Das Parlament hat eine Chance vertan

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Bericht | Text: Manuel Schumann | Foto: Petra Pau / DIG/TRIALON
Das Parlament hat eine Chance vertan
Petra Pau über Volksentscheide auf Bundesebene
~: Frau Pau, wie würden Sie den
Zustand unserer Demokratie in einem
Satz beschreiben?
Frau Pau: Sie hat Schwindsucht.
~: Inwiefern?
Frau Pau: Viele Bürger haben den
Eindruck, sie seien außen vor. Oft höre
ich den Satz: „Wir wollen bei wichtigen
Entscheidungen endlich mitbestimmen.“
Aber eine solche politische Partizipation
ist in den derzeitigen Strukturen kaum
möglich. Es wäre fahrlässig, wenn wir
Politiker derlei Kritik schönredeten oder
gar beiseite schöben.
~: Gehören Sie zu jenen Politikern
der Linkspartei, die von einer PostDemokratie sprechen?
Frau Pau: Nein, soweit würde ich nicht
gehen. Allerdings müssen wir die richtigen Schlüsse ziehen aus dem Fakt, dass es
seit längerem eine Krise der politischen
Repräsentation gibt. Die zunehmende
Demokratie- und Politikerverdrossenheit
ist auf Dauer extrem gefährlich. Wir Linke
kämpfen daher bereits seit vielen Jahren
für mehr direkte Demokratie auf Bundesebene. Deutschland ist auf diesem Feld
ein europäisches Entwicklungsland.
~: Das Grundgesetz sieht Volksabstimmungen nur bei der Neugliederung
des Bundesgebietes und im Fall einer
neuen Verfassung vor. Um Plebiszite verfassungsrechtlich abzusichern, plädiert
Ihre Partei daher für die Verankerung
einer dreistufigen „Volksgesetzgebung“
im Grundgesetz.
Frau Pau: In Artikel 20 des Grundgesetzes
heißt es, dass das Volk die Staatsgewalt
unter anderem „in Wahlen und Abstimmungen“ ausübt. Nun ist es an der Zeit,
dass die Parteien im Bundestag und
Bundesrat Farbe bekennen. Andernfalls
schwände das Vertrauen der Bürger in die
Institutionen immer weiter. Die Demokratie- und Politikermüdigkeit würde
zunehmen.
Bundestagswahl einen weiteren Vorstoß
wagen?
~: Aber im vergangenen Sommer
wurde der entsprechende Entwurf Ihrer
Fraktion im Bundestag – mal wieder –
abgelehnt...
~: Die AfD...
Frau Pau: ...Was ich sehr bedauere! Das
Parlament hat eine Chance vertan. Ich
bin allerdings nicht bereit, auf meine
Forderung zu verzichten, gerade auch
nach den Erfahrungen mit Volksentscheiden auf Länderebene.
~: Das Argument der SPD, man halte
sich an den Koalitionsvertrag und habe
deshalb gegen den Antrag gestimmt,
könnte bald entfallen.
Frau Pau: Keine Ahnung.
~: Anders gefragt: Ohne Rot-RotGrün kommen Sie da nicht weiter, oder?
Frau Pau: Wir haben eigentlich seit
Jahren parlamentarische Mehrheiten
für mehr direkte Demokratie. Die Frage
ist, wann die SPD endlich Haltung zeigt.
Bisher wurde da viel geredet, aber nur
wenig getan - ein Trauerspiel. Wir hatten
im Bundestag sogar die Situation, dass
SPD, FDP und Grüne programmatisch
dafür waren, es allerdings dennoch nicht
zu einem entsprechenden Ergebnis kam,
und zwar aufgrund unterschiedlicher
Konstellationen.
~: Da heißt, Sie werden nach der
Frau Pau: Wir werden weiter vehement
für mehr direkte Demokratie argumentieren, ja. Gehen Sie davon aus, dass die
Linke im Parlament Initiative ergreifen
wird.
Frau Pau: …braucht es dafür nun wirklich nicht! Die Herrschaften sind zwar für
Volksabstimmungen auf Bundesebene,
deren Stimmen wären aber nicht entscheidend bei einem solchen Prozedere.
~: Hat das provokante Auftreten
der AfD, deren Führungsriege immer
wieder Bestehendes infrage stellt, Ihre
Sicht auf das Thema „Volksentscheide“
zuletzt verändert? Stichworte Asylrecht,
Gedenkkultur, Klimawandel – um nur
einige zu nennen.
Frau Pau: Ich bin überhaupt nicht bereit,
meine Position in irgendeiner Weise zu
revidieren, solange man mich nicht vom
Gegenteil überzeugt. Nur weil eine neue
Partei ständig das Wort Volksabstimmungen im Munde führt, heißt das nicht, wir
müssten unseren Kurs ändern. Auch die
CSU fordert Volksentscheide, allerdings
meist bei Themen, die ihr gerade in den
Kram passen. Die Herren Seehofer und
Söder handeln hier - wie so oft – populistisch und unseriös.
~: Apropos, sehen Sie nicht die
Gefahr, dass direktdemokratische Verfahren auf Bundesebene zu einem Instrument eines antistaatlichen Populismus
werden könnten?
Frau Pau: Direkte Demokratie bringt
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immer Herausforderungen mit sich.
Aber Sorgen sind hier fehl am Platz. Ich
halte es für dringend nötig, dem mündigen Bürger die Chance zu geben, in
grundlegenden Fragen mitzubestimmen.
Die Väter und Mütter des Grundgesetzes waren weise genug, bestimmte
Grundsätze von solchen Abstimmungen
auszunehmen, indem sie ebenjene unter
die Ewigkeitsgarantie gestellt haben (u.a.
Menschenwürde, Föderalismus, Gewaltenteilung, Anm. d. Red.).
~: Finanzstarke und einflussreiche
Gruppen könnten die öffentliche Meinungsbildung im Vorfeld solcher Abstimmungen stark beeinflussen – richtig oder
falsch?
Frau Pau: Die Finanzierung der Kampagnen müsste selbstverständlich transparent sein. Und auch die Frage, wie genau
geworben wird, würde vorab festgelegt.
Das ist ebenso wichtig, wie die Tatsache,
dass allen Abstimmungsberechtigten
rechtzeitig entsprechendes Informationsmaterial zur Verfügung gestellt wird. Insgesamt sehe ich da keinerlei Probleme.
~: Was antworten Sie denen, die
sagen, viele Sachthemen seien viel zu
komplex, als dass das gesamte Volk darüber abstimmen könne?
Frau Pau: Mit Verlaub, das ist großer
Unsinn. Ich leite regelmäßig mehrstündige Plenardebatten im deutschen
Bundestag, an deren Ende stets eine einzige Frage steht: Wer stimmt dafür, wer
stimmt dagegen, und wer enthält sich?
Auch bei komplexen Gesetzesvorhaben,
sei es die Pflegereform oder die Verabschiedung staatlicher Verträge, muss
eine Entscheidung her. Und klar ist: Nicht
jeder Abgeordnete ist bei jedem Thema
ein Experte. Es geht darum, sich im Vorfeld gut zu informieren, abzuwägen und
am Ende eine Entscheidung zu treffen.
Selbstverständlich traue ich ebendies in
Grundsatzfragen auch dem Bürger zu.
Leider haben wir in den vergangenen
zwei Jahrzehnten zwei Chancen vertan,
direkte Demokratie in der Bundesrepublik
einzuführen.
Frau Pau: Das leider schon fast amputierte
Grundrecht auf Asyl ist für mich nicht verhandelbar. Da ergeben Volksabstimmungen keinen Sinn. Leider wird in der Praxis
vieles zusammengerührt; die Flüchtlingskonventionen
sind
völkerrechtliche
Verträge, die nicht einer nachträglichen
Abstimmung bedürfen, sondern nur konsequent umgesetzt werden müssen. Und
zwar von allen beteiligten Staaten. Wenn
es aber um die Bedingungen zur Unterbringung von Flüchtlingen geht, halte ich
Volksentscheide durchaus für sinnvoll. #
~: Welche Zeitpunkte meinen Sie?
Frau Pau: Zum Beispiel den Moment, in
dem die staatliche Einheit wiederhergestellt wurde. Damals hätte das Grundgesetz entsprechend bearbeitet werden
können, nein: müssen.
~: Der zweite Moment?
Frau Pau: Als der EU-Verfassungsvertrag
verhandelt wurde, stellte der damalige
Bundeskanzler (Gerhard Schröder, d.
Red.) die Behauptung in den Raum, das
Grundgesetz würde ein Referendum darüber verbieten, was bekanntlich falsch
ist. Spannend: Zu jener Zeit organisierte
ein kleiner Verein in einem Ort in der
Eiffel eine symbolische Volksabstimmung
über den EU-Verfassungsvertrag. Bürgerinnen und Bürger haben sich politisiert
wie selten zuvor. Aber auch Politiker aller
Parteien konnten nicht schnell genug vor
Ort sein, um zu debattieren. Das war ein
klares Zeichen an die Kritiker direkter
Demokratie.
~: Können Sie das etwas genauer
erklären?
Frau Pau: Auch wenn mir das Abstimmungsergebnis Pro-EU-Vertrag nicht
passte, muss ich sagen: Die Bürger hatten
sich zuvor informiert, souverän abgewogen - und am Ende eine Entscheidung
getroffen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil, all die Befürchtungen
der Skeptiker haben sich in Luft aufgelöst. Daher mein Appell: Wir sollten keine
Angst vor der eigenen Courage haben,
sondern direkt-demokratische Elemente
als Herausforderung annehmen.
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~: Frau Pau, sind Sie auch für
Volksentscheide, die die Flüchtlingspolitik betreffen?
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