An der Grenze Der 2008 verstorbene Schauspieler Heath Ledger

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Jim Spellman/WireImage/Getty Images, imago/EntertainmentPictures
Titel
An der Grenze
Der 2008 verstorbene
Schauspieler Heath Ledger
privat und in seiner Rolle
als schizophrener „Joker“.
Auch im wahren Leben
kämpfte Ledger mit psychischen Problemen.
Abweichmanöver
Was ist normal, was verrückt? Und wer bestimmt darüber?
Die Kriterien, nach denen psychologische und psychiatrische
Störungen diagnostiziert werden, bleiben höchst umstritten.
Die Grenzen zwischen gesundem und krankhaftem Verhalten sind
fließend, oft kommt es schlicht auf den Kontext an –
und manchmal leider auch auf den Zufall.
T itel
Von Tina Goebel, Sebastian H
­ ofer
und Salomea Krobath
m Nachhinein betrachtet war es wohl eine
Art Burnout oder Lebenskrise. Es kam viel
zusammen, im Job und privat, aber Marion K. wollte weiter funktionieren. Sie
entschied sich für eine psychiatrische Behandlung. Als die Kärntnerin im vergangenen Juni trotz angstlösender Medikamente eine Panikattacke erlitt, nahm sie
aus Frustration eine zusätzliche Tablette
und spülte diese mit Alkohol hinunter. Einer Freundin erzählte K., sie wisse nicht
mehr weiter und würde „am liebsten ausbluten“. Die Freundin alarmierte einen
Arzt. Dann geriet der Fall K. aus dem Ruder.
Eine Ärztin erkundigte sich, ob
K. freiwillig zur Behandlung bleiben wolle. Die noch immer berauschte
Frau bestand darauf, nach Hause zu ihren beiden Kindern zu wollen. Diesen
Wunsch bereut K. bis heute. Als „krankheitsuneinsichtige Patientin“ wurde MaDie fünf Faktoren der
rion K. im Fixationsbett auf die geschlos­menschlichen ­Persönlichkeit –
sene Abteilung überstellt – und musste
in der Folge feststellen, dass der Weg hiund ihre Extremformen:
naus verbaut war. Durch regelmäßige Medikamentenverabreichung blieb sie
Neurotizismus/
in einem ständigen Dämmerzustand.
Emotionale Stabilität
Ihre Traurigkeit wurde als InstabiliWird ein Mensch leicht von seinen Gefühtät interpretiert, patziges Verhalten
gegenüber den Pflegerinnen als Anlen überwältigt, wirkt er nervös, ängstlich
passungsstörung – und der Wunsch,
und macht sich viele Sorgen, ist sein Neunach Hause zu gehen, als Krankrotizismus stark ausgeprägt. ­Personen mit
heitsuneinsichtigkeit. „Wenn man
niedrigen Testwerten sind ruhiger, zufriedrinnen ist, ist man in der Schiene.
dener, entspannter und fühlen sich siKeiner schaut einen mehr von einer
cherer.
anderen Seite an“, sagt sie heute. Erst
Extremfälle: Personen, deren Neurotizisnach acht Tagen in der geschlossenen Anstalt konnte K.s Psychiater
mus extrem ausgeprägt ist, neigen eher zu
ihre Verlegung auf eine offene StaDepressionen.
tion und schließlich ihre Entlassung
Können Personen ihre Gefühle nicht
durchsetzen. Bis heute laboriert K.
kontrollieren, sind sie launisch, sprungan der traumatischen Episode.
haft, unkontrolliert, haben ein schwaches
Der Fall berührt eine alte GrundSelbstbild und neigen gar zu suizidalen
angst des Menschen: urplötzlich verHandlungen, so kann es sich um eine
rückt zu werden oder, noch schlim­Boderline-Störung handeln.
mer: für verrückt erklärt zu werden.
Die Angst ist nicht immer ganz unberechtigt. Die Grenze zwischen psychischer Gesundheit und Störung verläuft unscharf.
Auf welcher Seite man landet, wird auch
von Umständen und Zufällen bestimmt.
Marion K. ist fraglos ein Ausnahmefall.
„Die Gefahr, mit einer falschen Diagnose
in eine psychiatrische Krankenhausabteilung eingewiesen zu werden, ist extrem
gering“, sagt Johannes Wancata, Leiter der
1
70 profil 12 • 17. März 2014
Klinischen Abteilung für Sozialpsychiatrie an der Uniklinik Wien. „Irren kann
man sich grundsätzlich bei jeder Diagnose, so wie sich auch der Hausarzt irren
kann. Aber es passiert sehr selten. Zudem
werden Diagnosen bei Unterbringungen
innerhalb kürzester Zeit auch von Gerichtsgutachtern überprüft. Dabei kommt
es kaum je zu Abweichungen von der
Erstdiagnose.“
Zweifellos herrscht in der modernen
Psychiatrie keine fahrlässige Willkür, und
unbestritten sind die dunklen Zeiten der
freihändigen psychiatrischen Zwangseinweisung lange vorbei. Unbestritten bleibt
aber auch die Tatsache, dass eine gewisse Uneindeutigkeit zum Wesen des Fachs
gehört. Germain Weber, Dekan der Fakultät für Psychologie an der Uni Wien: „Psychologie und Psychiatrie verwenden zwar
naturwissenschaftliche Methoden, können deshalb aber noch nicht mit den exakten Naturwissenschaften gleichgesetzt
werden. Ihre Befunde sind zu einem gewissen Grad immer auch gesellschaftlich
geprägt.“ Sprich: Was eine Gesellschaft für
normal hält, bleibt verhandelbar, Störungen sind relativ. Im engeren Sinn der psychiatrischen Diagnostik liegt es in der Verantwortung des einzelnen Arztes oder
Gutachters, die Symptome seiner Patienten zu deuten. Es gibt keinen Labortest
für Bindungsstörungen, kein Depressionsmessgerät.
Diese Ungewissheit überschattet freilich nicht nur Extremfälle wie jenen von
Marion K. Auch diesseits der geschlossenen Anstalt werden psychische Störungen zu einer wachsenden Belastung und
einige Fragen damit immer virulenter:
Steckt wirklich hinter jeder Burnout-Diagnose eine Erschöpfungsdepression?
Muss jedes Kind mit ADHS-Symptomen
auch pharmakologisch behandelt werden? Und, noch grundlegender: Werden
ungewöhnliche, nicht-alltägliche Verhaltensweisen und Charakterzüge sogar unnötig pathologisiert? Wenn ja: von wem?
Wer zieht die Grenze?
„Die Befunde aus
­Psychologie und
­Psychiatrie sind zu
einem gewissen Grad
­gesellschaftlich geprägt.“
Germain Weber,
Dekan der Fakultät für Psychologie,
Uni Wien
Steve Jobs
Der hippiesk sozialisierte Apple-Chef gab
zeitlebens nicht das
(etwa von MicrosoftGründer Bill Gates perfekt personifizierte)
Idealbild eines Computerfirmen-CEOs ab.
Gerade seine unkonventionellen Denkund Verhaltensweisen
werden häufig als sein
wahres Erfolgsgeheimnis gesehen.
Naomi Campbell
Ihre offenbar unkontrollierbaren Wutausbrüche brachten die
43-Jährige schon
mehrfach vor den
Strafrichter. Im psychologischen Sinn
könnte das auf eine
„disruptive Launenfehlregulationsstörung“ hindeuten. Im
Supermodel-Kontext
war das bis dato noch
kein Thema.
KIMBERLY WHITE/REUTERS, KIERAN DOHERTY/REUTERS, THEO WARGO/GETTY IMAGES
Der Hamburger Medizinphilosoph
Thomas Schramme beschäftigt sich seit
Jahren mit diesen Fragen. Er meint: „Ganz
pragmatisch lässt sich sagen, dass die solidarisch finanzierte Behandlung einer Erkrankung nur nach einer Diagnose möglich ist. Die Diagnose ist die Eintrittskarte, und zweifellos sollen Menschen, die
leiden, mit solidarischer Hilfe rechnen
können. Die Frage bleibt, ob diese Hilfe
eine medizinische sein muss. Abgeschlagen und überlastet fühlt sich wahrscheinlich jeder einmal. Wenn nun aber zum
Beispiel eine Krankheitskategorie namens
,Burnout‘ in Sichtweite kommt, wird dieses Angebot auch angenommen werden,
sowohl vom Patienten als auch vom Psychologen, der seine Diagnose vielleicht so
rechtfertigen wird: Diese Person hat sich
eine Pause verdient, und ihr Weg zu dieser Pause ist eben eine Burnout-Diagnose.“ Krankheit bleibt Ansichtssache.
Laut Hauptverband der Sozialversicherungsträger werden in Österreich aktuell
rund 900.000 Menschen psychologisch
und psychiatrisch betreut, 840.000 von ihnen bekommen Psychopharmaka. Manfred Stelzig, Psychiater am Universitätsklinikum Salzburg, geht sogar von einem
deutlich höheren Wert aus; nach seinen
Schätzungen leiden 1,2 Millionen Österreicher an psychischen Erkrankungen. Zur
tatsächlichen Häufigkeit von psychischen
Erkrankungen in Österreich liegen bis
heute keine validen Daten vor, auch die
Fachleute können nur hochrechnen: Die
sogenannten Bundes-Gesundheitssurveys
in Deutschland gehen davon aus, dass
zwischen 30 und 40 Prozent der Gesamtbevölkerung pro Jahr irgendeine Form
von psychischem Leiden erleben. Auch
die WHO sagt voraus, dass die Krankheitslast durch psychiatrische Erkrankungen
schon in Kürze jene der Herz-KreislaufErkrankungen überwiegen wird. So gesehen sind psychische Störungen in den
vergangenen Jahren relativ normal geworden. Die pessimistische Erklärung dafür lautet: weil die Diagnosen überhand
nehmen und auch Persönlichkeitszüge als
krank definiert werden, die nicht dem
klassischen Bild von pathologischen Erscheinungen entsprechen. Tatsächlich
lässt sich bestens darüber streiten – und
auch die psychiatrische Community tut
dies ausführlich –, was denn nun eine
ganz normale Schüchternheit von einer
krankheitswertigen Sozialphobie unterscheide und den Choleriker an der Fußgängerampel von einem behandlungs-
Charlie Sheen
Verrücktsein als
Geschäftsmodell: Nach
seinem spektakulären,
mutmaßlich drogeninduzierten Zusammenbruch 2011 und
Abschied als „Cooler
Onkel Charlie“ faselte
Sheen auf YouTube
sichtlich angeschlagen
von Aliens und
Wunderkräften – und
ging mit derselben Masche gleich anschließend auf Tournee.
17. März 2014 • profil 12 71
TITEL
„Einfach nur haarsträubend“
E
s geschah an einem Sommertag des
Jahres 2012. Die 41-jährige Burgenländerin Alexandra L. verabschiedete sich
von ihren heute fünfjährigen Zwillingen,
die den Tag beim Vater verbringen sollten.
Die Eltern lebten getrennt und waren
nicht mehr gut aufeinander zu sprechen.
Immer wieder kam es über die Besuchsregelung zu Konflikten, weshalb eine Mitarbeiterin eines unabhängigen sozialen Vereines eingeschaltet werden musste. Am
Abend, als die Mutter ihre Kinder zurückerwartete, kam jedoch nur diese Besuchsbegleiterin und übergab Alexandra L. ein
Schreiben, das ihr Leben von einer Sekunde auf die andere verändern sollte. Aufgrund von „Gefahr im Verzug“ seien ihr
die Kinder abgenommen worden. Sie leben seither beim Vater.
Erst später erfuhr die Burgenländerin,
dass eine Gutachterin sie für geisteskrank
erklärt hatte. „Die Diagnose stimmt nicht. Es
wurde geschlampt“, so die fassungslose Frau.
Auch Frau L.s Prozessbegleiterin
Margreth Tews war vor den Kopf gestoßen:
„Die Gutachterin hat ihre Kompetenz übertreten. Sie ist nur eine klinische Psychologin, hat aber eine psychiatrische Krankheit
diagnostiziert.“
Alexandra L. hat sich ein Privatgutachten von einer renommierten Psychiaterin, die selbst Sachverständige ist, erstellen
lassen und zusätzlich einen Befund der
psychiatrischen Leiterin des psychosozialen Diensts Burgenland eingeholt, die
beide zu demselben Ergebnis kommen:
Die Frau sei überdurchschnittlich intelligent, es gebe keine Hinweise auf eine psychiatrische Erkrankung. Da es sich aber
nur um ein Privatgutachten und einen
medizinischen Befund handelt, werden
beide vor Gericht nicht anerkannt. Erst
wenn das Gericht selbst ein neues Gutachten in Auftrag gibt, kann das ursprüngliche Gutachten entkräftet und Frau L. rehabilitiert werden. Bald liegt die Kindesabnahme zwei Jahre zurück.
Alexandra L. ist kein Einzelfall. Immer
wieder wird harte Kritik an österreichischen Gutachten geübt. Auch der klinische Psychologe Germain Weber lässt
kein gutes Haar an einigen Kollegen.
„Manche Gutachten sind einfach nur haarsträubend und fernab von jeglicher fachlichen Kompetenz“, so Weber. In Deutschland und den USA seien strenge Kriterien
für Gutachter gesetzlich vorgegeben; wer
72 profi l 12 • 17. März 2014
Immer wieder sorgen psychiatrische und psychologische
Gutachten in Österreich für heftige Kritik.
1
2
3
DER FALL L.
Das Bezirksgericht Neusiedl am See entzog Alexandra L. wegen „Gefährdung
des Kindeswohls“ ihre beiden Söhne. Grundlage war ein Gerichtsgutachten,
das L. psychische Probleme attestierte. (1) Ein zweites Gutachten kritisierte
das erste massiv („erfüllt die geforderten Qualitätskriterien nicht“) und sah
„keinen Hinweis auf eine psychische Erkrankung“. (2) Auch der Psychosoziale
Dienst Burgenland erklärte Frau L. für „psychophatologisch unauffällig“. (3)
Ihre Kinder darf Alexandra L. nach wie vor nicht sehen.
bedürftigen Menschen mit „disruptiver
Launenfehlregulationsstörung“.
Der Medizinphilosoph Schramme bemüht zur Klärung einen Vergleich:
„Grundsätzlich ist der psychiatrische
Krankheitsbegriff nicht anders zu verstehen als jener der somatischen Medizin.
Die entscheidende Kategorie wäre die Idee
der Funktionsstörung. In Bezug auf organische Funktionen haben wir sehr klare
Vorstellungen, wie die Maschine Mensch
funktioniert. Das ist für den psychiatrischen Bereich sehr viel schwieriger, weil
wir den Geist nicht auf dieselbe Art untersuchen können wie den Körper. Die
Frage, wo die Grenze zum Pathologischen
gezogen werden soll, ist entsprechend
schwierig. Aber das ist sie in der somatischen Medizin fallweise auch: Wo fängt
Bluthochdruck an, pathologisch zu werden? Das sind zum Teil auch schlicht pragmatische Erfahrungswerte.“
Das heißt nicht, dass die psychiatrische
Diagnostik ganz ohne allgemeingültige
Definitionen agieren würde. Als Goldstandard gelten ihr die Diagnoserichtlinien
der American Psychiatric Association in
deren „Diagnostic and Statistical Manual
of Mental Disorders“, das im Vorjahr seine fünfte Auflage erlebte und eine universell gültige Definition von psychischen
Erkrankungen liefern soll. In den Symptom-Checklisten des DSM wird die Gren-
ze zwischen Normalität und Pathologie
abgesteckt – und dabei, laut den Kritikern
des Manuals, auch notorisch zu weit gefasst. Dahinter steckt einerseits der berechtigte Versuch, psychische Krankheiten schon im Frühstadium zu identifizieren. Andererseits steigt damit aber auch
die Gefahr der Überdiagnostizierung, wie
ein viel diskutierter Eintrag der jüngsten
DSM-Auflage zeigt, demzufolge Personen,
die nach dem Tod eines ihnen nahestehenden Menschen länger als zwei Wochen intensiv trauern, bereits für eine „depressive Störung“ qualifiziert wären. Der
Hamburger „Spiegel“ warnte bereits vor
einer „Ausweitung der Behandlungszone“: „Scheinbar kleine Veränderungen der
diagnostischen Kriterien können ganze
Bevölkerungskreise in Patienten verwandeln.“
Besonders virulent wird diese Frage
derzeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Seit gut zehn Jahren werden Psychologen, Psychiater und Hausärzte von
einer wahren Flut mutmaßlicher ADHSPatienten überschwemmt. Dass die Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung, die zu einem Gutteil auf genetischen Ursachen basiert, seit der
Jahrtausendwende tatsächlich derart rasant zugenommen haben soll, ist zumindest fraglich. Genau beziffern kann das
freilich niemand. Laut den Daten der
THOMAS LOHNES/GETTY IMAGES
dagegen verstoße, finde sich mitunter
selbst auf der Anklagebank wieder. In
Österreich herrsche dagegen absolute
Willkür. So wurden auch renommierte
heimische Gutachter wie der ehemalige
Sachverständige Egon Bachler von
deutschen Kollegen bereits vernichtend
beurteilt.
Was Weber aber oft zu lesen bekommt, lässt ihn immer wieder sprachlos zurück. So etwa ein fachpsychologisches Gutachten, das darüber entscheiden sollte, ob eine als
Behindertenwerkstätte geführte Einrichtung eine sinnvolle Arbeitsumwelt
für Menschen mit Beeinträchtigung
darstelle. Ihr Gutachten stützte die
Fachpsychologin unter anderem auf
unsystematische Beobachtungen, die
sie bei der Vorbeifahrt an dem Betrieb
aus ihrem Auto heraus zusammengetragen hatte. Das Gutachten führte zur
Schließung der Werkstätte.
Solche Schlampereien erklären einige Experten damit, dass das Honorar
für Gutachten schlicht zu niedrig sei. So
erhalten Psychiater zwischen 200 und
700 Euro brutto, der Durchschnitt liegt
bei 400 Euro. Tatsächlich gebe es viele
engagierte und korrekte Gutachter,
doch auch ihm kämen oft Papiere unter,
die fließbandartig in Copy-and-PasteManier fabriziert wurden, bestätigt
Martin Marlovits vom Verein Vertretungsnetz, der Betroffene berät und
auch Sachwalterschaften übernimmt.
Aktuell haben rund 60.000 Personen in
Österreich einen Sachwalter. Durch die
Zunahme von dementiellen Erkrankungen könnte diese Zahl bis zum Jahr
2020 auf 80.000 ansteigen. Marlovits erklärt, dass in diesem Bereich dringend
gesetzliche Reformen nötig wären. Das
Verfahren komme derzeit einer völligen
Entmündigung gleich. „Eine Sachwalterschaft sollte immer nur gewisse Bereiche umfassen, da die betroffenen
Personen andere Bereiche sehr wohl
gut im Griff haben können.“ Viele Menschen könnten bereits durch ein unterstützendes Umfeld in die Lage versetzt
werden, ihre Angelegenheiten selbst zu
besorgen.
Dabei wäre schon viel gewonnen,
wenn Verlass auf die Qualität von Gutachten wäre.
Tina Goebel
Nina Hagen
Die ehemalige Frontfrau des Berliner Punk erzählt heute gern von Außerirdischen und übersinnlichen Kräften. Psychologen würden von einer schizotypischen Persönlichkeit sprechen,
Showbusiness-Spezialisten von guter Unterhaltung.
17. März 2014 • profi l 12 73
T itel
­ ozialversicherungsträger werden derzeit
S
in Österreich rund 8100 Kinder unter
zehn Jahren und 26.000 Jugendliche zwischen zehn und 19 Jahren mit Psychopharmaka behandelt. Die Krankenkassendaten bilden allerdings nur einen Ausschnitt ab und unterscheiden auch nicht
zwischen konkreten Diagnosen.
„Über den psychischen Zustand von
Kindern und Jugendlichen gibt es in Österreich erstaunlicherweise keine repräsentativen Daten“, erklärt Andreas Karwautz von der Uniklinik für Kinder- und
Jugendpsychiatrie in Wien. In einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit dem
Ludwig Boltzmann Institut für Health Promotion Research erarbeitet Karwautz’ Klinik derzeit eine solche Datenbasis. Mit
konkreten Zahlen ist erst im kommenden
Jahr zu rechnen, einstweilen kann der
Kinder- und Jugendpsychiater nur eine
Größenordnung beziffern: „Wir können
davon ausgehen, dass rund 20 Prozent der
Kinder und Jugendlichen psychologische
Probleme haben und etwa zehn Prozent
behandlungsbedürftige Störungen.“
Dennoch sei nicht jedes hyperaktive
Kind mit Ritalin oder anderen ADHS-Therapeutika gut bedient: „In unserem Fach
kommt es in Wellen immer wieder zu vermehrt wahrgenommenen speziellen Problemen: Wurde vor 20 Jahren sexueller
Missbrauch zu oft diagnostiziert – als ein
medial sehr präsentes Thema, das sich für
uns in einer gewaltigen Menge an Zuweisungen geäußert hat –, ist es derzeit ADHS.
Ich nehme aber nicht an, dass diese
Krankheit heute epidemiologisch häufiger auftritt als in den 1990er-Jahren, und
gehe davon aus, dass sie in einigen Jahren auch wieder seltener diagnostiziert
werden wird.“
Der Wiener Kinder- und Jugendpsychiater Christian Kienbacher sieht das
ähnlich: „Ich schätze, dass von zehn Kindern, die von ihren Eltern mit Verdacht
auf ADHS zu uns gebracht werden, maximal zwei tatsächlich an dieser Störung leiden und nur eines auch wirklich eine medikamentöse Therapie braucht. Und womöglich hat dann ausgerechnet dieses
Kind Eltern, die Psychopharmaka prinzipiell ablehnen.“
Für Eltern verhaltensauffälliger Kinder
kann die Diagnose eines Psychiaters aber
auch zum Hoffnungsschimmer werden.
In einem aktuellen Essay beschreibt die
US-Journalistin Hanna Rosin ein typisches Familienschicksal. Hauptdarsteller:
Rosins Sohn Jacob, 10. Schon früh hatte
74 profil 12 • 17. März 2014
„Wir traten in eine neue
Ära der Klarheit ein.“
sich Jacob als eher außergewöhnliches
Kind erwiesen und große Schwierigkei- Hanna Rosin,
ten im Umgang mit anderen Menschen, US-Journalistin, über die Folgen
dafür aber ein obsessives Verhältnis zu
­einer Asperger-Diagnose für ihren
Zahlen entwickelt. Jahrelang versuchten
Sohn Jacob
seine Eltern, die Seltsamkeiten ihres Kindes mit seiner Umgebung zu vermitteln,
Lehrer und Mitschüler auf Jacobs spezielle Bedürfnisse einzuschwören. Es war
ein harter, zermürbender Kampf, der zusehends verloren zu werden
drohte. Dann, im Jänner 2013,
Introversion/Extraversion
die Erlösung in Form einer Diagnose: Jacob litt am AspergerIst ein Mensch gesellig und gesprächig und
Syndrom, einer milden Form
geht herzlich auf seine Mitmenschen zu, ranvon Autismus. Rosin: „Wir traten
giert er im Bereich der Extraversion; Introverin eine neue Ära der Klarheit ein.
tierte agieren er eher zurückhaltend und gern
Wenn Jacob seinen kleinen Bruallein.
der schlug, dann nicht, weil er
Extremfälle: Als vermeidend-selbstunsichere
eifersüchtig war oder weil alle
Brüder einander schlagen, sonPersönlichkeiten bezeichnen Experten Perdern weil er Asperger hatte.“
sonen, die aus Angst vor Kritik und ZurückAuch das Umfeld konnte, nachweisung berufliche Aktivitäten vermeiden.
dem Jacobs Eigenheiten einen
Sie lassen sich nur widerwillig mit Menschen
Namen hatten, sehr viel besser
ein, halten sich für unattraktiv und fühlen
mit diesen fertigwerden. Es gab
sich anderen unterlegen. Schizoide Persönschließlich klare Richtlinien, wie
lichkeiten hingegen reagieren wenig auf ihre
mit Asperger-Kindern umzugehen sei, eigene BetreuungseinUmwelt und führen oft ein Leben als menrichtungen für Betroffene, speschenfeindliche Einzelgänger.
ziell ausgebildete Pädagogen. In
gewisser Weise waren Jacobs unvorhersehbare Launen vorherOffenheit für Erfahrungen
sehbar geworden.
Personen mit niedrigen Offenheitswerten verDann aber, vier Monate nach
Jacobs Diagnose, entfernte die
halten sich konventionell und pflegen eher
American Psychiatric Associatikonservative Einstellungen. Menschen mit
on das Asperger-Syndrom aus
hohen Offenheitswerten haben meist auch
ihrem offiziellen Diagnosekataeine ausgeprägte Fantasie und erleben ihre
log, dem DSM. Jacob war über
Gefühle intensiv, sind eher experimentierNacht seine Krankheit abhanden
freudig und künstlerisch interessiert.
gekommen. Die Gründe der AsExtremfälle: Sogenannte schizotypische Persociation waren nachvollziehbar: Es hatte sich herausgestellt,
sönlichkeiten sind unkonventionell, kreativ
dass die Genauigkeit von Asperund offen und entfalten sich überall dort, wo
ger-Diagnosen kaum über die
Kreativität und Fantasie gefragt sind. In starZufallswahrscheinlichkeit hinren Strukturen leiden sie. Eine Störung liegt
auskam. Kinder mit völlig gleidann vor, wenn sich eine Exzentrik entwichen Symptomen wurden auch
ckelt, in der oft eigenartige Denk- oder
als reguläre Autisten identifiziert
Sprechweisen an den Tag treten und die Beoder wegen ganz anderer Entwicklungsstörungen behandelt.
troffenen zum Beispiel sehr abergläubisch
Rosin: „Es war ein bisschen so,
werden oder paranoid reagieren.
als wäre man als Agnostiker just
Histrionische Persönlichkeiten hingegen
zu dem Zeitpunkt katholisch gelieben dramatische Auftritte, sind unterhaltworden, an dem sich die Bibel
sam und ­egozentrisch, eitel und wollen beals das Werk falscher Propheten
wundert werden. Mitunter sind sie manipuerweist. Was sollte man jetzt
lativ, provokativ und ­neigen zur sexuellen
glauben?“
Thomas Insel, Chef des NatiAggression.
2
3
Larissa Marolt
Die 21-jährige Kärntnerin begeisterte das
Publikum des diesjährigen RTL-„Dschungelcamp“ mit ausgeprägt
unberechenbaren
Aktionen. Medien
spekulierten über
mögliche psychische
Probleme („Hat Larissa
ADHS?“). Die Sorgen
waren offenbar
unbegründet.
Mario Balotelli
Übersteigertes Selbstbewusstsein (ließ bereits in jungen Jahren
eine Bronzestatue von
sich selbst anfertigen),
Hang zur Aggression
(prügelte sich auch
schon mit seinem eigenen Trainer), tolle Fußballer-Karriere (derzeit
beim AC Milan)
RTL, EPA/MATTEO BAZZI, MANAN VATSYAYANA/AFP/GETTY IMAGES
onal Institute of Mental Health (NIMH)
und damit von Amts wegen oberster USPsychiater, glaubt jedenfalls nicht daran,
dass die DSM-Richtlinien allein über die
geistige Gesundheit von Psychiatriepatienten entscheiden können. In einem offenen Brief warnte Insel davor, in dem
Handbuch mehr als nur ein „Wörterbuch“
zu sehen: „Anders als unsere Definitionen
von Herzkrankheiten, Lymphomen oder
AIDS basieren die DSM-Diagnosen lediglich auf einem Übereinkommen über
bestimmte Häufungen klinischer Symptome, und nicht auf einer objektiven naturwissenschaftlichen Basis.“ Sprich: Psychiatrische Diagnoserichtlinien sind lediglich Hilfskonstrukte für etwas, was die
Medizin noch nicht besser fassen kann.
Insels NIMH arbeitet bereits an einem
neuen, objektiveren Diagnosesystem, das
vor allem auf biologischen, messbaren Daten aufbauen soll.
Tatsächlich rütteln neuere Erkenntnisse aus der Genetik und den bildgebenden
neurologischen Verfahren an den Fundamenten der psychiatrischen Diagnosepraxis, deren Kategorien sich mit den biologischen Fundamenten schlicht nicht
decken. Die Landkarte, die das Diagnosehandbuch sein will, wurde freihändig
und ohne echte Ortskenntnis gezeichnet.
Das Fachblatt „Nature“ kommentierte diese Erkenntnisse so: „Die nackte Tatsache
lautet: Es gibt keine allgemeine Übereinkunft, wie psychische Krankheiten am
besten definiert und diagnostiziert werden sollen. Das Problem ist, dass Biologen
keine genetischen oder neurowissenschaftlichen Beweise gefunden haben,
welche die Einteilung von komplexen
psychischen Störungen in einzelne Kategorien stützen würden.“ Ungefähr 20 Prozent der Patienten, die Diagnosekriterien
für eine bestimmte Störung erfüllen, zeigen auch Symptome, die für mindestens
zwei andere Krankheiten typisch sind. Es
sind nicht nur die Grenzen zwischen normal und pathologisch, die hier aufgerissen werden, sondern auch jene zwischen
Schizophrenie und Posttraumatischer Belastungsstörung oder jene zwischen
Angsterkrankung und Depression.
Aber selbst wenn die biochemischen
Hintergründe von bipolaren Erkrankungen oder Zwangsstörungen in einigen Jahren definitiv geklärt sein sollten, wird die
Grundfrage Bestand haben – sie lautet:
Was ist eigentlich normal? Im Wesentlichen beruht die Definition von normalem Verhalten auf gesellschaftlichen Über-
John Forbes Nash
Im Alter von 30 Jahren
wurde dem US-Mathematiker eine Schizophrenie diagnostiziert,
Nash verbrachte anschließend viele Jahre
in psychiatrischen
Kliniken. Für seine
Arbeiten zur Spieltheorie wurde ihm im
Jahr 1994 der
Wirtschaftsnobelpreis
verliehen.
TITEL
„Von zehn Kindern,
die mit Verdacht auf
ADHS zu uns gebracht
werden, leiden maximal
zwei an der Störung.“
Christian Kienbacher,
Kinder- und Jugendpsychiater
einkünften, auf einem in einer bestimmten Zeit und bestimmten Kultur typischen,
also durchschnittlichen, erwartbaren und
sozial angepassten Verhalten. Ein Mensch
gilt als psychisch gesund, wenn sein Verhalten jenem der Mehrheit gleicht. Sinngemäß erklärte Sigmund Freud bereits
1937, dass jeder Normale nur durchschnittlich normal sei. Normalität in diesem Sinn ist also nicht zuletzt eine Anpassungsleistung. Anpassung um der bloßen Normalität willen kann aber auch zu
einer dramatischen psychischen Belastung werden. Seiner Exzentrik freien Lauf
zu lassen, kann der psychischen Gesundheit durchaus zuträglich sein – wenn die
Umgebung mitspielt. Denn abseits von gesellschaftlichen Konventionen entscheidet in der Frage, was normal und was
schon verrückt sein, vor allem der Kontext.
Klaus Kinski hätte in einer Wirtschaftsprüfungskanzlei wohl sehr schnell seine
Berufsunfähigkeitspension – oder eine
Zwangseinweisung – kassiert, als Schauspieler war er ein genialischer Exzentriker. Naomi Campbell würde als Polizeibeamtin mutmaßlich keine Woche ohne
Disziplinarverfahren überstehen, als Supermodel gehören übersteigerter Narzissmus und emotionale Auffälligkeiten irgendwie zum guten Ton.
Die differenzielle oder Persönlichkeitspsychologie unterscheidet fünf zentrale
Dimensionen der menschlichen Persönlichkeit – Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrung, Gewissenhaftigkeit
und Verträglichkeit – die, jeweils anders
ausgeprägt und gewichtet, die menschliche Persönlichkeit im Wesentlichen ausmachen (siehe Kästen). Schlägt einer oder
mehrerer dieser Faktoren in Richtung Extremwert aus, nähert sich die Psyche dem
pathologischen Bereich. Als echte Störung
wird in diesem Modell ein Persönlichkeitszug klassifiziert, der sich als unflexibel und dauerhaft erweist, soziales Funktionieren verhindert und subjektives Leid
4
Verträglichkeit
Menschen mit hohen Verträglichkeitswerten haben großes Verständnis für
ihre Mitmenschen, sind hilfsbereit, haben großes Vertrauen und handeln kooperativ. Am anderen Ende des Spektrums sind Egoismus und Misstrauen
angesiedelt. Solche Personen treten
gern in Wettstreit. Auch Narzissten sind
in diesem Bereich anzusiedeln.
Extremfälle: Über die Maßen verträgliche Personen werden als dependente
Persönlichkeiten bezeichnet. Sie sind
extrem treu und rücksichtsvoll, liebenswürdig und kooperativ und leisten
in der Regel keinen Widerstand, bis zu
dem Punkt, an dem sie keine eigenen
Entscheidungen mehr treffen und massive Verlassensängste entwickeln.
Antisoziale Persönlichkeiten hingegen sind äußerst aggressiv, verhalten
sich manipulativ und betrügerisch,
rücksichtslos und unbarmherzig.
5
Gewissenhaftigkeit
Ausgeprägt gewissenhafte Menschen
sind sorgfältig, effektiv, organisiert,
zuverlässig und überlegt; solche mit
niedrigen Werten auf dieser Skala
eher unsorgfältig, spontan und ungenau. Dieser Faktor beschreibt auch
am ehesten die Selbstkontrolle und
Zielstrebigkeit einer Persönlichkeit.
Extremfälle: Überwiegen gewissenhafte Persönlichkeitsmerkmale alle
anderen, können Zwangsstörungen
entstehen, die meist ein extremes
Ordnungsbedürfnis, übertriebene
Hygiene oder einen außerordentlichen Kontroll- und Überprüfungstrieb beinhalten. Ein Leben ohne Regeln und Gewohnheiten stellt solche
Menschen vor große Herausforderungen. Das Streben nach Perfektionismus lässt sie in bestimmten Fällen
gar keine Arbeit mehr erledigen.
verursacht – wobei die letzteren beiden
Faktoren wesentlich umweltabhängig
sind. Was des einen Theater, ist des anderen geschlossene Anstalt.
Wie grenzwertig konkrete Grenzziehungen in Fragen der menschlichen Psyche sein können, verdeutlicht eine Titelgeschichte des „Time“-Magazins vom August 2002. In dem Artikel wurde vor der
damals gerade frisch identifizierten – aber
bereits großzügig diagnostizierten – bipolaren Störung bei Kindern gewarnt. Die
Story enthielt auch eine Checkliste für besorgte Eltern. Einige der Warnsignale, die
auf ein manisch-depressives Kind hinweisen sollen: „schlechte Handschrift“, „beschwert sich über Langeweile“, „ist sehr
intuitiv oder kreativ“, „hat Schwierigkeiten, am Morgen aus dem Bett zu kommen“.
Dies ist keine Einladung zur Privatdiagnose. Ihr Kind ist wahrscheinlich nur
ganz normal müde.
n
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