340 20 Bitterstoffe Ein Selbstversuch mit Bitterstoffen: Ein Blatt Wermut kauen oder einige Tropfen Tausendgüldenkrauttinktur einnehmen und länger im Mund behalten: Wie fühlt sich „bitter“ an? Wie schnell fließen die Verdauungssäfte und lassen „das Wasser im Mund zusammenlaufen“? Wer spürt nach einer kurzen Weile die angenehme Wärme im Magen oder – falls vorhanden – den Abgang von Blähungen? Manche verspüren die tonisierenden Eigenschaften der Bitterstoffe sofort: Sie werden wach, oder sie bekommen auf der Kopfhaut eine „Gänsehaut“. Wenn eine Bitterstoffkur 3–4 Wochen lang durchgeführt wird, tonisieren und stärken Bitterstoffe spürbar. Probieren Sie es aus! „Was bitter dem Mund, ist dem Magen gesund.“ Der Volksmedizin ist bekannt, dass der Magen, ja der ganze Körper durch das Trinken eines bitteren Getränks gekräftigt wird. Die Wertschätzung solch kraftspendender Pflanzen bringen Namen wie Tausendgüldenkraut oder die Bezeichnung von Bittermitteln als Lebenselixiere deutlich zum Ausdruck; auch Magenbitter sind beliebt und wirksam. Aus diesem alten Wissen stammt das geflügelte Wort von der „bitteren Medizin“. Bitterstoffe werden häufig als Gewürze mit der Nahrung aufgenommen, entfalten dort ihre Wirkung als Tonika (Kräftigungsmittel) und sind damit bereits Arzneimittel. „Geistige Bitterwässer“ werden überall gebraut und in der Selbstmedikation eingenommen als Klosterelixier (Benedictine, Chartreuse), als Aperitif oder Digestif vor oder nach einem opulenten Mahl oder als Kräutergebräu gegen Magengrimmen. Bitterstoffe sind in ihrer chemischen Struktur nicht einheitlich aufgebaut. Einziger Leitfaden dieser chemisch uneinheitlichen Stoffgruppe ist der bittere Geschmack; daran ist die Wirkung der Bitterstoffe gebunden. Trotz der Unterschiede im chemischen Aufbau ist die Wirkung der Bitterstoffe im Allgemeinen gleich, das rechtfertigt die Zusammenfassung der Bitterstoffdrogen zu einer gemeinsamen Gruppe. Die meisten Bitterstoffe gehören zu den Monoterpenen, zu Flavonoiden oder Alkaloiden. Viele liegen glykosidisch gebunden vor. Wie man Bittermittel unterscheidet, zeigt ▶ Tab. 20.1. Bitter ist die stärkste Geschmacksqualität, die wir kennen. Die Bitterstoffwirkung beginnt im Mund bei den Geschmacksnerven. Diese Bittergeschmacksknospen sitzen am Zungengrund und erneuern sich alle 6–8 Tage. Erwachsene verfügen über ca. 2000 Geschmacksknospen, Kinder besitzen wesentlich mehr. Das macht verständlich, weshalb Kinder sehr viel empfindlicher auf Bitterstoffe reagieren als Erwachsene. Im Alter nimmt die Anzahl der Geschmacksknospen und damit die Geschmacksempfindlichkeit zunehmend ab. Die Reaktionen des Körpers auf Bitterstoffe sind sehr individuell und hängen von der jeweiligen Speichelzusammensetzung ab sowie von Alter, Psyche, Gesundheitszustand u. a. Bei Schwangeren, Rauchern, Biertrinkern, Medikamentenabusus und Stress ist die Empfindung für bitter stark herabgesetzt. Hier braucht es in der Therapie kräftige Bitterstoffdrogen. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. k Praxistipp 20 – Bitterstoffe 341 ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Wirkung Amara-Gruppe Artischocke Enzian Löwenzahn Tausendgüldenkraut allgemein tonisierend (die Bitterwirkung steht im Vordergrund) Amara tonica: reine Bittermittel Beifuß Engelwurz Hopfen Pomeranze Schafgarbe Wermut tonisierende Wirkung verbindet sich mit den zusätzlichen Eigenschaften der ätherischen Öle: spasmolytisch, beruhigend, karminativ, motilitätssteigernd, entzündungshemmend, cholagog, antimykotisch oder antibakteriell Amara aromatica: Bittermittel mit ätherischen Ölen Ingwer Galgant Gelbwurz ● Isländisch Moos ● ● ● feuriger Geschmack regen intensiv Verdauung und Darmperistaltik an Amara acria: Bittermittel mit Scharfstoffen binden Magensäure und schleimhautreizende Zersetzungsprodukte ihr Schleim bietet Schutz für entzündete (Rachen-)Schleimhäute Amara mucilaginosa: Bittermittel mit Schleimstoffen " Hinweis Bitterwert Die Intensität von „bitter“ drückt sich durch den Bitterwert aus: Ein Bitterwert von 10 000 bedeutet, dass ein Extrakt von 1 g Droge in 10 000 ml Wasser gerade noch bitter schmeckt. Starke Bitterstoffdrogen sind z. B. Enzian und Wermut, mittlere Bitterstoffdroge Schafgarbe und schwache Bitterstoffdrogen Wegwarte und Löwenzahn. k Praxistipp ● ● ● ● Wesentliche Voraussetzung für die Bitterstoffwirkung bei Appetitlosigkeit ist die Einnahme ca. ½ Stunde vor dem Essen. Bei Verdauungsstörungen auch nach dem Essen. Die Bitterwirkung beginnt im Mund, also nicht süßen (außer mit Süßholz – das macht das Bittere angenehm, verändert aber die Wirkung nicht) und erst einmal 1–2 Min. im Mund behalten! Bitterstoffe sind hitzeempfindlich. Deshalb nur überbrühen, nicht länger kochen. Kalte Zubereitungen sind bitterer und wirksamer (deshalb sind Aperitifs und Digestifs seit Jahrhunderten so bewährt!). Bitterstoffe wirken dosisabhängig. Die individuelle Dosis ist sehr unterschiedlich und kann nur selbst bestimmt werden. Wirkungen und Anwendungen Bitterstoffe regen die Verdauungssäfte an (▶ Tab. 20.2). Die Magenschleimhaut, das Speicheldrüsensystem und die gesamte Verdauungstätigkeit werden innerviert und die motorischen Leistungen des Magens und der Gallenblase verbessert. Zudem sorgen Bitterstoffe auch für eine verbesserte Resorption von Nährstoffen. Neben der Wirkung auf sämtliche Verdauungsorgane unterstützen Bitterstoffe das Immunsystem, die Blutbildung und den Stoffwechsel, sie stärken das Herz, sie wärmen und v. a. tonisieren, kräftigen sie spürbar Körper und Seele. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Heilpflanzen ● Bitterstoffe ▶ Tab. 20.1 Unterscheidung der Bittermittel. 20 – Bitterstoffe 342 ▶ Tab. 20.2 Einsatz von Heilpflanzen mit Bitterstoffen. Wirkungen alle Bitterstoffdrogen ● ● ● ● appetitanregend verdauungsfördernd blähungswidrig darmperistaltikanregend Indikationen ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● alle Bitterstoffdrogen Milieuverbesserung im Darm ● ● Schafgarbe Wermut u.a Appetitlosigkeit Anorexie Blähungen Dyspepsie funktionelle Gallenblasen-/ Gallenwegsstörungen funktionelle Obstipation Pankreasinsuffizienz Verdauungssaftmangel Magenschwäche, Magensenkung Hepatopathie Darmsanierung Darmmykose spasmolytisch im Verdauungstrakt Reizmagen, Reizdarm alle Bitterstoffdrogen resorptionsfördernd Verdauungsstörung mit Mangelerscheinungen alle Bitterstoffdrogen unterstützen Blutbildung Eisenmangel, Anämie (adjuvant) ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Enzian Galgant Löwenzahn Schafgarbe Tausendgüldenkraut Wermut ● Enzian Kalmus Tausendgüldenkraut Wermut allgemein tonisierend ● herzstärkend durchblutungsfördernd ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Enzian Fieberklee Ingwer Tausendgüldenkraut Wermut ● ● abwehrstärkend fiebersenkend ● ● ● ● Hypotonie Altersherz Herzschwäche als Herzstütze bei hochfieberhaften Infekten Durchblutungsstörungen Rekonvaleszenz Schwächezustände depressive Verstimmungszustände Frösteln psychovegetatives Erschöpfungssyndrom allgemeine Abwehrstärkung Resistenzsteigerung Erkältungskrankheiten hohes, schwächendes Fieber Nebenwirkungen Bei zu hohen Dosen sind gegenteilige Effekte wie Sekretions-/Appetithemmung, Übelkeit, Brechreiz und gelegentlich Kopfschmerzen möglich. Kontraindikation Bitterstoffe sind durch ihre Steigerung von Stoffwechsel und Sekretion kontraindiziert bei: ● Hyperazidität des Magens ● Ulcus ventriculi und Ulcus duodeni (bei Bitterwert über 10 000) ● Gallensteinen (bei hohem Bitterwert) Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Heilpflanzen 20 – Bitterstoffe 343 ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Afrikanische Teufelskralle, Teufelskralle, Afrikanische (S. 173), Harpagophytum procumbens, Harpagophyti radix Artischocke (S. 242), Cynara cardunculus, Cynarae folium/radix Bittere Schleifenblume, Iberis amara, Iberis amara totalis Echte Engelwurz, Angelica archangelica, Angelicae radix Echtes Tausendgüldenkraut, Centaurium erythraea, Centaurii herba Galgant, Alpinia officinarum, Galangae rhizoma Gelber Enzian, Gentiana lutea, Gentianae radix Hopfen, Humulus lupulus, Lupuli strobulus/glandula Ingwer (S. 57), Zingiber officinale, Zingiberis rhizome Isländisch Moos, Cetraria islandica, Cetrariae lichen Kalmus, Acorus calamus, Calami rhizoma/aetheroleum Löwenzahn, Taraxacum officinale, Taraxaci radix cum herba Mariendistel (S. 80), Silybum marianum, Silybi marianae fructus Pomeranze, Citrus aurantium, Aurantii fructus immaturus Schafgarbe (S. 294), Achillea millefolium, Millefolii herba/flos Wasserdost, Wasserhanf, Eupatorium perfoliatum, Eupatorii herba Wermut (S. 73), Artemisia absinthium, Absinthii herba Weißer Andorn, Marrubium vulgare, Marrubii herba Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. ● Bitterstoffe Pflanzen mit Bitterstoffen