich sei in formaler Hinsicht eine Abkehr von einer naturalistischen Realitätsdarstellung erkennbar sowie eine Hinwendung zu innovativen ästhetischen Experimenten, die sich u.a. in einer Fragmentarisierung der Handlungsstruktur und der Auflösung der traditionellen Protagonistenrolle niederschlügen. Die Herausgeber werten diese Phänomene als Reflex einer neuen gesellschaftlichen Realität und als “nuevas formas de la estética teatral posmoderna” (12), wenngleich – was den Rezensenten nicht überrascht – eine konsensfähige Definition des umstrittenen Begriffs der Postmoderne gar nicht erst in Angriff genommen wird. Die Beiträge stammen von einer internationalen Autorenschaft (mit Vertretern aus Spanien, Deutschland, USA, Frankreich, Großbritannien, der Schweiz und Italien) und gliedern sich thematisch in die drei folgenden Abschnitte: I. Teatro y democracia: Cambios sociopolíticos y gestión cultural. II. Canon autorial y escénico: Lo sociopolítico como elección dramática. III. La renovación de los lenguajes teatrales: Discursos textuales y escénicos. Abschnitt I umfasst zwei Beiträge, die zum einen die negativen Auswirkungen des institutionellen und kulturpolitischen Umfelds auf die Theaterproduktion zu dokumentieren versuchen (M.F. Vilches de Frutos) und zum anderen die Arbeit des halb öffentlichen und halb privaten Madrider Teatro de La Abadía unter der Leitung von José Luis Gómez vorstellen (Antonio B. González). Abschnitt II widmet sich der Analyse von Werken, in denen die sozio-politische Komponente eine herausgehobene Rolle spielt. So untersucht Dieter Ingenschay u.a. am Beispiel der Stücke Rezensionen Dedos von Borja Ortiz de Gondra und La llamada de Lauren von Paloma Pedrero die Frage, wie das Theater der Zeit nach Franco das Thema des Machismus verarbeitet. Eine komplementäre Untersuchung zur neuen weiblichen Identität im spanischen Gegenwartstheater (profesional de éxito, mujer fatal, mujer loca) stellt Pilar Nieva de la Paz an. Im Mittelpunkt eines Beitrags von Antonio Fernández Insuela steht die Rolle bekannter Figuren aus Politik und Kultur im zeitgenössischen spanischen Geschichtsdrama, illustriert vor allem am Beispiel des Stücks La zorra ilustrada von Ignacio Amestoy. Es folgt eine Reihe von Studien, die das Werk einzelner Autoren in das Blickfeld rücken: Untersuchungsgegenstände sind hier Werk und Rezeption von Buero Vallejo in den Jahren der transición und der Demokratie (Derek Gagen), ferner das Stück ¿Dónde estás, Ulalume, dónde estás?, in dem Alfonso Sastre die letzten Tage im Leben von Edgar Allan Poe in Szene setzt (Silvia Monti), Jerónimo López Mozo und seine Darstellungsstrategien in dem Dokumentarstück Ahlán (John P. Gabriele), das Theater von José Alonso de Santos mit Blick auf die Verarbeitung sozialer Konfliktthemen wie Drogensucht und Fremdenfeindlichkeit in Salvajes (José Rodríguez Richart) sowie der zunehmend ideologische Charakter der Gesellschaftskritik bei Alonso de Santos, mit der der Theaterautor nach Ansicht von Antonia Amo Sánchez immer mehr der Versuchung zum Moralisieren erliegt. Mit der Analyse von El local de Bernardeta A. zeigt Dru Dougherty, dass sich hinter diesem Werk von Lourdes Ortiz mehr verbirgt als nur die im Titel evozierte Parodie des Lorca-Dramas La casa de Bernarda Alba. Phyllis Zatlin schließlich geht der Frage nach, wie in Cachorros de negro mirar von Paloma Pedrero und in El traductor de Blumemberg von Juan Mayorga das Motiv des Neonazismus verarbeitet wird. Die Beiträge in Abschnitt III ranken sich um die Frage, wie sich die Erneuerung des dramatischen Diskurses literarisch und auf der Bühne manifestiert. Ebenso vielfältig wie die methodischen Ansätze sind auch die Themen der Beiträge. In einer besonders lesenswerten Studie sucht Winfried Floeck mit Blick auf Autoren wie Sanchis Sinisterra, Alonso de Santos, Cabal, Belbel, Caballero und anderen eine Antwort auf die Frage, ob es so etwas wie eine Ethik der Postmoderne gibt und wie diese sich zum Ende des 20. Jh. im spanischen Theater manifestiert. Es folgen Untersuchungen zu Begriff und Stellenwert des Theatralischen in einer von Kino und Fernsehen dominierten Konsumgesellschaft und die Lösungsansätze der Gruppe Els Joglars (Óscar Cornago Bernal), zur textuellen und strukturellen Fragmentarisierung als Ausdrucksmittel einer jungen Gruppe von Absolventen der Real Escuela Superior de Arte Dramático (Susanne Hartwig), zur Rhythmik als ästhetischem Paradigma bei Lluïsa Cunillé u.a. (Yvette Sánchez), zur räumlichen Abstraktheit im Sinne eines no-lugar als häufigem Phänomen im spanischen Gegenwartstheater (Anxo Abuín González) und zum zentralen Stellenwert der Körperlichkeit in der Dramaturgie von Autoren wie Joan Brossa und Albert Vidal (José A. Sánchez). Den Bogen zwischen Theater und Film spannen José Antonio Pérez Bowie, der die Verkürzung der sozialkritischen, poetischen und symbolischen Dimension in Filmadaptionen von Werken großer Dramatiker wie Lorca und Valle-Inclán kritisiert, und M. Teresa García-Abad García, die eine vergleichende Untersuchung der Filmversion und der Theateradaptation eines Romans von Manuel Rivas vorlegt und dabei neben der Textanalyse auch Inszenierungsfragen und die Rezeption seitens der Kritik nicht vernachlässigt. Es folgen zwei Analysen zu Einzelwerken von Rodríguez Méndez (Cerstin Bauer-Funke) und Sanchis Sinisterra (Monique Martínez Thomas) sowie zwei autoren- und werkübergreifende Studien mit Untersuchungen zu den verschiedenen Ausprägungsformen des Humors im spanischen Theater der 90er-Jahre und v.a. mit Blick auf das Œuvre von Rodrigo García (Isabelle Reck). Mit bühnensprachlichen Innovationen bei Martínez Ballesteros und Belbel vor der Folie der jüngeren Theatergeschichte mit ihren wegbereitenden Autorengestalten wie Echegaray, Galdós, Arniches und Lorca befasst sich Klaus Pörtl. Besonders bemerkenswert, weil aus der Feder eines Autors und Bühnenpraktikers stammend, ist der Beitrag von Ernesto Caballero, der über die Entwicklung seiner Schaffensprozesse im Spannungsfeld zwischen Text und Inszenierung berichtet. Fazit: Die geschilderte thematische Vielfalt macht diesen Tagungsband lesenswert und in der 75 76 Rezensionen Summe aufschlussreich. Gleichzeitig geht sie mit einer methodischen Heterogenität einher, die allerdings kein schwerwiegendes Problem für die innere Einheit des Bandes darstellt. Mit Blick auf die im Vorwort vertretene These, dass Themenund Motivwahl und dramatischer Diskurs des spanischen Gegenwartstheaters vor allem als Reaktion der Autoren auf einen strukturellen Wandel im Theaterbetrieb zu werten seien, wäre zu hoffen, dass sich weitere Einzelstudien anschließen, die dieser Frage unter stärkerer Berücksichtigung institutioneller, kulturpolitischer und inszenierungsbezogener Aspekte nachgehen. Köln HERIBERT HÄRTINGER Matthias Rebstock: Komposition zwischen Musik und Theater. Das instrumentale Theater von Mauricio Kagel zwischen 1959 und 1965. sinefonia. 6. Hofheim: Wolke, 2007, 376 Seiten. Obwohl das experimentelle Musiktheater (um einen gebräuchlichen Oberbegriff zu verwenden) bereits auf eine illustre Geschichte von, je nach Definition, über 50 oder sogar fast 100 Jahren zurückblicken kann, steht eine angemessene wissenschaftliche Theorie oder Analysemethode noch aus. Allein aus diesem Grund kann die vorliegende Publikation kaum genug begrüßt werden. Nur wenige Musikwissenschaftler sind mit den Grundbegriffen der Theater- und/oder Performativitätstheorie vertraut, wohingegen Theaterwissenschaftler, so sie sich mit musiktheatralischen Formen überhaupt auseinandersetzen, selten die rein musikalischen Aspekte angemessen berücksichtigen. Auch in diesem Zusammenhang fällt das Buch positiv auf: Rebstock ist mit der zeitgenössischen Theatertheorie gut vertraut und weiß sie in seine eigene Arbeit einzubeziehen. Aber auch im Hinblick auf die Kagel-Forschung ist der Band mehr als willkommen. Seit Dieter Schnebels Buch von 1970 – das Werk eines damals geistesverwandten Komponisten – wurde die Kagel-Forschung vornehmlich von MusikForum Modernes Theater, Bd. 23/1 (2008), 76–77. Gunter Narr Verlag Tübingen Pädagogen wie etwa Karl-Heinz Zarius, Werner Klüppelholz und Rudolf Frisius fortgeführt. Damit soll keineswegs gesagt werden, dass diese Publikationen geringeren Wert hätten, doch ist deren Perspektive und Zielrichtung naturgemäß mit von der Herangehensweise bestimmt. In diesem Sinne ist es erfreulich, dass eine ‘zweite Generation’ von Kagel-Forschern, unter denen Rebstock in vorderster Linie zu nennen wäre, Kagels Werk umfassender wissenschaftlich würdigt und damit auch dessen historische Bedeutung jenseits der vielleicht eher modisch-zeitbezogenen Aspekte herausarbeitet. Hier zeigt sich wieder einmal, in welchem Maße die Nachkriegs-Avantgarden geschichtlich geworden sind und deshalb dementsprechend aufgearbeitet werden müssen. Die Analyse und Interpretation des experimentellen Musiktheaters kann von dieser historischen Distanz und der von letzterer begründeten methodischen Neuorientierung nur profitieren. Das Buch enttäuscht denn auch nicht, obwohl es etwas an den Gepflogenheiten deutscher Dissertationen krankt. Es eröffnet mit der Beschreibung des Forschungsgegenstandes, der Zielsetzung, Methode und Literatur. Bei dieser akademischen Übung gibt es wenige Überraschungen. Jedoch besteht ein gewisser Widerspruch darin, dass Rebstock einerseits den Untersuchungsbereich – aus relativ guten Gründen – auf die Jahre 1959 bis 1965 einschränkt, andererseits aber bemerkt, dass Kagel im Gegensatz zu Cage an der “kompositorischen Kontrolle, der subjektiven Entscheidung des Komponisten und dem Expressiven als Grundanliegen festhält” und sich bei ihm keine “nur für sich stehende[n] Aktion[en] wie im Happening oder beim Fluxus” finden (11). Dies trifft aber nur auf Kagels Werk im genannten Zeitraum zu: In späteren Jahren finden sich dagegen durchaus Stücke wie Privat (1968), Ornithologica multiplicata (1968) und Probe (1971), die in ihrem Experiment-Begriff jede Vorstellung von kompositorischer Kontrolle weit hinter sich lassen. Hier kollidiert also Rebstocks Theaterbegriff mit seiner chronologischen Festlegung. Es folgt der erste Hauptteil, “Kagels instrumentales Theater im Kontext” (29–129), wobei insbesondere das erste Kapitel, “Kagels Argentinien”, extrem aufschlussreich ist. Es handelt sich um den ersten Versuch, Kagels argentinische