Aktuelle Therapie

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Aktuelle Therapie
Behandlung der Magersucht
Mertz: Behandlung der Magersucht
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Redaktion:
Prof. Dr. H. Hornbostel, I-Iamburg
Prof. Dr. W. Kaufmann, Tübingen
Prof. Dr. W. Siegenthaler, Bonn
D. P. Mertz
Medizinische Poliklinik der Universität Freiburg i. Br.
(Direktor: Prof. Dr. H. Sarre)
Eine Behandlung der Magersucht muß von der Feststellung und Beseitigung des Grundleidens ausgehen. In Tabelle 1 sind die häufigsten Bedingungen, die eine Magersucht herbeiführen können, aufgeführt.
Tab. 1. Ätiologie der Magersucht
konstitutionelle Momente
Malabsorption
Psychosen
exogen (Sozialfaktoren)
Stoffwechselerkrankungen (Diabetes mellitus, Nebennierenrindeninsuffizienz, Hyperthyreose, Sheehan-Syndrom)
Neoplasie, Hämoblastosen
Erkrankungen des Zentralnervensystems mit funktioneller
Schädigung des Hypothalamus
chronische Infekte (Tuberkulose, schwere Pyelonephritis usw.)
chronische Organkrankheiten (Niereninsuffizienz, Leberzirrhose, sogenannte maligne Hypertension)
chronische Vergiftungen (Nicotin, Arsen)
Anorexia nervosa
Lipodystrophie
Vielfach wird man sich mit einer symptomatischen Therapie begnügen müssen. Dem erfahrenen Therapeuten ist
die Tatsache nur zu gut bekannt, daß die konventionellen
Behandlungsmaßnahmen (7) häufig einen unzureichenden
Erfolg haben. Sicher genügt in besonders günstigen Fällen
bereits die Gabe von Glucose oder Fructose bzw. die Verordnung einer kalorienreichen Kost zusammen mit einer
Substitution von Magensalzsäure und Verdauungsfermenten, und ein Teil der Kranken spricht auch auf eine Kombination von Prednison und Anabolika in niedriger Do»
sierung, auf eine Insulinmastkur oder beides gemeinsam
befriedigend an. Bei den meisten magersüchtigen Patienten reichen indessen diese Maßnahmen nicht aus, oder sie
sind kontraindiziert, teils werden sie vom Patienten abgelehnt, teils nicht vertragen, so daß man sich notfalls zu
Sondenernährung oder parenteraler Ernährung entschließt.
Beiden Möglichkeiten sind aber individuell und auch im
Hinblick auf die Therapiedauer Grenzen gesetzt.
Neuerdings konnte bei Verwendung von Cyproheptadin (Nuran®), einem wirksamen Histamin- und Serotonin-Antagonisten, als Zufallsbefund eine Steigerung von
Appetit und Körpergewicht sowohl bei Kindern (3) als
auch bei erwachsenen Personen (2, 8) festgestellt werden.
Stets läßt sich eine enge Beziehung zwischen Einnahme
von Cyproheptadin, Appetitsteigerung und Gewichtsansatz nachweisen. Diese spezielle Wirkung tritt beim
Menschen unabhängig von Lebensalter, Allgemeinzustand
und Ursache einer Inappetenz (somatisch oder psychisch)
ein und ist deutlich stärker ausgeprägt als bei anderen
Antihistaminika oder verschiedenen Corticoiden (6). Im
allgemeinen werden Gewichtszunalmen bis maximal 3 kg
bei zwei- bis vierwöchiger Behandlung mit viermal 4 mg
täglich per os erzielt. Cyproheptadin wirkt auch bei Patienten mit metastasierendem Karzinom oder Diabetes
mellitus, deren Allgemeinzustand reduziert ist, wobei die
appetit- und gewichtsteigernde Wirkung als reell und
nicht nur im Sinne einer gelegentlich einsetzenden Nebenwirkut angesehen werden muß.
Trotz zahlreicher Bemühungen ist es bisher nicht gelungen, den Mechanismus der unter der Wirkung von
Cyproheptadin auftretenden Appetitsteigerung aufzuklären.
Die Annahme, die Substanz beeinflusse das Hungerzentrum im Hypothalamus, gründet sich auf neurophysiologische Untersuchungen
von Chakrabarty und Mitarbeitern (1) an Katzen nach intravenöser
Injektion unphysiologisch hoher Dosen des Mittels. Eine Latenzzeit
von 5 bis 10 Minuten bis zum Eintritt einer Aktivierung des Freß-
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Nr. 1,2. Januar 1970,95. Jg.
Deutsche Medizinische Wochenschrift
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Die zusätzliche Anwendung von Cyproheptadin im Rahmen der konventionellen Therapie der Magersucht (Tabelle 2) hat sich als sehr vorteilhaft erwiesen, zumal Nebenwirkungen selten auftreten und im allgemeinen bedeutungslos sind. Bei Entwicklungsrückstand von Kindern
wurde zusätzlich eine Wachstumsbeschleunigung festgestellt (3). Eine so.günstige Nebenwirkung fehlt bei Gewichtszunahme durch Erzeugung einer Hypothyreose.
Literatur
Tab. 2. Therapie der Magersucht
Behandlung des Grundleidens
Gabe von Glucose (Dextropur®) oder Fructose (Laevoral®),
von kalorienreicher, leicht verdaulicher, vitaminreicher
Kost; gegebenenfalls Sondenernährung
Substitution von Magensalzsäure und Verdauungsfermenten
Prednison (5-10 mg täglich)
Anabolika, zum Beispiel S-15 mg Metenolon-acetat (Primobolan®) täglich per os
Insulinmastkur (10-20 E Altinsulin 30 min vor dem
Essen)
Cyproheptadin (Nuran®), viermal täglich 4 mg per os
Infektbekämpfung
bei Anorexia nervosa zus,ätzlich Psychotherapie und passager eventuell parenterale Ernährung
Allgemeinmaßnahmen: Hygiene, gegebenenfalls Bettgymnastik, Venenpflege, Dekubitusprophylaxe, Kreislaufüberwachung.
Chakrabarty, A. S., R. V. Pilla,
B. K. Anand, B. Singh: Effect of
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Mechanismus der appetit- und gewichtsteigernden Wirkung von Cyproheptadin.
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1194.
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Inneren Medizin für Klinik und
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(8) Valiente, S., G. Behamondes,
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sobre el peso corporal (Communicación preliminar). Bol. Hosp. S. Juan
steigernden Wirkung von Cyproheptadin.
(Santiago( 14 (1967), 342.
47 (1969), 1185.
(7)
Prof. Dr. D. P. Mertz
Medizinische Universitäts-Poliklinik
78 Freiburg i. Br., Hermann-Herder-Str. 6
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zentrums weist darauf hin, daß Cyproheptadin dort nicht direkt angreift. Auch kann eine direkte Wirkung von Cyproheptadin auf verschiedene neurophysiologische Prozesse im Sinne eines SerotoninAntagonismus nach den bis jetzt vorliegenden Daten nur theoretisches Interesse beanspruchen (4). Neuere Ergebnisse sprechen dafür, daß die appetit- und gewichtsteigernde Wirkung von Cyproheptadin nicht von Veränderungen der Schilddrüsenfunktion abhängig ist (5 b). Andererseits ergaben sich Hinweise auf eine Beeinflussung des Kohlenhydratstoffwechsels (Sc). Ferner konnte unter dem
Einfluß von Cyproheptadin eine Lipolyse festgestellt werden (S a).
Die Bedingungen hierfür sind unbekannt.
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