Inhaltsverzeichnis

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Skript zur Vorlesung
„Experimentalphysik 1 für Lehramtsstudierende und Meteorologen“
Elke Heinecke
Inhaltsverzeichnis
1 Physik Lernen und Verstehen: Fachkompetenz erwerben.................................................................6
1.1 Was ist Physik?..........................................................................................................................6
1.2 Aktives und passives Wissen.....................................................................................................6
1.3 Niveau und Verständnis.............................................................................................................7
1.4 Fakten, Methoden und Transfer.................................................................................................9
1.5 Struktur und Inhalte der Vorlesung............................................................................................9
1.6 Zusammenfassung....................................................................................................................11
2 Die Natur beschreiben und befragen ..............................................................................................12
2.1 Die Natur beschreiben: Physikalische Größen.........................................................................12
2.2 Die Natur befragen: Experimente und Messungen .................................................................13
2.3 Antworten vergleichen: Einheiten............................................................................................14
2.4 Antworten formulieren: Schreibweise wissenschaftlicher Zahlenwerte..................................17
3 Mathematische Grundlagen.............................................................................................................21
3.1 Richtungsweisend: Vektoren....................................................................................................21
3.1.1 Vom Pfeil zur Zahl: Vektoren darstellen..........................................................................21
3.1.2 Rechenoperationen mit Vektoren.....................................................................................24
3.2 Differenzieren und Integrieren.................................................................................................28
3.2.1 Grafische Bedeutung von Ableitung und Integral............................................................28
3.2.2 Rechnen mit differenziellen und integralen Zusammenhängen.......................................30
4 Newton'sche Mechanik....................................................................................................................34
4.1 Modell „Massepunkt“ und Schwerpunkt.................................................................................34
4.2 Bahnkurven, Trajektorien, Weg, Geschwindigkeit, Beschleunigung.......................................35
4.3 Modellbewegungen..................................................................................................................36
4.4 Der Impuls...............................................................................................................................42
4.5 Modellvorstellung zur Kraft....................................................................................................42
4.6 Kräfte.......................................................................................................................................44
4.6.1 Konstante Kräfte..............................................................................................................44
4.6.2 Ortsabhängige Kräfte.......................................................................................................45
4.6.3 Geschwindigkeitsabhängige Kräfte..................................................................................46
4.6.4 Zentralkräfte ....................................................................................................................46
4.6.5 Sonstige Kräfte.................................................................................................................47
4.7 Unsere ersten Naturgesetze: Die Newton'schen Axiome.........................................................49
4.7.1 Trägheitsgesetz.................................................................................................................49
4.7.2 Bewegungsgesetz.............................................................................................................50
4.7.3 Actio = Reactio.................................................................................................................52
4.8 Unser Arbeitspferd: Das Bewegungsgesetz.............................................................................56
4.8.1 Bewegungsgleichungen aufstellen...................................................................................56
4.8.2 Das A ...: Definieren von System, Systemgrenze und Umgebung...................................57
4.8.3 … B ...: Träge Masse finden.............................................................................................57
4.8.4 ...und O: Äußere Kräfte finden.........................................................................................58
4.8.5 ...und ein x für ein f: Differenzialgleichungen lösen........................................................58
4.8.6 Anwendung auf Translationen .........................................................................................59
4.8.6.1 Ein fallender Stein....................................................................................................59
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4.8.6.2 Ein Wagen auf einer Luftkissenschiene....................................................................61
4.8.6.3 Ein Kind auf der Schaukel........................................................................................62
4.8.6.4 Ein Fallschirmsprung................................................................................................64
4.9 Zusammenfassung....................................................................................................................65
4.10 Das Pferd neu gesattelt: Drehungen und der Drehimpulssatz...............................................68
4.10.1 Was ist anders bei Verdrehungen?..................................................................................68
4.10.2 Der Drehimpuls..............................................................................................................70
4.10.3 Das Drehmoment und der Schwerpunktsatz..................................................................73
4.10.4 Transfer der Bewegungsgrößen auf Rotationen.............................................................74
4.10.5 Modell „starrer Körper“.................................................................................................76
4.10.6 Anwendungsbeispiele ....................................................................................................80
4.10.6.1 Hammerwerfer.......................................................................................................80
4.10.6.2 Abwärts rollende Kugel ........................................................................................81
4.10.6.3 Zum Schluss fällt die Klappe................................................................................82
4.11 Zusammenfassung.................................................................................................................84
4.12 Faszination pur: Kreisel........................................................................................................86
4.12.1 Freie und gebundene Rotationen und Hauptträgheitsachsen.........................................86
4.12.2 Präzession.......................................................................................................................87
4.12.3 Nutation..........................................................................................................................89
4.13 Zusammenfassung.................................................................................................................90
5 Unser zweites Arbeitspferd: Erhaltungsgrößen und ihre Bilanzen..................................................91
5.1 Das Chamäleon der Physik: Energie........................................................................................93
5.1.1 Energieformen..................................................................................................................95
5.1.2 Äußere und innere Energie...............................................................................................96
5.1.3 Felder, Arbeit und potenzielle Energie.............................................................................97
5.1.3.1 Potenzielle Energie...................................................................................................97
5.1.3.2 Arbeit und Wegintegrale...........................................................................................98
5.1.3.3 Konservative Kräfte................................................................................................100
5.1.3.4 Vorsicht Falle: Potenzielle Energie und Arbeit.......................................................101
5.1.4 Die Leistung...................................................................................................................104
5.1.5 Zusammenfassung..........................................................................................................105
5.2 Bilanzgleichungen aufstellen.................................................................................................108
5.2.1 Bilanz von Erhaltungsgrößen in einem isolierten System..............................................108
5.2.2 Bilanz für Erhaltungsgrößen am offenen System...........................................................110
5.2.3 Zusammenfassung..........................................................................................................112
5.2.4 Spezielle Bilanzgleichungen: Mechanisches Gleichgewicht.........................................116
5.3 Anwendungsbeispiele.............................................................................................................116
5.3.1 Kraft- und Drehmomentbilanz: Gleichgewichte............................................................116
5.3.2 Impuls- und Energiebilanzen: Stöße..............................................................................120
5.3.2.1 Die Modellvorstellung............................................................................................120
5.3.2.2 Explosion als inverser Stoß und das Schwerpunktsystem......................................122
5.3.2.3 Elastische Stöße: Energie- und Impulsbilanz im Schwerpunktsystem...................124
5.3.2.4 Zweidimensionale Stöße........................................................................................126
5.3.3 Energie- und Drehimpulsbilanzen: Gravitation und Keplergesetze...............................130
5.3.3.1 Keplerbahnen und Fluchtgeschwindigkeit.............................................................131
5.3.3.2 Die Newton-Kanone oder „Der Umfall“................................................................133
5.3.3.3 Vom richtigen Weg abgekommen: Gezeiten...........................................................134
5.3.4 Impuls- und Massenbilanz: Rakete................................................................................137
5.3.4.1 Lösung der Raketengleichung................................................................................137
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6 Wechsel der Sichtweise: Bezugssysteme.......................................................................................141
6.1 Galilei-Transformation...........................................................................................................141
6.2 Beschleunigte und rotierende Bezugssysteme.......................................................................141
6.2.1 Der Wolf im Schafspelz: Scheinkräfte...........................................................................141
6.2.2 Transformation in beschleunigte rotierende Bezugssysteme.........................................143
6.2.3 Trägheitskraft.................................................................................................................145
6.2.3.1 Schwerelosigkeit.....................................................................................................146
6.2.4 Zenrifugalkraft...............................................................................................................147
6.2.5 Coriolis-Kraft.................................................................................................................148
7 Methodenmix oder „Viele Wege führen nach Rom!“....................................................................154
7.1 Die Qual der Wahl..................................................................................................................154
8 Schwingungen...............................................................................................................................155
8.1 Modellvorstellung „Harmonische Schwingung“...................................................................155
8.2 Der harmonische Oszillator...................................................................................................155
8.3 Oszillator im Schwerefeld.....................................................................................................156
8.4 Die gedämpfte Schwingung...................................................................................................157
8.5 Erzwungene Schwingungen und Resonanz...........................................................................159
9 Wellen............................................................................................................................................164
9.1 Wellen in der Natur: Wasser-, Schall- und Lichtwellen.........................................................164
9.2 Entstehung einer Welle und das Modell „Harmonische Welle“............................................167
9.3 Mathematische Beschreibung von Wellen.............................................................................169
9.4 Energietransport.....................................................................................................................172
9.5 Grafische Darstellung von Wellen ........................................................................................173
9.6 Zeichnungen von Wellen........................................................................................................173
9.7 Wellen unterwegs...................................................................................................................175
9.7.1 Wellenwanderung: Das Huygens'sche Prinzip...............................................................175
9.7.2 Wellen geknickt: Brechung............................................................................................176
9.7.3 Wellenwege: Fermat'sches Prinzip.................................................................................176
9.7.4 Wellen am Limit: Reflexion...........................................................................................176
9.8 Wenn sich Wellen treffen: Superposition...............................................................................177
9.8.1 Entgegenkommend: Stehende Wellen............................................................................178
9.8.1.1 Resonanzen.............................................................................................................179
9.8.2 Gleichgesinnt: Interferenz..............................................................................................180
9.8.2.1 Verwandte: Beugung und Interferenz.....................................................................181
9.8.2.2 Beugung an zwei und mehr Spalten.......................................................................182
9.8.2.3 Beugung am einzelnen Spalt..................................................................................183
9.9 Wellen in Bewegung: Doppler-Effekt....................................................................................185
9.10 Zusammenfassung...............................................................................................................186
10 Weg mit dem Starrsinn: Flummis und Fluide .............................................................................188
10.1 Elastische Körper................................................................................................................188
10.1.1 Verformung...................................................................................................................189
10.1.2 Mechanische Spannung und Spannungstensor............................................................190
10.2 Fluide..................................................................................................................................192
10.2.1 Ruhende Fluide............................................................................................................193
10.2.1.1 Schweredruck und statischer Druck....................................................................193
10.2.1.2 Hydraulik und Druckarbeit..................................................................................194
10.2.1.3 Auftrieb: Schwimmen, Schweben, Sinken..........................................................195
10.2.1.4 Spannende Oberflächen: Seifenblasen und Kapillaren.......................................195
10.2.2 Bewegte Fluide: Strömungen.......................................................................................202
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10.2.2.1 Nicht überflüssig: Ideale Fluide und Strömungen...............................................202
10.2.2.2 Grundgesetze in Strömungen: Die Kontinuitätsgleichung und die BernoulliGleichung...........................................................................................................................202
10.2.2.3 Fluide mit Reibung..............................................................................................205
10.2.2.4 Das hydrodynamische Paradoxon........................................................................207
10.2.2.5 Umströmung von Objekten.................................................................................208
10.2.2.6 Der Streit ums Fliegen: Warum fliegt ein Flugzeug?..........................................210
10.2.2.7 Ab in die Tiefe: Magnus-Effekt und Potenzialströmungen.................................212
11 Anhang.........................................................................................................................................215
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Liste verwendeter Symbole
a Beschleunigung, A Flächeninhalt, ⃗
A Flächenvektor
a,b,c beliebige Vektoren, a, b, c ihre Beträge
α
⃗ Winkelbeschleunigung, α, β, γ Winkel (Alpha, Beta, Gamma)
b, B Breite, B Magnetfeld
c, const. Konstante, c Licht- oder Schallgeschwindigkeit, Ausbreitungsgeschwindigkeit einer Welle
d, D Dicke
δ, Δ (Delta) Differenzen
E Energie, Ekin, Epot kinetische u. potenzielle Energie, E elektrisches Feld
η(Eta) Viskosität
f Frequenz, F Kraft, f = „final“ =Stopp, Ende
g Erdbeschleunigung, G Gravitationsfeld, G Gravitationskonstante
h, H Höhe
i imaginäre Einheit, i,j,k Indizes, i = „initial“ =Start, Anfang
I Trägheitsmoment, Strom, elektrischer Strom
k Federkonstante, Wellenzahl
l, L Länge, L Drehimpuls
m, M Masse
µH, µG, µR Haft-, Gleit-, Rollreibungskoeffizient
n Anzahldichte, N Anzahl, N Drehmoment
p Druck, p Impuls, P Leistung
φ (Phi) Phasenverschiebung, Polarwinkel, ϕ Gravitationspotenzial, elektrisches Potenzial,
Potenzial
r Ort, Ortsvektor, R Radius
ρ (Rho) Dichte,
s Weg, S Entropie
t Zeit, T Periodendauer oder Temperatur
v Geschwindigkeit, V Volumen
W Arbeit
ω Kreisfrequenz, ω
⃗ Winkelgeschwindigkeit
x, y, z kartesische Koordinaten, Ort
Liste verwendeter Konstanten
Erdradius RE = 6371,0 km
Erdmasse mE = 5,9736⋅1024 kg
Gravitationskonstante G = 6,67384(80)·10-11 N·m2·kg-2
Erdbeschleunigung g = 9,80665 m·s-2
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1 Physik Lernen und Verstehen: Fachkompetenz erwerben
1.1 Was ist Physik?
Physik ist die Wissenschaft, die die unbelebte Natur
beschreibt und dazu aus der Fülle der Naturphänomene
allgemeingültige Modellvorstellungen, grundlegende
Größen und Gesetzmäßigkeiten abstrahiert. Sie sucht
nach aussagekräftigen Größen und wie sie sich gegenseitig beeinflussen und leitet daraus möglichst breit
geltende Zusammenhänge ab: unsere Naturgesetze. In
der Physik suchen wir nach übertragbaren Gemeinsamkeiten, um unser Universum verstehen zu können.
Und das gelingt richtig gut! Was haben z. B. Musik, ein
Tsunami, das Licht der Sonne und ein Erdbeben gemeinsam? Nun, alle können mit der Modellvorstellung
„Welle“ beschrieben werden, wir können also alle diese
Phänomene großteils mit den gleichen physikalischen
Abb. 1.1: Die Physik liefert uns ein moZusammenhängen beschreiben. Oder was hat das Kreimentanes Bild von der Natur, das durch
sen eines Planeten um die Sonne mit dem Flug einer
die Zusammenarbeit zwischen Experiment
Rakete, dem Schwingen eines Uhrpendels, dem Fall
und Theorie ständig ergänzt wird.
eines Fallschirmspringers, einem fliegenden Fußball,
einem bremsenden Auto zu tun? Alle diese ganz unterschiedlichen Bewegungen können wir letztendlich durch nur eine einzige Grundgleichung, das Newton'sche Bewegungsgesetz erfassen.
Die Physik ist eine Wissenschaft, sie schafft also Wissen. Sie ist eine dynamische „Fabrik“ und
bringt ständig Neues hervor. Ihre drei Säulen sind: Modell, Experiment und Theorie. Das aktuelle
Wissen ist unser momentanes Bild von der Natur, unsere Modellvorstellung. Was heute als
gesicherte Erkenntnis gilt, wird morgen vielleicht ergänzt oder revidiert oder als Grenzfall erkannt.
Dieses Bild gewinnen wir durch theoretische Vorhersagen, gezielte Experimente oder zufällige
Erkenntnisse. Theorien sind die mathematische Formulierung von Modellvorstellungen. Kluge
Köpfe, die tolle Theorien entwickeln, fordern findige Experimentatoren heraus, durch Experimente
ihre Theorie zu bestätigen. Oder findige Experimentatoren fordern kluge Köpfe heraus, ihre
unverstandenen experimentellen Ergebnisse durch eine Theorie zu erklären. Experimente sind
unsere Fragen an die Natur, sie haben das letzte Wort und liefern uns qualitative oder quantitative
Antworten. Diese Fragen richtig zu stellen, also gute Experimente durchzuführen, ist eine ebenso
hohe Kunst, wie ihre Antworten zu deuten, also schlüssige Theorien zu entwickeln. Beide Zweige,
Experimentalphysik und theoretische Physik sind gleichberechtigt und arbeiten Hand in Hand.
Wenn ein Experiment eine Theorie reproduzierbar bestätigt, gilt die Theorie als gesichert und wir
haben wieder etwas Wissen geschaffen und unser Bild der Natur um ein Detail ergänzt.
1.2 Aktives und passives Wissen
Es gibt verschiedene Arten von Wissen, z. B.:
•
aktives Wissen → abrufbar aus dem Gedächtnis für Aufgaben
•
passives Wissen → Wiedererkennung, wenn es präsentiert wird
Diese Arten von Wissen erwirbt man durch unterschiedliche Lernformen: aktives Wissen durch
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aktives Lernen und passives Wissen durch passives Lernen. Ihr Lernziel ist aktives Wissen für den
Beruf. Dort müssen Sie es zum Lösen von Aufgaben oder vor Ihrer Klasse parat haben. Daher
fragen die Prüfungen, z. B. die Klausur, auch hauptsächlich aktives Wissen ab.
Passive Lernformen sind: Zuhören in der Vorlesung, Mitschreiben in der Vorlesung, Abschreiben
von Aufgaben, Lesen im Lehrbuch, sich etwas erklären lassen, einen Lehrfilm anschauen oder
Ähnliches. Also Lernformen, in denen Sie passiv sind und der Stoff Ihnen präsentiert wird.
Aktive Lernformen sind: Den Stoff in eigenen Worten wiedergeben, neue Aufgaben lösen, den Stoff
anderen erklären, sich Fragen zum Stoff überlegen, Fragen zum Stoff beantworten, sich vor dem
geistigen Auge Bilder dazu machen, Mindmaps anfertigen, den Stoff mittels Karteikarten
wiederholen, (d.h. Zusammenhänge wiedergeben und Fragen dazu beantworten) etc. Also Lernformen, in denen Sie Stoff aktiv anwenden und dabei überwiegend aus Ihrem Gedächtnis holen.
Aktiv Lernen können nur Sie selbst! Sie studieren selbst! Sie können nicht „studiert werden“.
Wenn Sie immer nur mitfahren, können Sie kein guter Autofahrer werden. Sie müssen selbst am
Steuer sitzen, um herauszufinden, wie ein Auto reagiert. Genauso wenig können Sie Physik nur
durch passives Lernen, wie Zuhören, Lesen, Mitschreiben, Abschreiben lernen. Darum ist es für
Ihren Studienerfolg wichtig, dass Sie regelmäßig semesterbegleitend aktiv mit den Lehrinhalten
umgehen, z. B. in den Tutorien und anhand der Übungen.
Abb. 1.2: Aktivierung von passivem Wissen durch aktive Nachbereitung
1.3 Niveau und Verständnis
Es gibt verschiedene Niveaus von Wissen und Verstehen, z. B.
•
oberflächliches Wissen → rein phänomenologisch, beschreibend (Was passiert?)
•
tieferes Verständnis → kausale Zusammenhänge, Modellvorstellungen, Methoden (Warum
passiert was? Wie passiert was? Wann passiert was? Wo passiert das noch? Wie beschreibt
man das?)
Diese Qualitäten des Wissens erwirbt man durch unterschiedliche Lernformen:
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•
oberflächliches Wissen z. B. durch Auswendiglernen von Formeln oder Merksätzen
•
tieferes Verständnis z. B. durch hinterfragendes Lernen, Abstrahieren, Visualisieren,
Beispiele, Anwendung auf Fragestellungen
Abb. 1.3: Ein physikalisches Phänomen erklären, heißt, es auf die grundlegenden Naturgesetze
zurückzuführen. Dies kann auf verschiedenen Abstraktionsebenen getan werden.
Ihr Lernziel ist ein tieferes Verständnis zu erreichen basierend auf grundlegenden einfachen Modellvorstellungen und Zusammenhängen. Damit können Sie Neues immer wieder auf Bekanntes zurückführen. Wie ein Puzzle bauen Sie sich unser komplexes physikalisches Weltbild aus immer
mehr bekannten grundlegenden Puzzlestückchen auf. Der Stoff wird überschaubarer, komplexe
Zusammenhänge lassen sich in einfache Bausteine zerlegen, die Sie immer wieder verwenden
können und werden. Sie werden sehen, was für ein faszinierend elegantes Weltbild die Physik Ihnen
dann bietet. Und erstaunt sein, wie wenig Grundgesetze es eigentlich gibt. Und Sie werden
erkennen: Physik ist eigentlich gar nicht so schwer! Die Voraussetzung dafür ist, dass Sie die grundlegenden Modellvorstellungen und Methoden aktiv parat haben und erkennen, wie sie ineinandergreifen und wann sie anwendbar sind. Physik ist ein Puzzle mit relativ wenigen jedoch sehr
wichtigen grundlegenden Modellen und Methoden. Diese müssen Sie sich zeitnah aneignen, sonst
verlieren Sie schnell den Anschluss. Eine Wissenslücke bei den grundlegenden „Bausteinen“ wird
Sie sehr behindern, denn diese werden in allen Gebieten immer wieder benötigt.
Es gibt verschiedene Abstraktionsebenen zum Beschreiben von Phänomenen und Zusammenhängen. Ihr Lernziel ist es, ein Phänomen auf verschiedenen Abstraktionsebenen erklären zu
können. Die anschaulichste Darstellung ist das Phänomen selbst als Experiment. Die abstrakteste
Darstellung ist die mathematische Formulierung: sie ist für quantitative Fragestellungen am geeignetsten. Dazwischen liegt die verbale fach- oder umgangssprachlich Formulierung sowie die
Visualisierung durch Grafiken oder Schaubilder. Im Grunde sind alle Darstellungsebenen gleichberechtigt, die mathematische ist die „kürzeste“ Formulierung. Aber gerade sie birgt die große
Gefahr, das anschauliche Modell dahinter zu vergessen und sich nur an der Formel festzuhalten,
bzw. diese auswendig zu lernen. Verwechseln Sie nicht Abstraktheit mit hohem Physikniveau und
sehen Sie „die Formel“ nicht als die wichtigste Formulierung an! Eine Formel zu kennen, ohne zu
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wissen, was sie bedeutet, wo sie herkommt und wann sie anwendbar ist, ist die häufigste und
oberflächlichste Form physikalischen Wissens. Sie sollten physikalische Sachverhalte von einer
Abstraktionsebene auf eine andere übertragen können, also z. B. eine Formel grafisch darstellen
können, oder ein Experiment verbal erklären können.
1.4 Fakten, Methoden und Transfer
Wissen erwerben Sie, um es letztendlich später im Beruf anzuwenden. Genauer gesagt, erwerben
Sie fachspezifische Kompetenzen, die man grob in Fakten- und Methodenwissen einteilen kann.
•
Faktenwissen → Kenntnis physikalischer Größen, Einheiten, Zusammenhänge, Phänomene,
Regeln, Gesetze, Fachsprache, Effekte, Modelle
•
Methodenwissen → Kenntnis von grundlegenden wiederkehrenden Vorgehensweisen, Näherungen, Prinzipien, Beurteilung von Fragestellungen, Auffinden geeigneter Lösungswege
Ihr Lernziel sind fachspezifische Kompetenzen, die auf Fakten- und Methodenwissen basieren.
Wenn Sie eine Sprache sprechen wollen, benötigen Sie grundlegende Vokabeln und Redewendungen (Faktenwissen), die Sie aus dem Kopf parat haben müssen. Wenn Sie nicht nur wie ein Papagei
auswendig gelernte Worte oder Sätze wiedergeben wollen (Reproduktion), benötigen Sie Grammatik (Methodenwissen) und viel freie Konversation mit korrigierendem Feedback (Übung). Nur so
erwerben Sie eine Sprachkompetenz, die es Ihnen ermöglicht, passend zur Situation eigene neue
Sätze zu bilden (Transfer). In der Physik ist es genauso: Sie müssen grundlegende Fakten, wie
Grundgrößen, Einheiten und Zusammenhänge kennen. Darüber hinaus gibt es wichtige Methoden,
mit denen man arbeitet: das Aufstellen von Differenzialgleichungen, Superposition, Grenzwertbetrachtungen, Energie- und Impulsbilanzen, Gleichgewichtsbetrachtungen. Das eine nützt nichts
ohne das andere. Und Sie müssen viel üben, um herauszufinden, welche Methoden zu welcher
Fragestellung und in welchen Kontext am besten passen. Sie sollen die Kompetenz erwerben, „die
Sprache“ der Physik flüssig zu sprechen, also physikalische Fakten mit geeigneten Methoden auf
neue Situationen anwenden zu können (Transfer).
Wenn Sie ein Kapitel dieses Skripts gelesen haben, sortieren Sie den präsentierten Stoff in Faktenwissen und Methodenwissen. Lernen Sie die Fakten sofort, z. B. indem Sie den Text mit einem Blatt
Papier verdecken und Sie sich selbst abfragen. Wiederholen Sie das von Zeit zu Zeit. Trainieren Sie
die Methoden anhand der Übungen. Suchen Sie sich weitere Übungen aus Lehrbüchern. Gehen Sie
nach jedem Kapitel so vor.
1.5 Struktur und Inhalte der Vorlesung
Die Vorlesung beinhaltet die zwei großen Gebiete: Mechanik und Thermodynamik. Beides gehört
zur sogenannten „nichtrelativistischen klassischen Physik“. Das bedeutet, dass es auch eine „nichtklassische“ Physik gibt, die man Quantenphysik nennt, sowie eine relativistische Physik. Die
Quantenphysik und die relativistische Physik sind die übergeordnete „korrektere“ Physik und die
nichtrelativistische klassische Physik ergibt sich als Grenzfall der „korrekten“ Physik. Warum also
nicht gleich „die richtige“ Physik lernen?
Auf der einen Seite versuchen wir Physikerinnen und Physiker, unsere Welt anhand von Modellvorstellungen so präzise wie möglich bis ins kleinste Detail zu beschreiben und alles zu verstehen.
Wenn es um den Erkenntnisgewinn geht, ist kein Aufwand zu hoch, kein Teilchen zu klein, kein
Effekt zu unbedeutend, kein Modell zu komplex.
Auf der anderen Seite, wenn es um die praktische Anwendung der Physik anhand konkreter
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Fragestellungen geht, ist die oberste Direktive: So einfach wie möglich und so präzise wie nötig.
Man nennt das auch das KISS-Prinzip. Das Apronym besagt, dass eine möglichst einfache Lösung eines
Problems gewählt werden sollte. Es gibt viele Fassungen davon, z. B. „Keep it simple and smart“ oder „Keep it
simple and straightforward“. Wir übersetzen frei mit „Keep it simple and sufficient“.
In unserem Alltag, in der mit unseren Sinnen erfahrbaren Welt, in der wir große Objekte wie einen
Stein, ein Auto, eine Maschine oder eine Wolke betrachten, die viel größer als ein Atom sind und
die sich viel langsamer als das Licht bewegen, erzeugen quantenphysikalische oder relativistische
Phänomene oft nur winzige, kaum spür- oder messbare Randeffekte. Diese zur Beschreibung
solcher Objekte mit zu betrachten, ist eine nutzlose und überflüssige Verkomplizierung. Wir wenden
das KISS-Prinzip an und verwenden deshalb die nichtrelativistische klassische Physik als
angemessenes Modell zur Beschreibung des Alltags, um uns mit der Physik vertraut zu machen.
Abb. 1.4: Unser physikalisches Weltbild enthält fünf große Teilgebiete, die die Grundlage für alle
Spezialgebiete bilden.
Wir starten mit einem Einblick in die physikalische Schreibweise und physikalische Einheiten.
Danach beginnen wir mit dem großen Gebiet „Bewegungen“ und werden lernen, wie sich aus dem
fundamentalen Newton'schen Bewegungsgesetz verschiedene Bewegungsmodelle ergeben. Wir
bilden sowohl von den Objekten als auch von ihren Bewegungen vereinfachte Modellvorstellungen.
Das hat den riesigen Vorteil, dass wir völlig unterschiedliche Objekte in scheinbar unterschiedlichen
Situationen mit der gleichen Physik beschreiben können. Ein Apfel, der vom Baum fällt, oder ein
schräg geworfener Ball, können ebenso wie eine startende Rakete oder ein Planet als Modell
„Massepunkt“ aufgefasst werden. Die Bewegung des Apfels und des Balls können beide als Modell
„gleichförmig beschleunigte Bewegung“ aufgefasst werden. Ein Elektron im Atom kann wie ein um
die Sonne laufender Planet mit dem Modell „gleichförmige Kreisbewegung“ beschrieben werden.
Ein um seine Achse rotierender Planet kann wie ein sich drehendes Rad als Modell „starrer Körper“
mit der Modellbewegung „Kreisel“ betrachtet werden.
Zu jeder Modellvorstellung gehören feste Eigenschaften und Zusammenhänge bestimmter physi-
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kalischer Größen wie Ort, Geschwindigkeit, Beschleunigung, Kraft, Masse, Impuls, Energie,
Potenzial, Arbeit, Drehimpuls, Drehmoment, Winkelgeschwindigkeit, Trägheitsmoment, die wir
nach und nach einführen. Das ist Faktenwissen, das Sie lernen müssen. Wann Sie welche Modellvorstellung anwenden können, gehört zu dem Methodenwissen, das Sie üben müssen.
Als weitere Methoden behandeln wir das Aufstellen von Bewegungsgleichungen und das Verifizieren von ihren Lösungen, die Anwendung von Energie-, Impuls- und Drehimpulserhaltung durch
Bilanzierung, die Anwendung von Gleichgewichtsbedingungen durch Bilanzierung, sowie Koordinatentransformationen. Damit sind die wesentlichen Grundlagen gelegt, die Sie immer wieder
benötigen werden.
Danach betrachten wir verformbare ausgedehnte Objekte und Fluide. Hierbei werden wir uns auf
die Modellvorstellung „elastischer Körper“ und „inkompressibles Fluid“ und die Phänomene
„harmonische Welle“ und „laminare Strömung“ beschränken.
Schließlich schnuppern wir in die Thermodynamik. Sie wird angewendet, wenn wir es mit einer
sehr großen, nicht mehr abzählbaren Anzahl von Objekten zu tun haben, wie z. B. die Atome eines
Gases. Wir werden die anschauliche mikroskopische Modellvorstellung „ideales Gas“ kennenlernen
und damit auch das Verhalten realer Gase verstehen. Abschließend werden wir die abstraktere
statistische Modellvorstellung zur Entropie kennenlernen. Als Methode behandeln wir die
Anwendung der Hauptsätze auf Kreisprozesse.
Damit werden wir das Semester beschließen. Im folgenden Semester werden wir uns dann mit der
Relativitätstheorie und der Elektrodynamik beschäftigen.
1.6 Zusammenfassung
In dieser Lehrveranstaltung können Sie physikalische Kompetenzen erwerben, die Sie für Ihren
späteren Beruf benötigen. Diese beinhalten physikalische Modellvorstellungen, Faktenwissen und
Methoden. Nur Sie selbst können sich diese Kompetenzen durch aktives Lernen und ausgiebiges
Üben aneignen.
Ihre Lernziele sind:
• Grundlegende physikalische Phänomene und Fakten kennen.
• Grundlegende Modellvorstellungen auf verschiedenen Abstraktionsebenen erklären können.
• Grundlegende Methoden beherrschen und auf neue Fragestellungen anwenden können.
Inhaltlich behandeln wir die nichtrelativistische klassische Mechanik und die Thermodynamik.
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2 Die Natur beschreiben und befragen
2.1 Die Natur beschreiben: Physikalische Größen
In der Physik arbeiten wir mit bestimmten physikalischen Größen. Wir benötigen sie, um Vorgänge
und Zusammenhänge in der Natur qualitativ und quantitativ beschreiben zu können. Alle diese
Größen sind nicht naturgegeben, sondern Menschenwerk und basieren auf Vereinbarungen. Eine
physikalische Größe beschreibt immer eine Eigenschaft, die wir bei verschiedenen Objekten
quantitativ vergleichen können. Dazu müssen wir festlegen, wann Gleichheit vorliegt, wann ein
Vielfaches vorliegt und in welcher Einheit wir die Größe angeben. Diese drei Anforderungen
können wir als Messvorschrift formulieren. Wenn wir wichtige Größe einführen, werden wir das
exemplarisch tun, ansonsten beschränken wir uns auf die Angabe der Einheit.
Einige Größen sind bedeutender als andere. Die klassische Physik arbeitet mit acht besonders wichtigen Größen: Energie, Impuls, Drehimpuls, Masse, Volumen, elektrische Ladung, Entropie und
Stoffmenge. Sie kommen überall in der Physik vor. Diese Größen sind deshalb so wichtig, weil sie
Mengen angeben und man für sie Bilanzgleichungen aufstellen kann. Von ihnen nehmen Energie,
Impuls, Drehimpuls und elektrische Ladung eine gesonderte Stellung ein, denn sie bleiben bei
allen physikalischen Prozessen erhalten. Darum nennen wir sie Erhaltungsgrößen. Das Bilanzieren
dieser Größen ist universell auf alle möglichen physikalischen Fragestellungen anwendbar und
deshalb eine der fundamentalen Methoden der Physik. Von diesen vier ist die Energie die
wichtigste, denn sie ist die übergreifende, in allen physikalischen Gebieten unverzichtbare
Bilanzgröße. Dicht dahinter folgen Impuls und Drehimpuls. Sie sind die zentralen Größen in der
Mechanik. Sie quantifizieren die „Bewegungsmenge“ eines Körpers bei Verschiebungen (Impuls)
und Verdrehungen (Drehimpuls). Die elektrische Ladung ist dagegen die zentrale Bilanzgröße der
Elektrodynamik und die Entropie diejenige der Thermodynamik. „Mengenartige“ Größen, wie z. B.
die primäre Größen, nennen wir extensive Größen. Bei ihnen halbiert sich ihr Wert, wenn man den
Körper gedanklich in zwei Hälften zerlegt. Andere Größen wie z. B. Geschwindigkeit, Temperatur,
Dichte oder Druck nennen wir intensive Größen. Sie bleiben gleich, wenn wir ein Objekt halbieren.
Eine Basisgröße (auch Grundgröße genannt) ist dagegen eine Größe, die man einführen kann, ohne
auf andere Größen zurückzugreifen. Ihre Anzahl hängt vom gewählten Einheitensystem ab. Im sogenannten SI-System haben wir sieben Basisgrößen: Länge, Masse, Zeit, Stromstärke, Temperatur,
Lichtstärke, Stoffmenge.
Physikalische Größen kann man in Zustands- und Prozessgrößen einteilen. Wenn Sie 70 kg wiegen,
beschreibt die Größe „Masse“ diesen Zustand Ihres Körpers. Die Größe sagt nichts darüber aus, auf
welchem Weg, also durch welchen Prozess Ihr Körper diese Masse erlangt hat (Wachsen, Zunehmen, Abnehmen, Fettabsaugung, ...). Alle bisher genanten Größen sind Zustandsgrößen. Sie quantifizieren ein Merkmal des Zustands eines Systems. Sie sagen nichts darüber aus, wie das System in
diesen Zustand gekommen ist. Sie sind „wegunabhängig“. Prozessgrößen quantifizieren dagegen
einen Übergang zwischen verschiedenen Zuständen, also eine Zustandsänderung. Sie sind eine
Eigenschaft des Prozesses, durch den ein System seinen Zustand ändert. Prozessgrößen hängen
davon ab, wie der Prozess geführt wird, sie sind „wegabhängig“. Die im Folgenden vorkommenden
Prozessgrößen sind Arbeit und Wärme, alle anderen sind Zustandsgrößen.
Schreibweise: Physikalische Größen bezeichnen wir mit Symbolen, die wir kursiv schreiben.
Grundsätzlich ist die Wahl der Symbole beliebig, aber es gibt einige Konventionen, an die wir uns
halten. Oft ist es der Anfangsbuchstabe des englischen Ausdrucks. Die Kraft (force) wird z. B. mit F
bezeichnet, die Beschleunigung (accelertion) mit a, die Zeit (time) mit t usw.. Mit Symbolen formu-
Seite 13
lierte Zusammenhänge sind unabhängig von irgendwelchen Zahlenwerten oder Einheiten gültig.
Rechnungen führen wir deshalb immer mit Symbolen durch und setzen gegebene Werte erst zum
Schluss ein. Symbolgleichungen und Zahlenwertgleichungen sollten nicht vermischt werden.
Wir werden die benötigten physikalischen Größen nach und nach einführen. Sie haben vielleicht
jetzt bemerkt, dass ihre Anzahl durchaus überschaubar ist. Genauso sind die Zusammenhänge
zwischen ihnen überschaubar. Man muss sie nur übersichtlich sortieren. Vor Ihnen liegt demnach
eine durchaus zu bewältigende Aufgabe.
2.2 Die Natur befragen: Experimente und Messungen
Experimente sind unsere Fragen an die Natur. Sie verraten uns, wie physikalische Größen zusammenhängen. Sie geben uns auf diese Fragen qualitative und/oder quantitative Antworten. Bei quantitativen Experimenten bestimmen wir tatsächlich Zahlenwerte. Ein qualitatives Experiment wäre
zum Beispiel das gleichzeitige Fallenlassen zweier unterschiedlich schwerer Kugeln aus gleicher
Höhe h. Als Ergebnis hören wir ihren Aufschlag gleichzeitig. Das Experiment gibt uns die qualitative Antwort, dass beide Kugeln die gleiche Fallzeit t benötigen. Ein quantitatives Experiment
wäre die Messung der Zahlenwerte beider Fallzeiten.
Bei der Interpretation von Experimenten muss man aufpassen. Sagt uns obiges Experiment, dass
beide Kugeln gleich schnell fallen? Nein, denn es sagt uns nicht, ob beide Kugeln unterwegs immer
auf gleicher Höhe sind, also für alle Teilstrecken die gleiche Zeit benötigen. Es könnte sein, dass sie
zufällig bei der gewählten Höhe h die gleiche Zeit benötigen. Um das abzuklären, könnten wir z. B.
das Experiment für verschiedene Höhen hi wiederholen. Eine Größe, die wir variieren, nennen wir
Parameter, hier wäre es also h. Wir würden feststellen, dass die Fallzeit als Funktion des Parameters
h immer noch für beide Kugeln gleich bleibt, aber mit zunehmender Höhe länger wird, also mit h
zusammenhängt. Wir sehen, dass Experimente mit einem Parameter mehr Informationen liefern.
Wenn wir wissen wollen, wie die Fallzeit t vom Parameter h abhängt, müssten wir die Fallzeit t für
verschiedene Höhen h messen. In vielen Experimenten wird deshalb eine Größe x variiert, - sie wird
also zum Parameter x -, da man dadurch die wertvolle Information gewinnt, wie der mathematische
Zusammenhang f(x) zwischen Parametergröße x und Antwortgröße f ist. In unserem Beispiel müssten wir das Experiment also quantitativ durchführen und Zahlenwerte der Messgröße t bestimmen.
Als Ergebnis erhalten wir eine Messkurve t(h). Diese können wir mit einer von der Theorie vorhergesagten Kurve vergleichen und so die Theorie überprüfen. Oder wir können aus der Messkurve
einen theoretischen Zusammenhang ablesen und eine neue Theorie aufstellen.
Quantitative Experimente sind oft schwieriger als qualitative, da viele Fehlerquellen die Messwerte
beeinflussen können. Alle Messungen sind unvermeidlich mit einer gewissen Ungenauigkeit behaftet. Oft sind wir nicht nur an den direkten Messgrößen interessiert, sondern an einer anderen Größe,
die wir aus den Messgrößen berechnen. In unserem Beispiel könnten wir z. B. auch die mittleren
Geschwindigkeit v=h/t einer der fallenden Kugeln aus den Messgrößen h und t bestimmen. Die
absoluten Unsicherheiten der Messgrößen seien Δh und Δt. Sie führen zur einer Unsicherheit bei der
berechneten Größe (für Details siehe z. B.[1]). Messunsicherheiten geben wir bevorzugt relativ an,
also als Bruchteil Δt/t oder in Prozent Δt/t×100.
Multiplikation und Division: Bei Potenzprodukten von Messwerten addieren sich ihre relativen
Unsicherheiten multipliziert mit den Beträgen der Exponenten zum relativen Größtfehler.
f =x a⋅y b⋅z c ... ⇒
Δf
Δx
Δy
Δz
=∣a∣⋅ +∣b∣⋅ +∣c∣⋅ +...
f
x
y
z
(2.1)
Seite 14
Summe und Differenz: Bei einer Summierung von Messwerten addieren sich die absoluten Unsicherheiten multipliziert mit den Beträgen ihrer konstanten Faktoren zum absoluten Größtfehler.
f =±ax±by±cz ... ⇒ Δ f =∣a∣⋅Δ x +∣b∣⋅Δ y +∣c∣⋅Δ z +... (2.2)
Beispiel: Für unsere Messgrößen h und t ergibt sich die relative Unsicherheit der berechneten Größe
v=h/t=h1∙t –1 aus der Summe der relativen Unsicherheiten der Messgrößen Δv/v = 1∙Δh/h +|–1|∙Δt/t .
Weitere Methoden zum Schätzen, Abschätzen und Berechnen von Messunsicherheiten lernen Sie im
Praktikum. Ein unsicheres Ergebnis E können wir in einer der folgenden Schreibweisen angeben:
Angabe eines Ergebnisses E mit Unsicherheit:
E=(x±Δ x) Einheit ; E= x Einheit±% ; E= x(Δ x der davor stehenden Stellen) Einheit (2.3).
Beispiel: Nehmen wir an, unsere Höhe h hätte den Messwert h = 43,7 cm mit der absoluten Unsicherheit Δh = 0,4 cm. Dann ist h = (43,7 ± 0,4) cm oder h = 43,7 cm ± 1% oder h = 43,7(4) cm.
Die erste Schreibweise sollte klar sein, die zweite Schreibweise ist nach [1] erlaubt. Die letzte
Schreibweise ist diejenige, die durch die Internationale Organisation für Normung in der GUM 1
empfohlen wird und die man sehr häufig in der Literatur findet. In den Praktika wird sie leider kaum
angewendet. Grundsätzlich darf die Ergebnisangabe nie mehr signifikante Stellen haben, als es der
Fehler zulässt (siehe Kap.2.4). Fehler werden immer aufgerundet und in der Regel einstellig angegeben. Mit der ersten und letzten Schreibweise kann man dabei wenig falsch machen.
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
2.1) Bei einem Experiment zum Fadenpendel soll die Länge des Fadens mit einem Zollstock
gemessen werden. Als Endergebnis wird L=1,210 ± 0,001 m angegeben.
a) Wie groß ist der absolute Fehler? b) Wie groß ist der relative Fehler?
2.2) Martin hat mit einem Messschieber die Kanten eines Metallquaders gemessen und mit einem
Taschenrechner das Volumen berechnet. Auf sein „genaues“ Ergebnis ist er stolz.
a) Ist das Ergebnis korrekt?
b) Recherchieren Sie die ungefähre Genauigkeit eines Messschiebers. Wie groß sind damit
die absoluten und relativen Fehler der Einzelmessungen?
c) Wie groß sind der absolute und relative Fehler des Volumens?
d) Geben Sie das korrekte Resultat für das Volumen an.
2.3 Antworten vergleichen: Einheiten
Ein Größensymbol S = {S}[S] in einer Formel steht für das Produkt aus seinem Zahlenwert ({S})
und seiner Einheit ([S]). Zu den meisten physikalischen Größe gehört eine Einheit. Eine Einheit ist
ein vereinbartes Vergleichsmaß. Das weltweit gültige vereinbarte Einheitensystem ist das SI-System
(franz. für système international d’unités). Es basiert auf seinen sieben Grundgrößen, deren Einheiten die sieben SI-Basiseinheiten sind. Tabelle 1 fasst sie zusammen. Alle anderen physikalischen
Größen und ihre SI-Einheiten werden daraus abgeleitet. Abgeleitete SI-Einheiten setzen sich aus
1
Guide to the expression of uncertainty in measurement
Seite 15
Potenzprodukten der SI-Basiseinheiten zusammen. Es gibt auch andere Einheitensysteme, wie z. B.
das cgs-System, die wir nicht verwenden. Wir verwenden SI-Einheiten und dazu die gesetzlichen
Einheiten Minute (1 min = 60 s), Stunde (1 h= 60 min), Tag (1 d=24 h).
Basisgröße
Länge
Masse
Zeit
Stromstärke
Temperatur
Stoffmenge
(Substanzmenge)
Lichtstärke
Größensymbol
l, L
m
t
I, i
T
n, ν
Basiseinheit
Meter
Kilogramm
Sekunde
Ampere
Kelvin
Mol
Einheitenzeichen
m
kg
s
A
K
mol
Iν
Candela
cd
Tabelle 1: Zusammenstellung der sieben SI-Basiseinheiten
Wir beginnen mit den ersten drei Einheiten: Meter, Kilogramm, Sekunde:
Länge: 1 Meter ist die Länge der Strecke, die das Licht im Vakuum während der Dauer von 1/299
792 458 Sekunde zurücklegt.
Masse: 1 Kilogramm ist gleich der Masse des internationalen Kilogrammprototyps. 1 atomare
Masseeinheit u ist gleich 1/12 der Masse eine 12C-Atoms und entspricht 1,6605402∙10 -27 kg.
Zeit: 1 Sekunde ist das 9 192 631 770-fache der Periodendauer der dem Übergang zwischen den
beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Caesium-Isotops 133Cs
entsprechenden Strahlung.
Die Definition des Meters legt die Lichtgeschwindigkeit auf den Wert c = 299 792 458 m/s fest.
Die Definition der Sekunde legt die Frequenz des Hyperfeinstruktur-Übergangs von 133Cs auf den
Wert f = 9 192 631 770 1/s fest. Diese beiden Definitionen beinhalten eine Messvorschrift: Eine
Länge ist die Strecke, die bei bekannter Geschwindigkeit in einem bekanntem Zeitintervall zurückgelegt wird. Ein Zeitintervall ist die Dauer einer bestimmten Anzahl von Zeittakten. Die Geschwindigkeit und den Zeittakt gibt die Natur vor, diese Einheiten basieren also auf Naturkonstanten. Ihre
Zahlenwerte haben wir durch Vereinbarung festlegt.
Bei der Masse liegt keine Messvorschrift vor, sondern nur die Einheit in Form des Prototyps. Aber
durch welche Messvorschrift vergleichen wir andere Massen damit? Anders als bei Länge und Zeit
benötigen wir für eine Messvorschrift der Masse zusätzlich noch Grundgesetze. Wir haben zwei
Grundgesetze, in denen die Masse vorkommt: Das Bewegungsgesetz F = ma und das Gravitationsgesetz, das auf der Erdoberfläche die Gewichtskraft F = mg bewirkt.
Über das erste erhalten wir folgende Messvorschrift: Die Masse ist der Quotient aus Kraft und
Beschleunigung. Zwei Massen sind gleich, wenn sie bei gleicher Kraft gleich beschleunigt werden.
Eine Masse ist doppelt so groß wie eine andere, wenn für die gleiche Beschleunigung die doppelte
Kraft erforderlich ist. So messen wir die träge Masse eines Körpers.
Aus dem Gravitationsgesetz leiten wir eine andere Messvorschrift ab: Die Masse ist der Quotient
aus Gewichtskraft und Erdbeschleunigung. Zwei Massen sind gleich, wenn sie im gleichen Gravitationsfeld die gleiche Gewichtskraft ausüben. Eine Masse ist doppelt so groß wie eine andere, wenn
sie im gleichen Gravitationsfeld die doppelte Gewichtskraft bewirkt. So messen wir die schwere
Masse eines Körpers.
Die Grundgesetze sind so formuliert, dass wir träge und schwere Masse gleichsetzen können. Sie
haben also den gleichen Zahlenwert und die gleiche Einheit.
Experiment zur trägen und schweren Masse: Ein Körper der Masse m wird mit einem Federkraftmesser an einer drehbaren Welle befestigt, die sich anschließend mit fester Kreisfrequenz dreht.
Seite 16
Der Körper bewegt sich dann auf einer Kreisbahn. Die Kraft F, mit der der Körper an der Feder
zieht, die Kreisfrequenz ω und der Radius r der Kreisbahn werden gemessen. Die Beschleunigung
ist a = ω2/r und die träge Masse m = F/a. Man nimmt nun den selben Körper und bestimmt durch
Wiegen seine schwere Masse. Das zeigt: Im Rahmen der Messgenauigkeit sind die Massen gleich.
Abb. 2.1: Trägheit und Schwere sind unterschiedliche Eigenschaften von Mensch und Masse.
Die übrigen Basiseinheiten betrachten wir, wenn wir sie benötigen. Einheiten sind nichts Unumstößliches, sie werden ständig verbessert. Früher wurde die Sekunde über die Erdrotation, also als
Bruchteil eines Tages definiert. Der Zeittakt unseres Vergleichsnormals war ein Tag. Doch Tageslängen schwanken und der Takt ist sehr lang. Kürzere und immer gleich lange Uhrtakte erlauben
eine präzisere Zeitmessung. Deshalb nimmt man heute die Periodendauer eines atomaren Übergangs
als Vergleichsnormal. Zur Zeit ist die Veränderung der Einheit Kilogramm im Gange. Das Hauptziel
ist es, alle Einheiten so wie Meter und Sekunde auf Naturkonstanten zurückzuführen und durch
einfache Messvorschriften festzulegen.
Schreibweise von Einheiten: Einheiten schreiben wir in Abgrenzung zum Größensymbol nie
kursiv, sondern normal. Größensymbole werden dagegen immer kursiv geschrieben. Wenn man die
Einheit einer Größe S meint, schreibt man die Größe S in eckige Klammern [S].
Die Bedeutung der eckigen Klammern ist also “Einheit der eingeklammerten Größe“. Die Masse
bezeichnen wir als m, das Meter als m, den Weg als s, die Sekunde als s usw.
Beispiel: [m]=kg ; [ L ]=m . Das liest man folgendermaßen: Die Einheit der Masse m ist das Kilogramm. Die Einheit der Länge L ist das Meter.
Trotzdem finden Sie auch in der Literatur und bei gestandenen Physikern häufig noch folgende
Achsenbeschriftung an einem Diagramm: „x [m]“. Das soll bedeuten: x in der Einheit Meter. Es
bedeutet aber nach der heutigen Konvention: „x mal der Einheit des Meters“, also etwas Sinnloses.
Vermeiden Sie das daher und schreiben Sie: „x in m“ oder „x/m“.
Abgeleitete SI-Einheiten finden: Die SI-Einheiten anderer physikalischer Größen ergeben sich aus
ihrem physikalischen Zusammenhang mit den SI-Basisgrößen. Solche Einheiten nennt man abgeleitete Einheiten. Eine abgeleitete SI-Einheit ist z. B. das Joule, also die Einheit der Energie.
Beispiel: Das Joule (Abkürzung J) kann man sich aus dem Ausdruck der kinetischen Energie
1
m 2 kg⋅m 2
2
erschließen: E kin= m v ⇒ [ E kin ]=J=kg⋅( ) = 2 .
2
s
s
Für die Einheiten sind irgendwelche Zahlenfaktoren unwichtig, wie hier z. B. der Faktor ½. Wichtig
sind allein die Potenzen: Daher sind abgeleitete Einheiten Potenzprodukte der Basiseinheiten.
Seite 17
Umrechnen von Einheiten: Einheiten werden ineinander umgerechnet, indem man mit einem
passenden Einheitenbruch multipliziert und die unerwünschte Einheit herauskürzt.
̂ 60 s ⇒ Einheitenbruch:
Beispiel: Wie viele Minuten sind 300 Sekunden? 1 min =
1 min
.
60 s
1 min 300
=
min=5 min .
Umrechnung: 300 s⋅
60 s
60
Einheiten können mit Vorsätzen versehen werden. Wichtige, die Sie kennen müssen, sind:
Einheitenvorsätze: < 1:
−15
Femto f 10
> 1: Kilo k 103
Piko p 10−12
Nano n 10−9
Mikro µ 10−6
Mega M 106 Giga G 10
9
Milli m 10−3
Tera T 1012 .
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
2.3) Welche Einheit in m, kg, s hat die Kraft?
2.4) Gibt es physikalische Größen, die keine Einheit haben? Wenn ja, nennen Sie Beispiele.
2.5) Wie viele m/s enthält ein km/h? Schreiben Sie die Umrechnung ausführlich auf. Rechnen Sie
die Schallgeschwindigkeit von ca. 340 m/s in km/h um.
2.6) Oben sind die Einheitenvorsätze aufgelistet. Nennen Sie mindestens drei konkrete Beispiele
aus dem Alltag, bei denen einige dieser Vorsätze verwendet werden.
2.7) Wie schreibt man in Kurzschreibweise: „Die Einheit der Kraft ist ein Newton“?
2.8) Sortieren Sie nach SI-Einheit, Einheit und physikalische Größe: m, kg, s, N, J, s, m, N, g, g, h,
a, a, bar, V, eV, V, W, W. Geben Sie den jeweiligen Namen an.
2.9) In einer Klausur hat Hanna folgende Schlussgleichung geschrieben:
Die Formel lautet s=1/2at2 und sie wollte a durch F = ma ausrechnen. Sie
konnte s nicht bestimmen, weil die Masse m nicht gegeben war. Erläutern
Sie unter Verwendung der Begriffe „Größe“, „Zahlenwert“ und „Einheit“, was vom Standpunkt der
Physik zu diesem Beispiel zu bemerken ist.
2.4 Antworten formulieren: Schreibweise wissenschaftlicher
Zahlenwerte
Ein Größensymbol S in einer Formel steht für das Produkt aus seinem Zahlenwert und seiner
Einheit S ={S}[S]. Die geschweiften Klammern haben also die Bedeutung „Zahlenwert der eingeklammerten Größe“. In der Physik ist die Schreibweise dieses Zahlenwertes nicht beliebig. Es gibt
dafür bestimmte Regeln insbesondere, wenn es sich um ein Ergebnis handelt. Der Grund ist der
folgende: Die Schreibweise eines Ergebnisses sollte auf einen Blick erkennen lassen, wie groß der
Wert ist und wie genau wir ihn kennen. Gewöhnen Sie sich daran, dass physikalische Zahlenangaben eine Genauigkeitsangabe beinhalten. Wenn z. B. der Zahlwert 3 angegeben ist, bedeutet das
nicht das Gleiche wie 3,0 oder gar 3,00. Im ersten Fall ist das Ergebnis aufgerundet gleich 3, es
könnte also auch 2,7 oder 3,3 sein. Im zweiten Fall ist das Ergebnis aufgerundet auf die erste Nachkommastelle gleich 3,0. Der Wert könnte also auch 3,03 oder 2,98 sein, aber nicht 3,05 oder 2,94
usw. In der Physik geben wir bei Ergebnissen nur die bekannten Ziffern an: die signifikante Stellen.
Seite 18
Signifikante Stellen: Eine Stelle ist signifikant, wenn ihre Ziffer nach Rundung feststeht, diese also
z. B. den Wert 7 und nicht 6 oder 8 hat. Die Anzahl der signifikanten Stellen ist die Anzahl der
Ziffern, die eine Zahl ohne führende Nullen oder Zehnerpotenz hat.
Beispiele: 102,3 hat keine führenden Nullen und vier signifikante Stellen (fett), 0,001023 hat drei
führende Nullen (unterstrichen) und auch vier signifikante Stellen (fett), 0,00001 hat fünf führende
Nullen und eine signifikante Stelle, 0,102×10−9 hat eine führende Null und drei signifikante Stellen.
An der Schreibweise von Ergebnissen lässt sich ganz schnell ein Anfänger von einem Experten
unterscheiden. Nehmen wir an, ein Rechenergebnis habe zwei signifikante Stellen und der Zahlenwert sei sehr klein:
•
Schreibweise eines Anfängers: m = 0,00000000000000000000000000000091123456789 kg
•
Physikalische Expertenschreibweise: m = 9,1∙10−31 kg
Der Experte schreibt Zahlen mit einer anderen Zehnerpotenz als 1 in der Regel in Exponentialschreibweise und schreibt nur die signifikanten Stellen hin, denn er möchte auf einen Blick die
Genauigkeit und den Wert der Zahl erkennen und verschwendet seine Zeit nicht mit dem fehleranfälligen Zählen von Nullen. Er schreibt und rechnet mit Potenzen. Und das macht es jetzt einfach:
Denn in Exponentialschreibweise ohne führende Nullen ist die Anzahl der signifikanten Stellen
genau die Anzahl der Ziffern, die vor der Zehnerpotenz stehen! Hier sind es also zwei Ziffern (9 und
1), wo das Komma platziert wird, spielt keine Rolle. Genauso gut hätte man auch me = 91∙10−32 kg
schreiben können.
Was haben signifikante Stellen mit Nachkommastellen zu tun? Das wird nämlich oft verwechselt!
Die Antwort lautet: Signifikante Stellen haben überhaupt nichts mit den Nachkommastellen zu
tun! Im Beispiel haben wir 41 Nachkommastellen. Von den vielen Stellen sind genau zwei
signifikant, also die ersten beiden nach den Nullen, folglich die 31. und die 32. Ziffer. Den Rest hat
der Taschenrechner „hergezaubert“. Der Experte rundet auf die letzte signifikante Stelle, hier also
auf den Wert m = 0,00000000000000000000000000000091 kg. Es sind also 31 Nachkommastellen,
aber nur zwei signifikante Stellen.
Nicht mehr eindeutig ist die Zahl der signifikanten Stellen bei großen ganzzahligen Werten ohne
Exponentialschreibweise: Gibt uns ein Experte den Wert 1,0003∙106 wissen wir, dass alle Stellen
signifikant sind, hier also fünf Stellen. Gibt uns ein Laie den Wert 1000300 wissen wir nicht, ob die
letzten beiden Stellen wirklich null sind, oder ob der Wert nur bis zur 3, also auf 100er genau
bekannt ist. Der Experte vermeidet solche Unklarheiten.
Die Exponentialschreibweise hat also zwei riesige Vorteile:
•
Man erkennt den Wert der Zahl sofort und vermeidet fehleranfälliges Nullen zählen.
•
Man erkennt die Genauigkeit der Zahl sofort.
Zur Angabe der Zahlenwerte von Ergebnissen verwenden wir die Exponentialschreibweise und
geben nur signifikante Stellen an.
Signifikante Stellen bei Ergebnissen von Rechnungen: Wie ist ein Ergebnis zu schreiben, wenn
es sich aus aus der Verrechnung von Zahlen unterschiedlicher Genauigkeit ergibt? Dafür gibt es
zwei Regeln für die Addition und die Multiplikation:
Addition: Bei Summen ist die letzte signifikante Stelle durch die kleinste Zehnerpotenz des
ungenauesten Summanden gegeben. Ein Beispiel ist 0,1+1,23+123,456 =124,8. Die bestimmende
Stelle ist unterstrichen.
Seite 19
Beispiel: Die kleine Jouli kommt ins Museum und bewundert ein Dinosaurierskelett. Sie fragt den
Museumswärter: „Wie alt ist das denn?“
Er antwortet: „Das Skelett ist 150.000.001 Jahre, 3 Monate und 5 Tage alt.“
Jouli staunt: “Und woher wissen Sie das so genau?“
Sagt er: „Als ich angefangen habe, hier zu arbeiten, hab ich die gleiche Frage gestellt und man hat
mir gesagt, 150 Millionen Jahre. Und das war vor 1 Jahr, 3 Monaten, und 5 Tagen.“
Wo ist der Fehler? Die ungenauste Zahl ist das Alter des Skeletts, es ist nur mit zwei signifikanten
Stellen bekannt, also auf 1,5∙108 Jahre. Die genaueste Zehnerpotenz ist hier also 107. Der Museumswärter ist erst seit 1,25 Jahren + 0,0137 Jahren vor Ort und kein Experte. Er addiert laienhaft ohne
15000000
+
1,25
Berücksichtigung der Signifikanz der Stellen und schreibt alle Zahlen aus: +
0,0137 .
15000001,2637
Der Experte addiert nur signifikante Stellen und schreibt auch nur
15⋅107
+ 1,25 ≈0
vergisst auch die Einheiten nicht. Für ihn ist die Summe
+ 0,0137 ≈0
15⋅107
signifikante Stellen hin. Er
a
a
, also 15∙107 Jahre2.
a
a
Multiplikation: Bei der Multiplikation gibt der Faktor mit der kleinsten Anzahl von signifikanten
Stellen die Anzahl der signifikanten Stellen des Ergebnisses vor. Ein Beispiel ist 1,2 × 1,23 × 1,234
=1,8. Der bestimmende Faktor ist unterstrichen.
Beispiel: Ein Schüler soll folgende Aufgabe lösen: Die Erde kreist in einem Kalenderjahr um die
Sonne. Der mittlere Radius der Erdbahn ist RE = 149,6∙106 km. Mit welcher mittleren
Geschwindigkeit vBahn in km/h kreist die Erde um die Sonne?
Er kennt den Zusammenhang vBahn = s/T. Deshalb rechnet er zuerst den Weg aus:
s=2π R E =2×3,1415926536×149600000 km=939964521,954066 km .
Dann rechnet er die Zeitangabe „ein Kalenderjahr“ in Stunden um: T =1 a×
365×24 h
=8760 h .
1a
Er will auf keinen Fall etwas falsch machen, also rechnet er für die Geschwindigkeit möglichst
s 939964521,954066 km
=107301,886067816 km/h . Er unterstreicht
genau und erhält v Bahn = =
T
8760 h
5
sein Ergebnis. Die Lehrerin korrigiert das Ergebnis zu: v Bahn=1,1⋅10 km/h .
Die ungenauste Zahl ist die Zeitangabe „ein Kalenderjahr“, sie hat nur zwei signifikante Stellen.
Denn ein Kalenderjahr dauert entweder 365 Tage oder 366 Tage (Schaltjahre!), die letzte Stelle ist
unsicher. Deshalb sollte das Ergebnis auch nur zwei signifikante Stelle haben. Durch die Umrechnung in eine andere Einheit wird diese Zeitangabe nicht präziser 3. Was hat der Schüler richtig gemacht? Inhaltlich ist seine Rechnung richtig. Und richtig ist auch, dass er beim Umrechnen und den
Zwischenergebnissen nicht gerundet hat, um Rundungsfehler klein zu halten.
Nur das Endergebnis wird immer auf die Anzahl der signifikanten Stellen gerundet.
Sie sollten Zahlenwerte von Ergebnissen immer mit einer vernünftigen Anzahl signifikanter Stellen
schreiben. Wenn Sie sich dabei anfangs um ein oder zwei Stellen vertun, ist das kein Beinbruch.
2
3
Ist Ihnen aufgefallen, dass sich der Laie um eine Null vertan hat?
Entweder 8760 h oder 8784 h. Es gibt natürlich präzisere Jahresdefinitionen (siehe Übung 2.12).
Seite 20
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
2.10) Achten Sie streng auf signifikante Stellen: Was ist 0,0072+101,01+3,4×10−3?
Was ist 12 × 12? Was ist 13,0 × 14,0? Was ist 12 × 12 + 13,0 × 14,0?
2.11) Welche Anzahl signifikanter Stellen haben 10,88×105; 0,00123; 19,010×10−7?
2.12) Informieren Sie sich über die verschiedenen Definitionen eines Jahres. Machen Sie eine
genaue Angabe für die Länge eines Jahres in Stunden. Welche Definition des Jahres wird für die
Längeneinheit „Lichtjahr“ verwendet?
2.13) Beurteilen Sie die Lösungen der beiden
Rechnungen:
Seite 21
3 Mathematische Grundlagen
3.1 Richtungsweisend: Vektoren
Der Umgang mit Vektoren wird eigentlich als Schulwissen vorausgesetzt. Erfahrungsgemäß fällt die
Vektorrechnung den meisten Studienanfängern dennoch schwer. Wenn Sie sich angesprochen
fühlen, arbeiten Sie dieses Kapitel sorgfältig durch, denn Vektorrechnung ist für alles Folgende
unverzichtbares Basiswissen.
3.1.1 Vom Pfeil zur Zahl: Vektoren darstellen
Eine nicht gerichtete Größe wie z. B. die Masse m ist ein Skalar.
Physikalische Größen, die neben einem Zahlenwert auch eine Richtung haben, sind Vektoren. Beispiele sind die Geschwindigkeit ⃗v , die
⃗ oder der Impuls ⃗p . Vektoren symbolisieren wir grafisch durch Abb. 3.1: Ein Alltagsvektor
Kraft F
Pfeile, damit wir auch die Richtung erfassen können. Die Länge des Pfeils entspricht dem
Zahlenwert des Vektors und die Orientierung der Richtung des Vektors. Den Zahlenwert nennen wir
Betrag. Vektoren bezeichnen wir durch Buchstaben mit einem Pfeil ( a
⃗ ), ihren Betrag entweder
a∣=a) . Ein Alltagsbeispiel für einen Vektor
durch senkrechte Striche oder Weglassen des Pfeils (∣⃗
ist ein Hinweisschild. Es gibt Ihnen eine Richtung und einen Zahlenwert an.
Wenn wir Vektoren mathematisch darstellen wollen,
müssen wir sie in ein Koordinatensystem legen. Wenn
keines vorhanden ist, suchen wir uns ein passendes
aus. Wir betrachten als Beispiel die Karte in Abb. 3.2,
in der ein Vektor von Berlin nach Hamburg zeigt, und
damit näherungsweise unser Hinweisschild symbolisiert. Die Entfernung über die Autobahn ist etwa
290 km, der Vektor entspricht der Luftlinie. Vektoren,
die auf Orte zeigen, nennen wir Ortsvektoren und bezeichnen sie mit dem den Buchstaben ⃗r . Sie begin- Abb. 3.2: Der Ortsvektor von Berlin nach
nen im Ursprung des Koordinatensystems, ihre Spitze Hamburg
markiert den Ort. Unser Beispielvektor beginnt in
y
Berlin, seine Spitze markiert Hamburg. Um diesen
Vektor mathematisch auszudrücken, benötigen wir
ein x,y-Koordinatensystem mit dem Ursprung in Berlin. Die Achsen unterteilen wir mit dem Maßstab in
50-km-Einheiten (Abb.3.3). Nun sind wir bereit für 50 km
α
Berechnungen.
Bestimmung von Komponenten und Betrag
x
a parallel Abb. 3.3: Eine Komponente ist der senkrechDie skalare Komponente a||i eines Vektors ⃗
zu einer beliebigen als Gerade gegebene Richtung i te Schattenwurf des Vektors auf eine Achse.
(z. B. die Richtung einer Koordinatenachse) ist seine senkrechte Projektion auf die Gerade. Man
findet sie zeichnerisch, indem man von beiden Enden das Lot auf die gegebene Gerade fällt, sofern
es nicht schon auf der Gerade liegt (siehe Abb. 3.6). Man konstruiert so den senkrechten „Schattenwurf“. Der durch den „Schatten“ auf der Geraden markierte Abschnitt entspricht seiner skalaren
Komponente a||i. Die Pfeilrichtung bestimmt das Vorzeichen. Man kann a||i rechnerisch bestimmen,
wenn der Winkel α zur Geraden und der Betrag a gegeben ist:
Seite 22
Skalare Vektorkomponenten
a und einer Richtung i, ist seine skalare Komponente
Ist α der Winkel zwischen einem Vektor ⃗
parallel zu i a∥i =a⋅cos (α) (3.1) und seine Komponente senkrecht zu i a ⊥i=a⋅sin(α) (3.2)
Genauso findet man auch die skalaren Komponenten eines Vektors in die Richtungen der Koordinatenachsen.
Beispiel: Wir bestimmen die skalaren Komponenten in x- und y-Richtung. Die Geraden sind also
die Koordinatenachsen. Der Vektor beginnt auf beiden Achsen, wir fällen daher nur jeweils das Lot
von der Spitze auf die Achsen und lesen die Längen der Projektionen ab: Nach Westen sind es etwa
220 km, nach Norden etwa 110 km. Westen ist die negative x-Richtung, Norden ist die positive
y-Richtung. Das Ergebnis ist: x = − 220 km, y = 110 km. Das sind die skalaren Komponenten des
Vektors.
x = −220 km
Die Komponentendarstellung des Vektors in diesem Koordinatensystem ist ⃗r =
.
y
110 km
()(
)
Den Betrag eines Vektors, d. h. die Länge des Pfeils, ermitteln wir aus den skalaren Komponenten
x und y durch ∣⃗r ∣=r= √ x 2 +y 2 (3.3).
Beispiel: Wir bestimmen die Luftlinienentfernung Berlin ↔ Hamburg, also die Länge des Vektors:
r =√(−220)2 +1102 km=246 km . Sie ist mit 246 km etwas kürzer als über die Autobahn.
Wir können einen Vektor statt durch seine x,y-Komponenten auch über seinen Betrag und den
Winkel α zur x-Achse angeben, wobei α im Gegenuhrzeigersinn positiv ist und zunimmt. Die
Komponenten ergeben sich dann unmittelbar aus (3.1) und (3.2): x=r cos α ; y =r sin α (3.4) mit
tan α= y / x (3.5). Für die Angabe von Betrag und Winkel gibt es keine Kurzschreibweise, sondern
man sagt z. B.: r hat den Betrag r und schließt den Winkel α zur x-Achse ein.
Beispiel: Wir lesen aus Abb.3.3 den Winkel α mit dem Geodreieck ab und erhalten α = 153°. Damit berechnen wir x und y aus
der Luftlinienentfernung r: Zuerst wird der Winkel in rad umgerechnet: α=153° ×π rad/180 °=2,67 rad . Wir erhalten die Werte
x = 246 km×cos(2,67) = 219 km, y = 246 km×sin(2,67) = 112 km,
was gut zu unseren abgelesenen Komponenten passt.
Winkelberechnungen
Mit (3.4) und (3.5) kann man auch aus den Komponenten den
Winkel α berechnen. Dabei muss man allerdings Folgendes beachten: Bei trigonometrischen Funktionen sollten Sie Winkel immer in „rad“ verwenden. Stellen Sie Ihren Taschenrechner auf
„rad“ ein. Wenn Ihr Taschenrechner Winkel in Grad (Zeichen
„deg“) erwartet, rechnen Sie Unsinn, sobald das Argument ein
Verhältnis wie z. B. y/x ist, denn dies entspricht „rad“. Die Einheit rad = m/m ist dimensionslos und kann immer durch 1 ersetzt
werden. Winkelberechnungen sind nicht eindeutig, denn es ist
z. B. cos(α) = cos(− α), cos(α) = cos(2π − α) und sin(α) =− sin(− α),
sin(π − α) = sin(α) und − tan(α)=tan(− α), tan(π + α) = tan(α)
(siehe Abb.3.4). Um Winkel eindeutig zu berechnen, müssen wir
wissen, in welchem Quadranten der Vektor liegt. Das erkennen
wir an den Vorzeichen der Komponenten oder durch eine
Zeichnung.
y
2. Quadrant
α2
r2
r3
1. Quadrant
α1
α3
α4
r1
r4
x
3. Quadrant
4. Quadrant
Abb. 3.4: Zur Zweideutigkeit
bei Winkelberechnungen:
r1 und r4 haben gleiche x-Komponenten, ihre Winkel sind α1
und α4 = 2π – α1.
r1 und r2 haben gleiche y-Komponenten, ihre Winkel sind α1
und α2 = π – α1.
r1 und r3 haben den gleichen
Quotient y/x, ihre Winkel sind α1
und α3 = π + α1.
Seite 23
Beispiel: Wir berechnen für unseren Ortsvektor den Winkel α zur x-Achse. Der Vektor liegt im 2.
Quadranten, folglich muss α zwischen π/2 und π liegen. Wir rechnen:
a) α = arccos(x/r) = arccos(− 220/246) = 2,68 rad =̂ 153°,
b) α = arcsin(y/r) = arcsin(110/246) = 0,464 rad =̂ 27°,
c) α = arctan(y/x) = arctan(110/(−220)) = − 0,464 rad =̂ −27°.
Drei Rechnungen, drei Werte, welcher stimmt? In allen Fällen ist der Winkel zweideutig. Bei a)
liefern ± α und 2π − α das gleiche x, bei b) liefern α bzw. π − α das gleiche y und bei c) liefern α und
π + α das gleiche y/x. Zum 2. Quadranten passt das Ergebnis von a), bei b) müssen wir π − α und bei
c) π + α wählen, damit der Winkel im 2.Quadranten liegt. Dann ergeben alle Rechnungen α = 2,68
rad =̂ 153°.
Multiplikation mit einem Skalar und Einheitsvektoren
⃗ verändern und die Richtung gleich
Nehmen wir an, wir wollen nur die Länge eines Vektors b
lassen. Das erreichen wir, indem wir seine Komponenten mit der skalaren Zahl c multiplizieren:
a =c⋅⃗
⃗
b=c x = c x . Ist c > 0, zeigen ⃗
a und ⃗
b in die gleiche Richtung, wenn c < 0 ist zeigt a in
y
cy
die entgegengesetzte Richtung.
()( )
km= −110 km .
(0,5⋅(−220)km
)
( 55 km )
0,5⋅110 km
Beispiel: Wir halbieren die Länge von ⃗r mit c = 0,5: ⃗r ' =0,5⋅⃗r =
Zur Kontrolle berechnen wir den Betrag von ⃗r ' : r ' =√ (−110)2 +552 km=123 km . Das ist genau die
Hälfte des ursprünglichen Wertes r, also ist auch r' = 0,5 r.
Die beiden Vektoren ⃗r und ⃗r ' haben eine unterschiedliche Länge, aber zeigen sie wirklich in die
gleiche Richtung? Nehmen wir an, wir wollen einem Vektor nur seine Information „Richtung“
entnehmen. Dazu können wir seinen Winkel α zur x-Achse berechnen. Eine andere, besonders
wichtige Möglichkeit ist die Angabe eines einheitenlosen Vektors mit dem Betrag 1, der in die
gleiche Richtung wie ⃗r zeigt. Einen solchen Vektor nennen wir Einheitsvektor e⃗r .
Wir erhalten den Einheitsvektor von ⃗r , indem wir ⃗r durch seinen Betrag r teilen: ⃗e r =
⃗r
(3.6).
r
( )(
−220 km
1
−220
km
246 km
−0,894
Beispiel: Wir berechnen den Einheitsvektor von ⃗r : ⃗e r = 246 km⋅ 110 km = 110 km = 0,447
246 km
(
)
)
und machen die Probe: e r =√ (−0,894)2+0,4472=1 . Der Vektor ist einheitenlos und hat den Betrag
⃗r ' 0,5 ⃗r ⃗r
= =⃗e r . ⃗r und ⃗r ' haben den
1. Wir berechnen den Einheitsvektor von ⃗r ' : ⃗e r ' = =
r ' 0,5 r r
gleichen Einheitsvektor und zeigen somit in die gleiche Richtung.
Dreidimensionale Vektoren
Wir haben jetzt verschiedene Darstellungen von zweidimensionalen Vektoren durchgespielt und
haben gesehen wie man sie berechnet. Ein zweidimensionaler Vektor enthält zwei Informationen,
also benötigen wir auch immer zwei Angaben, um ihn darzustellen: Entweder seine beiden Komponenten oder seine Länge und einen Winkel, z. B. den Winkel zur x-Achse.
Bei einem dreidimensionalen Vektor sind es drei Angaben: Er hat drei Komponenten und wir
benötigen zum Beispiel seinen Länge und zwei Winkel.
Seite 24
()
x
⃗
r
=
y ist ∣⃗r∣=r= √ x 2 +y 2 +z 2 und x=r cos α ; y =r cos β ;
Für einen dreidimensionalen Vektor
z
z=r cos γ . Die Winkel α, β, γ sind die Winkel zu den jeweiligen Koordinatenachsen x, y, z. Für
sie gilt der Zusammenhang cos2 α+cos2 β+cos2 γ=1 . Den Kosinus des jeweiligen Winkels nennt
man Richtungskosinus.
Dreidimensionale Vektoren werden wir bei Bedarf vertiefen.
Häufig benötigen wir auch die vektorielle Komponente eines Vektors in eine bestimmte Richtung.
Wir müssen also aus der skalaren Komponente eines Vektors in eine bestimmte Richtung einen
Vektor machen. Dazu multiplizieren wir die skalare Komponente mit dem Einheitsvektor der
Richtung:
()()
()()
()()
0
0
1
x
0
0
e z= z 0 = 0 .
e y = y 1 = y , ⃗z = z⋅⃗
Vektorielle Komponenten: ⃗x = x⋅⃗e x = x 0 = 0 , ⃗y= y ⃗
0
0
0
0
1
z
ez .
Damit ergibt sich ein Vektor als Summe seiner vektoriellen Komponenten: ⃗r = x ⃗e x +y ⃗e y +z ⃗
Beispiel: Wir geben ⃗r dreidimensional als Summe seiner vektoriellen Komponenen an:
⃗r =−220 km ⃗e x +110 km ⃗e y +0 km e⃗ z
Das führt uns auf die Grundrechenarten zwischen Vektoren, d.h. wie man Vektoren miteinander
addiert, subtrahiert und multipliziert.
3.1.2 Rechenoperationen mit Vektoren
Das Rechnen mit Vektoren beinhaltet die Zerlegung in beliebige Komponenten, die Addition und
die Subtraktion sowie zwei verschiedene Arten der Multiplikation.
Die Division durch Vektoren ist verboten!
Das Rechnen mit Vektoren ist sehr anschaulich. Jede Rechenoperation hat eine grafische Bedeutung.
Auch alle grafischen Methoden der Vektorrechnung sollten Sie kennen, damit Sie aus zeichnerisch
gegebenen Situationen die erforderlichen Zusammenhänge ablesen können. Auf den nächsten Seiten
sind die Regeln zum Rechnen mit Vektoren zusammengestellt. Sie sollten sie bei Bedarf üben.
Addition/Subtraktion Vektoren werden komponentenweise
a 1±b 1
⃗
a
±
b
=
c
=
⃗
⃗
a 2±b 2 (3.7)
addiert und subtrahiert:.
a 3±b 3
( )
c =⃗
a −⃗
b
⃗
+
c =⃗
a +⃗
b
⃗
a
⃗
a
⃗
-
⃗
b
⃗
a
b
Zur grafischen Addition oder Subtraktion zweier Vektoren ⃗
und ⃗
müssen
sie
sich
passend
berühren.
Dazu
darf
man
die
b
Vektoren parallel verschieben, d. h. ohne sie zu verdrehen. Bei Abb. 3.5: Grafische Addition und
der Summe verschiebt man so, dass der Anfang des einen Subtraktion
Vektorpfeils an der Spitze des anderen liegt, die Pfeile werden also hintereinander verkettet. Der
Summenvektor ist die Verbindung vom Anfang bis zum Ende der Kette. Schiebt man z. B. ⃗
b an das
⃗
a ,dann ist der Summenvektor die Verbindung vom Anfang von ⃗
a zur Spitze von b .
Ende von ⃗
Bei der Differenz müssen sich dagegen die Anfänge der Vektoren berühren, sie werden also nebeneinander gelegt. Der Differenzvektor ist die Verbindung der Spitzen. Hier muss man das Vorzeichen
Seite 25
a , andernfalls andersbeachten, denn ⃗
a −⃗b=−( ⃗b−⃗
a ) . Für ⃗c =⃗
a −⃗b verbinden wir von ⃗
b nach ⃗
c
herum. Überprüfen Sie immer die Richtung von ⃗ , indem Sie zur Kontrolle die Summe betrachten,
denn aus ⃗c =⃗
a −⃗b folgt ja ⃗
a =⃗b+⃗c .
Darf man Vektoren einfach so verschieben? So lange man sie nicht verdreht in der Regel ja. Es gibt
ungebundene (verschiebbare) und gebundene (nicht verschiebbare) Vektoren. Die meisten Vektoren
sind ungebunden. Wenn Sie sich nicht sicher sind, nehmen Sie sie als verschiebbar an. Wenn Vektoren nicht verschiebbar sind, wird in diesem Skript deutlich darauf hingewiesen. Als wichtigstes
Beispiel sind Ortsvektoren nicht verschiebbare Vektoren, sie beginnen immer im Ursprung. Dadurch
liegen aber ihre Anfänge immer beisammen und wir können problemlos ihre Differenzen bilden.
Multiplikation
Es gibt zwei unterschiedliche Produkte zwischen Vektoren: das Skalarprodukt ⃗
a⋅⃗
b und das
⃗
Vektorprodukt ⃗
.
Am
Multiplikationszeichen
erkennt
man,
welches
gemeint
ist.
Das
Vektora×b
produkt heißt deshalb auch „Kreuzprodukt“. Der Name benennt den Typ des Ergebnisses: Es ist ein
Skalar beim Skalarprodukt und ein Vektor beim Vektorprodukt. Die Produkte werden unterschiedlich gebildet und haben unterschiedliche Eigenschaften.
Das Skalarprodukt ist die Multiplikation zweier Vektoren c=⃗
a⋅⃗b , gekennzeichnet durch den
Punkt „∙“. Das Ergebnis ist ein Skalar c. Man kann es auf zwei Arten berechnen. Entweder durch die
Summe der Komponentenprodukte oder als Produkt der Beträa und ⃗
ge mal dem Kosinus des Winkels α zwischen ⃗
b:
a⋅⃗b=a 1 b1 +a 2 b 2+a 3 b 3=a b cos(α) (3.8)
Skalarprodukt: c=⃗
a
Es entspricht der senkrechten Projektion L = a∙cos(α) von ⃗
auf ⃗
b multipliziert mit dem Betrag von ⃗
b . Oder umgekehrt,
⃗
denn es gilt das Kommutativgesetz: ⃗
a⋅b=⃗b⋅⃗a . Für die grafische Projektion fällt man vom Ende und von der Spitze von
a das Lot auf ⃗
a
⃗
b . L ist immer die skalare Komponente von ⃗
in Richtung von ⃗
b . Ist einer der Vektoren ein Einheitsvektor
⃗e , dann ist c = L, also die skalare Komponente des anderen
Vektors in die Richtung von ⃗e .
⃗a
α
⃗b
c=L∙b
L
Abb. 3.6: Das Skalarprodukt entspricht der Projektion eines Vektors auf den anderen mal dessen
Betrag.
a und ⃗
Das Skalarprodukt ist null, wenn ⃗
b senkrecht aufeinander stehen. Es ist maximal und hat
⃗
a
den Wert c = ab, wenn ⃗ und b parallel zueinander sind. Es ist minimal mit c = −ab, wenn a⃗ und
⃗
b antiparallel zueinander sind.
Das Vektorprodukt ist die Multiplikation zweier Vektoren ⃗
a ×⃗b , gekennzeichnet durch das Kreuz
„ד. Das Ergebnis ist ein Vektor ⃗c . Er wird komponentenweise durch Bildung von Produktdifferenzen berechnet4. Den Betrag von ⃗c erhält man aus ⃗c
⃗b
c
a und ⃗
dem Produkt der Beträge mal dem Sinus des Winkels α zwischen ⃗
b:
..
α
(
)
a 2 b3 −a 3 b 2
⃗a
b ; c=a b sin (α) (3.9).
Vektorprodukt: ⃗c =a⃗ ×⃗b = a 3 b1 −a 1 b3 ; ⃗c ⊥ a⃗ ; ⃗c ⊥ ⃗
Abb. 3.7: Bedeutung
a1 b2 −a 2 b 1
des Vektorprodukts.
a und ⃗
⃗c entspricht einem Vektor, der senkrecht auf der durch ⃗
b aufgespannten Parallelogrammfläche steht und dessen Länge gleich dem Flächeninhalt dieser Fläche ist. Die Richtung von
4
Es gibt eine einfache kurze Merkregel zum Berechnen des Vektorproduktes: Der 23. und der 31. sind die anstrengendsten Tage im Dezember. Der Dezember steht darin für die 12. Die Zahlen geben die Indizes des ersten Produktes jeder
Komponente an, beim zweiten Produkt sind sie dann nur vertauscht.
Seite 26
⃗c findet man durch die „Rechte-Hand-Regel“: Zeigt der Daumen die Richa und der Zeigefinger die Richtung von ⃗
tung von ⃗
b , dann zeigt der angewinkelte Mittelfinger die Richtung von ⃗c an.
a
⃗
⃗
b
a und b⃗ parallel zueinDas Vektorprodukt ist null, wenn zwei Vektoren ⃗
⃗c
a
ander sind. Es ist maximal und hat den Wert ±ab, wenn zwei Vektoren ⃗
und ⃗
b senkrecht aufeinander stehen. Das Kommutativgesetz gilt nicht, denn Abb. 3.8: RechteHand-Regel
a ×⃗b=−( ⃗b×⃗
⃗
a) .
Ableiten/Integrieren
Vektoren werden komponentenweise differenziert und integriert:
( )
ẋ( t)
˙
⃗
r
=
Ableitung und Integral:
ẏ (t)
ż (t)
()
∂
∂x
⃗= ∂
Der Nabla-Operator ∇
∂y
∂
∂z
(3.10)
( )
∫ x (t )dt
∫ ⃗r dt= ∫ y( t)dt
∫ z (t) dt
(3.11)
erzeugt die partielle Ableitung nach dem Ort. Wenn man nach einer
Koordinate partiell ableitet, betrachtet man die anderen Koordinaten als Konstanten.
⃗ a , Divergenz b=∇⋅⃗
⃗ a , Rotation ⃗
⃗ a :
Gradient ⃗b= ∇
b= ∇×⃗
⃗ auf einen Skalar nennen wir Gradient. Das Ergebnis ist ein Vektor:
Die Anwendung von ∇
⃗ mit einem Vektor nennen wir Divergenz. Das Ergebnis ist ein Skalar.
Das Skalarprodukt von ∇
⃗ mit einem Vektor nennen wir Rotation. Das Ergebnis ist ein Vektor.
Das Vektorprodukt von ∇
( )(
∂ √ x 2 +y 2 +z 2
2
2
2
∂x
x / √ x +y +z
x
⃗r
2
2
2
2
2
2
∂
⃗
⃗
Beispiel: ⃗r = y ; Gradient: ∇ r= grad r= ∇ √ x +y +z = ∂ y √ x +y +z = y / √ x 2 +y 2 +z 2 = r
z
∂ x 2 +y 2 +z 2
z / √ x2 +y 2 +z2
√
∂z
()
)
( )
∂z ∂y
−
∂ y ∂z
⃗ r =div ⃗
⃗ ×⃗r =rot ⃗r = ∂ x − ∂ z =0
r = ∂ x+ ∂ y + ∂ z=1+1+1=3 ; Rotation: ∇
Divergenz: ∇⋅⃗
∂x
∂y
∂z
∂z ∂x
∂ y ∂x
−
∂x ∂ y
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden.. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
3.1) In Ihren Aufzeichnungen stehen zwei Gleichungen aus der letzten Physikvorlesung: Erklären Sie anhand dieses Beispiels den Unterschied zwischen einer vektoriellen und einer skalaren Größe.
Seite 27
3.2) Zeichen Sie für jedes Vektorpaar
a , ⃗b die Summe und die beiden
⃗
Differenzen ⃗
a −⃗b , ⃗
b−⃗
a.
a
⃗
a
⃗
a
⃗
⃗
b
a
⃗
⃗
b
y
a
⃗
x
x
3.4) Ein Flugzeug fliegt mit 300 km/h auf der direkten Verbindung von Berlin nach Hamburg. Die Flugroute liegt unter 153°
zur Richtung Osten. Geben Sie den Vektor ⃗v der Geschwindigkeit an.
⃗
b
y
3.3) Die Abbildung zeigt einen Vektor und drei verschiedene
Koordinatensysteme. Geben Sie die Komponentendarstellung
des Vektors a in allen drei Koordinatensystemen an.
⃗
b
3.5) Betrachten Sie für alles Weitere die Zeichnung rechts.
a ist nicht verschiebbar, F ist verschiebbar.
⃗ in Komponentena und F
a) Geben Sie die Vektoren ⃗
schreibweise an:
i) mit ihren skalaren Komponenten
ii) mit vektoriellen Komponenten.
⃗ den Betrag und den
a und F
b) Berechnen Sie für ⃗
Einheitsvektor.
⃗ den Winkel α zur x-Achse.
a und F
c) Berechnen Sie für ⃗
⃗ −⃗
⃗ und den Differenzvektor F
d) Konstruieren und berechnen Sie den Summenvektor ⃗
a +F
a . Vergleichen Sie Grafik und Rechnung.
a =r 2 −r 1
e) Zeichnen Sie zwei im Ursprung beginnende Ortsvektoren r 1 und r 2 ein, für die 
gilt.
⃗ auf die gestrichelte Linie.
f) Konstruieren Sie die senkrechte Projektion von F
⃗ und a⃗ × F
⃗ . Welches ergibt einen Vektor und wohin zeigt
g) Berechnen Sie die zwei Produkte a⃗⋅F
er?
3.6) Student Ole fliegt von Berlin nach Hamburg (Luftlinie 260 km). In Flughöhe herrscht ein
starker Wind senkrecht zum direkten Weg mit vW = 50 km/h über Grund. Die Flugdauer soll 26 min
betragen.
a) Mit welcher konstanten Geschwindigkeit vF muss das Flugzeug fliegen, damit es über Grund auf
direktem Weg fliegt und pünktlich ankommt?
b) Wohin zeigt unterwegs die „Nase“ des Flugzeugs? Geben Sie den Winkel relativ zum direkten
Weg an!
c) Mit welcher Geschwindigkeit vO über Grund fliegt Ole in Richtung Hamburg, wenn er unterwegs
vom Bug zum Heck mit 3 km/h in Richtung Waschraum geht?
Seite 28
3.2 Differenzieren und Integrieren
Die Grundlagen der Differenzial-und Integralrechnung werden als Schulwissen vorausgesetzt. Das
heißt, einfache Funktionen, wie f(x)=a∙xn, f(x)=a∙ecx, f(x)=a∙sin(x) sollten Sie ableiten und unbestimmt oder bestimmt integrieren können. Die Begriffe „Produktregel“, „Kettenregel“ oder
„Substitution“ sollten Ihnen etwas sagen. Falls das nicht der Fall ist, holen Sie dieses Schulwissen
bitte selbstständig anhand einschlägiger Lehrbücher oder mit Hilfe Ihrer Kommilitonen nach.
Die Physik „lebt“ von differenziellen und integralen Zusammenhängen. Fast alle Naturgesetze
beschreiben einen differenziellen Zusammenhang zwischen physikalischen Größen, wie z.B. das
⃗ = d ⃗p . Ein Verständnis dieser Art des Zusammenhangs ist desNewton'sche Bewegungsgesetz F
dt
halb die Voraussetzung für ein Verständnis der Physik. Dieser Zusammenhang ist etwas anders als
+,−, × , /. Doch genau wie für Summe und Produkt es gibt für Ableitung und Integral eine sehr
anschauliche Interpretation, die Sie verinnerlichen sollten. Das ist der Inhalt des folgenden Kapitels.
Und es gibt einige grundlegende mathematische Methoden, die für Berechnungen unverzichtbar
sind. Das ist der Inhalt des zweiten Kapitels.
3.2.1 Grafische Bedeutung von Ableitung und Integral
Zur Ableitung und zum Integral gibt es eine anschauliche geometrische und physikalische Interpretation. Hinter einer Ableitung steckt immer „wie stark sich etwas ändert“. Das Wort „Ableitung“
kommt in der Umgangssprache nicht vor. Es hat in der Mathematik die gleiche Bedeutung wie in
der Umgangssprache die Worte: Steigung, Neigung, Änderung, Veränderung, Steilheit, Variation,
Tendenz, Trend, Gefälle, Anstieg, Abfall usw.
Beispiel: Wenn Sie regelmäßig lernen, wird Ihr Wissen W(t) zunehmen, sich also mit der Zeit t
vergrößern. Die zeitliche Ableitung w = dW/dt Ihres Wissens gibt an, wie schnell Ihr Wissen wächst.
Eine negative Ableitung würde bedeuten, dass Sie Wissen verlieren, also Dinge vergessen.
Geometrisch ist die Ableitung einer Funktion f(x) ihre Steigung am Ort x. Der Quotient df /dx ist die
Steigung der Tangente an f(x) bei x. Die Ableitung bedeutet: Schaue, wie sehr sich f(x) über dx
ändert. Das Ergebnis ist df(x). Teile df(x) durch dx und mache dx unendlich klein. Das ist die Ableitung bei x.
Beispiel: Transfer auf Ihr Wissen, x = t: df ist eine kleine Menge an Wissen, die Sie gelernt haben.
dt ist Zeit, die Sie dafür investiert haben. df kann nur größer als null sein, wenn dt größer als null ist.
Von nichts kommt nichts. Wenn Sie dt verdoppeln, wird sich auch df verdoppeln. df /dt gibt Ihr
Lerntempo an d. h. wie schnell Ihr Wissen zunimmt.
Hinter einem Integral steckt immer ein „Ansammeln“ bzw. „Aufsummieren“. Das Wort „Integration“ hat in der Mathematik die gleiche Bedeutung wie in der Umgangssprache: Aufnehmen, Hinzukommen, Eingliedern, Einbetten, Einbeziehen, Verschmelzen, Vereinen, Teil werden usw.
jetzt
Beispiel: Das zeitliche Integral Ihres Wissenszuwachses
∫
w(t )dt gibt an, wie viel neues Wissen
Beginn
Sie sich vom Anfang des Studiums bis heute angeeignet haben. Es gibt an, wie viel neues Wissen in
dieser Zeit bei Ihnen hinzugekommen ist.
Geometrisch ist das Integral einer Funktion f(x) der Flächeninhalt, den ihr Graph von 0 bis zum Ort
x zwischen sich und der x-Achse aufspannt. Das Produkt f(x)∙dx ist die Fläche eines Rechtecks der
Höhe f(x) und der Breite dx. Das Integralzeichen bedeutet: Mache dx unendlich klein und summiere
die Flächen aller Rechtecke von 0 bis x auf. Das ist das Integral bei x. Dabei zählen Flächeninhalte
Seite 29
positiv oder negativ, je nachdem ob f(x) größer oder kleiner als null ist.
Beispiel: Transfer auf Ihr Wissen, x = t: f(t) gibt an, wie Ihr Wissen mit der Zeit zunimmt. dt ist die
Dauer eines sehr kurzen Lernintervalls. f(t)∙dt ist Ihr Wissenszuwachs während des Lernintervalls.
Jetzt
∫
f (t ) dt ist die Menge an Wissen, die Sie bis jetzt gelernt haben. Das Integral summiert alle
Beginn
Wissenszuwächse während aller kurzen Lernintervalle zu Ihrem bisher angesammelten Wissen auf.
Wenn wir grafisch integrieren oder differenzieren sollen, machen wir dx nie unendlich klein, sondern wählen es so, dass wir die Grafik gut auswerten können. Meistens sind uns hilfsweise Kästchen gegeben. Grafisch integrieren ist also nichts anderes als Kästchen zählen. Grafisch Differenzieren ist nichts anderes als Kästchenkanten durcheinander teilen.
Beispiel: Nehmen Sie an Sie hätten einen kaputten Wasserhahn, aus dem kontinuierlich gleichmäßig Wasser tropft, z. B. 100 ml/Tag, und einen Eimer, in dem sich das Wasser sammelt.
Die Wassertropf-Funktion ist also f(t) = 100 ml/d5. Das ist geometrisch eine horizontale Gerade, also
eine Konstante. Ihre Steigung, also ihre Ableitung ḟ (t )=
d
100 ml/d=0 , ist überall null. Sie sagt
dt
uns, wie stark sich die Tropfrate ändert. In diesem Fall also überhaupt nicht.
Das Integral F (t)=∫ f (t ) dt =∫ 100 ml/d dt =100 ml/d⋅t gibt an, wieviel Wasser sich im Eimer bis
zur Zeit t ansammelt. Geometrisch betrachtet ist
das der Flächeninhalt zwischen f(t) und der Zeitachse von 0 bis t. Nach sechs Tagen hat sich z. B.
die Wassermenge F (t=6 d)=100 ml/d⋅6 d = 600 ml
angesammelt: in den Eimer „integriert“. Sie
nimmt linear mit t zu, denn das Integral ist eine
Gerade.
Jetzt nagt der Zahn der Zeit hungriger und die
Tropfrate erhöht sich pro Tag um 50 ml/d. Die
Tropfrate steigt also kontinuierlich an. Die
Wassertropf-Funktion ist nun zeitabhängig:
f(t) = 100 ml/d + 50 ml/d2∙t. Das ist geometrisch
betrachtet eine ansteigende Gerade, also keine
Konstante mehr.
Abb. 3.9: Darstellung des Beispiels: Die Ableitung
2
Ihre Ableitung ḟ (t)=50 ml/d gibt wieder an, wie von f(t) ist ihre Steigung (schwarz), ihr Integral ihr
stark sich die Tropfrate ändert. Sie ändert sich jetzt Flächeninhalt unter der Kurve (blau).
mit einer konstanten Rate von 50 ml/d2. Das entspricht einer horizontalen Geraden. Das Integral
1
2
2 2
F (t )=∫ f (t ) dt=∫ 100 ml/d+50 ml/d t dt=100 ml/d t + 50 ml/d t ist nun eine Parabel und gibt
2
an, wie viel Wasser sich im Eimer angesammelt („integriert“) hat. Nach 6 Tagen wären das
1
F (t=6 d)=100 ml/d⋅(6 d)+ 50 ml/d2⋅(6 d)2 =600 ml+900 ml=1500 ml Wasser.
2
Zählen Sie die Kästchen in Abb.3.9 und überprüfen Sie die Richtigkeit des Integrals. In den oberen
Abbildungen entspricht ein Kästchen 100 ml. Teilen Sie die markierten Kästchenkanten durcheinander und überprüfen Sie die Richtigkeit der Ableitung. In den unteren Abbildungen entspricht ein
Kästchen 250 ml beim Integral bzw. 250 ml/d2 bei der Ableitung.
5
d = day = Tag
Seite 30
3.2.2 Rechnen mit differenziellen und integralen Zusammenhängen
Wissen Sie, was ein FFAUWE-Problem (sprich Fauwe) ist? Ein „Formel Finden Auflösen und Wert
Einsetzen“-Problem. Typischerweise ist das die einzige Sorte von physikalischen Problemen, die
Sie in der Schule kennenlernen. Studienanfänger suchen bei physikalischen Aufgaben zuerst nach
irgendeiner Formel, in der die gegebenen und gesuchten Größen auftauchen, lösen sie nach der
gesuchten Größe auf und setzen die gegebenen Werte ein, um die gesuchten Werte zu berechnen.
Einfache Zusammenhänge sind z. B. f (x )=a⋅x ; f (t)=a+t/b ; f ( x , t)= A⋅t⋅e x . Wenn f gesucht
ist, setzten Sie gegebene Werte für die Parameter x, t und die Konstanten a, b, A ein.
Was passiert aber, wenn z. B. f (t)=a ẋ (3.12) oder x=b ∫ f ( t)d t (3.13) ist? Der Punkt steht
dx
immer für die Ableitung nach der Zeit ẋ=
. Studienanfänger halten sich immer wieder beispielsdt
weise an dem Zusammenhang v = s/t fest, weil sie mit dem korrekten differenziellen Zusammenhang v= ṡ nicht umgehen können. Die Frage, die sich stellt, ist: Wie löst man ṡ nach s oder t auf?
Aus diesem Grund sind differenzielle und integrale Zusammenhänge für Studierende so schwierig,
obwohl fast nur Ableitungen und Integrale von ganz einfachen Funktionen f(t) auftreten. Mit a als
Konstante wird es selten schwieriger als:
f (t)=a ⇒ ḟ =0 ; f (t)=a t ⇒ ḟ =a ; f (t)=a t 2 ⇒ ḟ =2 a t .
Das Gleiche gilt für die Integrale:
1 2
f (t)=1 ⇒ ∫ dt=t+c ; f (t)=a ⇒ ∫ a dt=a t +c ; f (t)=a t ⇒ ∫ a t dt= a t +c .
2
Darin ist c die Integrationskonstante, die wir sehr häufig c = 0 setzen. Differenzielle und integrale
Zusammenhänge lassen sich nicht unmittelbar in FFAUWE-Lösungen umsetzen. Wissen auch Sie
nicht, wie Sie s aus aus v= ṡ berechnen können, wenn Ihnen beispielsweise v zu einem Zeitpunkt t
gegeben ist? Oder wie Sie v berechnen sollen, wenn Ihnen s zu einem Zeitpunkt t gegeben ist? Dann
lernen Sie aktiv das Folgende!
Bedeutung der Größen
Es sei z. B. f =a ẋ (1) und x=b ∫ f d t (2) der physikalische Zusammenhang zwischen zwei beliebigen Größen f und x. Wir gewinnen also f aus x durch Ableiten und x aus f durch Integrieren.
Gegebene Größen seien die Konstanten a, b und x oder f zu einem festen Zeitpunkt t, z. B. x0 zum
Zeitpunkt t = 0. Wie bekommen Sie dann x oder f zu anderen Zeiten oder gar f für einen bestimmten
Wert von x?
Als erste wesentliche Erkenntnis machen Sie sich klar, das f und x in all diesen Ausdrücken nicht
wie gewohnt für eine Variable stehen, sondern für irgendwelche Funktionen der Zeit x(t) und f(t).
Klarer wäre die Schreibweise f (t)=a ẋ (t ) und x (t)=b∫ f (t)dt . Sie ist insbesondere bei den
Ableitungen jedoch absolut unüblich. Sie müssen sich das also merken!
Zweitens versuchen Sie zu verstehen, dass ein Differenzialquotient einen einfachen Bruch darstellt.
dx
= f ( t) sind die Differenziale dx und dt zwar unendlich klein, aber nicht
In einem Ausdruck wie
dt
null. Wir dürfen deshalb in gewissen Grenzen 6 mit ihnen multiplizieren, durch sie dividieren, mit
dx dx dy
=
ihnen erweitern und sie kürzen. Wir können z. B. aus
machen oder den Ausdruck in
dt dy dt
dx= f (t)⋅dt umformen. Die letzte Gleichung zeigt: Für ein festes t ist der Zusammenhang zwischen dx und dt immer linear, d. h. zeichnerisch eine Gerade. Ihre Steigung ist f (t)= ẋ .
6
Sie ergeben sich aus den Rechenregeln für Ableitungen: Produktregel, Kettenregel, Quotientenregel, Regel für die
Umkehrfunktion usw.
Seite 31
Als Drittes sollten Sie erkennen, dass die Zusammenhänge (1) und (2) völlig gleichwertig sind,
wenn a=1/b ist und die Integrationskonstante c = 0 gesetzt wird.
Version (1) wandelt man durch beidseitiges Integrieren über t in (2) um:
dx
1
∫ f dt =∫ a ẋ dt=∫ a dt dt=∫ a dx=a x ⇒ x= a ∫ f d t .
Version (2) wandelt man durch beidseitiges Differenzieren nach t in (1) um:
dx d
d
1
= [b∫ f dt]=b
[∫ f dt ]=b⋅ f ⇒ f = ẋ .
dt d t
dt
b
Es ist daher egal, ob die integrale oder differenzielle Schreibweise gegeben ist, beides beinhaltet den
gleichen physikalischen Zusammenhang.
„Auflösung“ nach x oder f
Das Problem und seine Lösung liegt nun darin, dass in beiden Fällen x(t) und die Funktion f(t) nicht
direkt gegeben sind. Sie müssen sie erst berechnen. Aber was sollen Sie ableiten oder worüber
sollen Sie integrieren? Dabei müssen Sie drei Fälle unterscheiden:
1. Sie suchen f(t). Dazu müssen Sie x als Funktion von t, also x(t) kennen und ableiten.
2. Sie suchen x(t). Dazu müssen Sie f als Funktion von t, also f(t) kennen und integrieren.
3. Sie suchen f(x). Dazu müssen Sie f(t) oder x(t) kennen, die jeweils andere Funktion nach 1.
oder 2. berechnen, x(t) nach t auflösen und die Funktionen verketten: f(x) = f(t(x)).
Kennen Sie keine der beiden Funktionen, ist das Problem nicht lösbar. Im Gegensatz zu einfachen
Zusammenhängen (genau deswegen sind sie einfach!) verlangen integrale oder differenzielle
Zusammenhänge von Ihnen aktives Vorwissen! Ohne dieses sind sie nicht auswertbar! (Es sei denn,
der/die nette DozentIn gibt Ihnen die Funktionen vor ☺).
Beispiel: Ein Blumentopf fällt aus dem 2. Stock vom Balkon (Höhe h = 5 m). Luftwiderstand wird
vernachlässigt. Mit welcher Geschwindigkeit v kommt er am Boden auf? Die Geschwindigkeit ist
v= ṡ .
Hier entspricht v → f und s → x. Wir suchen v(s) am Boden, also bei s = 0. Wir wollen diese
Aufgabe auf zwei Arten lösen, einmal durch Ableiten und einmal durch Integrieren. Begleiten Sie
mich gedanklich bei der Lösung dieser Aufgabenstellung!
1. Lösungsansatz durch Ableiten: Es ist nötig, dass ich s als Funktion von t, also s(t) kenne!
Ich erkenne die Modellbewegung „freier Fall“ und kenne den zugehörigen Zusammenhang
1
ds d
1
s( t)=h− g t 2 . Ich bilde die Zeitableitung und erhalte v (t )= = (h− g t 2)=−g t .
dt dt
2
2
√
Ich benötige aber v(s). Ich löse s(t) nach t auf und bekomme die Fallzeit t (s)=t= 2
(h−s)
.
g
Ich verkette die Beziehungen v(t(s)) = v(s) und erhalte den gesuchten Zusammenhang
√
v ( s)=−g 2
(h−s)
=−√ 2( h−s) g . Auf dem Boden ist s = 0. Also ist v (s=0)=−√ 2 h g .
g
Ich setze die gegebenen Werte ein: v (s=0)=−√ 2⋅5 m⋅10 m/s2 =−10 m/s .
Der Blumentopf kommt mit v = − 10 m/s auf dem Boden auf.
2. Lösungsansatz durch Integration: Es ist nötig, dass ich v als Funktion von t, also v(t) kenne!
Ich erkenne die Modellbewegung „freier Fall“ und kenne die dazu gehörende Geschwindigkeit
v(t)= v0 − gt. Der Blumentopf fällt aus der Ruhe, also ist v0 = 0 und v(t) = − gt.
Seite 32
ds
integrieren. Dazu multipliziere ich mit dt
dt
und erhalte v (t ) dt=ds . Dadurch habe ich alles, was t enthält, auf die eine und alles, was s enthält,
auf die andere Seite der Gleichung gebracht und auf diese Weise die Variablen s und t getrennt. Nun
kann ich beide Seiten integrieren. Jede Seite wird über die jeweilige Variable des Differenzials, also
über unterschiedliche Variablen integriert7. Die Variablen nenne ich jetzt temporär t' und s', damit
Um s(t) zu erhalten, muss ich die Gleichung v (t )=
t
ich die Integrationsgrenzen t und s nennen kann. Mit s(t = 0)=h ergibt sich:
s (t )
∫ v (t ')dt '= ∫ ds ' .
0
t
h
t
[
]
1
1 2
2
In das linke Integral setze ich die bekannte Funktion v(t) ein: ∫ −g t ' dt ' = − g t ' =− g t .
2
2
0
0
s (t )
Das rechte Integral ist ein Integral über 1, also die Größe selbst
s (t )
∫ ds ' =[ s ' ]h
=s (t)−h .
h
1 2
1 2
Zusammen ergibt das − g t =s(t )−h und als Ergebnis s(t )=h− g t . Ab jetzt verfahre ich
2
2
wie gehabt: Aus s(t) bestimen ich t(s) und daraus v(s). Ich erhalte das gleiche Ergebnis wie in Fall 1.
dx
werden immer nach diesem Schema integriert, wenn man alle
dt
Terme mit x und t auf unterschiedliche Seiten bringen kann. Dabei können x und t auch zwei
beliebige andere Variablen sein. Die Methode nennt man Trennung der Variablen. Wir werden sie
oft verwenden.
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden.. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Gleichungen der Form f (x ,t )=
Übungen
3.7) Ein Kommilitone zeigt Ihnen seine Lösung einer Übungsaufgabe.
Dabei sollte ein Weg-Zeit-Diagramm gezeichnet und die Geschwindigkeit v= ṡ daraus abgelesen werden. Was sagen Sie zu seiner Lösung?
Wie groß ist v? Wo liegt der Fehler?
3.8) a) Zeichnen Sie in die Mitte einer
Seite in ein Diagramm die Silhouette des
links gezeigten Berges ein, so dass darüber
und darunter noch Platz ist.
b) Zeichnen Sie darüber die Ableitung der Silhouette des Berges.
c) Zeichnen Sie darunter das Integral der Silhouette des Berges.
Quelle: 123rf.com
d) Welche physikalische Größe im Zusammenhang mit dem Berg
könnte durch Ihre Ableitung beschrieben werden? e) Welche physikalische Größe im Zusammenhang mit dem Berg könnte durch die Silhouette selbst beschrieben werden? f) Welche physikalische
Größe im Zusammenhang mit dem Berg könnte durch Ihr Integral beschrieben werden?
3.9) Die allgemeingültigen Zusammenhänge zwischen Weg s, Geschwindigkeit v und Beschleunigung a sind v= ṡ ; a=v̇= s̈ (1) bzw. s=∫ v dt ; v=∫ a dt (2) . Für die gleichförmige Bewe7
Das darf ich aufgrund der Kettenregel. Sie erlaubt die Erweiterung mit einem Bruch der Form
dt
ds
∫ ds=∫ ds⋅dt =∫ dt dt =∫ v(t ) dt .
dt
. Einsetzen ergibt
dt
Seite 33
gung gilt s( t)=s 0+v 0 t ; v(t)=v 0=const.; a=0 . Für die gleichförmig beschleunigte Bewegung
gilt s( t)=s 0+v 0 t+1/ 2 a t 2 ; v (t )=v 0 +a t ; a=const. .
a) Zeigen Sie für beide Modellbewegungen, dass sich v und a durch (1) aus s ergeben.
b) Zeigen Sie für beide Modellbewegungen, dass sich s aus v durch (2) ergibt.
3.10) Sie gehen von Ihrer Wohnung zur Bushaltestelle und warten dort eine Weile auf den Bus.
Dann merken Sie, dass Sie Ihre Monatskarte vergessen haben. Sie laufen schnell zurück, um sie zu
holen und finden sie sofort. So schnell sie können, rennen Sie zurück zur Bushaltestelle und
erwischen gerade noch den Bus. Skizzieren Sie für ihre Wege die Funktion s(t) qualitativ, d. h. ohne
Zahlen an den Achsen. Skizzieren Sie unmittelbar darunter auch v(t) qualitativ, aber passend zu
Ihrem s(t).
3.11) Im Stau auf der Stadtautobahn sehen Sie eine
Kommilitonin direkt neben sich auf der zweiten Spur. Sie
kurbeln die Scheibe herunter, sie kurbelt die Scheibe herunter
und sie fragen sie, wie Ihre Fahrt bisher verlaufen ist. Sie
schmunzelt, kurbelt die Scheibe wieder hoch und malt Ihnen mit
Lippenstift das rechts gezeigte s(t)-Diagramm darauf. Können
Sie Ihre Kommilitonin auch beeindrucken und das Diagramm
interpretieren?
S in km
P1 P2
200
100
0
t in h
0
2
1
a) Wie viele Abschnitte hatte die Fahrt und mit welchem Tempo ist Sie jeweils gefahren? Wie lange
steht Sie schon im Stau? Wie groß war Ihr mittleres Tempo?
b) Inwiefern stellt das Diagramm eine beschleunigte Bewegung dar? Kann das Diagramm eine realistische Bewegung beschreiben? Wie groß war die Beschleunigung in den Punkten P1 und P2?
3.12) Zeichnen Sie in der Abbildung
rechts
a)
a) in die obere freie Grafik die Ableitung f'(x) der unteren Funktion f(x).
f'(x)
b) in die untere freie Grafik das Integral G(x) der oberen Funktion g(x).
0
Die Kurven müssen quantitativ stimmen und stetig sein, d. h., sie dürfen
keine Sprünge enthalten.
b)
4
4
f(x)
x
5
-4
5
x
5
x
-4
8
3.13) In der Raketenphysik erhält man
f(x)
ṁ
folgende Gleichung: v̇=−c . Darin
m
ist c die konstante Ausströmgeschwin4
digkeit der Verbrennungsgase. InteI
grieren Sie die Gleichung von 0 bis t.
0
0
0
0
0
F(x)
II
III
5
–4
IV
x
–8
I
II
III
IV
Seite 34
4 Newton'sche Mechanik
In der Newton'schen Mechanik beschreiben wir die Bewegung von massiven Körpern und ihre
Bewegungsänderung aufgrund von Kräften. Wir beschreiben also, wie materielle Dinge, die eine
⃗ ihren Ort ändern. Den Ort eines Körpers
Masse m besitzen durch eine auf sie wirkende Kraft F
beschreiben wir durch einen Zeigervektor ⃗r (t) , der die Position des Körpers zu verschiedenen
a (t) oder
Zeitpunkten t angibt. Analog können wir die Geschwindigkeit ⃗v (t) , die Beschleunigung ⃗
den Impuls ⃗p (t) des Körpers als Funktion des Zeit angeben. Zu jedem Zeitpunkt t befindet sich ein
Körper der Masse m in irgend einem Zustand, also an irgendeinem Ort ⃗r mit irgend einem Impuls
⃗p=m ⃗
v (4.1). Außerdem enthält der Körper noch Energie, zum Beispiel kinetische Energie
E kin =1 /2 m v 2 (4.2). Den Begriff Impuls werden wir in Kap.4.4, denjenigen der Energie in Kap.5.1
⃗ zu erkenpräzisieren. Unser Ziel ist es jetzt, in einer gegebenen Situation die wirkenden Kräfte F
nen, ihnen gegebenenfalls die passende Modellbewegung zuzuordnen und ⃗r (t) , ⃗v (t) oder ⃗v ( ⃗r ) ,
⃗p (t) und E zu beliebigen Zeiten t oder an beliebigen Orten berechnen zu können. Wir zäumen das
Pferd von hinten auf und schauen uns zuerst die grundlegenden physikalischen Größen und einige
Bewegungsmodelle an. Danach werden wir lernen, wo sie herkommen und wie man sie findet.
4.1 Modell „Massepunkt“ und Schwerpunkt
In der Physik modellieren wir reale Objekte nach dem
Seil
KISS-Prinzip: So komplex wie nötig und so einfach wie
r(t)
massemöglich. Die jeweilige Fragestellung bestimmt, wie einlos
fach wir das Modell gestalten können. In vielen Fällen
hängt zum Beispiel die Bewegung eines Körpers überMasse- BahnMasse
haupt nicht von seiner Gestalt ab, also muss das Modell
punkt
kurve
die Gestalt auch nicht beinhalten. Ein schaukelndes Kind
könnten wir deshalb z. B. als Kugel an einem Seil oder als Abb. 4.1: Reale Objekte modellieren wir
Punkt an einem masselosen Seil auffassen. Wenn wir uns vereinfacht, z. B. als Massepunkt.
für den Einfluss des Luftwiderstands interessieren, die von der Ausdehnung eines Körpers abhängt,
dann brauchen wir auch ein Modell, dass die Ausdehnung des Körpers beinhaltet. Dazu wäre das
Modell „Kugel“ geeignet. Interessiert uns der Luftwiderstand nicht, dann genügt auch ein Modell
ohne Ausdehnung. Das ist das Modell „Massepunkt“, bei dem wir uns die gesamte Masse des
Körpers auf einen Punkt, seinen Massemittelpunkt bzw. Schwerpunkt8 zusammengezogen denken.
Dieser Punkt ist dadurch definiert, dass dort angreifende Kräfte den Körper nicht verdrehen können.
Bei einer runden Scheibe ist das z. B. ihr Mittelpunkt. Jeder Körper hat genau einen Schwerpunkt.
Mathematisch berechnen wir ihn folgendermaßen:
Berechnung des Schwerpunkts: ⃗r S =
1
M
1
1
∑ ⃗r i mi bzw. ⃗r S = M ∫ ⃗r dm= M ∫ ⃗r ρ(⃗r ) dV
i
K
(4.3).
K
Darin ist M die Gesamtmasse des Körpers. Der erste Ausdruck gilt für eine Ansammlung einzelner
Massen, der zweite für einen beliebigen Körper. Anfangs arbeiten wir nur mit Massepunkten als
Modell für ausgedehnte reale Körper, und wenn wir vom Ort des Körpers sprechen, meinen wir
damit den Ort seines Schwerpunktes.
Experimente zum Schwerpunkt: Wir hängen eine Scheibe an verschiedenen Punkten auf. Sie wird
sich immer verdrehen, bis der Schwerpunkt unter dem Aufhängepunkt liegt. Wir zeichnen jedes Mal
8
Schwerpunkt und Massenmittelpunkt sind streng genommen nur in einem homogenen Gravitationsfeld identisch. Das
trifft für Objekte auf der Erdoberfläche aber zu, so dass wir dafür die Begriffe synonym verwenden können.
Seite 35
das Lot durch den Aufhängepunkt ein. Der Schnittpunkt der Linien zeigt den Schwerpunkt an. Wird
die Scheibe nun in diesem Punkt aufgehängt, kann man sie beliebig verdrehen und sie bleibt in jeder
Position stabil. Das zeigt: Die Gewichtskraft kann die Scheibe nicht mehr verdrehen.
Wir legen einen Gegenstand, z. B. einen Besen, quer über beide
weit voneinander entfernte Zeigefinger und bringen diese
anschließend langsam zusammen, bis sie sich berühren. Der
Gegenstand gleitet abwechselnd über die Finger und bleibt stabil
liegen, ohne sich zu verdrehen. Der Grund: Auf dem Finger, der
dem Schwerpunkt näher liegt, wirkt eine stärkere Kraft, was zu Abb. 4.2: Die Finger treffen sich
einer stärkeren Reibung führt, wodurch der Gegenstand solange unter dem Schwerpunkt.
über den anderen Finger gleitet, bis dieser näher am Schwerpunkt liegt. Dadurch stellt sich an
beiden Fingern in etwa die gleiche Reibung ein und der Schwerpunkt bleibt immer zwischen ihnen.
Schließlich berühren sich beide Zeigefinger genau unter dem Schwerpunkt des Gegenstandes.
4.2 Bahnkurven, Trajektorien, Weg, Geschwindigkeit, Beschleunigung
Die Zeigervektoren ⃗r , deren Anfang im Koordinatenursprung liegt
und deren Spitze den Ort eines Körpers markiert, nennt man
Ortsvektoren. Sie sind gebunden und nicht verschiebbar: würde man
sie verschieben, würden sie auf einen anderen Ort zeigen. Die
Vektoren der Geschwindigkeit und der Beschleunigung dürfen wir
dagegen verschieben, ihre Werte ändern sich dadurch nicht. Allerdings sollten wir nicht vergessen, dass sie immer bestimmten Zeitpunkten oder Orten zugeordnet sind. Alle Kurven können wir
entweder als Funktion der Zeit oder als Vektorgrafik darstellen.
Abb. 4.3: Die Überlagerung
Wenn wir unterschiedliche Größen in eine Grafik eintragen, müssten
einer Fotosequenz zeigt den
die Achsen auch mehrere Skalen tragen. Bei qualitativen Grafiken
Weg des Balls.
wird das oft weggelassen, damit das Bild übersichtlich bleibt.
Sowohl die Funktion ⃗r (t ) als auch die Kurve, die die
y
Vektorspitze zeichnet, nennt man Bahnkurve oder
Trajektorie. Sie sagt uns: Wann ist der Körper wo? Die
gezeichnete Kurve oder ein Stück davon nennt man
Bahnkurve
auch Weg ⃗s . Die Trajektorie zeichnen wir meistens,
Trajektorie
Δ⃗r =Δ⃗s
indem wir die Komponenten von ⃗r , also die Koordinar
(t
+Δt
)
⃗
ten, für gleiche Zeitpunkte t bestimmen und die entWeg
⃗r (t +dt)
sprechenden Orte darstellen. Wenn wir zum Beispiel
d ⃗r =d ⃗s
einen Ball schräg nach oben werfen, hat ⃗r die Kompo⃗r (t)
nenten Weite x(t) und Höhe y(t). Diese Trajektorie
Tangente
x
zeichnen wir als Punktmenge s = y(x). Sie stellt alle
möglichen Orte des Balls dar und beantwortet dann die Abb. 4.4: Bildung des Wegelementes d ⃗s .
Frage „Auf welcher Höhe ist der Ball bei welcher Weite?“. Als Modellvorstellung denken wir uns
jede Trajektorie zusammengesetzt aus vielen unendlich kleinen geraden Stücken d ⃗s . Dazu fotografieren wir wie in Abb.4.5 den Ort des Körpers in festen Zeitabständen Δt: auf jedem Foto hat er
sich um ein gerades Wegstück Δ ⃗s weiterbewegt. Jetzt machen wir die Zeitabstände gedanklich
unendlich klein, also Δt zu dt. Dann werden auch unsere Wegstücke unendlich klein und von Δ ⃗s zu
d ⃗s . Ihre Aneinanderreihung ergibt den Weg ⃗s (t) .
In Abb. 4.4 ist der Zusammenhang zwischen ⃗r (t) und ⃗s (t ) an einer Kreisbahn verdeutlicht. Ein
Wegstück d ⃗s ergibt sich aus der Bahnkurve, indem man die Differenz zweier Ortsvektoren
Seite 36
Δ ⃗s=Δ⃗r =⃗r (t +Δt)−⃗r (t ) bildet und das Zeitintervall Δt zwischen ihnen immer kleiner macht: Im
Grenzfall Δt→0 ersetzen wir alle Δ durch d und erhalten das Wegelement d ⃗s , das einen winzigen
(geraden!) Abschnitt der Bahnkurve symbolisiert. Seine Länge ist dadurch bestimmt, welche Strecke
das Objekt im Zeitintervall dt zurücklegt, also durch die Geschwindigkeit.
Die Geschwindigkeit ist ⃗v (t)=
d ⃗s
dt
(4.4). Ihre Einheit ist [v ]=
m
.
s
Der Vektor ⃗v (t) zeigt immer in die gleiche Richtung wie d ⃗s , liegt also tangential zur Bahn. Er
hat nur eine andere Länge als d ⃗s .
Völlig analog können wir jetzt zwei Geschwindigkeitsvektoren betrachten und aus ihrer Differenz eine winzige Geschwindigkeitsänderung d ⃗v und daraus wiederum die Beschleunigung gewinnen. Das zeigt Abb.4.3.
Die Änderung der Geschwindigkeit d ⃗v im Zeitintervall dt ist genau die Beschleunigung.
Die Beschleunigung ist a
⃗ (t )=
d ⃗v
dt
(4.5), [a]=
m
.
s2
y, vy
Δ⃗v
⃗v (t +Δt)
⃗v (t +dt)
⃗v (t)
d ⃗v
a (t) immer in die Richtung
Also zeigt auch der Vektor ⃗
x, vx
von d ⃗v und hat nur eine andere Länge. Im Beispiel
rechts ist das immer der Mittelpunkt der Kreisbahn, wie Abb. 4.5: Bildung eines GeschwindigSie an d ⃗v sehen können. (Schieben Sie auch Δ ⃗v mal keitselementes d ⃗v .
gedanklich auf den zugehörigen Ort bei Δt/2. Was erkennen Sie?)
Damit haben wir die grundlegenden physikalischen Größen „Ort“, „Geschwindigkeit“ und „Beschleunigung“ und ihren Zusammenhang kennengelernt. Alle sind Vektoren, der Parameter „Zeit t“
und die Koordinaten x,y,z sind dagegen Skalare. Daraus folgt eine für Sie ungewöhnliche Sprache:
Im Alltag nennen Sie nur ein schneller werdendes Objekt „beschleunigt“. In der Physik nennen wir
jedes Objekt, dessen Geschwindigkeitsvektor sich irgendwie ändert, beschleunigt. Zum Beispiel
auch ein Objekt, das langsamer wird oder eines mit konstantem Betrag der Geschwindigkeit, das
nur seine Richtung ändert. Die physikalische Fachbegriffe „Geschwindigkeit“ und „Beschleunigung“ haben also eine andere (eine erweiterte) Bedeutung als in der Umgangssprache.
Sehr viele Fachbegriffe der Physik werden auch in der Umgangssprache verwendet und haben dort oft eine ganz
andere Bedeutung. Daraus folgen oft Missverständnisse. Gerade Lehramtsstudierende sollten darauf achten. Um
solche Missverständnisse zu vermeiden, vereinbaren wir:
Fachbegriffe verwenden wir ausschließlich in ihrer fachsprachlichen Bedeutung. Wenn wir die
umgangssprachliche Bedeutung eines Fachbegriffs meinen, suchen wir dafür eine umgangssprachliche Ersetzung.
Wird werden deshalb anfangs für die umgangssprachliche Bedeutung von Geschwindigkeit und Beschleunigung
die Worte „Tempo“ und „Schnellerwerden“ benutzen. Wenn wir die Fachbegriffe „Ge schwindigkeit“ und
„Beschleunigung“ verwenden, meinen wir die damit die erweiterte fachsprachliche Bedeutung.
4.3 Modellbewegungen
Das reine Beschreiben von Bewegungen nennt man Kinematik. Dazu verwendet man verschiedene
Modellbewegungen. Solche Modellbewegungen erhält man aus der Dynamik. Darin berechnet man
Bewegungen aufgrund von Kräften. Die Dynamik behandeln wir in Kap.4.8.
Die wichtigsten Modellbewegungen und ihre speziellen Zusammenhänge für Ort, Geschwindigkeit
Seite 37
und Beschleunigung sind drei eindimensionale Modellbewegungen entlang einer Koordinate. Eindimensionale Zusammenhänge dürfen wir skalar schreiben: In ihren Gleichungen steht x stellvertretend für eine beliebige Raumrichtung (also z. B. auch y oder z), und F und v für die Kraft und die
Geschwindigkeit in dieser Richtung9.
Eine gleichförmige Bewegung liegt vor, wenn auf ein Objekt keine Gesamtkraft wirkt F = 0. Es
bewegt sich ohne Tempoänderung auf einer geraden Bahn. Die Geschwindigkeit ist konstant.
Grafisch dargestellt ist x(t) eine Gerade, v(t) eine Konstante, a(t) die Nulllinie. Die freien
Konstanten der Bewegung sind der Anfangsort x0 und die Geschwindigkeit v0.
x (t)=x 0 +v 0 t ; v (t )=v 0=const. ; a=0
(4.6)
Beispiel: Sie beschreibt die Bewegung eines mit konstanter Reisegeschwindigkeit fliegenden
Flugzeugs oder eines durchs All treibenden Stücks Weltraumschrott.
Eine gleichförmig beschleunigte Bewegung liegt vor, wenn auf ein Objekt nur konstante Kräfte
F = konst. ≠0 wirken. Eine Kraft ist konstant, wenn sie nicht vom Ort ⃗r , der Geschwindigkeit ⃗v
oder der Zeit t abhängt. Von allen übrigen physikalischen Größen kann sie abhängen. Das Objekt
bewegt sich mit linear zu- oder abnehmender Geschwindigkeit auf einer geraden Bahn. Die freien
Konstanten der Bewegung sind der Anfangsort x0 und die Anfangsgeschwindigkeit v0. Die Beschleunigung ist a = F/m. Grafisch dargestellt ist x(t) eine Parabel, v(t) eine Gerade und a(t) = a
eine Konstante. Wenn a = − g ist, nennen wir diese Bewegung „freier Fall“.
1 2
x (t )= x 0+v 0 t + a t ; v (t)=v 0 +a t ; a=const.
2
(4.7).
Beispiel: Sie beschreibt die Bewegung eines vom Baum fallenden Apfels, eines vor einer Ampel
bremsenden Autos oder eines Schlittens, der einen Hang hinab gleitet.
Eine harmonische Schwingung liegt vor, falls auf ein Objekt eine ortsabhängige Kraft wirkt, die
der Bewegung entgegen wirkt und linear mit der Ortsänderung zunimmt: F =−k⋅x . Das k ist eine
Konstante. Das Objekt schwingt um die Gleichgewichtslage bei x = 0 mit wechselnder
Geschwindigkeit hin- und her. Die freien Konstanten der Bewegung sind die Amplitude A und die
Phasenverschiebung φ0. Die Amplitude A ist der Betrag der maximalen Auslenkung gemessen von
x = 0. Die Kreisfrequenz ω ergibt sich durch ω= √ k / m . Sie ist die Zahl der Schwingungen pro
Zeit multipliziert mit 2π. Die Phasenverschiebung φ0 bestimmt die aktuelle Auslenkung zur Zeit t
= 0 und verschiebt die Kurve auf der Zeitachse (+ φ0 nach links, − φ0 nach rechts). Grafisch
dargestellt sind x(t), v(t), a(t) abwechselnd sinus- oder kosinusförmig. Ob Sinus oder Kosinus
bestimmt der gegebene Ort x bei t = 0, bzw. die Phasenverschiebung φ0.
2
x (t)= Asin (ω t +φ0 ) ; v (t )=ω A cos(ω t+φ0) ; a (t )=−ω Asin (ω t+φ0 )=−konst.⋅x (t) (4.8).
Mit dem Additionstheorem sin( x+y )=sin( x)cos( y)+cos ( x)sin( y) kann man x(t) auch als
x (t)= A[sin (ω t) cos( φ0)+cos(ω t)sin (φ0 )]=A1 cos(ω t)+ A2 sin( ω t) (4.9) schreiben. Für eine
Phasenverschiebung φ0 = 0 ist das eine Sinusfunktion, für φ 0 = π/2 dagegen eine Kosinusfunktion.
Die Kreisfrequenz ω hängt mit der Periodendauer T einer kompletten Hin- und Herbewegung durch
ω=2 π /T (4.10) zusammen. Die Frequenz f der Schwingung ist f =1/T =ω/( 2 π) (4.11).
Beispiel: Sie beschreibt die periodische Bewegung eines Uhrpendels, eines Stücks einer Klaviersaite oder die Auf-und-ab-Bewegung eines Kolbens im Motor.
Alle freien Konstanten werden erst in einer konkret betrachteten Situation festgelegt.
9
Nicht einmal im eindimensionalen Fall ist die fachliche und umgangssprachliche Bedeutung von „Geschwindigkeit“
gleich: Eine physikalische Geschwindigkeit kann auch negative Werte annehmen. Umgangssprachlich ist sie immer
positiv: Zu einer negativen Geschwindigkeit würde man sagen: „Das Auto bewegt sich mit 5 km/h rückwärts.“
Seite 38
Die wichtigsten zweidimensionalen Modellbewegungen setzen sich aus den eindimensionalen
Bewegungen zusammen. Bewegungen in der Ebene oder im Raum müssen wir vektoriell schreiben.
gleichförmige Bewegung
(x-Richtung:
) liegt vor, wenn in horizontaler Richy-Richtung: freier Fall
Ein schräger Wurf =
tung keine Kraft und in vertikaler Richtung die konstante Gewichtskraft wirkt. Die freien Konstanten der Bewegung sind der Anfangsort ⃗r 0=x 0 ⃗e x + y 0 ⃗e y und die Anfangsgeschwindigkeit ⃗v 0 .
(
⃗r (t)=
)
x 0+v 0x t
(
)
( ) (4.12).
v ( t)= v0x
; ⃗
a (t)= 0
1 2 ; ⃗
y 0 +v0y t − g t
−g
v0y− g t
2
Beispiel: Er beschreibt z. B. den Flug eines Fußballs, eines abgeschossenen Pfeils oder den Flug des
Vogelkots, wenn ein fliegender Vogel sich erleichtert.
harmonische cos−Schwingung
liegt
(x-Richtung:
y-Richtung: harmonische sin−Schwingung )
Eine gleichförmige Kreisbewegung =
vor,
⃗ =−k⋅⃗r wirkt, deren Betrag konstant ist, deren Richtung aber
wenn auf das Objekt eine Kraft F
immer auf den Mittelpunkt der Kreisbahn (bei ⃗r =0 ) zeigt. Das k ist eine Konstante. Solch eine
Kraft, die immer auf ein Zentrum zeigt, nennen wir eine Zentralkraft. Die Bahnkurve ist eine
Kreisbahn mit konstantem Radius R = r. Der Betrag der Geschwindigkeit (das Tempo) bleibt konstant und ist v = ωr, ihre Richtung ändert sich jedoch ständig: Der Geschwindigkeitsvektor liegt
immer tangential zur Bahn. Der Betrag der Beschleunigung ist konstant und beträgt a = ω2r = v2/r.
Auch ihre Richtung ändert sich ständig: Der Beschleunigungsvektor zeigt immer radial nach innen
auf den Mittelpunkt der Kreisbahn und heißt deshalb Radialbeschleunigung (oder Zentripetalbeschleunigung). Alle Vektoren ändern ständig ihre Richtung, aber nicht ihren Betrag10. Die freien
Konstanten der Bewegung sind der Bahnradius R und die Phasenverschiebung φ0.
(
)
r cos(ω t+φ0) ; v (t)= −r ω sin(ω t+φ0) ; a (t)= −r ω 2 cos (ω t+φ0)
⃗r (t)=
⃗
⃗
r sin (ω t+φ0 )
r ω cos(ω t+φ0)
−r ω 2 sin (ω t+φ0 )
(
)
(
)
(4.13)
Beispiel: Sie beschreibt die Bewegung eines Satelliten auf einer Umlaufbahn, eines Kindes in
einem fahrenden Karussell, eines Motorrades während der Kurvenfahrt oder einer Speiche eines
sich drehenden Rades.
Die gleichförmige Kreisbewegung ist eine Bewegung, bei der ein Impulsaustausch ohne Energieaustausch
stattfindet. Das Tempo, also die kinetische Energie des Objektes, bleibt gleich, obwohl ständig Impuls ausgetauscht wird. Damit haben wir ein „intuitives Problem“, weil es in unserem Alltag scheinbar nicht vorkommt,
und uns die Unterscheidung zwischen kinetischer Energie und Impuls sehr schwer fällt. Das wird uns noch öfter
begegnen, z. B. bei der Präzession des Kreisels und beim elastischen Stoß.
Daraus wiederum kann man dreidimensionale Modellbewegungen zusammensetzen:
gleichförmige Kreisbewegung
(x,y-Ebene:
) liegt vor, wenn in z-Richz-Richtung: gleichförmige Bewegung
Eine Schraubenkurve =
⃗ =−k⋅⃗r wirkt.
tung keine Kraft Fz = 0 und in der x.y-Ebene eine konstante Zentralkraft F
(
) (
) (
)
r cos( ω t+φ0)
−r ω sin (ω t+φ0 )
−r ω2 cos (ω t+φ0 )
⃗r (t)= r sin (ω t+ϕ0 ) ; ⃗v (t)= r ω cos(ω t+φ0) ; ⃗a ( t)= −r ω 2 sin (ω t+φ0 )
z 0 +v 0z t
v 0z
0
(4.14).
Beispiel: Sie beschreibt z. B. die Bewegung eines Elektrons in einem Magnetfeld.
10
Weil cos2(x) + sin2(x) = 1 ist, entspricht der Betrag aller Vektoren immer dem Faktor vor dem Sinus bzw. Kosinus.
Seite 39
Wenn auf ein Objekt Kräfte wirken, die sich nicht in eine der vier genannten Kraftkategorien
⃗ =−konst.⋅⃗r ) einordnen lassen, müssen wir neue Bahn- und
(F = 0, F = konst., F =−konst.⋅x , F
Geschwindigkeitskurven berechnen. Natürlich ergibt das weitere kompliziertere Bewegungen, z. B.
die allgemeine krummlinige Bewegung oder die gleichförmig beschleunigte Kreisbewegung. Wie
das geht, werden wir später sehen und gehört in den Bereich der Dynamik. Jetzt sollen Sie erst
einmal mit diesen Bewegungen vertraut werden und erkennen, welche Zusammenhänge es gibt:
1. Sehen Sie, dass sich mehrdimensionalen Bewegungen aus den eindimensionalen zusammensetzen? Das nennt man das Superpositionsprinzip (Superposition = Überlagerung): Es beinhaltet,
dass sich bei diesen Bewegungen in ⃗r (t) die einzelnen Raumrichtungen x, y, z überhaupt nicht
gegenseitig beeinflussen11. Wir können sie deshalb isoliert betrachten. Und darum ist es so wichtig,
dass Sie als Grundlage die eindimensionalen Bewegungen kennen. Die Mehrdimensionalen enthalten dann wenig Neues. Dieses modulare Prinzip finden Sie überall in der Physik wieder: einfache
Basismodelle werden wieder und wieder verwendet. Und deshalb ist es wichtig, sie zu kennen.
„Divide et impera“ (Teile und herrsche) bezeichnet das Prinzip der Zerlegung komplexer Aufgaben in einfache
Teilaufgaben und wird in der Physik viel angewendet.
Vorgehensweise, abstrakt formuiert:
1. Schritt: Zerlege eine Aufgabe in voneinander unabhängige Teilaufgaben.
2. Schritt: Löse die Teilaufgaben.
3. Schritt: Füge die Teillösungen zur Lösung des Ausgangsaufgabe zusammen.
Transfer auf Bewegungen ergibt das Superpositionsprinzip:
1. Schritt: Zerlege ein vektorielles Problem in die skalaren Probleme der einzelnen Vektorkomponenten.
2. Löse das Problem für jede Komponente einzeln.
3. Füge die Lösungen für jede Komponente zum Lösungsvektor zusammen.
2. Für jede (Modell)Bewegungen gilt für jede Raumrichtung s = x, y, z der allgemeine Zusammenhang v= ṡ ; a= v̇= s̈ . Rechnen Sie das nach! Diese differenziellen und die zugehörigen integralen
Zusammenhänge sind die grundlegenden physikalischen Gesetzmäßigkeiten: Sie gelten immer! Jede
Modellbewegung ist ein Spezialfall davon, der nur dann gilt, wenn die passende Kraft wirkt.
3. Jede der Modellbewegungen bildet die Lösung einer speziellen Gleichung, die wir deshalb
„Bewegungsgleichung“ nennen. Eine solche Bewegungsgleichung hat als „Input“ die wirkenden
a (t). Aufstellen und Lösen von BeweKräfte und liefert als „Output“ die Größen ⃗r (t), ⃗v (t ) und ⃗
gungsgleichungen ist die zentrale Methode der Dynamik und unser nächstes großes Lernziel.
Experimente zum Superpositionsprinzip: Ein Bolzen wird durch einen Metallring gesteckt und
mit eine passenden Vorrichtung horizontal abgeschossen. Der dadurch freigegebene Metallring fällt
senkrecht nach unten, der Bolzen fliegt einen viel längeren Weg entlang eine Parabelbahn. Beide
schlagen dennoch gleichzeitig am Boden auf. Das zeigt: Die vertikale Bewegung „freier Fall“ ist für
beide identisch. Der Bolzen führt nur zusätzlich in horizontaler Richtung eine gleichförmige
Bewegung aus, die seinen Fall aber nicht beeinflusst.
Ein Fadenpendel wird über einer drehbaren Scheibe aufgehängt und auf den Rand der Scheibe legt
man einen Klotz. Man bringt die Scheibe mit der gleichen konstanten Kreisfrequenz zum Drehen,
mit der das Pendel schwingt. Das ausgelenkte Pendel wird losgelassen, wenn der Klotz genau unter
der Pendelmasse ist. Das ganze wird mit einer starken Lampe als Schattenwurf an eine Wand
projiziert. Dabei sieht man, dass der Klotz immer genau unter der Pendelmasse bleibt. Das zeigt,
dass eine Komponente der Kreisbewegung, also ihre Projektion auf eine Richtung, eine harmonische Schwingung ist.
11
Es gibt auch Bewegungen, bei denen das nicht der Fall ist. Die werden Sie in der analytischen Mechanik kennenlernen.
Seite 40
Experiment zum freien Fall: Fallschnüre: Mehrere Ringe mit gleicher Masse werden im gleichen
Abstand an einem Seil befestigt. Das Seil wird senkrecht gehalten und losgelassen. Man hört, dass
der Zeitabstand zwischen den Aufschlägen der Ringe immer kürzer wird. Das zeigt, dass ein
Verdoppeln er Höhe nicht zu einer Verdopplung der Fallzeit führt: Die Fallgeschwindigkeit ist also
nicht konstant. Jetzt werden die Ringe mit quadratisch zunehmenden Abstand s = 1/2gt2 vom
Seilanfang aufgehängt. Aus dem Zeitabstand Δt = 0,2 s, das heißt für die Zeiten t1 = 0,2 s, t2 = 0,4 s,
t3 = 0,6 s usw., erhält man die Abstände s1 = 0,2 m, s2 = 0,8 m, s3 = 1,8 m usw.. Das Seil wird wieder
senkrecht gehalten und dann losgelassen. Man hört, dass der Zeitabstand zwischen den Aufschlägen
der Ringe immer gleich bleibt. Das zeigt, dass s quadratisch mit t zunimmt, und also auch v~t ist.
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
4.1) Erklären Sie mit eigenen Worten den Begriff „Trajektorie“.
4.2) Erklären Sie mit eigenen Worten den Begriff „Superpositionsprinzip“.
4.3) Stimmt es, dass der Schwerpunkt des Systems aus Mond und Erde noch in der Erde liegt?
Berechnen Sie seinen Abstand zum Erdmittelpunkt. Machen Sie das gleiche für das System aus
Erde und Sonne. Liegt der Schwerpunkt in der Sonne?
4.4) Der kleine Tobias will ein tolles T an seiner Tür. Wo muss
sein Papa das Loch bohren, damit das T gerade hängt?
4.5) Bestimmen Sie durch Überlegung den Schwerpunkt der
einzelnen Zahlen und markieren Sie beide mit einem Kreuz.
Berechnen Sie danach ihre Ortsvektoren ausgehend von der
linken unteren Ecke des Bildes. Haben Sie richtig überlegt?
4.6) Beurteilen Sie die Aussagen aus PhysikerInnensicht! Kommentieren Sie sie stichwortartig!
a) Reporter: „Ein starkes Finish: Direkt hinter der Kurve beschleunigte Vettel sein Auto wieder!“
b) Unfallopfer: „Ich fuhr mit meinem Fahrrad mit konstanter Geschwindigkeit um die Kurve!“
c) Unfallzeuge: „Der Autofahrer hat nicht gebremst, sondern sogar beschleunigt!“
4.7) Welche Modellbewegung(en) passen zu folgenden Situationen? a) Ein Kind auf der Schaukel,
b) der Fahrkorb eines Riesenrades während der Fahrt, c) ein senkrecht fallender Wassertropfen,
d) die Wassertropfen, die ein nasser, sich schüttelnder Hund wegschleudert, e) ein Ozeandampfer
während der Atlantiküberquerung, f) ein Bungee-Sprung, g) der Schwimmer einer Angel.
e) Überlegen Sie sich für jede Modellbewegung mindestens ein weiteres eigenes Alltagsbeispiel.
4.8) Aus der Schule kennen Sie schon folgende Zusammenhänge zwischen Weg s, Geschwindigkeit
1 2
s
v und Beschleunigung a: s= a t (1) v=a⋅t (2) und natürlich v= (3) . Lösen wir nun (2)
2
t
v
1v 2 1
t = v t (4)
nach a auf und setzen es in (1) ein: Aus (2) folgt a= , was in (1) eingesetzt s=
t
2t
2
s
s s
ergibt. Lösen wir (4) nach v auf, folgt v=2 . Der Vergleich mit (3) liefert v=2 = → 2=1 !!!
t t
t
Wo ist der Fehler?
4.9) Der Fall eines Steins dauert 10s. Aus welcher Höhe wurde er fallen gelassen? (g =10 m/s2)
Seite 41
4.10) Eine Kanonenkugel wird aus der Höhe 1 m horizontal abgeschossen und kommt 150 m weit
entfernt am Boden auf. Wie war ihre Anfangsgeschwindigkeit?
4.11) Ein Basketballspieler wirft bei x = 0 m aus einer Höhe y = 2,2 m den Ball mit der Geschwin6,6 m/s
digkeit ⃗v 0=
ab. Der Ball trifft den Korb mittig nach 1,5 s. Auf welchen Koordinaten
7,9 m/s
befindet sich der Korb? Mit welcher Geschwindigkeit v erreicht der Ball den Korb? Wie groß ist v?
Welchen Winkel zur x-Achse hat v?
(
)
4.12) Ein Pendel schwingt horizontal zwischen den Orten xl = -10 cm und xr = 10 cm hin her. Es ist
zu den Zeitpunkten t1 = 0,2 s bei x1 = 2 cm und t2 bei x2 = − 3 cm. Mit welcher Kreisfrequenz
schwingt das Pendel? Wie schnell ist es bei x = 0 cm?
4.13) Der Mond dreht sich um die Erde in 27,3 Tagen. Im ersten gemeinsamen Urlaub mit Ihrem/r
Liebsten in den Bergen beobachten Sie verzückt einen wunderschönen Mondaufgang. Sie möchten
das romantische Naturspektakel noch einmal sehen und gehen am nächsten Tag
zur gleichen Zeit zum gleichen Ort. Es ist kein Mond da! Haben sie Ihn verpasst
oder wird er noch kommen? Mit welchem Zeitversatz sehen Sie ihn aufgehen?
4.14) Die Erde läuft mit einer Periodendauer von T = 364,25 d um die Sonne. Die Kreisfrequenz
des Umlaufs ist ω = 2π /T, der mittlere Bahnradius ist RE = 150 ∙ 106 km. Wie groß ist der Betrag der
Bahngeschwindigkeit v? Wie groß ist der Betrag der Beschleunigung? Wohin zeigt der Beschleunigungsvektor? Wenn sie am Tag 0 bei ⃗r (t=0)= R E ist, an welchem Ort r(t) ist sie dann nach 100
0
Tagen?
( )
4.15) Ein Fahrrad fährt mit konstanter Geschwindigkeit v0x in x-Richtung. Beim Rollen eines Rades
mit dem Radius R gilt für seinen Schwerpunkt v0x= 2πR/T = ωR. Welche Modellbewegungen
müssen sie kombinieren, um die Bahnkurve eines Punktes des Reifens im Abstand R von der
Radachse zu beschreiben? Schreiben Sie r(t) für diese Bewegung auf. Berechnen Sie daraus v(t).
Gibt es Zeitpunkte, an denen für diesen Punkt die x-Komponente der Geschwindigkeit vx(t) null ist?
(
x-Richtung: gleichförmige Bewegung
)
4.16) Zeichnen Sie die Trajektorie der Bewegung y-Richtung: harmonische Schwingung .
z-Richtung: keine , z=0
4.17) Sie erinnern sich sicher an den Fallversuch in einer Glasröhre: Eine leichte Feder und eine
schwerere Gummikugel werden gleichzeitig fallen gelassen. Mit Luft in der Röhre fällt die Feder
viel langsamer, ohne Luft fällt sie genauso schnell wie die Kugel. Erklären Sie an diesem Beispiel,
a) was man in der Physik unter dem freien Fall versteht.
b) was man in der Physik unter einer Modellbewegung bzw. einem Bewegungsmodell versteht.
c) wie man in der Physik Modelle bildet.
4.18) Zwei Steine, die am gleichen Ort zur gleichen Zeit so abgeworfen werden, dass ihre Bahnen
einen Schnittpunkt haben, erreichen diesen Schnittpunkt niemals gleichzeitig. Begründen Sie diese
Aussage mit Text (kurz) und Skizzen , aber ohne Zahlen und Algebra.
Seite 42
4.4 Der Impuls
Der Impuls ⃗p =m ⃗v ist die zentrale Größe der Mechanik. Er ist neben der Energie eine der wichtigsten physikalischen Größen überhaupt. Er ist – genau wie auch Energie, Drehimpuls und
elektrische Ladung – eine extensive Erhaltungsgröße. Er bleibt also bei allen physikalischen Prozessen erhalten. Das Bilanzieren des Impulses ist universell auf alle möglichen physikalischen
Fragestellungen anwendbar und deshalb eine der fundamentalen Methoden der Physik.
In der Mechanik ist der Impuls das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit eines Körpers 12. Er ist
die „Bewegungsmenge“ und mehr als nur „ein Ableger der Geschwindigkeit“. Ein schneller leichter
Körper kann den gleichen Impuls haben wie ein langsamer schwerer Körper. Ein Impuls kann sich
sowohl durch eine Masse- als auch durch eine Geschwindigkeitsänderung verändern. Anschaulich
entspricht er in etwa dem, was viele umgangssprachlich als „Wucht“ oder „Schwung“ bezeichnen
würden. Er beinhaltet, wie sich etwas bewegt: Nehmen wir an, wir werfen einen Stein gegen eine
leere Konservendose. Wenn wir treffen, wird sich die Dose durch den Aufprall bewegen und eventuell eine Beule bekommen. Die Bewegung der Dose wird durch den Impuls verursacht, den der
Stein auf die Dose überträgt. Die Beule wird dagegen durch Energie verursacht, die der Stein auf die
Dose überträgt. Impulsübertrag macht nichts kaputt, sondern bewegt! Das ist der wesentliche und
entscheidende Unterschied zur Energie.
Beispiel: Wenn in einem Thriller ein Gangster sein Opfer erschießt, dann ist es der Impuls der
Kugel, der das Opfer umwirft, und die Energie der Kugel, die es umbringt. Deshalb verwendet die
Polizei Gummigeschosse, wenn sie einen Täter auf der Flucht nicht verletzen will. Diese prallen ab
und übertragen überwiegend Impuls, werfen den Täter also um, verletzen ihn aber nicht schwer.
m
Die Einheit des Impulses ist [ p]=kg⋅ . Obwohl der Impuls so
s
bedeutend ist, hat seine Einheit seltsamerweise keinen eigenen
Namen. Der Impuls ist eine Erhaltungsgröße. In einem abgeschlossenen System können wir ihn nicht erzeugen oder vernichten, also seine Gesamtmenge nicht verändern. Im obigen Beispiel
bleibt die Summe der Impulse von Stein und Dose während des
ganzen Vorgangs unverändert: Vor der Kollision ist der gesamte
Impuls im Stein, nachher ist er restlos auf Stein und Dose verteilt. Abb. 4.6: Der Impuls ist eine
Die enthaltene Gesamtmenge ist allerdings vom Bezugssystem ungerecht behandelte Größe.
des Betrachters abhängig. Man kann nur Impuls von irgendwoher wegnehmen und woanders hintun,
z. B. diesen Impuls einem anderen Körper geben (Der Stein verliert Impuls, indem er ihn der Dose
gibt).
Jetzt haben wir eine Idee vom physikalischen Impuls bekommen. Damit sind wir gut vorbereitet,
eine Modellvorstellung von der Kraft zu entwickeln und die Newton'schen Axiome zu verstehen.
Das wird unser Lernziel im nächsten Kapitel sein.
4.5 Modellvorstellung zur Kraft
Der Begriff „Kraft“ ist an sich eine leere Worthülse, obwohl wir alle meinen, wir wüssten, was Kraft
ist. Wir assoziieren damit zum Beispiel die Anstrengung beim Hochheben einer schweren Kiste oder
beim Ziehen einer schweren Last, also ein Körpergefühl und direkte Berührung. Wir vergessen
dabei oft, dass auch die Erde eine Kraft auf die Kiste ausübt, nur deshalb ist sie nämlich „schwer“.
12
Auch immaterielle Objekte können einen Impuls haben, aber das kommt erst später.
Seite 43
Oder dass zwei Magnete berührungslos eine Kraft aufeinander ausüben. Kraft ist also offensichtlich
eine Art magischer Fernwirkung. Haben Sie von dieser Kraft eine Vorstellung?
Die eigentliche Kraftwirkung entsteht nach unserer heutigen Modellvorstellung über den Austausch
von Teilchen, die wir deshalb Austauschteilchen nennen. Wir kennen vier fundamentale Wechselwirkungen: die Gravitation, die elektromagnetische Wechselwirkung, die schwache Wechselwirkung und die starke Wechselwirkung. Die Austauschteilchen der letzten drei sind experimentell
gesichert, das Graviton ist nach wie vor hypothetisch.
Wechselwirkung
Austauschteilchen
Gravitation
Graviton (hypothetisch)
elektromagnetische Wechselwirkung Photon
schwache Wechselwirkung
W+-, W−- und Z0-Boson
starke Wechselwirkung
Gluonen
verbundene Teilchen
alle massebehafteten
alle elektrisch geladenen
Fermionen, (Spin 1/2, also
Quarks und Leptonen)
Quarks
Tabelle 2: Zusammenstellung der vier fundamentalen Wechselwirkungen
Die schwache Wechselwirkung wandelt Teilchen in andere Teilchen um ist z. B. für den radioaktiven Zerfall verantwortlich. Die starke Wechselwirkung ist die Ursache der anziehenden Kernkräfte.
Nur die Gravitation und die elektromagnetische Wechselwirkung bewirken anziehende und abstoßende Kräfte, die für die Mechanik relevant sind. Die eigentliche Wechselwirkung entsteht, indem
Objekte Austauschteilchen aussenden oder aufnehmen, wodurch sich ihr Impuls ändert. Die auftretende Impulsänderung pro Zeit können wir als „Kraft“ interpretieren:
Wenn sich der Impuls eines Objektes mit der Zeit ändert, sagen wir, es wirkt eine Kraft auf das
d ⃗p ⃗
= F (4.15).
Objekt:
dt
d extensive Größe
. So etwas nennen wir in der
dt
Physik ganz allgemein einen „Strom“. Die Kraft kann danach auch als Impulsstrom aufgefasst
werden, der einem Körper zugeführt wird13. Ein „Strom“ ist in der Physik etwas, das beschreibt, wie
viel von irgendeiner mengenmäßig messbaren Größe sich pro Zeitintervall durch eine durchlässige
Fläche bewegt.
Die Gleichung hat die mathematische Form I =
Beispiel: Der elektrische Strom I ist zum Beispiel die elektrische Ladungsmenge dq, die pro Zeitdq
intervall dt durch einen Leiterquerschnitt strömt: I =
. Ein Wasserstrom IW ist das Volumen dVW
dt
dVW
an Wasser, das pro Zeitintervall dt durch die Öffnung eines Wasserschlauches strömt: I W =
.
dt
Genauso fassen wir jetzt die Kraft als einen Impulsstrom auf mit einem wichtigen Unterschied: Der
13
Persönliche Stellungnahme: Diese Interpretation der Kraft beruht auf dem seit 30ig Jahren vorliegenden Karlsruher
Physikkurs (KPK). Er wurde von einer Gruppe renommierter Physikdidaktiker der Universität Karlsruhe entwickelt
und wird seitdem an diversen Schulen und Hochschulen auch außerhalb Deutschlands verwendet. Auf dem KPK aufbauend wurde die Systemphysik entwickelt. Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass gegenwärtig
durch die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) eine Aktion gegen den KPK betrieben wird, um ihn und seine
Ideen aus dem Verkehr zu ziehen. Ich vermittle Ihnen die Newton'sche Mechanik als klassische Punktmechanik mit
dem herkömmlichen Kraftbegriff. Ich möchte aber gerade Ihnen als Lehramtsstudierende (trotz der Aktion der DPG)
die didaktisch sehr schlüssige Interpretation als Impulsstrom nicht vorenthalten. Die DPG behauptet, fachliche Fehler im KPK gefunden zu haben. In der Interpretation der Kraft als Impulsstrom, die ich aus dem KPK entlehne, sehen
zumindest auch zahlreiche Professoren der Theoretischen Physik keine Fehler (http://www.physik.hu-berlin.
de/top/DPG-Stellungnahme-zum-KPK_Erklaerung-von-Theorieprofessoren_2013-09-02.pdf). Sollte Sie diese ausgeuferte Kontroverse interessieren, recherchieren Sie einfach „DPG KPK“und bilden Sie sich selbst eine Meinung.
Seite 44
Impuls ist – anders als die Ladungsmenge oder das Volumen – ein Vektor. Darum ist die Kraft –
auch wenn man sie als Impulsstrom auffasst – ein Vektor. Sie entspricht der Menge an Impuls dp,
die pro Zeitintervall dt durch die Oberfläche des Körpers strömt, auf den die Kraft wirkt.
Die durchströmten Flächen tauchen in den Stromausdrücken nicht mehr auf. Man sollte aber immer
im Hinterkopf behalten, dass sich Angaben zu einem Strom immer auf eine bestimmte Fläche
beziehen. Beim Impulsstrom ist dies die Oberfläche des Körpers. Die Kraft kann also so interpretiert werden, dass sie Impuls in einen Körper strömen lässt – analog zu einer Flasche, aus der man
Wasser in ein Glas strömen lässt.
4.6 Kräfte
Bevor wir weitergehen, verschaffen wir uns einen Überblick über die wesentlichen Kräfte. Für jede
Kraft ist es wichtig zu wissen, wann sie auftritt, wie sie gerichtet ist, wo sie angreift und wie sie von
anderen physikalischen Größen abhängt. Wir klassifizieren die Kräfte auch gleich nach ihrer Ortsund Geschwindigkeitsabhängigkeit. Zum Angriffspunkt merken Sie sich schon mal Folgendes: Bei
allen Bewegungen, die den Körper nur verschieben (Translationen), ist der tatsächliche Angriffspunkt einer Kraft egal! Denn bei Translationen greifen alle Kräfte immer am Schwerpunkt bzw.
Massemittelpunkt des Körpers an. Nur bei Bewegungen, die den Körper verdrehen (Rotation), also
Drehmomente ausüben, ist der Angriffspunkt der jeweiligen Kraft bedeutsam. Einige Kräfte haben
eine Angriffsfläche. Wenn man ihnen einen Angriffspunkt zuordnet, liegt dieser irgendwo in der
Oberfläche des Körpers und der genaue Ort ist abhängig von seiner Form.
4.6.1 Konstante Kräfte
Kräfte sind konstant, wenn sie nicht vom Ort r, der Geschwindigkeit v oder der Zeit t abhängen. Von
allen übrigen physikalischen Größen können sie abhängen.
⃗ g =m ⃗g (4.16). Sie ist das bekannteste Beispiel einer konstanten Kraft. Sie tritt
Die Gewichtskraft F
für alle Körper mit einer Masse m auf der Erdoberfläche auf und ist die Gravitationskraft der Erdmasse auf den Körper. Sie zeigt immer senkrecht in Richtung Erdboden (genauer auf den Massemittelpunkt der Erde) und greift immer am Schwerpunkt eines Körpers an. Sie nimmt linear mit der
Masse m des Körpers zu. Sie ergibt sich aus der Gravitationskraft (s.u.) mit ⃗g als Gravitationsfeld
auf der Erdoberfläche, doch wir nennen ⃗g passend zum Bewegungsgesetz Erdbeschleunigung. Im
Mittel ist g = |g| = 9,81 m/s2 und variiert im Promillebereich mit unserer Position auf der Erde oder
mit der Höhe. Diese Variation vernachlässigen wir. Oft rechnen wir sogar mit g =10 m/s2.
g (4.17). Sie tritt auf, wenn sich ein Körper ganz oder teilStatische Auftriebskraft F⃗A =−ρF V K ⃗
weise in einem Fluid wie Luft oder Wasser befindet, auf das die Gewichtskraft wirkt. Sie zeigt
immer senkrecht nach oben und greift immer am Schwerpunkt des Körpers an. Ihr Betrag entspricht
der Gewichtskraft auf das verdrängte Fluid. Sie nimmt linear mit der Dichte des Fluids ρ F und dem
eingetauchten Volumen des Körpers VK zu.
Haft-, Gleit- und Rollreibungskraft F R =μ F N (4.18). Sie tritt auf, wenn zwei Körper sich berühren. Die Haftreibung wirkt nur zwischen ruhenden Körpern. Sie kompensiert stets eine andere
angreifende Kraft und hat deren Betrag. Für sie gibt (4.18) den maximal möglichen Wert an, der
kompensiert werden kann. Gleit- und Rollreibung tritt bei gegeneinander bewegten Körpern auf, für
sie gibt (4.18) den Wert der Kraft an. Reibungskräfte wirken parallel zur Berührungsfläche und
zeigen in die entgegengesetzte Richtung der kompensierten oder beschleunigenden Kraft. Bei
Rotationen greifen sie in der Berührungsfläche an. Sie hängen von dem jeweiligen einheitenlosen
Reibungskoeffizienten µ und der Komponente der Gewichtskraft FN senkrecht zur Berührungsfläche
Seite 45
ab. Die Reibungskoeffizienten nennen wir Haftreibungskoeffizient µH, Gleitreibungskoeffizient µG
und Rollreibungskoeffizient µR. Sie sind materialabhängige experimentell bestimmte Größen mit µH
> µG > µR und werden Tabellenwerken entnommen.
4.6.2 Ortsabhängige Kräfte
Federkraft F F =−k x (4.19). Sie tritt auf, wenn auf einen Körper eine Kraft wirkt, die ihn immer
wieder an einen kräftefreien Ort, die Gleichgewichtslage (hier x = 0) zurücktreibt. Die Kraft wächst
linear mit dem Abstand x zur Gleichgewichtslage und zeigt immer in Richtung Gleichgewichtslage.
Sie greift am Schwerpunkt an. Sie wächst mit der Federkonstanten k, die eine Materialkonstante mit
der Einheit [k]=N/m ist. Die Gleichung (4.19) nennen wir Hookesches Gesetz.
m1 m2 ⃗r
(4.20). Sie tritt immer zwischen zwei Körpern K1 und K2 mit
r2 r
den Massen m1 und m2 auf und wirkt immer anziehend. Sie hängt von den beiden Massen ab und
vom Abstandsvektor ⃗r . Sie wird mit zunehmendem Abstand r schwächer und fällt mit 1/r2 ab.
Wenn ⃗r vom Schwerpunkte von K1 auf den Schwerpunkt von K2 zeigt, ist ihr Angriffspunkt der
Schwerpunkt von K2. Sie zeigt immer in die entgegengesetzte Richtung von r. Sie enthält die
Gravitationskonstante G = 6,674 × 10-11 N∙m²/kg2, eine der Naturkonstanten. Die Gleichung (4.20)
nennen wir Gravitationsgesetz. Die Massen darin nennen wir schwere Massen. Es darf streng
genommen nur angewendet werden, wenn die Massen beider Körper punkt- oder kugelförmig sind.
Wir können immer einem der Körper, der dann eine beliebige Gestalt haben kann, ein Gravitationsfeld G zuordnen. Dann ist die Kraft auf den anderen Körper der Masse m durch F = mG gegeben
und ihre Richtung ist parallel zu G.
⃗ G=−G
Gravitationskraft F
Um die Gravitationskraft auf einen Körper der Masse m auf der Erdoberfläche zu berechnen, muss
man für r den Erdradius RE, für m1 die Erdmasse mE und für m2 die Masse m einsetzen:
⃗ G =−G
F
mE m ⃗r
m ⃗r
=m (−G 2E ) =m ⃗g
2
(4.21). Daraus ergibt sich die Gewichtskraft, die immer auf
RE r
RE r
⏟
Erdbeschleunigung ⃗
g
⃗ der Erde auf der Erdoberden Schwerpunkt der Erde zeigt. ⃗g entspricht dem Gravitationsfeld G
fläche.
q1 q 2 ⃗r
(4.22). Sie tritt immer zwischen zwei elektrischen geladenen
r2 r
punktförmigen Teilchen 1 und 2 auf und wirkt anziehend bei unterschiedlichem Ladungsvorzeichen
und abstoßend bei gleichem Ladungsvorzeichen. Sie hängt von den beiden Ladungen q1 und q2 ab
und vom Abstandsvektor ⃗r . Sie wird mit zunehmendem Abstand r schwächer und fällt mit 1/r2 ab.
Wenn ⃗r von Teilchen 1 nach Teilchen 2 zeigt, liegt ihr Angriffspunkt in Teilchen 2. Sie ist immer
parallel oder antiparallel zu ⃗r gerichtet, abhängig vom Vorzeichen der Ladungen. Sie enthält die
1
Konstante k = 9 × 109 N∙m²/kg2, die sich genauer aus k =
zusammensetzt mit der Dielektrizi4 π ϵ0
tätskonstanten ε0 = 8,845 × 10-12 kg2/(N∙m2), eine der Naturkonstanten. Die Gleichung (4.22) nennen
wir das Coulomb-Gesetz. Es darf streng genommen nur angewendet werden, wenn beide Ladungsverteilungen punkt- oder kugelförmig sind. Wir können immer einer der Ladungsverteilungen, die
dann eine beliebige Gestalt haben kann, ein elektrisches Feld E zuordnen. Dann ist die Kraft auf ein
Teilchen mit der punktförmigen Ladung q durch F = qE gegeben und ihre Richtung ist parallel oder
antiparallel zu E.
⃗ C =k
Die Coulombkraft F
Seite 46
4.6.3 Geschwindigkeitsabhängige Kräfte
1
2
Newton-Reibungskraft F W = cW ρF v A (4.23). Sie tritt immer auf, wenn
2
sich ein Körper in einem Fluid befindet und sich Körper und Fluid relativ
zueinander mit der Geschwindigkeit v bewegen. Sie ist der Bewegung
entgegen gerichtet. Sie greift verteilt über die angeströmte Oberfläche an. Ihr
Betrag hängt von der Dichte ρF des Fluids, der Relativgeschwindigkeit v, der
Querschnittsfläche A des Körpers in Bewegungsrichtung und dem Widerstandsbeiwert cW ab. Der cW-Wert wird durch die Form des Körpers bestimmt
und kann Tabellen entnommen werden. Wenn das Fluid Luft ist, nennt man
die Kraft auch Luftwiderstand(skraft) oder Luftreibung.
t
p
 p
 ZP
F
Abb. 4.7: Die Radialkraft erzeugt eine
Kreisbahn.
1
2
Dynamische Auftriebskraft F A = c A ρF v A (4.24). Sie tritt immer auf, wenn sich ein Körper in
2
einem Fluid befindet und sich Körper und Fluid relativ zueinander mit der Geschwindigkeit v bewegen. Sie ist senkrecht zur Bewegung gerichtet. Sie greift verteilt über die angeströmte Oberfläche
an. Ihr Betrag hängt von der Dichte ρF des Fluids, der Relativgeschwindigkeit v, der Querschnittsfläche A des Körpers senkrecht zur Bewegungsrichtung und dem Auftiebsbeiwert cA ab. Der cAWert wird durch die Form des Körpers bestimmt und kann Tabellen entnommen werden.
Stokes-Reibung F S =6 π ηF R v (4.25). Sie tritt immer auf, wenn sich eine Kugel in einem Fluid
befindet, sich Körper und Fluid relativ zueinander mit der Geschwindigkeit v bewegen und die Strömung laminar ist. Sie ist der Bewegung entgegen gerichtet. Sie greift am Schwerpunkt an. Ihr Betrag hängt von der Viskosität ηF des Fluids, der Relativgeschwindigkeit v und dem Radius der Kugel
R ab. Die Viskosität [η]=N∙s/m2 ist eine Materialkonstante und kann Tabellen entnommen werden.
⃗ schub =ṁ ⃗c (4.26). Sie tritt auf, wenn ein Körper kontinuierlich
Schub(kraft) oder Rückstoßkraft F
dm
mit einen konstanten Verlustrate ṁ=−∣ṁ∣=−∣ ∣ einen Teil seiner Masse als Treibstoff (z. B. Verdt
brennungsgase) abstößt. Die Relativgeschwindigkeit ⃗c ist die konstante Geschwindigkeit, mit der
⃗ schub ist dieser
der Treibstoff den Körper – vom Körper aus gesehen – verlässt. Die Schubkraft F
Geschwindigkeit immer entgegengerichtet, weil ṁ für den Körper negativ ist. Betrachtet man den
Treibstoff aus Sicht des ruhenden Startpunktes des Körpers (z. B. beim Start einer Rakete vom
v +⃗c , die von der momentanen
Erdboden aus), bewegt er sich mit der Geschwindigkeit ⃗v T =⃗
Geschwindigkeit ⃗v des Körpers abhängt. Nur wenn der ausstoßende Körper am Startpunkt festc.
gehalten wird, ist ⃗v T =⃗
⃗ L =q ⃗v × ⃗
B (4.27). Sie tritt auf, wenn sich ein geladener Körper durch ein konLorentz-Kraft F
stantes Magnetfeld B bewegt. Ihre Richtung steht immer senkrecht auf v und B und ergibt sich aus
der Rechten-Hand-Regel. Sie greift am Schwerpunkt an. Sie hängt ab vom Betrag der Geschwindigkeit v des geladenen Körpers, der Ladungsmenge q und der Magnetfeldstärke B.
4.6.4 Zentralkräfte
Eine Zentralkraft ist eine Kraft, die immer auf einen festen Punkt oder von ihm weg zeigt. Den
Punkt nennt man das Kraftzentrum. Bei Kreisbewegungen ist dies der Mittelpunkt des Kreisbahn
und die Radialkraft ist immer eine Zentralkraft. Bei anderen Bahnkurven ist das nicht so.
2
⃗ R =−mω 2 ⃗r =−m v ⃗r (4.28). Sie wird auch Zentripetalkraft genannt. Sie ist
Die Radialkraft F
r r
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keine neue Kraft, sondern gibt die Bedingung für eine beliebigen Kraft an, damit diese die Bahn
eines Körpers mit der Masse m genau zu einer Kreisbahn mit dem Radius r krümmt. Sie ist also
immer erfüllt, wenn sich ein Körper auf einer Kreisbahn bewegt. Sie zeigt immer auf den Mittelpunkt der Kreisbahn, also entgegen ⃗r . Sie gibt Richtung und Betrag der Kraft an, die den Körper
auf die Kreisbahn zwingt. Sie greift am Schwerpunkt an. Ihre physikalische Ursache kann nahezu
jede Kraft sein, z. B. eine Seilkraft, eine Reibungskraft, die Gravitationskraft, die Coulomb-Kraft
oder die Lorentz-Kraft. Ihr konstanter Betrag wächst mit der Masse m des Körpers, der Kreisfrequenz ω bzw. der Bahngeschwindigkeit v = ωr sowie dem Radius r der Kreisbahn.
4.6.5 Sonstige Kräfte
weitergeleitete Kräfte (Seil-, Ketten-, Gestängekräfte): Diese Dinge leiten Kräfte nur um oder
weiter und ziehen oder schieben. Die Richtung der Kraft ist die jeweilige Zug- oder Schubrichtung,
ansonsten haben sie die gleichen Eigenschaften wie die weitergeleitete Kraft. Bei Translationen
greifen sie am Schwerpunkt an, bei Rotationen am Befestigungspunkt oder dort, wo die Objekte den
Körper berühren.
Unbestimmte Kräfte (Antriebs-, Schub- oder Muskelkraft) kann man nicht allgemein ausdrücken, sie müssen uns explizit mit Betrag, Richtung und Angriffspunkt gegeben sein. In der Regel
werden sie als konstante oder periodische Kraft angenommen.
Die meisten dieser Kräfte können sie täglich im Alltag erleben. Achten Sie einmal bewusst darauf.
Einige dieser Kräfte werden wir noch tiefer betrachten. Ist Ihnen übrigens aufgefallen, das z. B. die
„Zentrifugalkraft“ oder die „Trägheitskraft“ oder die „Coriolis-Kraft“ nicht genannt sind? Das ist
keine Versehen, sondern liegt daran, dass diese sehr unglücklich bezeichneten Phänomene keine
Kräfte sind, denn sie beinhalten keinen Impulsstrom und ändern keine Bewegung. Aber dazu mehr
in Kap. 6.2.1.
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
4.19) Überlegen Sie, welche Kräfte auf den Motorradfahrer wirken.
Machen Sie sich Skizzen und zeichnen Sie die Kräfte ein. Schätzen
Sie den Betrag der Kräfte mit folgenden Daten ab: Gesamtmasse
m = 300 kg, Betrag der Geschwindigkeit v = 40 km/h, Kurvenradius
R = 100 m, Querschnittsfläche in Fahrtrichtung A = 0,5 m², Volumen
V = 0,5 m³, Dichte der Luft ρ = 1,2 kg/m3, Haftreibungskoeffizient
Gummi-Asphalt µH = 0,9, cw-Wert eines Motorrades cw = 0,7.
4.20) Sie erinnern sich sicher an den Fallversuch in einer Glasröhre: Eine leichte Feder und eine
schwerere Gummikugel werden gleichzeitig fallen gelassen. Mit Luft in der Röhre fällt die Feder
viel langsamer, ohne Luft fällt sie genauso schnell wie die Kugel. Erklären Sie an diesem Beispiel,
a) was man in der Physik unter dem freien Fall versteht.
b) was man in der Physik unter einer Modellbewegung bzw. einem Bewegungsmodell versteht.
c) wie man in der Physik Modelle bildet.
4.21) Die präziseste Waage der Physiksammlung misst mit einer Genauigkeit von ± 1 mg. Sie ist
aber auf ein Maximalgewicht von 300,000 g beschränkt. Ist es mit dieser Waage möglich, die
Variation von g vom Keller (gK = 9,80648 m/s2 bis zu einer Höhe von 10 m gH = 9,80645 m/s2
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nachzuweisen?
4.22) Die Gewichtskraft auf einen Apfel ist eindeutig größer als auf eine Kirsche. Warum fallen
beide trotzdem gleich schnell von einem Baum?
4.23) Ein Trampolin kann für Belastungen unter 1000 N als lineare Feder aufgefasst werden.
a) Wie muss sich das Trampolintuch dann bei Belastung verhalten? Machen Sie eine Skizze dazu.
b) Wenn Sie zusammen mit Ihrem Freund darauf stehen, senkt sich das Tuch um 30 cm. Wenn Sie
absteigen, senkt sich das Tuch nur noch um um 16 cm. Ihre Masse ist 65 kg. Welche Masse hat ihr
Freund? Welche Federkonstante k hat das Trampolin?
4.24) Sie binden zwei Gummibänder mit den Federkonstanten k1 und k2 aneinander (in Reihe). Wie
groß ist die Federkonstante der Kombination?
4.25) Sie wollen in Ihrem Zimmer einen Kleiderschrank verschieben.
a) Weshalb ist es sinnvoll, den Kleiderschrank vorher zu entleeren?
b) Welche Kraft müssen Sie zu Beginn aufwenden, wenn der leere Kleiderschrank 24 kg schwer ist
und die Haftreibungszahl 0,8 beträgt.
c) Die Erfahrung zeigt, dass der Schrank sich leichter schieben lässt, sobald er in Bewegung ist.
Wie erklären Sie sich das?
4.26) Kann die Reibungszahl größer als 1 werden? Was würde das bedeuten und wo würde eine so
große Reibungszahl auftreten?
4.27) Wieso ist das ABS-System, das das Blockieren von Autoreifen verhindert, sinnvoll?
4.28) Sie ziehen Ihr Kind auf einem Schlitten gemütlich durch den Schnee (zusammen 30 kg). Es
ruft „Schneller!“ und Sie beschleunigen. Die Piste ist waagerecht. Ihre Zugkraft ist 70 N und der
Reibungskoeffizient zwischen Schnee und Schlitten ist 0,014.
a) Mit welcher Beschleunigung setzen Sie beide in Bewegung bei einem
Zugwinkel von 30°?
b) Zeichnen Sie die Beschleunigung als Funktion des Zugwinkels und
bestimmen Sie den optimalen Zugwinkel.
c) Erklären Sie, warum der optimale Zugwinkel nicht 0° ist.
α
4.29) Ein Elefant und eine Flaumfeder fallen von einem Baum. Auf wen wirkt die größere Luftwiderstandskraft? Schätzen Sie Zahlenwerte ab. Welche Größenordnung haben beide Kräfte?
4.30) Informieren Sie sich über die Masse der Sonne, ihren Abstand vom galaktischen Zentrum und
ihre Bahngeschwindigkeit. Berechnen Sie damit die Radialkraft, die das Zentrum der Milchstraße
auf unsere Sonne ausübt.
4.31) Sie wiegen sich mit der gleichen Waage einmal am Äquator und einmal am Nordpol. Am
Äquator sind Sie minimal leichter. Üblicherweise erklärt man das mit der Zentrifugal“kraft“, die
am Äquator der Gewichtskraft entgegenwirkt. Diese Kraft gibt es aber real nicht, sie überträgt
keinen Impuls und ist nur scheinbar vorhanden. Sind sie in der Lage, die Gewichtsabnahme nur
durch Argumentation mit realen Kräfte zu erklären?
Seite 49
4.7 Unsere ersten Naturgesetze: Die Newton'schen Axiome
Newton hat den Begriff „Kraft“ eingeführt, um die Ursache einer Impulsänderung zu beschreiben.
Tatsächlich könnte man den Begriff auch weglassen. Das werden wir aber nicht tun. Dennoch werden wir seine drei Axiome zuerst mit dem Impulsstrom formulieren, weil sie sich dadurch viel
plausibler, quasi als Selbstverständlichkeit ergeben:
Da der Impuls eine Erhaltungsgröße ist, kann er nicht „verlorengehen“. Darum ändert sich die
Impulsmenge eines Körpers genau um den Wert, der ihm von außen aufgezwungen wird. Wenn ihm
nichts aufgezwungen wird, ändert sich sein Impuls auch nicht und umgekehrt.
d p⃗A
dt
⏟
Mathematisch formuliert:
d p⃗K
dt
⏟
=
Impulsstrom von außen
und
d p⃗A
d p⃗K
=0 ⇔
=0
dt
dt
(4.29).
Impulsänderung des Körpers
Er ändert seine Bewegung entsprechend der Impulsmenge, die er selbst bekommt oder verliert.
Impulsmengen anderer Körper oder der Umgebung sind für seine eigene Bewegung uninteressant.
d p⃗K
dt
⏟
Mathematisch formuliert:
d v⃗K
dt
⏟
=m K
Impulsänderung des Körpers
+⃗v K
seine Geschwindigkeitsänderung
d mK
dt
⏟
(4.30).
seine Massenänderung
Und wenn er von außen Impuls bekommt oder nach außen Impuls abgibt, muss sich beim äußeren
Impulsspender oder Impulsnehmer die Impulsmenge genau entgegengesetzt ändern.
d p⃗A
dt
⏟
−
Mathematisch formuliert:
Impulsänderung außen
=
d p⃗K
dt
⏟
(4.31).
Impulsänderung des Körpers
Die rechte Seite von (4.30) ist die Zeitableitung von ⃗p K =mK ⃗v K nach der Produktregel, da sowohl
die Masse als auch die Geschwindigkeit veränderlich sein können. Ein Auto verliert z. B. beim
Fahren ständig Masse durch den Treibstoffverbrauch. Die Zusammenhänge (4.29) bis (4.31) beinhalten die drei Newton'schen Axiome: Trägheitsgesetz, Bewegungsgesetz und Actio = Reactio. Das
schauen wir uns jetzt noch genauer an. Um zur herkömmlichen Schreibweise mit der Kraft zu
d p⃗A
⃗ ersetzen und ⃗p K durch ⃗p . Der wesentliche
gelangen, müssen wir nur überall
durch F
dt
⃗ und ⃗p ist, dass daran die unterschiedliche Systemzugehörigkeit
Nachteil der Schreibweise mit F
und die Ursache → Wirkungsbeziehung nicht mehr erkennbar ist. Merken Sie sich deshalb diese
⃗ und ⃗p eigentlich stehen.
wichtige Bedeutung und wofür F
4.7.1 Trägheitsgesetz
Wenn ein halbvolles Glas Wasser vor uns steht und wir nichts davon trinken und nichts hinein
gießen, bleibt es eben halbvoll14. Wenn analog ein Körper keinen Impulsstrom empfängt oder abgibt, ändert sich seine Impulsmenge nicht: Er behält, was er hat. Und zwar egal, wie viel das ist.
Wenn er keinen Impuls hat, ruht er: ⃗v =0 . Wenn er bereits Impuls hat, also ⃗p =m ⃗v ≠0 ist, wird er
seine vorhandene Geschwindigkeit ⃗v nicht ändern, und zwar weder sein Tempo noch seine Richtung. Es liegt eine geradlinige gleichförmige Bewegung vor. Ein „Impulsfüllstand“ kann auch konstant bleiben, wenn ein Körper durchströmt wird, also zum Beispiel links genau so viel hinein
strömt wie rechts herausströmt. Auch dann wird sich die Geschwindigkeit nicht ändern. Formuliert
man diesen Zusammenhang mit der Kraft, lautet er:
14
Unser Wasser sei eine Erhaltungsgröße: Verdunstung schließen wir aus.
Seite 50
Naturgesetz: Erstes Newton'sches Gesetz (Trägheitsgesetz): Jeder Körper beharrt in seinem
Zustand der Ruhe oder der geradlinigen gleichförmigen Bewegung, wenn er nicht durch einwir⃗ =0 ⇒ d ⃗p =0 (4.32).
kende Kräfte gezwungen wird, seinen Bewegungszustand zu ändern. ∑ F
dt
Das ist der Spezialfall von (4.29) und bedeutet: Ein Körper ändert seine Geschwindigkeit nicht,
wenn entweder keine Kraft auf ihn wirkt (kein Impulsstrom) oder sich alle Kräfte auf ihn gegenseitig aufheben, d. h. die Gesamtkraft auf ihn null ist („Strom rein = Strom raus“). Es gilt auch der
Umkehrschluss: Wenn ein Körper seine Geschwindigkeit nicht ändert, wirkt keine Kraft auf ihn.
Hier müssen Sie sensibel für die Ausdrucksweise werden: „Es wirkt keine Kraft“ kann zwei Bedeutungen haben: Entweder ist tatsächlich keine Kraft vorhanden oder vorhandene Kräfte heben sich
auf und die Gesamtkraft ist null.
Das Trägheitsgesetz gilt immer, aber es kann passieren, dass uns Abweichungen davon vorgetäuscht
werden, wenn wir uns in einem Bezugssystem befinden, das beschleunigt wird (wie z. B. einem
anfahrenden Zug). Bezugssysteme, die nicht beschleunigt werden, nennen wir Inertialsysteme.
Wenn wir keine Abweichungen vom Trägheitsgesetz sehen, befinden wir uns in einem Inertialsystem, ansonsten nicht.
Beispiel: Obwohl dieser Sachverhalt im Impulsstrommodell gut zu verstehen ist, wird ihm immer
wieder misstraut. Was antworten Sie auf die Frage: Welche Gesamtkraft wirkt auf einen Fahrstuhl,
der mit konstanter Geschwindigkeit nach oben fährt? Eine nach oben gerichtete Antriebskraft?
Richtig ist: keine Kraft! Denn seine Geschwindigkeit ist konstant. Antriebskraft, Gewichtskraft und
Reibungskräfte heben sich auf. Es handelt sich um eine Durchströmung von Impuls.
4.7.2 Bewegungsgesetz
Wenn Sie treffsicher Wasser in ein leeres Glas gießen, haben Sie
am Ende darin genau die Wassermenge, die Sie hineingeschüttet
haben. Ist das Glas schmal mit einer kleinen Grundfläche, ergibt
die Wassermenge einen höheren Füllstand als in einem breiten Glas
mit einer größeren Grundfläche. Wenn Sie in das Glas einen konstanten gleichmäßigen Wasserstrom gießen, steigt der Füllstand
linear: er wird in doppelter Zeit doppelt so hoch. Gießen Sie dagegen ungleichmäßig, steigt der Füllstand auch ungleichmäßig.
F
ü
l
l
s
t
a
n
d
Wassermenge
Wir stellen uns jetzt vor, dass sich ein Körper vollkommen analog
Grundfläche
mit Impuls füllt: Dabei entspricht die Grundfläche des Glases
seiner Masse, die Wassermenge seinem Impuls, der Füllstand sei- Abb. 4.8: Zur Wasseranalogie
ner Geschwindigkeit und die Geschwindigkeit, mit der sich der Füllstand bewegt, seiner Beschleunigung. In dieser Analogie entspricht eine Kraft einem Impulsstrom. Ein Körper, auf den eine Kraft
wirkt, empfängt von außen Impuls. Bei diesem Austauschvorgang kann nichts verloren gehen. Wenn
sich der Impuls des Körpers ändert, ändert sich auch seine Geschwindigkeit, und zwar umso stärker,
je kleiner die Masse des Körpers ist. Kräfte unterscheiden sich darin, wie gleichmäßig und wie
schnell sie einem Körper Impuls zuführen. Eine konstante Kraft ändert z. B. den Impuls eines
Körpers und somit auch seine Geschwindigkeit linear, d. h. in doppelter Zeit doppelt so stark. Das
ist dann eine gleichförmig beschleunigte Bewegung. Verdoppelt man den Betrag einer Kraft (also
ihre „Stärke“), dann führt sie dem Körper doppelt so schnell Impuls zu. Die Schnelligkeit der
Impulszufuhr entspricht der Beschleunigung.
Kräfte können ungleichmäßige, periodische, ortsabhängige oder geschwindigkeitsabhängige Impulsänderungen bewirken. Die Art der Kraft erkennt man unmittelbar an der erzeugten Bewegung. Das
Seite 51
ist die Grundaussage des 2. Newton'schen Axioms, das wir Bewegungsgesetz nennen. Es entspricht
(4.29) und lautet:
Naturgesetz: Zweites Newton'sches Gesetz (Bewegungsgesetz):
Wenn eine resultierende Kraft auf einen Körper wirkt, ändert sich sein Impuls und damit seine
⃗ = d ⃗p (4.33).
Geschwindigkeit. Dabei gilt: F
dt
Das bedeutet:
⃗.
• Die Impulsänderung d ⃗p hat die gleiche Richtung wie die einwirkende Kraft F
⃗ , desto größer die Impulsänderung d ⃗p .
• Je größer die Kraft F
• Je größer die Dauer Δt einer Krafteinwirkung, desto größer eine Impulsänderung Δ ⃗p .
Wir vereinen jetzt (4.29) und (4.30) und beschränken uns auf Objekte, bei denen keine Masseänderung auftritt. Dann bleibt nur die Beschleunigung übrig:
d p⃗A
dt
⏟
Impulsstrom von außen
=
d v⃗
m K⋅ K
dt
⏟
seine Geschwindigkeitsänderung
=
m ⋅⃗
a
⏟
K
K
(4.34).
seine Beschleunigung
⃗ ersetzen und den Index K weglassen, erhalten wir das
Wenn wir wieder den Impulsstrom durch F
Newton'sche Bewegungsgesetz für konstante Massen in seiner herkömmlichen Formulierung:
Naturgesetz: Zweites Newton'sches Gesetz (Bewegungsgesetz) für konstante Massen:
Wenn eine resultierende Kraft auf einen Körper wirkt, ändert sich sein Impuls und damit seine Ge⃗ =m ⃗
schwindigkeit. Dabei gilt: F
a (4.35)
Das bedeutet:
⃗.
• Die Geschwindigkeitsänderung d ⃗v hat die gleiche Richtung wie die einwirkende Kraft F
⃗ , desto größer die Geschwindigkeitsänderung d ⃗v .
• Je größer die Kraft F
• Je größer die Dauer Δt einer Krafteinwirkung, desto größer eine Geschwindigkeitsänderung Δ ⃗v .
• Je größer die Masse m des Körpers, desto kleiner die Geschwindigkeitsänderung d ⃗v .
Ein Körper ändert seinen Impuls und seine Geschwindigkeit nur dann, wenn eine Kraft auf ihn
wirkt. Dabei zeigen Kraft und Geschwindigkeitsänderung (also die Beschleunigung) in die gleiche
Richtung. Es gilt auch der Umkehrschluss: Wenn ein Körper seine Geschwindigkeit ändert, wirkt
eine Kraft in Richtung der Geschwindigkeitsänderung auf ihn. Hier müssen Sie wieder sensibel für
die Ausdrucksweise werden: „Es wirkt eine Kraft“ kann zwei Bedeutungen haben: Entweder, dass
tatsächlich nur eine Kraft vorhanden ist oder, dass mehrere vorhandene Kräfte sich zu einer
Gesamtkraft addieren.
Beispiel: So gut dieser Sachverhalt im Impulsstrommodell zu verstehen ist, so sehr wird er immer
wieder missverstanden: Was antworten Sie auf die Frage: Welche Kraft treibt einen senkrecht hoch
geworfenen Stein während des Flugs nach oben? „Die Schwungkraft, die noch da ist“? Richtig ist:
Keine Kraft treibt ihn hoch! Denn ohne eine Kraft würde er mit konstanter Geschwindigkeit nach
oben weiterfliegen (siehe Trägheitsgesetz). Die einzige Kraft, die wirkt, ist die nach unten gerichtete
Gewichtskraft. Sie führt permanent nach unten gerichteten Impuls zu und bewirkt, dass die
Geschwindigkeit kontinuierlich abnimmt, sich umkehrt und dann wieder zunimmt.
Und jetzt kommt das Tolle: Aus dieser einen Grundgleichung, dem Newton'schen Bewegungs-
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gesetz, können wir die vielen möglichen Bewegungen in der Natur berechnen. Dazu müssen wir nur
⃗ und m. Das bedeutet
die auf einen Körper wirkenden Kräfte und seine Masse kennen, also nur F
eine enorme Vereinfachung und Abstraktion! Aus (4.33) oder (4.35) gewinnen wir ⃗r (t) , ⃗v (t) und
a
⃗ (t) . Es genügt, die Kräfte zu kennen, um an die Lösung dieser Aufgabe heranzugehen. Wie man
das macht, erfahren Sie in Kap.4.8.
4.7.3 Actio = Reactio
Wenn Sie treffsicher Wasser aus einer Flasche in ein leeres Glas gießen, haben Sie am Ende im Glas
genau die Wassermenge, die der Flasche nun fehlt. Völlig analog verhält sich der Impuls: Wenn
zwei Körper Impuls austauschen, fehlt dem einen, was er dem anderen gibt. Beide Körper erfahren
also eine entgegengesetzt gleiche Impulsänderung entsprechend (4.14). Das ist das 3. Newton'sche
Axiom: Actio = Reactio. Mit Kräften formuliert, lautet es:
Naturgesetz: Drittes Newton'sches Gesetz („actio = reactio“): Wenn ein Körper eine Kraft auf
einen zweiten ausübt, so übt auch der zweite Körper auf den ersten eine gleich große und
⃗ 1 →2=− F
⃗ 2→1 (4.36). Kraft und Gegenkraft greifen niemals
entgegengesetzt gerichtete Kraft aus: F
am selben Körper an.
Erkennen Sie, dass besonders hier der Kraftbegriff eher verwirrend wirkt als hilfreich ist? Mit
Kräften formuliert wirkt die Aussage eher befremdlich, während sie bisher (hoffentlich) eine Selbstverständlichkeit war. Wie können sich zwei Körper überhaupt jemals bewegen, wenn der andere
immer gleichstark zurück drückt? Warum ist es für einen Körper irrelevant, welche Kräfte er auf
andere ausübt? Beantworten Sie das mal ohne die Modellvorstellung des Impulsstroms! Der Knackpunkt liegt im letzten Satz, verbunden mit der Erkenntnis: Jeder Körper bewegt sich nur entsprechend seiner eigenen Impulsänderung (siehe 4.30), also der Kraft, die auf ihn selbst ausgeübt
wird. Für die individuelle Geschwindigkeitsänderung beider Körper ist natürlich ihre Masse ausschlaggebend. Tauschen eine Fliege und die Erde Impuls aus, dann wird ein sehr kleiner leichter
Körper wie eine Fliege bei gleicher Impulsänderung seine Geschwindigkeit viel stärker ändern als
ein riesiger massereicher Körper wie die Erde.
Beispiel: So einfach dieser Sachverhalt im Impulsstrommodell zu verstehen ist, so sehr führt er
immer wieder zu Verwirrung. Was antworten Sie auf die Frage: Sie versuchen die Taste eines
Klaviers zu drücken und üben dabei eine Kraft auf sie aus. Aber nach dem dritten Newton'schen
Gesetz übt die Taste heimtückisch eine gleich große Gegenkraft aus. Wie kann sich die Taste überhaupt bewegen? Antworten Sie: „Weil ich in Wirklichkeit immer eine etwas größere Kraft ausübe
als die Taste“ oder „Weil ich immer etwas schneller bin als die Taste“? Richtig ist: Weil nur Sie eine
Kraft auf die Taste ausüben, durch die sie sich bewegt! Die Taste übt dagegen eine Kraft auf ihren
Finger aus, das tun aber ihre Muskeln auch. Und ihre Muskeln sind stärker, sie können den Finger
trotzdem bewegen.
Experimente zum Trägheitsgesetz: Ein Wagen, der auf einer horizontalen Luftkissenschiene ruht,
wird kurz angetippt und seine Geschwindigkeit an verschiedenen Orten gemessen. Der Wagen setzt
sich in Bewegung und fährt mit gleichbleibender Geschwindigkeit bis ans Ende der Schiene. Das
zeigt: Ein Wagen, auf den keine Kraft in Bewegungsrichtung wirkt, behält seine Geschwindigkeit in
diese Richtung bei.
Videos von Chrashtests demonstrieren ebenfalls eindrucksvoll das Trägheitsgesetz und zeigen
nochmal deutlich den Unterschied zwischen Impuls und Energie.
Experimente zum Bewegungsgesetz: Ein Papier wird auf einen Tisch gelegt und darauf ein
Wasserglas gestellt. Wenn man langsam am Papier zieht, bleibt der Tisch stehen und Papier und
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Glas bewegen sich. Zieht man dagegen schnell am Papier, bleiben Tisch und Glas stehen. Niemand
wundert sich, dass der Tisch stehen bleibt, warum also beim Glas? Zwischen Papier und Tisch
sowie Papier und Glas wirken beim Ziehen Gleitreibungskräfte. Beim Tisch sind diese in beiden
Fällen zu klein, um ihn nachweisbar zu beschleunigen. Hier zeigt sich das Trägheitsgesetz: Ohne
nennenswerte Kräfte ändert der Tisch seine Bewegung nicht und bleibt einfach stehen. Beim Glas
ist die Stärke der Kraft nur durch sein Gewicht bestimmt, die Dauer der Einwirkung aber dadurch,
wie schnell man zieht. Anfangs wirkt die Haftreibung, doch sobald das Glas weniger beschleunigt
wird als das Tuch wirkt nur noch die Gleitreibung. Die Einwirkdauer der konstanten Reibungskräfte
bestimmt den Impulsübertrag: dp=F dt ⇒ ∫ dp=∫ F dt ⇒ p=F t . Wenn man langsam zieht,
wird deshalb dem Glas mehr Impuls gegeben, es bewegt sich. Beim schnellen Ziehen ist der Impulsübertrag zu klein. Das zeigt die Gültigkeit des Bewegungsgesetzes (und nicht des Trägheitsgesetzes,
wie oft gesagt).
Ein Metallring ist an einem Faden aufgehängt und an den Metallring ist ein Faden gebunden, der
nach unten hängt. Beide Fäden sind gleich. Wenn man langsam am unteren Faden zieht, reißt der
Faden oberhalb des Rings. Zieht man dagegen schnell am unteren Faden, reißt der Faden unterhalb
des Rings. Der Faden reißt in beiden Fällen, wenn seine Reißfestigkeit überschritten wird. Wenn
man nicht am unteren Faden zieht, wirkt auf den oberen Faden nur die Gewichtskraft des Rings.
Beim langsamen Ziehen wird der Ring durch die Zugkraft beschleunigt und kann dem untere Faden
„folgen“. Durch seine Bewegung überträgt er die Zugkraft auf den oberen Faden. Auf den oberen
Faden wirkt nun eine stärkere Kraft als auf den unteren: die Gewichtskraft des Rings plus die
Zugkraft. Deshalb reißt dieser Faden bevor im unteren die Reißfestigkeit überschritten wird. Beim
schnellen Ziehen wird der untere Faden aufgrund seiner viel kleineren Masse stärker beschleunigt
als der Ring. Der Ring kann dem Faden nicht mehr folgen. Die Reißfestigkeit ist erreicht, bevor sich
der Ring in Bewegung setzt und die Zugkraft auf den oberen Faden überträgt. Das zeigt die
Gültigkeit des Bewegungsgesetzes: Die Geschwindigkeitsänderung ist bei einer kleinen Masse
größer als bei einer großen Masse.
Ein Wagen auf einer Lufkissenschiene wird durch ein absinkendes Gewicht mit konstanter Kraft
beschleunigt. Seine Geschwindigkeit wird an verschiedenen Orten gemessen und nimmt linear mit
der Zeit zu. Das zeigt die Gültigkeit des Bewegungsgesetzes. Denn für eine konstante Kraft
F
(gleichförmig beschleunigte Bewegung) sagt es p=F t ⇒ m v=F t ⇒ v= t=a t voraus.
m
Actio = Reactio Ein Modell-Eisenbahn wird auf einem drehbaren Schienenkreis in Bewegung
gesetzt. Der Zug kommt kaum vom Fleck, statt dessen beginnt sich der Schienenkreis unter dem
Zug wegzudrehen. Das zeigt: Beim Anfahren üben die Räder des Zuges eine Reibungskraft auf die
Schienen aus, die diese beschleunigt. Die Schienen wiederum üben eine Reibungskraft auf die
Räder des Zuges aus, die diesen beschleunigen. Da die Schienen viel leichter als der Zug sind,
bewegen sie sich schneller. Es zeigt auch: Es ist die Kraft der Schienen, die den Zug beschleunigt
(und nicht sein Motor). Deshalb kann ein Auto auch soviel PS haben, wie es will: Bei Glatteis
kommt es nicht vom Fleck.
Zwei etwa gleich schwere Studierende sitzen auf zwei Rollwagen und halten jeweils ein Ende eines
Seils. Zuerst ziehen beide am Seil. Beide Wagen bewegen sich in gleicher Weise und treffen sich in
der Mitte. Anschließend zieht nur einer der Studierenden am Seil. Beide Wagen bewegen sich
wieder gleich und treffen sich in der Mitte. Das zeigt: Egal wer aktiv zieht, an ihm wird nach
Actio = Reactio mit der gleichen Kraft gezogen.
Seite 54
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
4.32) Kommentieren Sie unter Berücksichtigung der Newton'schen Axiome:
a) Beschuldigter Autofahrer: „Sehen Sie die Beule an meiner Stirn? Als ich bremste, hat mich eine
Kraft gepackt und mit voller Wucht gegen mein Lenkrad geschleudert!“
b) Unfallzeuge: „Der Autofahrer hat nicht gebremst, sondern sogar beschleunigt!“
c) Angeber: „Mein Auto wird durch einen 200 PS-Motor angetrieben.“
4.33) Erklären Sie mit eigenen Worten den Begriff „Intertialsystem“.
4.34) Sind folgende Aussagen mit den Newton'schen Axiomen vereinbar? Nehmen Sie sie kritisch
unter die Lupe! a) Ein Körper, auf den keine Kraft wirkt, bewegt sich nicht und verharrt in Ruhe.
b) Alles, was sich bewegt, benötigt eine permanente Antriebskraft. c) Ohne
Antriebskraft stoppt jede Bewegung. d) Ruhe und Bewegung sind Gegensätze.
4.35) Erklären Sie, was im Bild rechts nicht stimmt. Warum funktioniert der
Antrieb nicht?
4.36) Ein Auto fahre mit konstanter Geschwindigkeit geradeaus. Welche resultierende Kraft wirkt?
4.37) Ein Auto beschleunige mit konstanter Beschleunigung a. Welche Kraft verursacht die
Beschleunigung?
4.38) In den neuen ICEs ist die Reibung auf den Ablageflächen zu gering. Eine PET-Flasche gleitet
schon bei kleinsten Beschleunigungen. In welche Richtung gleitet die Flasche bei einer Linkskurve? Erklären Sie Ihre Antwort mit dem Trägheitsgesetz. Wenn Sie in einem ICE sitzen, befinden
Sie sich dann in einem Inertialsystem? Erläutern Sie Ihre Antwort.
4.39) Ein Fahrstuhl fährt mit konstanter Geschwindigkeit nach oben. Welche Normalkraft FN wirkt
auf eine Person der Masse m im Lift? Ist es möglich, dass FN während des Anfahrens gleich bleibt?
4.40) In einer Klassenarbeit sollten die Kräfte auf den Mond eingezeichnet werden. Ein Schüler zeichnet das rechts gezeigte Bild. Korrigieren
Sie es und schreiben Sie Ihrem Schüler einen erklärenden Kommentar.
4.41) Ein Glas bleibt auf dem Tisch stehen, wenn Sie schnell genug das
Tischtuch wegziehen. Mit welcher Beschleunigung müssen Sie das Tuch
wegziehen, damit das Glas auf dem Tuch gleitet? Der Reibungskoeffizient zwischen Glas und Tuch ist µ = 0,4. Zwischen Tisch und Tuch gebe es keine Reibung.
4.42) Beim Bierdeckeltrick legt man einen Bierdeckel auf ein Glas, darauf mittig eine Münze und
zieht den Deckel schnell weg, so dass die Münze in das Glas plumpst. Mit welcher als konstant
angenommenen Geschwindigkeit muss man am Deckel ziehen, damit die
Münze im Glas landet? Der Deckel habe den Durchmesser 12 cm, das
Glas den Durchmesser 6 cm und die Gleitreibungszahl zwischen Münze
2
und Deckel sei 0,4. Die anfängliche Haftreibung und die Ausdehnung der
Münze können Sie vernachlässigen.
4.43) Bei Renovierungsarbeiten an einer Hausfassade muss abgeschlagener Putz nach unten und frischer Mörtel nach oben geschafft werden.
Die Bauarbeiter haben dazu zwei Eimer mit einem Seil verbunden und
über eine Rolle oben am Gerüst gehängt. Der obere Eimer 2 kann durch
1
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eine Klappe gehalten werden. Die Masse von Rolle und Seil ist zu vernachlässigen.
a) Zunächst steht Eimer 2 mit einer Masse von 14 kg auf der Klappe. Eimer 1 mit einer Masse von
13,5 kg hängt in der Luft. Berechnen Sie für diesen Fall alle einzelnen Kräfte auf die Eimer mit
Betrag und Richtung.
b) Die Klappe wird nach unten geöffnet. Mit welcher Beschleunigung setzen sich die Eimer in
Bewegung?
c) Berechnen Sie während der beschleunigten Bewegung alle einzelnen Kräfte auf die Eimer mit
Betrag und Richtung. Haben sich Kräfte im Vergleich zu a) verändert?
4.44) Wie groß ist die auf Sie wirkende Kraft, wenn Sie ruhig auf einer Badezimmerwaage stehen?
4.45) Pech oder Physik? Sie wollen aus einem Schlauchboot an Land springen, kommen aber weniger weit als gedacht und landen im Wasser. Zu allem Überfluss bewegt sich auch noch das
Schlauchboot mit gleichbleibender Geschwindigkeit von Ihnen weg. Erklären Sie, was geschehen
ist.
Seite 56
4.8 Unser Arbeitspferd: Das Bewegungsgesetz
⃗ = d ⃗p (4.37) ist das Naturgesetz der Mechanik. Es ist sehr
Das Bewegungsgesetz von Newton F
dt
typisch für die Physik: eine harmlos ausschauende Gleichung mit nur drei „Buchstaben“, deren wirkliche Bedeutung sich Physikanfängern erst verhältnismäßig spät erschließt. Warum? Die Bedeutung der Gleichung erfassen Sie nicht, indem Sie sie auswendig lernen, sondern indem Sie das Konzept hinter der Gleichung und die Methode der Verwendung verstehen.
Das Bewegungsgesetz ist keine FFAUWE-„Formel“! Es ist keine „Formel“, die man nach einem der
drei „Buchstaben“ auflöst und dann Werte einsetzt um die gesuchte Größe zu berechnen. Es ist
etwas ganz anderes und etwas ganz Neues für Sie: Es ist eine Anweisung zum Aufstellen einer
Rätselfrage und das fertige Rätsel nennt man dann Bewegungsgleichung. Die Lösung des Rätsels
namens Bewegungsgleichung ist im Bewegungsgesetz nicht direkt enthalten und kann ganz schön
kniffelig werden. Aber die Lösung des Rätsels liefert uns die Bahnkur ⃗r (t) einer beliebigen Bewegung. Wir wollen jetzt lernen, wie man Bewegungsgleichungen bildet und dann ein paar von ihnen
lösen. Der Einfachheit halber beschränken wir uns dazu auf den Fall, dass die Masse der beteiligten
Körper konstant ist und uns das Superpositionsprinzip die Beschränkung auf eine eindimensionale
Bewegung ermöglicht. Dann können wir alles skalar schreiben und x steht wieder stellvertretend für
a in (4.35) durch die zeitliche Ableitung von x:
eine beliebige Raumkoordinate15. Nun ersetzen wir ⃗
F =m a=m v̇=m ẍ (4.38). Darin ist ẍ die abgekürzte Schreibweise für die zweifache zeitliche
Ableitung von x. F und v sind Kraft und Geschwindigkeit in x-Richtung. Ab jetzt schreiben wir
Zeitableitungen nur noch in der Punktschreibweise. Gleichung (4.38) ist unser Ausgangspunkt zum
Aufstellen von Bewegungsgleichungen. Im Grunde müssen wir dazu nicht mehr tun, als richtige
Ausdrücke für F und m einzusetzen.
4.8.1 Bewegungsgleichungen aufstellen
Bewegungsgleichungen werden nach einem gewissen Muster aufgestellt. Die Schwierigkeit liegt
nicht darin, diesem Muster zu folgen, sondern darin, eine gegeben Situation richtig zu analysieren
und in die richtige Gleichung umzusetzen. Dazu müssen Sie Koordinatensysteme und Koordinaten
auswählen können, Systeme festlegen können, Kräfte identifizieren können und innere und äußere
Kräfte unterscheiden können. Dagegen wird nicht von Ihnen verlangt, die gefundene Gleichung in
jedem Fall lösen zu können.
Anwendung des Bewegungsgesetzes = Aufstellen und Lösen von Bewegungsgleichungen.
1. Falls nicht gegeben, wähle ein Koordinatensystem und eine Koordinate der Bewegung.
2. Definiere das System und die Umgebung und lege die Systemgrenze fest.
3. Identifiziere die trägen Massen des Systems und bilde die Summe der trägen Massen m=∑ mi .
4. Identifiziere die äußeren Kräfte und bilde die Summe aller äußeren Kräfte F A =∑ F i .
5. Vereinige 2. und 3. zur Bewegungsgleichung: F A =m ẍ . Das ist eine Gleichung, die ẍ beschreibt. Sie enthält x als Platzhalter für eine unbekannte Funktion x(t).
6. Wenn möglich, löse die Gleichung, also finde eine allgemeine Lösungsfunktion x(t). Ansonsten
überprüfe, ob eine gegebene oder geratene Funktion x(t) die Gleichung löst.
7. Bilde aus x(t) die zu den Anfangsbedingungen der konkreten Situation passende Lösungsfunktion.
15
Das kann eine kartesische Koordinate x,y,z, aber auch z. B. eine Polar-, Zylinder- oder Kugelkoordinate sein.
Seite 57
4.8.2 Das A ...: Definieren von System, Systemgrenze und Umgebung
Schritt 1 verlangt von uns die Festlegung eines Systems. Was bedeutet das? Ein System ist vor
allem ein abstraktes gedankliches Konstrukt. Als System bezeichnen wir eine gedanklich abgegrenzte Auswahl von Komponenten in einer realen oder erdachten Situation. Das System besteht
dann aus den ausgewählten Komponenten und seine Umgebung aus allem übrigen.
Ein System hat eine ebenfalls gedachte Systemgrenze, die es von seiner Umgebung abgrenzt und
der wir Eigenschaften zuweisen können. Die Eigenschaften bestimmen die Art des Systems: Wenn
die Systemgrenze für Masse und Energie undurchlässig ist, nennen wir das System abgeschlossen,
oder besser: isoliert. Es hat dann keinerlei Wechselwirkung mit seiner Umgebung. Wenn die
Systemgrenze nur für Masse undurchlässig ist, nennen wir das System geschlossen 16. Ansonsten
nennen wir es offen.
Die Systemgrenze kann, aber muss keine geometrische geschlossene Form haben. Wir betrachten
z. B. das Universum als gegebene Situation und wählen daraus als System unsere Erde aus. Jetzt
gibt es zwei Möglichkeiten: 1. Wir wählen als System nur die Masse der Erde. Dann können wir uns
als Systemgrenze eine Kugelschale um die Erde denken. 2. Wir wählen als System die Masse der
Erde und ihr Gravitationsfeld aus. Dieses erstreckt sich über das gesamte Universum. Nun hat die
Systemgrenze keine geometrische Gestalt mehr sondern ist rein abstrakt.
Systeme, Systemgrenzen und Umgebung legen wir nach Bedarf und Fragestellung fest. Die Umgebung ist die Menge aller physikalischen Objekte außerhalb des Systems, im Grunde also das
gesamte Universum. Doch wenn wir ein System beschreiben, berücksichtigen wir von der Umgebung nach dem KISS-Prinzip nur die Komponenten, die einen relevanten Einfluss auf das System
haben.
In der Mechanik ist die Festlegung von Systemen überschaubar: Wenn wir Bewegungen suchen und
dazu Kräfte betrachten, wählen wir offene Systeme aus. Das System besteht dann immer aus den
Objekten, nach deren Bewegung wir fragen. In seiner Umgebung müssen wir die Komponenten
betrachten, die Kräfte auf unsere Objekte ausüben, ihnen also einen Impulsstrom aufzwingen. Wenn
wir Bilanzgleichungen von Impuls oder Energie aufstellen, wählen wir dagegen isolierte Systeme
aus. Sie enthalten die bewegten Objekte und die Komponenten, die Kräfte darauf ausüben.
Beispiel: Wenn wir die Bewegung des Mädchens in Abb.4.1 suchen, wählen wir als System nur die
Masse des Mädchens aus, das wir als Massepunkt modellieren. In seiner Umgebung betrachten wir
das Seil und das Gravitationsfeld der Erde. Das Seil übt eine Zugkraft und das Gravitationsfeld die
Gewichtskraft auf das Mädchen aus. Beides sind dann äußere Kräfte. Wenn wir dagegen nach der
Energie des Mädchens fragen, wählen wir als System die Masse des Mädchens, das Seil17, die Erde
und ihr Gravitationsfeld aus. Alle auftretenden Kräfte sind dann innere Kräfte, es gibt keine äußeren
Kräfte und das System ist isoliert.
4.8.3 … B ...: Träge Masse finden
Die Massen, die wir in unsere Bewegungsgleichung eintragen müssen, sind alle Massen, die zu dem
gewählten System gehören und bewegt werden. Jede Masse ist träge und vergrößert in unserer
Wasseranalogie die Grundfläche des Glases, vermindert also die resultierende Geschwindigkeit.
Damit haben wir auch eine anschauliche Bedeutung der trägen Masse mT: Sie gibt die Geschwindig16
17
Verwechseln Sie nicht „geschlossen“ mit „abgeschlossen“ !
Ein Seil, an dem etwas aufgehängt ist, betrachten wir vereinfacht als Quelle der Kraft. Eigentlich müssen wir seine
Aufhängung und alle Komponenten, die es mit der Erde verbinden, mit einbeziehen, denn letztendlich leitet es nur
deren Kraft weiter.
Seite 58
keit bei gegebenem Impuls oder ihre Änderung bei Impulszufuhr wieder. Dafür steht also das m in
p = mv und F = ma. Dagegen wird die Masse im Gravitationsgesetz, die die Kraft auf andere Massen bestimmt, schwere Masse mS genannt. Sie könnten wir in Analogie zum Coulomb-Gesetz auch
„Gravitationsladung“ nennen. Dafür steht also m in F = mg oder F = − Gm1m2/r2. Die Trennung mag
Ihnen künstlich erscheinen, aber beides sind grundsätzlich unterschiedliche Eigenschaften der Masse und wir hätten auch mS = konst.∙mT wählen können. Nur weil wir die Konstante als einheitenlose
1 gewählt haben, erscheint Ihnen diese Unterscheidung aus Gewohnheit im Nachhinein künstlich18.
4.8.4 ...und O: Äußere Kräfte finden
Schritt 3 ist der schwierigste Schritt und verlangt von Ihnen, Kräfte zu identifizieren, eventuell zu
zerlegen und innere von äußeren Kräften zu unterscheiden. Dazu müssen Sie wissen, welche Objekte welche Kräfte ausüben, wie diese gerichtet sind, wo sie angreifen und wie sie von anderen physikalischen Größen abhängen. Wir haben das bereits in Kap. 4.6 zusammengestellt. Oft vernachlässigen wir Kräfte nach dem KISS-Prinzip, weil ihr Beitrag im Vergleich zu anderen Kräften sehr klein
ist. Aus dem quantitativen Zusammenhang einer Kraft kann man abschätzen, ob sie relevant ist. Das
wird Ihnen häufig in der Aufgabenstellung abgenommen. Skizzieren Sie am besten immer zuerst die
Situation mit der Systemgrenze und allen relevanten Kräften. Beherzigen Sie dabei folgende Tipps:
1. Wenn sich ein Körper in eine Richtung nicht bewegt, gibt es entweder keine Kraft in diese
Richtung oder es heben sich dort alle Kräfte auf. Zeichnen Sie die Kraftpfeile betragsmäßig
gleicher Kräfte auch gleich lang.
2. Denken Sie daran: Bei allen Bewegungen, die den Körper nur verschieben (Translationen),
greifen alle Kräfte immer am Schwerpunkt bzw. Massemittelpunkt des Körpers an. Nur bei
Drehbewegungen ist der Angriffspunkt von Bedeutung. Zeichnen Sie also bei Translationen
die Kraft an den Schwerpunkt, und bei Drehbewegungen an den Angriffspunkt.
3. Wenn eine Kraft schrägt zur betrachteten Richtung steht, zerlegen Sie sie in ihre Komponente in diese Richtung und ihre Komponente senkrecht dazu. Wenn die Kraft schräg auf
einer Fläche steht, nennen wir ihre Komponente senkrecht zur Fläche Normalkraft.
Sortieren sie anhand der Zeichnung die Kräfte in innere und äußere Kräfte. Bei äußeren Kräften
liegt die Ursache der Kraft außerhalb des Systems, sie wirken über die Systemgrenze hinweg. Am
besten zeichnen wir sie durch die Systemgrenze hindurch. Alle anderen sind innere Kräfte. Alle
inneren Kräfte müssen sich grundsätzlich gegenseitig aufheben, denn sie können keine Bewegung
des Systems als ganzes bewirken. Addieren Sie am Schluss alle äußeren Kräfte oder Kraftkomponenten, die in die betrachtete Richtung wirken, zu FA. Das ist die Summe der äußeren Kräfte. Wenn
Kräfte durch Seile oder Ähnliches nur umgelenkt werden, sind sie so aufzufassen, als wirkten sie in
die Zugrichtung des Seils am Befestigungspunkt.
4.8.5 ...und ein x für ein f: Differenzialgleichungen lösen
Die Gleichung, die wir im 4. Schritt erhalten, ist eine sogenannte Differenzialgleichung. Diese Art
von Gleichungen enthält Ableitungen von Funktionen, aber die Funktion selbst ist die Unbekannte.
Ihre Lösungen sind Funktionen, deren Ableitungen sich so verhalten, wie es die Gleichung vorgibt.
Beispiel: Eine Differenzialgleichung ist ẋ= x . Darin suchen wir eine Funktion x(t), deren Zeitabd t t
leitung wieder die Funktion selbst ist. Das trifft auf die Funktion x (t)=e t zu, denn e =e =x (t ) .
dt
18
Tatsächlich ist das kein Zufall: Das Äquivalenzprinzip der allgemeinen Relativitätstheorie beinhaltet die Gleichheit
von schwerer und träger Masse.
Seite 59
Sie wäre also eine Lösungsfunktion. Ein Gegenbeispiel ist die Funktion x (t)=e ct , denn
d ct
e =c ect =c x (t)≠x (t ) . Das wäre also keine Lösungsfunktion der Gleichung.
dt
Wie findet man die Lösungsfunktion einer Differenzialgleichung? Dazu gibt es eine Vielzahl mathematischer Methoden, die aber - bis auf eine Ausnahme - nicht Inhalt dieser Vorlesung sind. Denn
das ist ein rein mathematisches und sehr kompliziertes Problem. Die Physik steckt darin, die richtige Differenzialgleichung aufzustellen und aus vorhandenen mathematischen Lösungen diejenigen
auszuwählen, die physikalisch sinnvoll sind und die gegebene Situation beschreiben. Deshalb konzentrieren wir uns darauf. Was ist die eine Ausnahme? Schauen Sie dazu noch einmal in Kap.3.2,
Lösungsansatz 2. Darin bildet auch v= ẋ eine einfache Differenzialgleichung, die eine Vielzahl von
Lösungsfunktionen hat. Wenn v(t) explizit gegeben ist, können wir sie durch die beschriebene
Methode „Trennung der Variablen mit anschließender Integration“ lösen und so x(t) berechnen. In
allen anderen Fällen werden wir Lösungsfunktionen „erraten“ oder vom Himmel fallende Lösungen
akzeptieren. Es muss uns vorerst genügen, eine gegebene allgemeine Lösungsfunktion durch Einsetzen in die Differenzialgleichung zu überprüfen. Allgemeine Lösungsfunktionen enthalten in der
Regel mehrere Konstanten. Wenn wir diese passend zu einer speziellen Situation ersetzen, erhalten
wir auch die passende Lösung der Differenzialgleichung für genau diese spezielle Situation. Weitere
Lösungsmethoden lernen Sie später in der theoretischen Physik.
4.8.6 Anwendung auf Translationen
Die folgenden vier Anwendungsbeispiele bauen aufeinander auf. Im ersten Beispiel werde ich alle
Schritte an einem einfachen System ausführlich beschreiben. Im zweiten Beispiel will ich Ihnen
zeigen, wie man die am einfachen Beispiel gewonnenen Erkenntnisse direkt auf komplexere
Systeme übertragen kann. Es enthält im Grunde nichts Neues, nur das System ist komplizierter. Im
dritten Beispiel tauchen dann drei neue Probleme auf: Die Bewegung ist mehrdimensional, die
Kräfte zeigen nicht mehr in Bewegungsrichtung und die auftretende Gleichung ist nur durch Näherung analytisch lösbar. Im letzten Beispiel werden wir eine Bewegung mit Reibung betrachten und
an dem Beispiel zeigen, wie man vorgeht, wenn nicht alle bewegten Objekte Bestandteil des Systems sind und wie man eine Bewegungsgleichung durch Grenzfallbetrachtungen analysiert. Zusammengenommen demonstrieren diese Beispiele alle wesentlichen Methoden zum Aufstellen und
Lösen von Bewegungsgleichungen. Danach wenden wir uns dem
Thema Drehbewegungen zu und Sie werden sehen, dass Sie alles
Stein
bisher Gelernte unmittelbar 1:1 darauf übertragen können und
kaum etwas Neues hinzukommt.
m
y
h
4.8.6.1 Ein fallender Stein
Ein ruhender Stein der Masse m1 wird aus der Höhe h fallen
gelassen. Wie ändert sich seine Höhe h(t) als Funktion der Zeit?
Luftreibung ist vernachlässigbar.
1. Schritt: Koordinaten wählen: Der Stein fällt senkrecht nach
unten. Die gesuchte Bewegung ist eindimensional. Wir können sie
entweder allgemein über den Weg s ausdrücken oder direkt über
eine Koordinate. Wir denken uns die Situation wie in Abb. 4.9
gezeigt und nehmen die y-Koordinate.
Fg
Systemgrenze
Gravitationsfeld
x
Erde
2. Schritt: Systemgrenze ziehen: Die Situation besteht aus drei Abb. 4.9: Die Situation und ihr
Komponenten: dem Stein der Masse m, der Erde und dem Gravi- Koordinatensystem
Seite 60
tationsfeld der Erde. Wir fragen nur nach der Bewegung des Steins. Wir schließen deshalb nur ihn in
unser System ein und zeichnen symbolisch die Systemgrenze um ihn herum.
3. Schritt: Träge Masse bestimmen: Das System enthält nur den Stein, also ist die träge Masse des
Systems nur seine Masse m.
4. Schritt: Äußere Kräfte identifizieren: Auf die Masse des Steins wirkt nur die Gewichtskraft Fg.
Sie ist eine äußere Kräfte, denn ihre Ursache, das Gravitationsfeld der Erde, ist nicht Bestandteil des
Systems. Deshalb zeichnen wir ihren Pfeil durch die Systemgrenze hindurch. Wir schreiben also
F A =m g .
5. Schritt: Vereinigung zur Bewegungsgleichung: Zusammenführen beider Seiten ergibt
m
m⋅g =m ẍ ⇒ ẍ= ⋅g=g oder ẍ−g =0 (4.39). Das ist die Bewegungsgleichung.
m
Diese Bewegungsgleichung beinhaltet die mathematische Frage: Leite mich zweimal nach der Zeit
ab, dann bin ich g. Wer bin ich? Physikalisch beinhaltet sie: Welche Impulsänderung des Steins
erzeugt eine konstante Kraft wie die Gewichtskraft? (Mit der Wasseranalogie formuliert: Auf
welche Weise strömt durch die konstante Gewichtskraft Impuls in die träge Masse des Steins hinein:
gleichmäßig, stetig zu nehmend usw.?)
6. Schritt: Allgemeine Lösung finden: Wir benötigen zuerst eine allgemeine Lösungsfunktion und
bilden aus dieser die spezielle Lösungsfunktion für die gestellte Aufgabe. Das Lösen kann beliebig
kompliziert sein. Deshalb schauen wir immer zuerst auf die mathematische Form der Differenzialgleichung und fragen uns, ob wir für diese Form eine allgemeine Lösungsfunktion schon kennen.
In diesem Fall ist die allgemeine Form ẍ−const.=0 (4.40). Ihre allgemeine Lösung kennen wir
tatsächlich schon, nur war es uns bisher nicht bewusst. Die äußere Kraft ist konstant, d.h.sie hängt
nicht von x, v oder t ab. Es liegt also eine gleichförmig beschleunigte Bewegung vor und die allge1 2
meine Lösungsfunktion ist durch (4.7) gegeben: x (t)= a t +v 0 t +x 0 . Alle Bewegungsgleichun2
gen, in denen nur konstante Kräfte und Massen auftauchen, haben diese Form und diese Lösungsfunktion, egal, welcher Natur die Kräfte sind.
Wir überprüfen, ob x(t) wirklich die Bewegungsgleichung (4.40) erfüllt. Dazu bilden wir immer die
d 1
d
2
Zeitableitungen ẋ= [ ⋅a t +v 0 t +x 0 ]=a t +v 0 =v (t) und ẍ= v̇= [a t+v 0]=a , und setzen sie
dt 2
dt
in die Bewegungsgleichung ein: Das ergibt a−const.=0 ⇒ const.=a . Die Funktion x(t) ist also
genau dann eine Lösung, wenn die Konstante die Beschleunigung a ist und a konstant ist. Ihre
mathematische Form ist also präziser ẍ−a=0 (4.41), und man kann somit die Beschleunigung a
unmittelbar aus dieser Bewegungsgleichung ablesen.
7. Schritt: Passende Lösung finden: Jetzt benötigen wir noch die passende Lösungsfunktion für
die gestellte Aufgabe, die wir aus der allgemeinen Lösung bilden. Das macht man, indem man die
Konstanten der allgemeinen Lösung und die Koordinate passend zur gegebenen Situation ersetzt. In
x(t) sind die Konstanten a, v0 und x0. Explizite Werte dafür bekommen wir aus der Aufgabenstellung
und der gefundenen Bewegungsgleichung: Die Beschleunigung a lesen wir wie gerade gelernt aus
unserer Bewegungsgleichung (4.39) ab und erhalten a=g . Der Stein startet aus der Ruhe, also ist
v0 = 0. Unsere Koordinate ist y statt x, also ersetzen wir x(t) durch y(t) und x0 durch y0. Der
Anfangsort ist y0 = h. Der Stein bewegt sich in die negative y-Richtung. Unsere passende Lösung für
1 2
unser konkretes System ist damit y (t)=h− g t . Erkennen Sie den „freien Fall“ wieder? Aus y(t)
2
erhalten wir die passende Lösung für v(t) und a(t) durch Ableiten: v= ẏ=−g t und a= ÿ=−g .
Seite 61
4.8.6.2 Ein Wagen auf einer Luftkissenschiene
Ein Wagen der Masse m1 wird auf einer Luftkissenschiene bei x = 0 festgehalten und ist mit einem
masselosen Faden über eine masselose Rolle mit einem hängenden Klotz der Masse m2 bei y = h
verbunden. Wie bewegen sich beide Körper, wenn der Wagen losgelassen wird? Jede Reibung ist
vernachlässigbar.
1. Schritt: Koordinaten wählen: Hier tritt die
y
erste Komplikation auf: Was ist die Koordinate
FSch
F
der Bewegung? Der Wagen bewegt sich horiS1
Rolle
Seil
zontal, der Klotz vertikal. Das Problem lässt
sich aber sofort beheben, denn beide Körper
m1
Schiene
werden sich gleich schnell bewegen, weil sie
Fg1
miteinander verbunden sind. Wir können entGravitationsfeld
FS2
weder den „neutralen“ Weg s einführen und
m2
h
damit rechnen. Dann steht s beim Wagen stellvertretend für x und beim Klotz für y. Oder wir
Fg2
x
rechen mit x und behalten im Hinterkopf, dass
die Bewegung des Klotzes gleich schnell in Abb. 4.10: Koordinaten und Systemgrenze festlegen und äußere Kräfte identifizieren.
y-Richtung erfolgt.
2. Schritt: Systemgrenze ziehen: Die Situation besteht aus sechs Komponenten: Die Schiene, die
Rolle, der Faden, die Massen m1 und m2 von Wagen und Klotz und das Gravitationsfeld der Erde.
Bewegt werden die Massen m1 und m2, der Faden und die Rolle. Wir suchen die gemeinsame Bewegung beider Massen und schließen deshalb beide Massen und alles, was sich mitbewegt in unser
System ein: die Rolle, der Faden, die Massen m1 und m2. Wir zeichnen wieder symbolisch die
Systemgrenze ein.
3. Schritt: Träge Masse bestimmen: Bis auf m1 und m2 können alle Massen vernachlässigt werden.
Die träge Masse des Systems ist also m = m1 + m2.
4. Schritt: Äußere Kräfte identifizieren. Auf beide Massen wirkt ihre Gewichtskraft Fg1 bzw. Fg2
und eine Seilkraft FS1 bzw. FS2. Auf m1 wirkt auch noch die Kraft FSch der Schiene. Fg1, Fg2 und FSch
sind äußere Kräfte, denn ihre Ursachen - Gravitationsfeld und Schiene - sind nicht Bestandteil des
Systems. Deshalb zeichnen wir ihre Pfeile durch die Systemgrenze hindurch. Die beiden Seilkräfte
sind innere Kräfte, sie können jeweils eine der Massen, aber nicht das Gesamtsystem aus beiden
Massen beschleunigen. Die Gewichtskraft Fg1 auf m1 und die Schienenkraft FSch heben sich auf. Als
einzige äußere Kraft in Bewegungsrichtung bleibt die Gewichtskraft Fg2 auf m2, die über das Seil
auch auf m1 übertragen wird. Wir schreiben also F A =m2 g .
5. Schritt: Vereinigung zur Bewegungsgleichung: Zusammenführen beider Seiten ergibt die
m2
m2
⋅g oder ẍ−
⋅g=0 (4.42).
Bewegungsgleichung: m2⋅g=(m1+m2) ẍ ⇒ ẍ=
( m1 +m2)
(m1 +m2 )
Diese Bewegungsgleichung beinhaltet die mathematische Frage: Leite mich zweimal nach der Zeit
ab, dann bin ich m2 g / (m1 + m2). Wer bin ich?
6. Schritt: Allgemeine Lösung finden: Wir schauen zuerst auf die mathematische Form: Sie ist
ẍ−a=0 mit konstantem a. Ihre allgemeine Lösung kennen wir schon aus unserem ersten Beispiel.
Auch hier liegt wieder eine konstante äußere Kraft, also eine gleichförmig beschleunigte Bewe1 2
gung vor und die allgemeine Lösungsfunktion ist wieder (4.7): x (t)= a t +v 0 t +x 0 , so wie bei
2
allen Bewegungsgleichungen dieser Form.
Seite 62
7. Schritt: Passende Lösung finden: Jetzt benötigen wir noch die passende Lösungsfunktion für
die gestellte Aufgabe. Die Koordinaten sind x für m1 und y für m2. Aus (4.42) lesen wir a ab:
a=m2 g /(m 1 +m2 ) . Explizite Werte für die anderen Konstanten gibt uns die Aufgabenstellung:
Beide Massen starten aus der Ruhe, also ist v0x = v0y = 0. Die Anfangsorte sind x0 = 0 und y0 = h.
Beide Massen bewegen sich in die negative Achsenrichtung. Unsere passende Lösung für unser
m2
m2
1
1
⋅g)t 2 ; m2 : y (t )=h− (
⋅g)t 2 .
konkretes System ist damit: m1 : x (t)=− (
2 m1+m2
2 m1+m2
Bei Bedarf können wir daraus über v= ẋ und a= ẍ auch v(t) und a(t) erhalten.
4.8.6.3 Ein Kind auf der Schaukel
Stellen Sie die Bewegungsgleichung für ein Kind auf einer
Schaukel auf. Fassen Sie das Seil der Länge L als masselos auf
und das Kind als Massepunkt der Masse m. Vereinfachen Sie dann
die Bewegungsgleichung durch die Näherung φ ≈ sin φ für kleine
Auslenkungswinkel φ. Zeigen Sie, dass nun s(t) = s0∙sin(ωt + φ0)
eine allgemeine Lösungsfunktion dieser Bewegungsgleichung ist.
Luftreibung ist vernachlässigbar.
y
Gravitationsfeld
Seil
φ
System1. Schritt: Koordinaten wählen: Wir denken uns die Situation
grenze
FS
wie in Abb. 4.11 gezeigt. Die Bewegung verläuft zweidimensios
nal, verändert also x und y. Doch sie liegt auf einer Kreisbahn mit
m
r = L und dafür bieten sich Polarkoordinaten r und φ an (A.1). Die
Bewegung verändert damit nur eine Koordinate, nämlich den
Fg
Winkel φ. Deshalb wählen wir ihn und können nun diese zweidimensionale Bewegung als eindimensionale Bewegung auffasErde
sen. Ein Winkel hat zwar keine Richtung und keine Länge, legt
aber zusammen mit L den anschaulicheren Weg s = Lφ entlang des Abb. 4.11: Die Situation und ihr
Kreisbogens fest19. Die Bewegungsrichtung ist also die Richtung Koordinatensystem
von s. Wir drehen das Koordinatensystem im Uhrzeigersinn um 90°, so dass die gezeichnete
Position im 1. Quadranten liegt und φ positive und negative Werte annimmt.
x
y
2. Schritt: Systemgrenze ziehen: Die Situation besteht aus vier Komponenten: Dem Kind der
Masse m, dem Seil inklusive seiner Aufhängung, der Erde und dem Gravitationsfeld der Erde. Wir
fragen nur nach der Bewegung des Kindes. Wir schließen deshalb nur seine Masse in unser System
Seil
ein und zeichnen symbolisch die Systemgrenze um das als Massepunkt modellierte Kind herum.
3. Schritt: Träge Masse bestimmen: Das System enthält nur das
Kind, also ist die träge Masse des Systems nur seine Masse m.
φ
FS
4. Schritt: Äußere Kräfte identifizieren. Auf die Masse des
F
Kindes wirkt die Gewichtskraft Fg und die Seilkraft FS. Beides
s ||
mφ
sind äußere Kräfte, denn ihre Ursachen - das Gravitationsfeld der
Erde und das Seil - sind nicht Bestandteil des Systems. Deshalb
Fg F┴
zeichnen wir ihre Pfeile durch die Systemgrenze hindurch. Beide Tangente
Kräfte liegen jetzt aber erstmalig nicht parallel zur momentanen
Bewegungsrichtung entlang s. Wie geht man in so einem Fall vor? Abb. 4.12: Zerlegung der KräfErde
In so einem Fall müssen wir für beide Kräfte ihre Komponente in te in die Komponenten F┴, F||.
Richtung s bestimmen. Dazu legen wir die Tangente an s und bestimmen die senkrechte Projektion
x
19
Die Länge eines Kreisbogens mit dem Radius r, der den Winkel φ einschließt, ist s = r φ.
Seite 63
der Kräfte darauf (siehe 3.1). Die Seilkraft steht senkrecht auf der Tangente, daher hat sie keine
Komponente entlang s. Die Gewichtskraft ist dagegen um den Winkel φ gegen die Senkrechte
geneigt und hat daher eine Komponente F ∥=−F g sin (ϕ ) parallel zur Tangente, die s entgegen gerichtet ist (blau). Nur F|| beschleunigt das Kind. Die senkrechte Komponente F ⊥ =F g cos(ϕ) (grau)
kompensiert dagegen die Seilkraft F ⊥ =−F S . Wir schreiben also F A =F || =−m g sin ϕ .
5. Schritt: Vereinigung zur Bewegungsgleichung: Zusammenführen beider Seiten mit x = s = Lφ,
also φ = s / L ergibt: −m⋅g sin(s / L)=m s̈ ⇒ m s̈+m g sin (s / L)=0 ⇒ s̈+g sin ( s / L)=0 (4.43).
Diese Bewegungsgleichung hat es wirklich in sich und ist sehr aufwendig zu lösen. Das überlassen
wir der theoretischen Physik. Wir vereinfachen stattdessen die Gleichung, indem wir ihre Gültigkeit
auf kleine Winkel einschränken, für die wir dann sin (s / L) ≈ s / L einsetzen können. Das ergibt die
g
Bewegungsgleichung der harmonischen Schwingung: s̈+ s=0 (4.44).
L
Sie beinhaltet die mathematische Frage: Leite mich zweimal nach der Zeit ab, dann bin ich eine
Konstante (hier g / L) mal mir selbst. Wer bin ich? Merken Sie sich die Form dieser Gleichung gut!
Schwingungen tauchen überall in der Physik auf.
6. Schritt: Allgemeine Lösung finden: Wir benötigen zuerst eine allgemeine Lösungsfunktion, um
aus dieser spezielle Lösungsfunktionen bilden zu können. Wie gewohnt schauen wir immer zuerst
auf die mathematische Form der Differenzialgleichung und fragen uns, ob wir für diese Form eine
allgemeine Lösungsfunktion schon kennen.
In diesem Fall ist die allgemeine Form ẍ +konst.⋅x=0 (4.45). Ihre allgemeine Lösung kennen wir
tatsächlich schon, nur war es uns bisher nicht bewusst. Denn die äußere Kraft ist F = − konst. ∙ x. Es
liegt also eine harmonische Schwingung vor und die allgemeine Lösungsfunktion ist durch (4.8)
gegeben: x (t)=Asin (ω t +ϕ 0 ) . Das kann man nicht nur in x (t)=A1 cos(ω t )+A2 sin (ω t) , sondern
auch in eine Exponentialfunktion x (t)=C e λt (4.46) mit den komplexen Konstanten C und λ umschreiben. Die komplexe Form werden wir in Kap.8 wieder aufgreifen. Alle Bewegungsgleichungen, in denen nur linear zurücktreibende Kräfte und konstante Massen auftauchen, haben diese
Form und diese Lösungsfunktionen, egal, welcher Natur die Systeme oder Kräfte sind.
Wir überprüfen, ob x(t) wirklich (4.45) erfüllt. Dazu leiten wir wieder zweimal ab:
ẋ=
d
d
[ A sin(ω t +ϕ 0 )]= Aω cos(ωt +ϕ 0 )=v (t ) , ẍ= v̇= [ A ω cos(ω t +ϕ 0 )]=−A ω2 sin (ω t +ϕ 0 )=a (t )
dt
dt
und setzen in (4.45) ein:
−Aω 2 sin (ω t +ϕ 0)+konst.⋅A sin(ω t +ϕ 0 )=0 ⇒ ω2 sin (ω t +ϕ 0 )=konst.⋅sin (ω t+ϕ 0) .
Wir sehen durch Koeffizientenvergleich sofort, dass die Funktion x(t) genau dann eine Lösung ist,
wenn die Konstante ω2 entspricht, die Kreisfrequenz also ω= √ konst. ist. Die mathematische Form
von (4.45) ist also präziser ẍ +ω2 x=0 (4.47) und man kann somit ω unmittelbar aus diesen Bewegungsgleichungen ablesen, so wie wir auch a aus Gleichungen der Form (4.41) ablesen können.
7. Schritt: Passende Lösung finden: Jetzt benötigen wir noch die passende Lösungsfunktion für
die gestellte Aufgabe, die wir aus der allgemeinen Lösung erzeugen. Das machen wir wieder, indem
wir die Konstanten der allgemeinen Lösung und die Koordinate passend zur gegebenen Situation
ersetzen. In x(t) sind die Konstanten die maximale Auslenkung A, die wir Amplitude nennen, die
Phasenverschiebung φ0 und die Kreisfrequenz ω. Explizite Werte dafür bekommen wir aus der
Aufgabenstellung und der gefundenen Bewegungsgleichung: Die Kreisfrequenz ω lesen wir wie
gerade gelernt aus unserer Bewegungsgleichung (4.43) ab und erhalten ω= √ g / L . Unser Weg ist s
statt x, also ersetzen wir x(t) durch s(t) und A durch s0. Mehr Angaben haben wir nicht. Nehmen wir
Seite 64
deshalb an, das Kind werde vom Papa bei t = 0 am Ort maximaler Auslenkung s0 losgelassen, dann
ist s(t = 0 s) = s0. Da cos (0) = 1 und sin (0) = 0 ist, passt zu dieser Anfangsbedingung nur die
Kosinus-Lösung mit φ0 = 0. Unsere passende Lösung für unser konkretes System wäre dann
s( t)=s 0 cos ( √ g / L⋅t) . Bei Bedarf erhalten wir daraus auch v(t) und a(t) durch Ableiten.
4.8.6.4 Ein Fallschirmsprung
Ein Fallschirmspringer der Masse m springt aus der Höhe h mit einem masselosen halbkugeligen
Fallschirm der Querschnittsfläche A ab. Mit welcher Geschwindigkeit kommt er am Boden auf?
Wind werde vernachlässigt, die Seile seien masselos.
1. Schritt: Koordinaten wählen: Der Fallschirmspringer fällt senkrecht nach unten, wir können
also die y- oder z-Koordinate wählen. Wir nehmen willkürlich z.
2. Schritt: Systemgrenze ziehen: Die Situation besteht aus sechs Komponenten: dem Springer, dem Fallschirm, den Verbindungsseilen, der Luft, der
Erde mit ihrem Gravitationsfeld. Bewegt werden Springer, Seile und Fallschirm. Üblicherweise würden wir diese drei Komponenten in unser System
einschließen. Ausnahmsweise schließen wir jedoch nur den Springer in
unser System ein, um zu lernen, was bei Zug- und Seilkräften zu beachten
ist. Wir zeichnen wieder symbolisch die Systemgrenze ein.
3. Schritt: Träge Masse bestimmen: Das System enthält nur den Springer
der Masse m. Die träge Masse des Systems ist also m.
z
Luft
h
FL
m
-FS
FS
Fg
4. Schritt: Äußere Kräfte identifizieren. Den Springer fassen wir als
Gravitations
Massepunkt auf, weil sein Luftwiderstand vernachlässigbar ist. Auf den
-feld
Springer wirkt nach unten die Gewichtskraft Fg = − mg und nach oben die
Zugkraft des Seils FS. Nach Actio = Reactio zieht der Springer am Fallschirm mit der entgegengesetzt gleichen Kraft wie der Fallschirm an ihm.
Erde
Abb.
4.13:
Situation,
Auf den masselosen Fallschirm wirkt daher nach unten die Zugkraft des
2
Seils − FS und nach oben die Luftwiderstandskraft FL = 1/2cWρv A. Diese Koordinaten, SystemKräfte bewirken seine Beschleunigung − FS + FL= mSchirm a. Weil der Schirm grenze und äußere
als masselos betrachtet wird, ist mSchirm a = 0 und deshalb FS = FL. Fg und FS Kräfte
sind äußere Kräfte, denn ihre Ursachen – Gravitationsfeld und Seil (mit Schirm und Luft) – sind
nicht Bestandteil des Systems. Deshalb zeichnen wir ihre Pfeile durch die Systemgrenze hindurch.
Die äußere Kraft ist die Summe beider Kräfte, also FA = ½ cW ρL v2A − mg.
Wäre der Schirm nicht masselos, müssten wir seine Beschleunigung a kennen, um die Seilkraft
angeben zu können. Wenn sie nicht bekannt ist, muss man den Schirm – genau wie im vorherigen
Beispiel den Klotz – in das System mit einbeziehen: Die Seilkräfte sind dann innere Kräfte und man
kann a bestimmen und damit im Anschluss die Seilkraft berechnen.
5. Schritt: Vereinigung zur Bewegungsgleichung: Mit v= ż ergibt das Zusammenführen beider
Seiten die Bewegungsgleichung des freien Falls mit Luftwiderstand:
1
1c ρ A
cW ρL ( ż )2 A−m g=m z̈ ⇒ v̇− W L v 2 +g =0
2
2 m
(4.48).
Weil die Bewegungsgleichung v enthält, schreiben wir sie für v auf. Diese Bewegungsgleichung ist
nicht linear in v und beinhaltet die Frage: Leite mich einmal nach der Zeit ab, dann bin ich die
Konstante 1 mal meinem Quadrat plus die Konstante 2. Wer bin ich?
6. Schritt: Allgemeine Lösung finden: Wir schauen zuerst auf die mathematische Form: Sie ist
Seite 65
2
ẋ−c1 x +c 2=0 mit den Konstanten c1 und c2. Ihre allgemeine Lösung kennen wir bisher nicht. Sie
zu finden ist sehr aufwendig und man benötigt dazu vorher eine spezielle Lösung. Mit der
c
mg
speziellen Lösung v ∞ =− 2 =−
und der Anfangsgeschwindigkeit v0 = 0 erhält man
c1
1/2 c W ρL A
√ √
( ( ))
2
g
v
g
t . Beißt sich da die
t und z (t )=z 0− ∞ ln cosh
g
v∞
v∞
Katze nicht in den Schwanz? Wie kann man eine spezielle Lösung finden, bevor man eine
allgemeine Lösung hat? Das geht, und zwar durch Grenzfallbetrachtungen.
folgende Lösung: v (t )=−v ∞ tanh
( )
7. Schritt: Passende Lösung finden: Um eine spezielle Lösungsfunktion zu finden, wenn man keine
allgemeine Lösung kennt, kann man die Bewegung am
Anfang und am Ende betrachten. Also für die Grenzfälle, dass jeweils eine oder beide Kräfte keine Rolle
spielen. Am Anfang, bei t = 0, ist v = 0 und damit auch
die Luftreibung null. Zu Beginn wird die Bewegung
deshalb wie ein freier Fall verlaufen. Dabei wächst v
und damit auch FL, bis sich Gewichtskraft und
Luftwiderstand kompensieren. Dann wird der Springer
nicht weiter beschleunigt und v bleibt konstant v∞.
Daraus gewinnen wir die spezielle Lösung:
1
cW ρL v 2∞ A−m g =0 ⇒ v ∞ =±
2
stationärer Fall
freier Fall
√
mg
=konst. . Abb. 4.14: Eine Grenzfallbetrachtung lie1/ 2 c W ρ L A
fert spezielle Lösungen für t = 0 und t = ∞ .
Weil der Springer nach unten fällt, macht hier nur das negative Vorzeichen Sinn. Damit haben wir
die Endgeschwindigkeit des Springers. Das ist der sogenannte stationäre Fall, weil sich die
Geschwindigkeit nicht mehr ändert. Nur wenn man wirklich an der Bewegung in stark gekrümmten
Bereichen der Bahn interessiert ist, muss man sich mit den allgemeinen Lösungen abmühen.
4.9 Zusammenfassung
Nach dem selben Muster können wir für viele Systeme Bewegungsgleichungen aufstellen. Manche
können wir analytisch lösen, manche durch Näherungen oder Grenzfallbetrachtungen, andere nur
numerisch. Einige wichtige Bewegungsgleichungen haben wir jetzt gelöst. Die vorgestellten Bewegungsgleichungen allein werden ausreichen, um alle relevanten Bewegungen in Ihrer Physikausbildung beschreiben zu können.
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
4.46) Ein Asteroid der Masse m rast frontal auf die Erde zu. Wie lautet seine Bewegungsgleichung
im Gravitationsfeld der Erde? Recherchieren Sie, ob es eine allgemeine Lösung dieser Bewegungsgleichung gibt. Wenn ja, geben Sie sie an.
4.47) Ein Elefant (mE) ist viel schwerer als ein Felsbrocken (mF) und dieser ist viel schwerer als ein
Kieselstein (mK). Das heißt, die Schwerkraft auf den Elefanten ist viel größer als die auf den Felsbrocken, und die auf den Felsbrocken ist viel größer als die auf den Kieselstein. Doch wenn man
Elefant, Felsbrocken und Kieselstein gleichzeitig fallen lässt, fallen sie gemeinsam und werden
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gleich beschleunigt (Luftwiderstand vernachlässigt).
a) Worin liegt der Hauptgrund dafür, das alle gleich beschleunigen? Ist es die Energie, die
Gewichtskraft, die träge Masse, die Oberfläche oder nichts davon? Erläutern Sie!
b) Geben Sie für alle drei Objekte ihre Bewegungsgleichung für den freien Fall an!
c) Wie sähe die Bewegungsgleichung des Kieselsteins aus, wenn Sie noch eine Luftreibungskraft
vom Betrag FR = Bv berücksichtigen würden? Recherchieren Sie, ob es eine allgemeine Lösung
dieser Bewegungsgleichung gibt. Wenn ja, geben Sie sie an.
4.48) Sie fahren in Schussfahrt mit Ihren Skiern eine steile Skipiste hinab. Die
Piste hat einen Neigungswinkel α zur Horizontalen, der Reibungskoeffizient
zwischen Ski und Schnee sei µ, Ihre Masse sei m. Wie lautet die Bewegungsgleichung Ihrer Abwärtsbewegung? Welche allgemeine Lösung hat sie? Welche
spezielle Lösung hat sie, wenn Sie aus der Ruhe starten? Der Luftwiderstand ist
zu vernachlässigen.
4.49) Sie kennen die Situation bereits aus Aufg. 4.43. Die Bauarbeiter
haben zwei Eimer mit einem Seil verbunden und über eine Rolle oben am
Gerüst gehängt. Der obere Eimer 2 kann durch eine Klappe gehalten
werden. Die Masse von Rolle und Seil ist zu vernachlässigen.
a) Die Klappe unter Eimer 2 werde nach unten geöffnet. Eimer 2 sei
schwerer als Eimer 1. Stellen Sie die Bewegungsgleichung der Eimer für
die anschließende Bewegung auf. Wie lautet ihre allgemeine Lösung?
Welche Modellbewegung liegt hier vor?
2
1
b) Wie lautet die spezielle Lösung der Bewegungsgleichung aus a), wenn Eimer 1 5 kg und Eimer 2
10 kg wiegt? Mit welcher Beschleunigung setzen sich die Eimer in Bewegung? Wie lange dauert
es, bis Eimer 2 aus einer Höhe von 5 m den Boden erreicht?
4.50) Betrachten Sie das rechts dargestellte Federtier aus physikalischer
Sicht: Die Federkonstante ist k, die Masse des Tierchens ist m. Die Ruhelage
des Schwerpunkts befindet sich bei x = 0. Es wird nach unten ausgelenkt und
zum Zeitpunkt t0 = 0 dort losgelassen.
a) Stellen Sie die Bewegungsgleichung des Tierchens für diesen Fall auf.
Jegliche Reibung und Luftwiderstand sind vernachlässigbar.
b) Überprüfen Sie durch Einsetzen in die Bewegungsgleichung, welche der
angegebenen Funktionen eine Lösung der Bewegungsgleichung ist:
k
1 2
k
k
1. x (t)=A⋅cos (
t+ϕ 0) , 2. x (t)=A−ϕ 0 t + g t , 3. x (t)=A⋅sin ( t+ϕ 0)−mg .
m 2
m
m
√
c) Wie lautet die Lösung für m = 10 g, k = 0,02 N/m, x(t = 0 s) = 3 cm und v(t = 0 s) = 0 m/s? Stellen
Sie x(t) und v(t) für die ersten 5 Sekunden nach dem Loslassen grafisch dar. Was für eine Bewegung
ist das? Welche Größen bestimmen die Bewegung eindeutig? Welche dieser Größen lassen sich
unmittelbar aus der Bewegungsgleichung ablesen?
4.51) Ein Zug fährt mit der Geschwindigkeit v0 auf einen
Bahnhof zu. Zum Zeitpunkt t0 = 0 wird der Antrieb abgeschaltet
und gleichzeitig der Bremsvorgang gestartet. Nehmen Sie an,
die Bremsen üben eine Bremskraft F = − k ∙ v2 auf den Zug aus.
Darin ist k eine Konstante und v = v(t) die aktuelle Geschwindigkeit des Zuges. Alle anderen Kräfte
Seite 67
können vernachlässigt werden.
a) Wie lautet die Bewegungsgleichung des Zuges während der Bremsung?
b) Integrieren Sie die Bewegungsgleichung (Tipp: Trennung der Variablen) und bestimmen Sie v(t).
c) Bestimmen Sie x(t) aus v(t).
d) Welchen Weg legt der Zug zurück, bis seine Geschwindigkeit auf v0/2 gefallen ist?
e) Wie lange dauert der Bremsvorgang, d.h. nach welcher Zeit t steht der Zug still? (Vorsicht Falle!)
Wäre eine solche Bremskraft für Züge geeignet?
Seite 68
4.10 Das Pferd neu gesattelt: Drehungen und der Drehimpulssatz
4.10.1
Was ist anders bei Verdrehungen?
Was ist die Besonderheit bei Verdrehungen im Vergleich zu den bisher betrachteten Bewegungen?
Was ist daran schwieriger als z. B. an der linearen Bewegung oder der Fall- und Wurfbewegung?
Drei Eigenschaften: Der Angriffspunkt der Kraft wird wichtig. Wir müssen deshalb vom Modell
„Massepunkt“ zu einem Modell mit Ausdehnung, dem Modell „starrer Körper“ übergehen. Und alle
Massepunkte des „starren Körpers“ laufen auf Kreisbahnen um die Drehachse. Wir wollen uns
zuerst auf die Bahnen konzentrieren und greifen uns deshalb von solch einem ausgedehnten starren
Körper bei Bedarf nur einen Massepunkt heraus. Wir betrachten die massive Scheibe in Abb. 4.15,
die um ihre senkrechte Mittelachse drehen kann. Wir wollen die Scheibe als Ganzes in Drehung
versetzen und suchen eine Möglichkeit, ihre Drehbewegung mit unserem Bewegungsgesetz zu
beschreiben. Wir wollen aber noch mehr, denn in der Physik suchen wir übergreifende Konzepte
und Analogien.
Wir verlangen, dass sich die Drehbewegung vollkommen analog zur Translation beschreiben lässt,
d. h. das Bewegungsgesetz und damit alle Bewegungsgleichungen und ihre Lösungen behalten ihre
mathematische Form.
Ist das möglich? Dazu müssen wir physikalische Größen
Drehachse
finden, die sich bei einer Rotation genauso verhalten, wie
⃗ und Impuls ⃗p bei der Translation. Wir nennen sie in
Kraft F
⃗ und Drehimpuls ⃗
weiser Voraussicht Drehmoment N
L und
FS
⃗ =d ⃗L /dt völlig analog zu F
⃗ =d ⃗p /dt . Verlanverlangen N
FT
gen können wir viel, aber lassen sich solche physikalischen
r
F
Größen auch finden? Diese neuen Größen müssen sich durch
FR
γ
eine identische Rechenvorschrift, die wir durch „→“ symboli⃗ und dem Impuls ⃗p ergeben: F
⃗N
⃗
sieren, aus der Kraft F
und ⃗p  ⃗
L . Unser Bewegungsgesetz soll die Grundlage sein. Abb. 4.15: Nur FT verdreht die
Die Rechenvorschrift „→“ muss auf beide Seiten des Bewe- Scheibe.
gungsgesetzes anwendbar sein. Dann können wir es, wenn auch in umgestalteter Form, weiter verwenden.
Wir beginnen mit der Kraft und überlegen uns, wann eine Kraft eine Drehbewegung statt einer
Translation bewirkt. Dazu betrachten wir unsere Scheibe in Abb. 4.15. Wenn wir sie verdrehen
⃗ S im Schwerpunkt angreifen, sondern sie muss wie F
⃗ in
wollen, darf unsere Kraft nicht wie F
⃗ T tangential zur Bahn haben.
irgendeinem Abstand ⃗r davon angreifen und eine Komponente F
Andernfalls würden wir die Scheibe nur verschieben. Denn, egal wo sie angreift: Wenn wir eine
⃗ R ausüben (also eine Zentralkraft), werden wir sie nicht in
Kraft genau in radialer Richtung F
Drehung versetzen. Diese Bedingung erfassen wir durch die Rechenvorschrift N = rF ∙ sin(γ), mit γ
⃗ im Schwerpunkt
als Winkel zwischen r und F. Durch das Produkt mit r wird N null, wenn F
⃗
angreift, denn dort ist ⃗r =0 . Und durch den Faktor sin(γ) wird N null, wenn F parallel zu ⃗r liegt.
⃗ =⃗r × ⃗
Diese Rechenvorschrift entspricht genau dem Betrag des Vektorproduktes N
F . Wir setzen
⃗ =⃗r × d ⃗p . Von
also an „→“ = „ ⃗r × “. Das macht aus dem Bewegungsgesetz die neue Form: ⃗r × F
dt
der linken Seite – dem Drehmoment als Ursache einer Drehung – haben wir jetzt eine ungefähre
Vorstellung.
Seite 69
Wenden wir uns jetzt also der anderen Seite zu. Sie beinhaltet, noch nicht erkennbar, den Dreh⃗ als Produkt ⃗
impuls ⃗
L . Es liegt Nahe, ihn analog zu N
L =⃗r × ⃗p anzusetzen. Mathematisch klappt
das, denn mit der Produktregel für das Kreuzprodukt erhalten wir
d ⃗L ˙
d ⃗p
.
=⃗r ×⃗p +⃗r × ⃗p˙ = ⃗v ×⃗p +⃗
r × ⃗p˙ =⃗r ×
dt
dt
= 0, denn ⃗
v || ⃗p
Tatsächlich ist das genau die Definition des Drehimpulses und ergibt genau die gesuchte Form des
Bewegungsgesetzes für Drehbewegungen. Wir fassen zusammen:
Drehimpulssatz (Bewegungsgesetz für Drehungen und Rotation)
⃗ = d ⃗p in einer neuen
Bei Drehbewegungen verwenden wir unser bekanntes Bewegungsgesetz F
dt
d
p
⃗
⃗ =⃗r ×
⃗ ≡⃗r × ⃗
Form ⃗r × F
. Wir nennen N
F Drehmoment und ⃗
L ≡⃗r × ⃗p Drehimpuls.
dt
⃗ durch ihr Drehmoment N
⃗ und den Impuls ⃗p durch seinen Drehimpuls ⃗
Wir ersetzen die Kraft F
L.
⃗
⃗ = d L (4.49). (Drehimpulssatz)
Unser Drehbewegungsgesetz erhält damit die analoge Gestalt N
dt
Wir haben uns das Ganze anhand der Kräfte überlegt. Tatsächlich kann man die neue Erhaltungsgröße Drehimpuls ebenso wie (4.49) aus fundamentalen Symmetrien ableiten. Wie das geht,
erfahren Sie in der theoretischen Mechanik. Bevor wir uns anschauen, wie wir mit geeigneten
Ersetzungen alles bisher Gelernte analog auf die Rotation übertragen können, wollen wir eine Idee
von unseren neuen Größen Drehmoment und Drehimpuls bekommen und vor allem erkennen, wie
genial sie gewählt sind.
Die ganze Physik der Drehbewegungen basiert darauf, dass nur Drehmomente einen Drehimpuls
ändern können. Genau das ist die in Sprache übersetze Aussage von (4.49). Ist das wirklich so? Wir
schnappen uns eine Masse auf einer Kreisbahn und überprüfen das:
Was bleibt bei einer gleichförmigen Kreisbewegung
y
konstant? Der Betrag von ⃗r und der Betrag des
m
p
Impulses ⃗p , also auch ⃗
L =⃗r × ⃗p wie gefordert. WoFR
durch können wir ⃗r und/oder ⃗p ändern? Ganz
⃗ T =d ⃗p / dt tangential zur
sicher durch eine Kraft F
r
Bahn, also ein Drehmoment. Das ist erlaubt. Aber
x
wie ist es mit der Radialkraft? Sie ist immer parallel
zu ⃗r , also eine Zentralkraft und bewirkt deshalb nie
FR r
ein Drehmoment. Solange wir ihren Betrag konstant
→
halten, steht sie auch immer senkrecht auf ⃗p und
FRT
auf der Bahn. Sie kann ⃗p nicht verlängern, sondern
p
nur umlenken. Sie hält die Masse auf der Kreisbahn
und bestimmt ihren festen Radius r. Wie gefordert
Abb. 4.16: Wenn eine Zentralkraft nicht senkverändert sie ⃗
L nicht. Das passt also.
recht auf der Bahn steht, wird die Masse so
⃗ R verändern, also beschleunigt, dass L konstant bleibt.
Doch was passiert, wenn wir F
z. B. unsere Masse nach innen ziehen? Dann wird sich der Radius der Bahn verändern. Ändert sich
dadurch nicht auch ⃗
L , obwohl kein Drehmoment wirkt? Nein! Denn während sich der Radius
⃗ R nicht mehr senkrecht auf ihr.
verändert, ist die Bahn keine Kreisbahn mehr und dadurch steht F
⃗ R hat dann eine Tangentialkomponente F
⃗ RT und verändert ⃗p . Und jetzt kommt der Gag: SolanF
Seite 70
⃗ R eine Zentralkraft ist, verändern sich ⃗r und ⃗p genau gegenläufig, so dass ⃗
ge F
L immer konstant bleibt. Verkleinern wir den Radius durch eine Zentralkraft, wird die Masse zwar schneller, aber
ihr Drehimpuls bleibt konstant. Muss er auch: Denn eine Zentralkraft bewirkt nie ein Drehmoment,
weil sie immer parallel zu ⃗r ist. Es ist völlig egal, ob sie senkrecht auf der Bahn steht oder nicht.
Beispiel: Welche Kraft FR muss aufgewendet werden, um eine Masse von m = 1 kg auf einer
Kreisbahn mit dem Radius r = 1 m mit der Bahngeschwindigkeit v = 1 m/s zu halten? Welchen
Betrag hat dabei ihr Drehimpuls L? Auf welchen Wert r' schrumpft der Bahnradius, wenn die
Radialkraft auf die Masse verdoppelt wird: F'R = 2FR?
Auf einer Kreisbahn ist die Stärke der Kraft immer durch die Radialkraft gegeben:
v 2 1 kg⋅(1 m/s)2
F R =m =
=1 N . Die Kraft ist also FR = 1 N.
r
1m
Auf der Kreisbahn steht ⃗p stets senkrecht auf ⃗r , also ist der Drehimpuls L=r p sin (90 ° )=r p
und hat den Zahlenwert L=1 m⋅1 kg⋅1 m/s=1 kg⋅m²/s .
Es wirkt kein Drehmoment, also bleibt L = L' erhalten. Wir drücken FR durch L aus, indem wir mit
2
v2
L2
L2
L2 1/3
2 2 v
3
2
F
=m
=m
r
=
r
=
⇒
r
=(
) .
mr erweitern: R
. Daraus ergibt sich:
r
mFR
mFR
mr 3 mr 3
(
2
1 /3
(1 kg⋅m²/s)2
L
) =
Mit F'R = 2FR erhalten wir r '=(
m2 FR
1 kg×2 kg⋅m /s2
1/3
)
1/3
1
=( ) m=0,8 m .
2
Der Radius schrumpft auf r' = 0,8 m.
Experiment zum Pirouetten-Effekt Wir sitzen mit zwei Hanteln und angezogenen Armen auf einem Drehstuhl und lassen
uns durch einen Helfer in Drehung versetzen. Wenn wir die
Arme mit den Hanteln ausstrecken, drehen wir langsamer. Wenn
wir sie wieder anziehen, drehen wir wieder in etwa so schnell
wie vorher. Das zeigt: Durch das Heranziehen der Arme (eine
Radialkraft!) werden wir beschleunigt. Es wirkt dabei kein
Drehmoment, also müsste unser Drehimpuls gleich geblieben
sein. (Das beweist dieses Experiment aber nicht, denn dazu müssten wir L messen können).
Sehen Sie, wie genial diese Größen gewählt sind? Das genau macht den Wert und die Bedeutung
des Drehimpulses aus, denn unsere mikroskopische und makroskopische Welt wird durch Zentralkräfte bestimmt: die Gravitationskraft und die Coulomb-Kraft. In der Himmelsmechanik und in der
Atomphysik sind Drehimpuls und Energie die entscheidenden Bilanzgrößen.
Hätten wir das Problem nicht einfach via „Divide et impera“ in zwei Teilprobleme zerlegen können:
eines mit Tangentialkraft, das andere mit Radialkraft? Die Antwort ist ja, denn tatsächlich haben wir
nichts anderes durch unser neues Bewegungsgesetz gemacht: Es beinhaltet nur die Änderung der
Drehbewegung durch die tangentiale Komponente nicht zentraler Kräfte. Alles Übrige haben wir als
wirkungslosen Ballast abgeworfen, denn es erzeugt entweder die Krümmung der Bahn oder eine
Translation.
4.10.2
Der Drehimpuls
Der Drehimpuls ⃗
L =⃗r × ⃗p ist die zweite zentrale Größe der Mechanik. Er ist eine der primären
physikalischen Größen und neben der Energie und dem Impuls eine der wichtigsten physikalischen
Größen überhaupt. Als extensive Erhaltungsgröße kann man für ihn Bilanzgleichungen aufstellen.
Seite 71
Ebenso wie Energie, Impuls und elektrische Ladung bleibt er bei allen physikalischen Prozessen
erhalten. Das Bilanzieren des Drehimpulses ist daher universell auf alle möglichen physikalischen
Fragestellungen anwendbar und deshalb eine der fundamentalen Methoden der Physik. In einem
abgeschlossenen System können wir Drehimpuls nicht erzeugen oder vernichten, also seine Gesamtmenge nicht verändern. Da der Drehimpuls ein Vektor ist, bedeutet seine Erhaltung, dass sich
sowohl sein Betrag als auch seine Richtung nicht ändert, solange kein Drehmoment wirkt. Er verdreht sich also nicht, sondern bleibt fest im Raum stehen (raumfest). Und wenn ein Drehmoment
wirkt, kann es den Drehimpuls senkrecht zur Kraft kippen. Das erzeugt das skurrile Verhalten rotierender Körper.
Beispiel: Wenn Sie eine Frisbeescheibe werfen, ist es ihr raumfester Drehimpuls, der dafür sorgt,
dass sie so stabil fliegt. Bei einem Spielkreisel ist es sein raumfester Drehimpuls, der bewirkt, dass
er nicht umfällt.
Der Drehimpuls ist das Vektorprodukt aus einem Ortsvektor und dem Impuls eines Körpers. Er ist
daher ein Vektor, der immer senkrecht auf der Bewegungsebene steht (siehe Kap. 4.10.4). Durch
den Ortsvektor ⃗r wird der Wert des Drehimpulses abhängig von dem Bezugspunkt, von dem aus ⃗r
startet. Meistens legen wir diesen Bezugspunkt in die Drehachse, in den Mittelpunkt der Kreisbahn
oder den Schwerpunkt des Körpers. Prinzipiell ist seine Wahl aber frei. Jeder Körper auf jeder
beliebigen Bahn trägt Drehimpuls. Ob ⃗
L aber auf der Bahn erhalten bleibt, hängt von den äußeren
Kräften ab. Wenn die Bewegung gleichförmig ist oder die Bahnkurve durch eine Zentralkraft bewirkt wird, bleibt der Drehimpuls erhalten, ansonsten wirken Drehmomente, die ihn verändern.
Wenn wir einen Stein etwas seitlich gegen eine Dose werfen, wird sie sich bewegen und etwas
verdrehen. Der Stein überträgt dann Impuls und Drehimpuls. Das bedeutet, der Stein bringt nicht
nur Impuls sondern auch Drehimpuls mit, den er auf die Dose überträgt. Dabei bleibt die Summe
der Drehimpulse von Stein und Dose während des ganzen Vorgangs unverändert: Vor der Kollision
ist der gesamte Drehimpuls im Stein, nachher ist er restlos auf Stein und Dose verteilt. Die enthaltene Gesamtmenge ist allerdings vom Bezugspunkt abhängig. Man kann Drehimpuls nur von
irgendwo wegnehmen und woanders hin tun, z. B. diesen Drehimpuls einem anderen Körper geben.
⃗
L beschreibt die „Rotationsbewegungsmenge“ und ist mehr als nur „ein Ableger des Impulses“ 20.
Der Drehimpuls beinhaltet, wie schnell sich wie viel Masse um eine senkrechte Achse durch den
Bezugspunkt dreht. Eine schnell auf einem kleinen Kreis laufende Masse kann den gleichen Drehimpuls haben wie eine langsam auf einem großen Kreis laufende Masse. Ein schnell rotierender
leichter Körper kann den gleichen Drehimpuls haben wie ein langsam rotierender schwerer Körper.
Ein Drehimpuls kann sich sowohl durch eine Masse- oder Impulsänderung als auch durch eine
Masseumverteilung ändern. Anschaulich entspricht der Drehimpuls in etwa dem, was viele umgangssprachlich als „Drall“ bezeichnen würden. Tatsächlich haben wir im Alltag wenig Beispiele, in
denen sich der Drehimpuls eindrucksvoll äußert. Nur, wenn Sie als Kind mit einem Kreisel gespielt
haben, wissen Sie, welche ungewöhnlichen Erfahrungen Sie mit dem Drehimpuls machen können:
Bei einem rotierenden Körper bleibt seine Orientierung „wie durch Zauberhand“ stabil. Wenn man
versucht, den Körper zu kippen, reagiert er anders als erwartet: Er weicht der Kraft immer seitlich
aus! Im Alltag werden schnell drehende Objekt meist durch Lager gehalten, so dass wir mit diesem
faszinierenden Phänomen sehr selten in Berührung kommen.
m2
. Obwohl der Drehimpuls so bedeutend ist, hat auch
s
seine Einheit keinen eigenen Namen. Jetzt haben wir eine grobe Idee vom Drehimpuls bekommen.
Die Einheit des Drehimpulses ist [ L]=kg⋅
20
Auch masselose Teilchen wie das Photon und Teilchen ohne messbare Ausdehnung wie das Elektron können
inneren Drehimpuls tragen.
Seite 72
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
4.52) Ein Formel1-Rennwagen der Masse m = 500 kg rast auf
gerader Strecke mit konstantem Tempo v = 300 km/h auf die
Dunlop-Kehre des Nürburgrings zu (Kurvenradius 30,0 m).
Die Kurveneinfahrt liegt bei P.
v
P R
a) Nehmen Sie an, der Fahrer würde nicht bremsen. Welchen
Drehimpuls hat er dann bezogen auf den Kurvenmittelpunkt
i) 300 m vor dem Punkt P? ii) im Punkt P?
b) Wie groß müsste der Haftreibungskoeffizient µ sein, damit
der Fahrer die Kurve ungebremst durchfahren kann? Welche Beschleunigung in Vielfachen von g
würde dann auf ihn wirken?
c) Ein speziell trainierter Mensch hält kurzzeitig bis zu 9 g aus. Für untrainierte Menschen wäre
diese Beschleunigung tödlich. Ein Rennfahrer mutet sich kurzzeitig etwa 5 g zu. Mit welcher
maximalen Geschwindigkeit wird er die Kurve durchfahren?
(Die höchste jemals auf einer Rennstrecke ermittelte Geschwindigkeit von einem Formel1 Wagen
betrug 372,6 km/h. Das kolumbianische Vollgastier Juan-Pablo Montoya brachte seinen McLarenMercedes bei Testfahrten in Monza 2005 auf den Rekord-Top-Speed.)
4.53) Nach dem (fehlerhaften!) Bohrschen Atommodell kreist das Elektron (Ladung −e) im Wasserstoffatom auf Kreisbahnen um den Atomkern, der aus einem Proton (Ladung e) besteht. Zu jeder
Bahn gehört nach diesem falschen Modell ein Drehimpuls vom Betrag L = nħ mit der ganzzahligen
Quantenzahl n = 1, 2, 3, … . Die innerste Bahn (n = 1) hat den sogenannten bohrschen Radius
a0 = 0,529 × 10-10 m. Die Coulomb-Kraft wirkt als Radialkraft. (Elementarladung e = 1,60 × 10-19 C,
Masse des Elektrons me = 9,11 × 10-31 kg, Plancksches Wirkungsquantum ħ = 1,05 × 10-34 Js).
a) Welche Bahngeschwindigkeit v hat das Elektron auf Bahn 1?
b) Welchen Radius hat Bahn 2?
c) Mit welche Kreisfrequenz kreist das Elektron auf Bahn 3?
4.54) Ein Klotz der Masse m kreist auf einem reibungsfreien Tisch.
Er ist an einer Schnur befestigt, die durch ein Loch in der Mitte des
Tisches verläuft und von einem Studenten unter dem Tisch gehalten
wird. Anfangs kreist der Klotz mit der Geschwindigkeit v0 auf einer
Kreisbahn mit dem Radius r0. Stellen Sie die Ausdrücke auf für
m
R0
Zug
a) den Drehimpuls des Klotzes,
b) die kinetische Energie des Klotzes,
c) die Zugkraft in der Schnur.
d) Ein Student unter dem Tisch zieht nun die Schnur langsam nach unten, bis der Radius der
Kreisbahn auf r0/2 verkleinert ist. Um welchen Wert ändert sich dadurch die kinetische Energie des
Klotzes?
Seite 73
4.10.3
Das Drehmoment und der Schwerpunktsatz
⃗ , die nicht im
Unsere anfängliche Betrachtung hat gezeigt, dass nur eine nicht zentrale Kraft F
⃗ T , die senkrecht auf ⃗r steht, einen DrehDrehpunkt angreift, und davon nur ihre Komponente F
⃗ filtert aus einer beliebigen Kraft genau diese Kompoimpuls ändern kann. Das Drehmoment N
nente heraus, ist aber nicht mit ihr identisch. Es enthält – genau wie der Drehimpuls – auch noch
den Abstandsvektor vom Drehpunkt. Deshalb bezeichnen wir es umgangssprachlich auch als „Kraft
⃗ zum Bezugspunkt
mal Hebelarm“. Als Hebelarm bezeichnet man den senkrechten Abstand von F
⃗
(| ⃗r | in Abb.4.17). Der Vektor N zeigt auch nicht in die Richtung der Kraft, sondern steht – wie ⃗
L
– senkrecht auf der Bewegungsebene. Seine Richtung finden wir – wie bei jedem Vektorprodukt –
durch die Rechte-Hand-Regel. Die Drehrichtung finden wir ebenfalls mit der rechten Hand durch
die Daumenregel: Wir machen eine Faust mit ausgestrecktem Daumen, der in Richtung von N zeigt.
Die gekrümmten Finger zeigen die Drehrichtung an.
Bei Drehmomenten dürfen wir Kräfte immer entlang
γ1
γ2
γ3
F γ
ihrer Richtung verschieben, sofern wir ⃗r dabei mitnehmen. Das ergibt sich unmittelbar aus der RechenN r
vorschrift N = rF ∙ sin(γ). Wenn ⃗r ⊥ ⃗
F ist, ist γ = 90°
r1
r2
r3
und N entspricht der blauen Fläche in Abb. 4.17. Für
alle anderen Paare ist ri ∙ sin(γi) = r die vertikale Komponente von ⃗r i . Sie spannen also die gleiche Fläche
auf und liefern das gleiche N. γ ist einer der Winkel Abb. 4.17: Wird eine Kraft parallel zu ihrer
⃗ , der kleiner ist als 180°. Weil Richtung verschoben, ändert sich N nicht.
zwischen ⃗r und F
sin(γ) = sin(π − γ) ist, könnte man statt γ2 oder γ3 genauso gut den spitzen Winkel nehmen. Wenn
Sie das verdaut haben, sind Sie bereit für den nächsten Schritt.
⃗ bei ⃗r 1
Wir betrachten jetzt unser Drehmoment, z. B. mit F
⃗ genau
und addieren eine entgegengesetzt gleiche Kraft −F
im Bezugspunkt. Für sie ist r− = 0, also ist sofort klar, dass
⃗ =⃗r 1× F
⃗ =⃗r × F
⃗ .
⃗ dadurch nicht ändert, es bleibt N
sich N
Eine solche Anordnung aus zwei entgegengesetzt gleichen
Kräften nennen wir Kräftepaar. Sie ist in Abb. 4.18 blau
hervorgehoben. Den Abstandsvektor zwischen ihnen nennen
wir jetzt allgemein ⃗r A . Wir stellen fest:
F
F
r'+ r'A r'
1
−F
r'−
N
r1=rA
r'1−
r
−F
Kräftepaar: Ein Kräftepaar aus zwei entgegengesetzt glei⃗ im Abstand ⃗r A bewirkt ein Dreh- Abb. 4.18: Ein Kräftepaar bewirkt
⃗ und −F
chen Kräften F
⃗ =⃗r A× ⃗
F , und zwar unabhängig vom Bezugs- für beliebige Bezugspunkte das
moment N
Drehmoment N = rA × F.
punkt.
⃗ im Bezugspunkt angreift?
Jetzt müssen Sie “Stop!“ rufen, denn gilt das nicht nur, wenn −F
Tatsächlich gilt das immer: Wir wählen jetzt einen beliebigen Bezugspunkt mit neuen Ortsvektoren
r'1 und r'1−. Auch für den neuen Bezugspunkt dürfen wir die Kräfte parallel verschieben, z. B. nach
⃗ ergibt sich aus der
links an die Orte r'+ und r'−. Dort ist der Abstandsvektor ⃗r ' A=⃗r ' + −⃗r ' − . N
⃗ =⃗r ' + × F
⃗ −⃗r ' −× F
⃗ =(⃗r ' + −⃗r ' −)× F
⃗ =⃗r ' A × F
⃗ =⃗r A × ⃗
F , genau wie behauptet. Wenn Sie
Summe N
das verdaut haben, sind Sie bereit für den nächsten Schritt.
⃗ und F
⃗ durch folgendes Gedankenexperiment gemeinsam anschauen, damit
Wir wollen jetzt N
⃗ greift irgendwo bei P außeruns der Unterschied in ihrer Wirkung noch klarer wird: Eine Kraft F
halb des Schwerpunktes S an einem Körper an. Unser Gedankenexperiment besteht jetzt darin, bei
Seite 74
S „nichts“ hinzuzufügen: Das „Nichts“ sind zwei entgegengeangreifende Kraft F
⃗ ' und −F
⃗ ' , die parallel zu F
⃗ liegen
setzt gleiche Kräfte F
⃗ haben (Abb. 4.19). Wir haben
und den gleichen Betrag wie F
F'
P
⃗ ' , die den Körper beschleu- „nichts“
jetzt am Schwerpunkt eine Kraft F
r
⃗ ,− F
⃗ ' mit dem Abstandsvektor ⃗r SP .
SP
nigt. Und ein Kräftepaar F
S
−
F'
⃗ =⃗r SP× F
⃗ und verdreht den
Es bewirkt das Drehmoment N
Körper. Das rechtfertigt im Nachhinein, wieso wir bei Translationen unsere Kräfte immer am Schwerpunkt angreifen lassen.
Abb. 4.19: Zum Schwerpunktsatz
Wir nennen diese Erkenntnis dem Schwerpunktsatz:
Schwerpunktsatz: Eine an einem beliebigen Punkt P eines starren freien ausgedehnten Körpers
⃗ bewirkt eine Translation des Schwerpunktes S, so als ob F
⃗ an S angreifen
angreifende Kraft F
⃗ =⃗r SP× F
⃗ um den Schwerpunkt S, wobei ⃗r SP von S nach P zeigt.
würde und ein Drehmoment N
⃗ können wir deshalb seine Bewegung
Für jede an einem ausgedehntem Körper angreifende Kraft F
⃗ und in eine
nach „divide et impera“ in eine Translation des Schwerpunktes aufgrund der Kraft F
⃗ zerlegen. Wir erhalten auf
Rotation des Körpers aufgrund des von ihr erzeugten Drehmomentes N
⃗ = ⃗p˙ und eine für die Rotation
diese Weise zwei Bewegungsgleichungen, eine für die Translation F
⃗ = ⃗L˙ . Die Bewegungen können unabhängig voneinander erfolgen (z. B. Rotation beim fliegenden
N
Frisbee) oder gekoppelt sein, wie z. B. beim Rollen eines Rades. Dazu bald mehr, denn jetzt ist es
Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen und die übrigen Größen der Drehbewegung kennenzulernen.
4.10.4
Transfer der Bewegungsgrößen auf Rotationen
Unser Ziel ist nach wie vor, eine völlig analoge Beschreibung der
Drehbewegung zur Verschiebung zu bekommen. Bisher haben wir aber
⃗ durch N
⃗ und ⃗p durch ⃗
L ersetzt. Wie sieht es mit den andern
nur F
Größen, also Masse, Weg, Geschwindigkeit und Beschleunigung aus?
Müssen Sie auch ersetzt werden? Die Antwort ist „Ja“ und das werden
wir jetzt tun.
Drehachse
dφ
dt
r
v
Dazu betrachten wir wieder unsere Scheibe: Wenn die Scheibe dreht,
laufen alle Massestücke auf individuellen Kreisbahnen. Wenn wir das Abb. 4.20: Die WinkelgeRad als Ganzes verdrehen, überstreichen dabei alle Massestücke auf schwindigkeit ist für alle
unserer Linie gleiche Winkel dφ in gleichen Zeiten dt. Dagegen ist ihre Massenpunkte gleich.
Bahngeschwindigkeit v = ωr, die wir schon aus Kap. 4.3 kennen, unterschiedlich. Statt dessen ist
jetzt der Quotient dφ/dt, also φ̇ , für alle Massepunkte gleich. Er beschreibt, wie schnell sich die
Scheibe dreht. Wir nennen diese neue Größe Winkelgeschwindigkeit. Wir halten fest:
Die Winkelgeschwindigkeit ω
⃗ ist ein Vektor. Ihr Betrag ist ω=φ̇ und hat den selben Wert wie
die Kreisfrequenz. Ihre Einheit ist [ω] = rad/s. Sie ist mit der Bahngeschwindigkeit ⃗v =ω
⃗ ×⃗r verknüpft.
Ihre Zeitableitung nennen wir die Winkelbeschleunigung α
⃗ . Ihr Betrag ist α=ω̇= φ̈ . Ihre
2
Einheit ist [α] = rad/s . Sie ist mit der Tangentialbeschleunigung ⃗
a T =α
⃗ ×⃗r verknüpft.
Beide Größen müssen für alle Massestücke gleich sein, sonst würde die Scheibe zerreißen. Und
⃗ Vektoren. Bei der Drehbewegung erzeugt man aus der
L und N
beide Größen sind genau wie ⃗
skalaren Größe „Winkel“ die zugehörigen vektoriellen Größen mit den Einheitsvektoren der Polaroder Zylinderkoordinaten, z. B. d φ
⃗ =d φ⋅⃗e φ oder ω
⃗ =φ̇⋅⃗e z (siehe Anhang A.1). Die Vektoren
⃗ der Drehbewegung sind axiale Vektoren. Das bedeutet: Sie sind nicht verschiebbar und
ω
⃗ ,⃗
α ,⃗
L,N
Seite 75
haben ihren Ursprung im Bezugspunkt der Drehbewegung. Ihre Richz
L
tung liegt parallel zur Drehachse, sie sind also senkrecht zur Bewegungsebene orientiert. Ihr Vorzeichen ist durch die Richtung der
ω
⃗
Drehung gegeben, also durch das Vorzeichen von dφ. Dreht oder
N
bewegt sich eine Objekt gegen den Uhrzeigersinn, sind die
dφ
y
→
Zahlenwerte der axialen Vektoren positiv und sie zeigen nach „oben“,
r
m
andernfalls sind die Zahlenwerte negativ und die Vektoren zeigen nach
x
F
„unten“. Um sie vektoriell anzugeben, können wir z. B. ihren Zahlenp
wert berechnen und mit einem Einheitsvektor multiplizieren, der
senkrecht auf der Bewegungsebene steht. Einen solchen Einheitsvektor Abb. 4.21: Lage und Orin . Normalenvektoren finden wir über das entierung der axialen Veknennen wir Normalenvektor ⃗
Vektorprodukt: Kreist ein Objekt in der xy-Ebene, ist n⃗ =⃗e z=⃗e x ×⃗e y . toren.(Längen willkürlich).
Kreist ein Objekt in der rφ-Ebene (Zylinderkoordinaten r┴, φ, z), ist n⃗ =⃗e z=⃗e r ×⃗e ϕ . Wenn wir zwei
a und b⃗ kennen, die in der Bewegungsebene liegen (z. B. ⃗r und ⃗v ), finden
beliebige Vektoren ⃗
a ×⃗b
⃗
n=
wir den Normalenvektor durch ⃗
(4.50).
∣⃗
a ×⃗b∣
⃗ = ⃗L˙ ausdiffeMit Hilfe von ω
⃗ kann man die rechte Seite des umgeformten Bewegungsgesetzes N
renzieren und seine theoretische Konsistenz zeigen:
d
⃗
L˙ =⃗r × ṗ=m⃗r ×⃗v˙ =m⃗r × (ω×⃗r )=m⃗r ×( ω
⃗˙ ×⃗r +⃗
ω ×⃗r˙ )=m⃗r ×( α
⃗ ×⃗r +⃗
ω×⃗v )
dt
=m ⃗r ×(⃗
α
×⃗r +⃗
ω×( ω
⃗ ×⃗r ) )=m ⃗r ×(⃗
α
×⃗r +⃗
ω (ω
⃗ ⋅⃗r )−⃗r ( ω
⃗⋅⃗
ω ) ) = m ⃗r ×(⃗
α
×⃗r −⏟
ω⋅⃗
ω ))
⃗r (⃗
⏟
⏟
⏟
⏟
⏟
aT
⃗
aR
⃗
aT
⃗
bac−cab− Regel
ω
⃗ ⊥⃗r
aT
⃗
aR
.
= m ⃗r ×(⃗
α
×⃗r )
⏟
aT
⃗
v und ist die
Der erste Term der Summe mit der Winkelbeschleunigung α
⃗ =ω
⃗˙ zeigt in Richtung ⃗
a T . Der zweite Term stelllt die Radialbeschleunigung ⃗
a R dar. Der
Tangentialbeschleunigung ⃗
2
˙
bac-Summand verschwindet, weil ω
⃗ ⊥ ⃗r ist. Wegen m ⃗r ×(−ω ⃗r )=0 ist nur dann ⃗
L ≠0 , wenn
α
⃗ ≠0 ist. Hierbei sehen wir nochmal sehr schön den abgeworfenen „Ballast“. Wir halten fest:
Bei der Drehbewegung ist die Tangentialbeschleunigung ⃗
a T =α
⃗ ×⃗r . Sie ändert L.
Bei der Drehbewegung ist die Radialbeschleunigung ⃗
a R=−ω2 ⃗r . Sie krümmt die Bahn.
⃗ =m ⃗
⃗ bei konstanter Masse m eine
Unser Bewegungsgesetz F
a liefert für eine konstante Kraft F
⃗ bei einer konstanten Masse(nverteikonstante Beschleunigung a. Analog muss ein konstantes N
⃗ =I ⃗
lung) eine konstante Winkelbeschleunigung α
α=konst. mit einer noch unbekann⃗ ergeben: N
ten Konstante I, die m ersetzen muss. Bei einem Körper der Masse m auf einer Kreisbahn ist s = rφ,
alle Winkel sind 90° und die Beträge von N und L sind N = rF und L = rp. Für unser Bewegungsgesetz heißt das F =m s̈=mr φ̈=m r α ⇒ rF =m r 2 α ⇒ N =m r 2 α . Die gesuchte Konstante ist
also I = mr2 . Wir nennen diese neue Größe Trägheitsmoment I 21.
Das Trägheitsmoment I eines Massepunktes hat den Betrag I =m r 2⊥ und die Einheit [I] = kg∙m2.
I nimmt quadratisch mit dem senkrechten Abstand r ⊥ des Massepunktes zur Drehachse zu.
Damit haben wir alle Größen gefunden: Wir ersetzen v → ω
⃗ , a→ α
⃗ , m → I und s → φ. Klappt das
wirklich? Wir machen eine Probe: Daraus ergäbe sich für p = mv → L = Iω. Wir nehmen unsere
21
Besser wäre der Begriff „drehende Masse“. Genauso, wie die Begriff „drehende Kraft“ geeigneter wäre als
„Drehmoment“. Der Bergriff „Moment“ wird leider in der Physik recht willkürlich verwendet.
Seite 76
letzte Gleichung und setzen I und ω ein: N = I α=I ω̇ . Jetzt nehmen wir unser Bewegungsgesetz
und vergleichen: N = L̇ =
̂ N =I ω̇ ⇒ L̇=I ω̇ . Da I konstant ist, ergibt sich wie gefordert
L=I ω . Wir halten diesen wichtigen Zusammenhang fest:
Wir können den Drehimpuls auch als ⃗
L =I ω
⃗ (4.51) ausdrücken. Allgemein ist darin das Trägheitsmoment I ein Tensor und entspricht einer Matrix. L und I müssen sich auf die gleiche Drehachse beziehen.
Wir beschränken uns vorerst auf Fälle, in denen wir I als Skalar auffassen können.
Wir machen noch eine Probe: Wir betrachten die kinetische Energie eines mit der Geschwindigkeit
v auf einer Kreisbahn mit dem Radius r umlaufenden Teilchens und drücken sie einmal durch v und
1
1 (m v) 2 1 p 2
2
=
einmal durch p aus: E kin= m v =
. Unsere Ersetzungen ergeben für die Rotations2
2 m
2 m
2
2
1
1 ( I ω) 1 L
2
=
energie E rot = I ω =
. Wir überprüfen es noch einmal explizit: Mit L = rp = Iω
2
2 I
2 I
1 p 2 1 r 2 p2 1 L 2 1 I 2 ω2 1
=
=
=
= I ω 2 . Das überzeugt. Ab jetzt werden wir
und I = mr2 ergibt sich
2
2 m 2 mr
2 I 2 I
2
diese Ersetzungen glauben und nicht mehr in jedem Fall nachprüfen. Wir stellen alles tabellarisch
zusammen und behalten es im Kopf:
Translation
Weg
Geschwindigkeit
Beschleunigung
Kraft
Impuls
Masse
Ersetzung
⃗s → φ ⃗e φ
v → ω
⃗
⃗
a → α
⃗
⃗
⃗
⃗
F → N
⃗
⃗p → L
m → I
Rotation
Winkel
Winkelgeschwindigkeit
Winkelbeschleunigung
Drehmoment
Drehimpuls
Trägheitsmoment
(4.52)
Beispiel: Formulieren Sie folgende Zusammenhänge für die Translation und die Rotation:
⃗ =m ⃗
Bewegungsgesetz: F
a
→
⃗ =I α
N
⃗
1 2
Seine allgemeine Lösung für a = konst.: s( t)= a t +v 0 t+s 0
2
Geschwindigkeit: ⃗v =
d ⃗s
dt
F⋅d ⃗s
Arbeit: W =∫ ⃗
→
4.10.5
→ ω
⃗=
1
→ φ(t)= α t 2+ω0 t+φ 0
2
dφ
( ⃗e ×⃗e )
dt r φ
⃗ ⋅d ⃗
W =∫ N
φ
Modell „starrer Körper“
Sie haben bereits bemerkt: Wenn wir nicht bei Massepunkten auf Kreisbahnen stehen bleiben
wollen, müssen wir unser „Körpermodell“ um die Eigenschaft „Ausdehnung“ erweitern. Das liefert
das Modell des „starren Körpers“. So ein Körper kann eine beliebige Gestalt und eine beliebige
Massenverteilung haben, die wir über die Position einzelner Massepunkte mi bei ⃗r i oder über eine
ortsabhängige kontinuierliche Dichte ρ(r) erfassen können. Dazu denken wir uns den Körper aus
vielen kleinen Massenelementen Δm aufgebaut, die ein Volumenelement ΔV gleichmäßig ausfüllen.
Lassen wir beide Elemente gedanklich wieder unendlich klein werden und ersetzen Δ durch d,
erhalten wir die Massendichte (oft einfach nur Dichte genannt):
Seite 77
Die (Massen)Dichte eines Körpers ρ=
dm
(4.53) ist die Masse pro VoludV
men. Ihre Einheit ist [ρ] = kg/m3.
z
ρ(r)
ri
Das „starr“ beinhaltet, dass wir annehmen, dass sich der Körper durch keine
Krafteinwirkung verformt, also alle Abstände zwischen allen Massepunkten
mi oder Massenelementen dm fest sind.
ΔV
y
x
Für den starren Körper müssen wir in die uns bekannten Beziehungen für Abb. 4.22: Zur Dichte
den Schwerpunkt rS (4.3) und das Trägheitsmoment I auf eine kontinuierliche Massendichte übertragen. Dazu benötigen wir oft die Masse in einem Volumenelement dm=ρ( ⃗r ) dV , die wir aus
(4.53) erhalten.
Bei mehreren einzelnen Massen addieren sich ihre Trägheitsmomente einfach, sofern sie sich auf
2
die gleiche Drehachse beziehen: I =∑ ⃗r ⊥ i mi . Bei kontinuierlichen Masseverteilungen muss
i
2
2
1
1
integriert werden: r⃗s= ∫ ⃗r dm= ∫ ⃗r ρ(⃗r ) dV und I =∫ ⃗r ⊥ dm=∫ ρ( ⃗r ) ⃗r ⊥ dV . Die Integrale
M M
M V
M
V
laufen über die gesamte Masse M oder das Volumen V des Körpers.
Um das zu Berechnen, müssen wir Volumenintegrale (d. h. Mehrfachintegrale) lösen. Diese mathematische Tech nik benötigen wir in der Physik oft. Jedes Volumenelement enthält drei Differenziale, z.B. in kartesischen Koordinaten dV = dx∙dy∙dz. Man schreibt die Integrale und Differenziale so, dass sie den Integrand einklammern und
x2
[(
y2
z2
∫ ∫ ∫ f ( x , y , z ) dz
integriert von innen nach außen: V ( x , y , z )=
x1
y1
z1
)]
dy dx
(4.54). Dabei werden bei
der Integration über eine der Variablen die übrigen jeweils als konstant angesehen. Die Koordinaten x, y, z stehen wieder stellvertretend für beliebige Koordinaten, z. B. Zylinderkoordinaten mit dV = ρ dρ ∙dφ∙dz oder Kugelkoordinaten mit dV = r2 dr∙sin(θ) dθ∙dφ. Mehr dazu siehe Anhang A.2, A.3 und [2].
Trägheitsmomente diverser Körper können wir Tabellen entnehmen und müssen sie nicht auswendig
wissen! Sehr nützlich ist auch folgender Satz:
Satz von Steiner: Wenn wir das Trägheitsmoment IS eines Körpers der Masse M für eine Achse
durch seinen Schwerpunkt S kennen, bekommen wir daraus auch Ia für eine beliebig dazu parallel
verschobene Achse im Abstand a: I a=I S +M a 2 (4.55). (Herleitung siehe z. B. [3])
Beispiel: Welche Trägheitsmomente Iz und Ia hat die rechts gezeigte
Scheibe mit Radius R, Dicke h und konstanter Dichte ρ0 bei einer Drehung
um die a) z-Achse b) a-Achse.
a) Für die Integration wählen wir ein ringförmiges Volumenelement in
Zylinderkoordinaten mit dem Radius r, der Höhe h und der Dicke dr,
dessen Radius r wir von 0 bis R laufen lassen: d V =2 π r h d r . Es ist
r =r ⊥ senkrecht zur Drehachse.
R
R
a
r
R
1
4
Die Integration ergibt I =∫ ρ0 r 2 π r h dr=ρ0 2 π h ∫ r 3 dr =2 π h ρ0 R4 . Das Volumen der Scheibe ist
2
0
0
1
2
2
V =π R2 h , ihre Masse M =ρ0 π R h . Damit ist I z= MR .
2
b) Wir verwenden den Satz von Steiner: Die z-Achse geht durch den Schwerpunkt. Die Achse a
1
3
2
2
2
2
liegt im Abstand R von der z-Achse, daher ist I a=I z +MR = MR +MR = MR .
2
2
Seite 78
Abb. 4.23: Zusammenstellung einiger oft benötigter Trägheitsmomente
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
4.55) In einem Diskman wird eine CD innerhalb von 2,000 s auf 4200 Umdrehungen pro Minute
beschleunigt. Wie groß ist die (konstante) Winkelbeschleunigung?
4.56) Student Ole besucht den Hamburger Dom (Jahrmarkt)
und fährt mit dem „Round Up! (im Volksmund „Affenkäfig“
genannt). Der „Käfig“ hat einen Radius von R = 5 m und für
seine Drehbewegung zu Beginn in horizontaler Lage gilt θ =
c∙t2 (t in s, θ in rad) mit c = 0,30 rad/s2.
Geben Sie für t = 5,0 s
a) die Winkelgeschwindigkeit des Käfigs, sowie
b) die Bahngeschwindigkeit,
c) die Tangentialbeschleunigung und
d) die Radialbeschleunigung (Zentripetalbeschleunigung) von Ole an.
Ole
R
e) Warum rutscht Ole während der Fahrt nicht nach unten, sondern kann sich auf beliebiger Höhe
an der Käfigwand halten? Begründen Sie das für die horizontale Anfangslage!
4.57) Ein Radfahrer fährt mit 36 km/h. Vor einer Ampel bremst er innerhalb von 5,0 s bis zum
Stillstand ab.
a) Wie groß war die Winkelgeschwindigkeit des Hinterrades vor dem Abbremsen? Der Radradius
beträgt 33 cm.
Seite 79
b) Mit welcher mittleren Winkelbeschleunigung wurde das Hinterrad gebremst?
4.58) Das ringförmige Benzol-Molekül (C6H6) besteht aus 6 Kohlenstoff(Masse 12,0 u) und 6 Wasserstoffatomen ( Masse 1,00 u). Die C-Atome
sitzen an den Ecken eines planaren symmetrischen Sechsecks mit der
Kantenlänge 139 pm. Die Bindungslänge zwischen den C- und H-Atomen
beträgt 108 pm. Die Abbildung zeigt die Struktur und drei Drehachsen. Die a
Achsen a und b liegen in der Molekülebene, c steht senkracht darauf.
Welches Trägheitsmoment in u ∙ pm2 hat Benzol bei einer Drehung
b
c
a) um die horizontale Achse a,
b) um die vertikale Achse b,
c) um die Achse c senkrecht zur Molekülebene?
d) Mit welchen Kreisfrequenzen rotiert das Molekül um diese drei Achsen, wenn sein Drehimpuls
L = √2 ħ beträgt? (ħ = 1,05 × 10 −34 Js)
4.59) Eine quadratische Platte mit der Kantenlänge a = 2,0 m und der Dicke c =1 cm habe die
homogene Massedichte ρ0 und die Gesamtmasse m = 2,0 kg. Geben Sie das Trägheitsmoment der
Platte bei der Rotation um eine Achse an, die
b)
a) durch die Mittelpunkte gegenüberliegender Seiten verläuft und mittig in
der Platte liegt,
(Tipp: dV = dx dy dz, I =ρ0
∫ ∫ ∫
2
⊥
r dx dy dz )
Dicke Kante Kante
c
a
y
x
a)
b) durch den Mittelpunkt der Platte verläuft und senkrecht auf der Platte steht.
(Tipp: Rechnen Sie bei b) nicht erneut, sondern verwenden Sie ihr Ergebnis aus a) und ersetzen Sie
geeignet.)
4.60) a) Wie groß sind Trägheitsmoment, Drehimpuls und Rotationsenergie der Erde, wenn ihre
Dichte ρ0 als homogen angenommen wird? (Masse der Erde mE = 5,97 × 1024 kg, Erdradius
RE = 6380 km)
b) Wie würde sich die Winkelgeschwindigkeit der Erde ändern, wenn alle Menschen (n = 5 × 109 á
70 kg) zur selben Zeit synchron am Äquator nach Osten mit der Beschleunigung a = 2 m/s2 zu
laufen beginnen würden?
Seite 80
4.10.6
Anwendungsbeispiele
Die folgenden Anwendungsbeispiele gehen genauso vor, wie bei der Translationsbewegung. Wir
machen aus den Kräften lediglich Drehmomente und aus den trägen Massen Trägheitsmomente und
ersetzen (4.38) durch N = I φ̈ . Neu ist, dass Sie zu einer Kraft nun auch den Angriffspunkt und den
Drehpunkt eines Körpers finden müssen. Alles übrige geht wie gewohnt.
4.10.6.1 Hammerwerfer
Ein Hammerwerfer beschleunigt seinen Hammer der Masse m = 7,26 kg auf einer Kreisbahn mit
dem Durchmesser D = 2,15 m mit konstanter Tangentialbeschleunigung aT. Welche Bahngeschwindigkeit hat der Hammer als Funktion der Zeit? Wie groß muss aT sein, damit die Abwurfgeschwindigkeit des Hammers nach drei Umdrehungen v = 25,0 m/s ist? Der Hammer ruht anfangs, seine
Gewichtskraft werde vernachlässigt.
1. Schritt: Koordinaten wählen: Wir denken uns die
Situation wie in Abb.4.24 gezeigt. Die Bewegung
verläuft entlang einer Kreisbahn mit r = D/2 und dafür
bieten sich Polarkoordinaten r und φ an. Die Bewegung verändert damit nur eine Koordinate, nämlich den
Winkel φ. Genau deshalb wählen wir ihn. Aus dem
Winkel ergibt sich mit s = rφ auch der zurückgelegte
Weg entlang des Kreisbogens. Die Bewegungsrichtung
ist also die Richtung von ⃗s . Unser Bezugspunkt ist
der Kreismittelpunkt.
y
Tangente
FS
Seil
φ
r
FR
FT
m
s
D
x
2. Schritt: Systemgrenze ziehen: Die Situation
besteht aus vier Komponenten: dem Hammer der
Masse m, dem Seil, dem Werfer, der die Kräfte ausübt,
und der Erde, auf der der Hammerwerfer steht. Wir Abb. 4.24: Die Situation, ihr Koordinafragen nur nach der Bewegung des Hammers. Wir tensystem, das System und die Kräfte.
schließen deshalb nur ihn in unser System ein und zeichnen symbolisch die Systemgrenze ein.
3. Schritt: Trägheitsmoment bestimmen: Das System enthält nur den Hammer als Massepunkt der
D
D2
2
Masse m, der im Abstand r =
umläuft. Sein Trägheitsmoment ist also I =mr =m
.
2
4
4. Schritt: Äußere Drehmomente identifizieren: Auf die Masse des Hammers wirkt die Seilkraft
⃗ S , die wir in eine Radialkraft F R =F S cos ( γ) und die Tangentialkraft F T =F S sin( γ) zerlegen.
F
⃗ S bewirkt das Drehmoment N
⃗ =⃗r × ⃗
F
F S mit dem Betrag N = rFS sin(γ) = rFT = D/2∙maT, weil
⃗ S ist eine äußere Kraft, denn ihre Ursache, das Seil inklusive Werfer, ist
r = D/2 und FT = maT ist. F
nicht Bestandteil des Systems. Deshalb zeichnen wir ihren Pfeil durch die Systemgrenze hindurch.
D
Wir schreiben daher N A= m aT .
2
5. Schritt: Vereinigung zur Bewegungsgleichung: Zusammenführen beider Seiten ergibt
2a
D
D2
D
m a T =m
φ̈ ⇒
φ̈−a T =0 ⇒ φ̈− T =0
2
4
2
D
(4.56).
6. Schritt: Allgemeine Lösung finden: Wir schauen zuerst auf die mathematische Form: Sie ist
ẍ−a=0 mit konstantem a. Das ist die gleiche Form wie bei einer gleichförmig beschleunigten
Seite 81
Bewegung. Ihre allgemeine Lösung kennen wir bereits gut, sie ist wie bei allen Bewegungs1 2
gleichungen mit dieser Form durch (4.7) gegeben: x (t)= a t +v 0 t+x 0 . Für die Kreisbewegung
2
1 2
nehmen wir unsere Ersetzungen vor: φ(t)= α t +ω0 t+φ0 .
2
7. Schritt: Passende Lösung finden: Jetzt benötigen wir noch die passende Lösungsfunktion für
2 aT
die gestellte Aufgabe. Die Koordinate bleibt φ. Aus (4.56) lesen wir α ab: α=
. Erkennen Sie
D
a T =α
⃗ ×⃗r wieder? Explizite Werte für die anderen Konstanten gibt uns die
darin den Zusamenhang ⃗
Aufgabenstellung: Der Hammer startet aus der Ruhe, also ist ω0 = 0. Den Anfangsort setzen wir
ebenfalls auf φ(t = 0) = 0. Unsere spezielle Lösung für unser konkretes System ist damit
a
a
ϕ (t )= T ⋅t 2 . Daraus ergibt sich die Winkelgeschwindigkeit ω(t )=φ̇(t)=2 T ⋅t . Die BahnD
D
aT D
geschwindigkeit ist ⃗v =ω
⃗ ×⃗r . Da ⃗r ⊥ ω
⃗ ist, ist ihr Betrag v (t )=ω(t )⋅r =2 ⋅t⋅ =a T t . Gesucht
D 2
ist die Tangentialbeschleunigung aT, mit der nach drei Umdrehungen, also φ(t) = 6π, die Geschwindigkeit v = 25 m/s ist. Dazu lösen wir v(t) nach t auf (t = v(t) / aT) und setzen das Ergebnis in φ(t) ein:
2
2
aT v (t ) 2 v (t)2
v( t)
(25,0 m/s)
m
ϕ (t )= ⋅(
)=
=
=15,4 2 .
. Daraus erhalten wir a T =
φ(t) D 6 π×2,15 m
D aT
D aT
s
4.10.6.2 Abwärts rollende Kugel
Eine Kugel der Masse m und mit dem Radius R rollt aus der Ruhe einen Hang hinab. Der Hang ist
um den Winkel γ gegen die Horizontale geneigt. Geben Sie für die Kugel ihre Winkelgeschwindigkeit und ihre Translationsgeschwindigkeit als Funktion von t an.
1. Schritt: Koordinaten wählen: Wir denken uns die
FN R
Situation wie in Abb. 4.25 gezeigt. Rollen ist eine
Kugel
m φ
Mischung aus Translation und Rotation. Wir haben jetzt
zwei Bewegungen und zwei Koordinaten. Für die Transr
lation wählen wir den Weg s parallel zum Hang. Bei der
s
Rotation ist es schwieriger, denn die Drehung erfolgt
FR
γ
F
um den Auflagepunkt (und nicht um den Mittelpunkt!).
g
γ
Hang
Die Kugel „fällt permanent um“. Stellen Sie sich einen
Würfel auf einem Brett vor, das Sie dann auf einer Seite Abb. 4.25: Die Situation, ihr Koordinaten,
anheben. Der Würfel fällt um, sobald das Lot vom das System und die Kräfte.
Schwerpunkt nicht mehr die Auflagefläche trifft. Er dreht sich um den untersten Auflagepunkt.
Wenn er viermal umgefallen ist, hat er sich einmal um sich selbst gedreht. Genauso ist es bei der
Kugel, nur dass sie nicht umgefallen liegen bleibt. Doch wenn die Kugel einmal um sich selbst
gefallen ist, hat sie sich auch einmal um ihre Mittelachse gedreht. Daher können wir den zeitlichen
Verlauf der Rotation wie gewohnt mit dem Polarwinkel φ beschreiben. Wir müssen aber Drehmoment und Drehimpuls immer auf den Drehpunkt beziehen. Daher ist beim Rollen der Bezugspunkt der Auflagepunkt.
2. Schritt: Systemgrenze ziehen: Die Situation besteht aus drei Komponenten: der Kugel, dem
Hang und der Erde mit ihrem Gravitationsfeld. Wir fragen nur nach der Bewegung der Kugel. Wir
schließen deshalb nur sie in unser System ein und zeichnen symbolisch die Systemgrenze darum.
3. Schritt: Trägheitsmoment bestimmen: Das System enthält nur die Kugel, die um den Auflage-
Seite 82
2
2
punkt rotiert. Das Trägheitsmoment einer Kugel schlagen wir nach: I S = m R (S. 78). Die
5
Drehachse durch den Auflagepunkt ist um R gegen den Schwerpunkt verschoben. Mit dem Satz von
2
7
2
2
2
2
Steiner ergibt sich I =I S +mR = mR +m R = m R .
5
5
4. Schritt: Äußere Drehmomente identifizieren. Auf die Kugel wirken im Schwerpunkt die
⃗ g und die Normalkraft des Hangs F
⃗ N . Die Reibungskraft F
⃗ R greift im
Gewichtskraft der Kugel F
⃗ N geht
Auflagepunkt an. Deshalb kann sie kein Drehmoment bewirken. Die Verlängerung von F
ebenfalls durch den Auflagepunkt. Weil wir sie dahin verschieben können und weil sie parallel zu
⃗ g übrig:
⃗r liegt, bewirkt auch sie kein Drehmoment. Es bleibt nur das Drehmoment durch F
⃗ =⃗r × ⃗
N
F g mit dem Betrag N = rFg sin(γ) = R mg sin(γ). Alle Kräfte sind äußere Kräfte, denn ihre
Ursachen − Gravitationsfeld und Hang(oberfläche) − sind nicht Bestandteil des Systems. Deshalb
zeichnen wir ihre Pfeile durch die Systemgrenze hindurch. Wir schreiben also N A=R mg sin(γ) .
5. Schritt: Vereinigung zur Bewegungsgleichung: Zusammenführen beider Seiten ergibt
7
7
5g
R mg sin ( γ)= m R2 φ̈ ⇒ R φ̈−g sin (γ)=0 ⇒ φ̈−
sin (γ)=0
5
5
7R
(4.57).
6. Schritt: Allgemeine Lösung finden: Wir schauen zuerst auf die mathematische Form: Sie ist
ẍ−a=0 mit konstantem a. Diese Form der Bewegungsgleichung und ihre allgemeine Lösung
1 2
kennen wir bereits sehr gut: Sie ist x (t)= a t +v 0 t+x 0 und übertragen auf die Drehbewegung
2
1 2
φ(t)= α t +ω0 t+φ 0 , genau wie im Beispiel zuvor.
2
7. Schritt: Passende Lösung finden: Jetzt benötigen wir noch die passende Lösungsfunktion für
5g
sin( γ) . Explizite
die gestellte Aufgabe. Die Koordinate bleibt φ. Aus (4.57) lesen wir α ab: α=
7R
Werte für die anderen Konstanten gibt uns die Aufgabenstellung: Die Kugel startet aus der Ruhe,
also ist ω0 = 0. Den Anfangswinkel setzen wir ebenfalls auf φ(t = 0) = 0. Die spezielle Lösung für
1 5g
5 g
sin( γ)⋅t 2=
sin( γ)⋅t 2 . Daraus ergibt sich der
unser kontes System ist damit φ(t)=
2 7R
14 R
5g
sin(γ)⋅t . Die Bahngeschwindigkeit ist
Betrag der Winkelgeschwindigkeit ω(t )=φ̇(t )=
7R
5 g
5
sin (γ)⋅t⋅R= g sin( γ)⋅t . Beim Rollen
⃗v =ω
⃗ ×⃗r . Da ⃗r ⊥ ω
⃗ ist, ist ihr Betrag v (t)=ω(t)⋅r =
7R
7
dφ
ds
=r ω=v .
ist das gleichzeitig die Translationsgeschwindigkeit vT des Schwerpunkts: v T = =r
dt
dt
In Worten: Pro Umdrehung wird einmal der Kugelumfang zurückgelegt.
4.10.6.3 Zum Schluss fällt die Klappe
Kante Kugel
Student Ole behauptet, Dinge können auch schneller fallen, als es
der freie Fall erlaubt. Dazu präsentiert er folgendes Experiment:
Ein Brett mit Scharnier und eine Kugel werden gleichzeitig aus
gleicher Höhe fallen gelassen. Er behauptet: Wenn man das Brett Scharnier
30°
fallen lässt, fällt die Kugel auf das Brett. Also muss das Brett
schneller fallen als die frei fallende Kugel. Stimmt das? Bestimme
Abb. 4.26: Oles Experiment
die Beschleunigung der Brettkante!
Seite 83
1. Schritt: Koordinaten wählen: Wir denken uns die Situation wie in Abb. 4.27 gezeigt. Wir haben
jetzt eine reine Drehbewegung. Jeder Punkt des Bretts läuft auf einer Kreisbahn. Als Koordinate
wählen wir deshalb wieder den Polarwinkel φ. Damit erfassen wir sowohl die Bewegung des
Schwerpunkts als auch der Brettspitze. Unser Bezugspunkt für Drehmoment und Drehimpuls liegt
im Scharnier, weil dort die Drehachse liegt.
2. Schritt: Systemgrenze ziehen: Die SituBrett
ation besteht aus fünf Komponenten: der
φ
Schwerpunkt
Kugel, dem oberen und dem unteren Brett
und der Erde mit ihrem Gravitationsfeld. Wir
r
fragen nur nach der Bewegung des oberen
ag aT
φ
Bretts, denn die Bewegung der Kugel kennen
Drehachse
FS
Fg
φ
wir schon (Kap. 4.8.6.1). Wir schließen desL
halb nur das obere Brett in unser System ein
und zeichnen symbolisch die Systemgrenze Abb. 4.27: Die Situation, ihre Koordinate, das Sysdarum.
tem und die Kräfte.
3. Schritt: Trägheitsmoment bestimmen: Das System enthält nur das obere Brett der Masse m und
der Länge L, das um eine kurze Kante rotiert. Das Trägheitsmoment schlagen wir nach (Abb. 4.23):
2
1
I S = m L2 . Mit dem Satz von Steiner ergibt sich I =I S +m( L ) =( 1 +1 ) m L 2= 1 m L2 .
12
2
12 4
3
4. Schritt: Äußere Drehmomente identifizieren. Auf das Brett wirkt im Schwerpunkt die
⃗ g und im Scharnier die Normalkraft F
⃗ N des Bodens. Weil F
⃗ N in der Drehachse
Gewichtskraft F
⃗ g übrig:
angreift, bewirkt sie kein Drehmoment. Es bleibt nur das Drehmoment durch F
⃗ =⃗r × ⃗
⃗ g ist nicht φ, sondern
N
F g . Jetzt müssen wir aufpassen: Der Winkel zwischen ⃗r und F
90° − φ . Daher ist N = rFg ∙ sin(π/2 − φ) = L/2 ∙ mg cos(φ). Alle Kräfte sind äußere Kräfte, denn ihre
Ursachen Gravitationsfeld und Erdboden sind nicht Bestandteil des Systems. Deshalb zeichnen wir
L
ihre Pfeile durch die Systemgrenze hindurch. Wir schreiben daher N A= mg cos (φ) .
2
5. Schritt: Vereinigung zur Bewegungsgleichung: Zusammenführen beider Seiten ergibt
L
1
L
g
3 g
mg cos (φ)= m L2 φ̈ ⇒
φ̈− cos(φ)=0 ⇒ φ̈−
cos (φ)=0 (4.58).
2
3
3
2
2 L
6. Schritt: Allgemeine Lösung finden: Wir schauen zuerst auf die mathematische Form: Sie ist
ẍ−c1 cos( x)=0 mit einer Konstanten c1. Die allgemeine Lösung dieser nicht linearen Differenzialgleichung kennen wir nicht und sie ist auch nicht ohne Weiteres zu finden. Wir können es wie
bei der harmonischen Schwingung mit der Näherung für kleine Winkel versuchen: cos(x) ≈ 1. Dann
haben wir wieder die Form der gleichförmig beschleunigten Bewegung mit c1 = a und der Lösung
1
1 2
x (t )= a t +v 0 t+x 0 , bzw. übertragen auf die Drehbewegung φ(t)= α t 2+ω0 t+φ0 , so wie in
2
2
den Beispielen zuvor. Diese Näherungslösung gilt jedoch nur unmittelbar vor dem Auftreffen.22
7. Schritt: Passende Lösung finden: Die passende Lösungsfunktion für die gestellte Aufgabe
können wir nur näherungsweise und nur für die Endphase der Bewegung angeben. Um Oles
Behauptung zu beurteilen, brauchen wir sie jedoch nicht. Dazu genügt es, die vertikalen Beschleunigungen von Kugel und Brettkante zu vergleichen. Die vertikale Beschleunigung der Kugel ist g.
22
Der Kosinus ist in der Nähe des Nullpunkts stark gekrümmt. Der Sinus ist in der Nähe des Nullpunkts wenig
gekrümmt. Daher ist die Kleinwinkelnäherung für den Sinus in weiteren Bereichen gültig als für den Kosinus.
Seite 84
3g
cos (φ) . Daraus erhalten wir
2L
3g
3g
cos(φ) . Ihre vertikale
die Tangentialbeschleunigung der Brettkante: a T =α r =L⋅ cos (φ)=
2L
2
3g
cos 2 (φ) . Sie ist winkelabhängig und nimmt mit zunehmenKomponente ist a T ⊥ =a T cos (φ)=
2
3g
cos 2 (φ0)>g ist, also cos (φ 0)>√ 2/3 , wird die Brettkante die Kugel
dem Winkel ab. Nur wenn
2
überholen. Das führt auf einen Startwinkel φ0 < arccos( √ 2/3)=34,3° . Ole hat also nur dann
Recht, wenn das Brett anfangs um nicht mehr als 34° ausgelenkt wird. Andernfalls wird das Brett
auf der Kugel landen. Bei kleinen Startwinkeln bewegen sich umfallende längliche Objekte tatsächlich schneller als herabfallende Objekte.
Die Winkelbeschleunigung des Brettes lesen wir aus 4.58 ab: α=
4.11 Zusammenfassung
Damit schließen wir das Kapitel Bewegungsgleichungen ab. Was haben wir bis hierhin
gelernt? Wir haben den Impuls als zentrale
Erhaltungsgröße der Mechanik kennengelernt
und die Newton'schen Axiome, die das beinhalten und anwenden. Wir haben erkannt, wie
man das Bewegungsgesetz benutzt um Bewegungsgleichungen aufzustellen und Bewegungen in Form von Bahnkurven zu berechnen.
Das haben wir auf die Drehbewegung übertragen und dabei den Drehimpuls als weitere
Erhaltungsgröße gefunden. Damit haben wir
eines der Standbeine unseres „Physikelefan- Abb. 4.28: Nur wer einen Überblick über das Ganze
ten“ identifiziert und Sie haben schon einen hat, wird auch das Ganze erkennen.
beschränkten Überblick. Bald werden wir uns die anderen „Beine“ vornehmen, vorher wollen wir
uns aber als Belohnung noch den Kreisel anschauen.
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
4.61) Bei einem Drehpendel mit einer Spiralfeder wirkt ein rückstellendes Drehmoment N = − D φ. Darin ist φ der Winkel der
Auslenkung. Die Materialkonstante D nennt man Winkelrichtgröße.
Das Trägheitsmoment des Pendels sei I.
φ

a) Stellen Sie die Bewegungsgleichung des Drehpendels auf.
b) Wie lautet die allgemeine Lösung der Bewegungsgleichung?
c) Wie ändert sich die Kreisfrequenz der Schwingung, wenn I vervierfacht wird?
4.62) Ein Jojo mit der Gesamtmasse m besteht aus zwei großen Zylindern der Masse m/2 mit dem
Radius R und einem kleinen Zylinder mit dem Radius r, um den ein Faden gewickelt ist. Der Faden
wird festgehalten und das Jojo losgelassen, so dass es sich abwärts bewegt. Die Masse des kleinen
Seite 85
Zylinders sei vernachlässigbar.
a) Wie lauten die Bewegungsgleichungen des Jojos?
Faden
Zylinder
m
b) Wie groß ist seine Winkelbeschleunigung α und die Beschleunigung a
seines Schwerpunktes bei der Abwärtsbewegung?
r
R
4.63) Fallende Katzen können sich während des Falls in der Luft drehen, so dass sie immer auf
ihren Pfoten landen. Widerspricht das nicht der Drehimpulserhaltung und dem Drehimpulssatz?
Recherchieren Sie, wie die Katze das macht. Zeichnen Sie eine Filmsequenz des Vorgangs mit vier
aussagekräftigen Bildern und erklären Sie das Prinzip.
4.64) Eine Kugel, ein Vollzylinder und ein Hohlzylinder mit gleichem Radius R und gleicher Masse
m werden gleichzeitig losgelassen und rollen ohne Schlupf einen Hang mit dem Steigungswinkel γ
hinab. Wie groß ist die Translationsbeschleunigung a der drei Körper? Welcher Körper kommt
zuerst unten an?
4.65) Eine Pendeluhr arbeitet nach einem einfachen Prinzip: Ein
Gewicht wird abgesenkt und dadurch ein Rad gedreht, das mit
einer Welle, auf der der Zeiger sitzt, verbunden ist. Die Bewegung des Rades kann durch eine Hemmung verhindert werden,
die mit dem schwingenden Uhrpendel verbunden ist. Nur bei
bestimmten Auslenkungen des Pendels wird die Hemmung aufgehoben, so dass kurzzeitig eine Raddrehung möglich ist und
der Zeiger ein kleines Stück weiter rückt.
Hemmung
Antrieb
I) Bei dem Uhrpendel sei L der Abstand von der Aufhängung
zum Mittelpunkt der runden Pendelscheibe mit der Masse m.
Der Pendelfaden und die Hemmmechanik seien masselos.
Stellen Sie mit Hilfe des Drehimpulssatzes die Bewegungsgleichung dieses Pendels auf, und zwar
Pendel
a) für den Fall, dass die Ausdehnung der Pendelscheibe vernachlässigbar ist,
b) für den Fall, dass der Radius der Pendelscheibe R ist.
ϕ
c) Ergeben a) und b) die gleichen Resultate für die Kreisfrequenz? Vergleichen
Sie beide Resultate mit der Kreisfrequenz des mathematischen Pendels
ω= √ g / L . Sortieren Sie nach zunehmender Periodendauer. Begründen Sie.
II) Das Antriebsgewicht einer Pendeluhr habe die Masse m' und dreht das
Hauptrad der Masse m mit dem Radius R. Die Massen von Welle, Zeiger und
Faden seien vernachlässigbar.
a) Stellen Sie die Bewegungsgleichung des Hauptrades auf und geben Sie die
allgemeine Lösung an.
b) Wie lautet die spezielle Lösung, wenn m' anfangs ruht? Um welchen Winkel
φ dreht sich der Uhrzeiger, wenn die Hemmung das Rad für ein Zeitintervall
Δt freigibt?
R
m
m'
L
m
Seite 86
4.12 Faszination pur: Kreisel
Kreisel sind mit das Faszinierendste, was die Physik zu bieten hat. Es sind frei rotierende Körper,
wie wir sie überall im Mikro- und Makrokosmos vorfinden. Nur in unserem Alltag leider nicht.
Nutzen Sie deshalb die Chance und erleben Sie die Faszination des Kreisels in der Vorlesung
hautnah. Es wird Ihnen helfen, den Mikro- und Makrokosmos besser zu verstehen.
4.12.1
Freie und gebundene Rotationen und Hauptträgheitsachsen
Für ausgedehnte Körper hängt das Trägheitsmoment von der Drehachse und von
a
der Massenverteilung um die Drehachse ab. Je weiter entfernt von der Achse ein
b
Massenstück ist, umso größer ist sein Trägheitsmoment. Je größer das Trägheitsc
moment ist, umso schwerer ist der Körper in Rotation zu versetzen. Für jeden
beliebig geformten Körper kann man ein rechtwinkliges Achsensystem a, b, c
finden, so dass die Rotation um a das kleinste und die Rotation um c das größte
Trägheitsmoment besitzt. Diese Achsen nennt man Hauptträgheitsachsen, sie Abb. 4.29:
gehen immer durch den Schwerpunkt. Wenn der Körper eine bestimmte HauptträgheitsSymmetrie aufweist, fällt mindestens eine dieser Achsen mit einer Symmetrie- achsen eines
achse zusammen. Die zugehörigen Trägheitsmomente nennt man Hauptträg- Quaders
heitsmomente mit Ia ≤ Ib ≤ Ic. Durch diese Achsenabhängigkeit wird das
Trägheitsmoment zu einem Tensor, d.h. man muss es durch eine Matrix ̂I ausdrücken. Wählt man
ein mit dem Körper verbundenes Koordinatensystem entlang der Hauptträgheitsachsen, erhält die
Ia 0 0
̂
Matrix des Trägheitstensors eine besonders einfache Gestalt: I = 0 I b 0
(4.59).
0 0 Ic
( )
Sie ist dann diagonal und Ia, Ib, Ic bilden die Diagonalelemente. Man sortiert die Körper danach, ob
alle Hauptträgheitsmomente verschieden sind (asymmetrische Kreisel), zwei davon gleich sind
(symmetrische Kreisel) oder alle gleich sind (sphärische Kreisel).
Beispiel: Eine rechteckige Platte ist ein asymmetrischer Kreisel, eine Kreisscheibe ein symmetrischer Kreisel und eine Kugel ein sphärischer Kreisel.
Freie Rotationen, also Rotationen, bei denen der Körper nicht durch Lager Energie I stabil
a
dazu gezwungen wird, um eine bestimmte Achse zu drehen, finden immer um
eine Hauptträgheitsachse und damit auch um den Schwerpunkt statt. Für jede
Ib labil
andere Rotation treten Drehmomente auf, die den Drehimpuls verändern, bis
Ic
die Rotationsachse mit einer Hauptträgheitsachse zusammenfällt. Theoretisch
stabil
sind die Rotationen um die a- und c-Achse mit dem kleinsten und größten Abb. 4.30: Stabilität
Trägheitsmoment stabil und um die b-Achse labil, d. h. bei kleinsten Störun- der freien Rotation
gen schlägt sie in eine Rotation um eine andere Achse um. Praktisch ist oft
sogar nur die Rotation um die c-Achse stabil: Die Rotation um die a-Achse kann bei geringen Störungen in eine Rotation um die c-Achse umschlagen. Um die b-Achse ergibt sich eine Torkelbewegung. Dies kann man zum Beispiel durch den Energievergleich verstehen: Die Rotation um die
Achse mit dem größten Trägheitsmoment hat bei festem Drehimpuls die kleinste Rotationsenergie:
Erot = ½Iω² = L² / (2I). Der Körper nimmt also den energetisch günstigsten Zustand an, wenn er um
die c-Achse rotiert. Dagegen nimmt er den energiereichsten Zustand an, wenn er um die a-Achse
rotiert. Wenn er dabei Energie an die Umgebung abgeben kann, wird er das auch tun. Man kann das
Vergleichen mit der Lage einer Kugel auf einem Hügel: Auf der Spitze liegt sie zwar stabil, aber
Störungen lassen sie herunterfallen, am Hang bleibt sie nie liegen, im Tal liegt sie stabil (Abb. 4.30).
Seite 87
Experiment zur freien Rotation: Eine Scheibe wird an ihrem Rand aufgehängt und über einen Kurbelmechanismus in eine schnelle Drehung versetzt.
Nach kurzer Zeit richtet sie sich auf und rotiert um ihre c-Achse. Das zeigt:
Nur die Drehung um die c-Achse (diejenige mit dem größten Trägheitsmoment) entspricht einem dauerhaft stabilen Zustand.
c
a
c
Es werden verschiedene Jojos ausprobiert. Einige funktionieren, andere nicht.
a
Die Jojos sind so manipuliert, dass man das größte Trägheitsmoment nicht unmittelbar erkennen kann. Nur die Jojos, die beim Ab- und Aufrollen um ihre c-Achse drehen,
funktionieren. Das zeigt: Nur die Drehung um die c-Achse entspricht einem stabilen Zustand.
Experiment zur Messung von Trägheitsmomenten: Zur Messung von Trägheitsmomenten verwendet man ein Drehpendel. Dieses besteht aus einer Kreisφ
scheibe, die um ihre Symmetrieachse drehbar ist, und aus einer Spiralfeder. Die
Spiralfeder bewirkt bei Verdrehung der Scheibe ein rücktreibendes Drehmoment
N = − Dφ. Die bekannte Federkonstante D nennt man hier Richtmoment. Das
D
ergibt die Bewegungsgleichung −D φ=I φ̈ ⇒ φ̈+ φ=0 , also eine harmonische Schwingung
I
mit der Kreisfrequenz ω= √ D / I . Man bestimmt erst die Frequenz ω0 der leeren Pendels und
2
gewinnt daraus sein Trägheitsmoment I 0 =D/ω0 . Dann legt man den zu untersuchenden Körper
2
auf die Scheibe und bestimmt erneut die Frequenz (ω K). Daraus erhält man I =I 0 +I K =D /ω K und
schließlich IK = I − I0.
4.12.2
Präzession
Wir beginnen mit zwei Experimenten zum Kreisel. Beide Kreisel sind so gestaltet, dass man die
Drehachse gut sehen kann.
Experiment zum Luftkissenkreisel: In eine auf einem Luftkissenpolster
schnell rotierende Stahlkugel ist parallel zur Drehachse ein dünner Aluminiθ Masse
Kreisel
umstab gesteckt. Wenn wir an die Stabspitze ein Gewicht hängen, kippt der
Stab nicht nach unten sondern schwenkt zur Seite. Seine Spitze beginnt eine
kreisförmige Bahn zu zeichnen. Die Kreisfrequenz dieser Bewegung hängt
nicht von der Orientierung θ des Stabes ab. Wenn wir den Stab kurz
antippen, beginnt er zu „eiern“. Es wird zusätzlich zur langsamen noch eine schnelle
Kreisbewegung seiner Spitze erzeugt.
Experiment mit einer Fahrradfelge: Ein Rad (z. B. eine Fahrradfelge) mit
einer eingesteckten Achse wird in eine schnelle Drehung versetzt. Wir können
das Rad nun am Ende der Achse aufhängen. Die Achse bleibt waagerecht und
ihre Spitze zeichnet eine Kreisbahn um die Aufhängung. Das zeigt: Das durch
die Gewichtskraft bewirkte Drehmoment kann den Kreisel nicht nach unten
kippen, sondern bewirkt eine seitliche Bewegung.
Aufhängung
Rad
Achse
Diese Bewegungen nennen wir Präzession. Scheinbar ist die Schwerkraft bei dieser Bewegung
„außer Kraft gesetzt“. Wir klären jetzt folgende Fragen: Warum kippt ein Kreisel unter dem Einfluss
der Schwerkraft nicht um? Wie beschreiben wir diese neue Bewegung, die Präzession? Wovon
hängt sie ab?
Wie immer, wenn ein Impulsaustausch ohne Energieaustausch stattfindet, haben wir damit ein „intuitives
Problem“, so wie bei der Kreisbewegung. Auch auf die Präzession des Kreisels trifft das zu: Hier liegt ein reiner
Drehimpulsaustausch ohne Energieaustausch vor.
Seite 88
Zuerst wollen wir verstehen, warum ein Kreisel nicht kippt.
Dazu betrachten wir als besonders eindrucksvolles Beispiel
das obige Rad: Auf das Rad wirken nur zwei Kräfte: die
FS'
FS
Seilkraft FS durch die Aufhängung und die Gewichtskraft Fg
N
im Schwerpunkt, beide sind betragsmäßig gleich. Intuitiv
r
L+dL
erwarten wir, dass das Rad nach unten kippt, und zwar um
L
die Aufhängung als Drehpunkt. Wir wählen einen etwas un-FS'
gewöhnlichen Zugang und behandeln FS nach dem Schwerpunktsatz: Wir nehmen als Bezugspunkt den Schwerpunkt
Fg
und addieren „nichts“ in Form von ± FS' im Schwerpunkt.
Wir stellen als Erstes fest: FS' kompensiert die GewichtsAbb. 4.31: Ein drehendes Rad, aufgekraft: Es wirkt keine nach unten gerichtete Kraft auf den
hängt am Ende seiner Achse bildet
Schwerpunkt. Das Seil wirkt so, als ob es im Schwerpunkt
einen Kreisel.
befestigt ist. Daher fällt der Kreisel nicht nach unten.
Wir stellen als nächstes fest: FS und − FS' bilden ein Kräftepaar, das für jeden Bezugspunkt ein
Drehmoment N = rmg erzeugt und die von uns erwartete Drehung bewirken sollte. Sein Drehmoment N und damit dL (rot angedeutet) zeigt in Abb.4.31 in die Zeichenebene hinein (RechteHand-Regel!). Die Daumenregel liefert dazu − wie intuitiv erwartet − eine Drehung im Uhrzeigersinn um die Aufhängung. Um seine tatsächliche Wirkung zu verstehen, müssen wir uns jedoch
folgende entscheidende Erkenntnis klarmachen.
Die durch ein Drehmoment N bewirkte Änderung des Dreh- dL
dγ dL┴ L'
┴
dL
impulses dL = N dt, zeigt immer in die Richtung von N. Der
L
resultierende Drehimpuls nach der Zeit dt ist L' = L + dL.
dL||
L
dL||
Verglichen mit einem bereits vorhandenen Drehimpuls L
Abb. 4.32: Die Anteile von dL und
kann N in eine beliebige Richtung zeigen. Wir können dann
ihre Auswirkung auf L.
die von N bewirkte Änderung von L in ihre Anteile
d⃗
L =d L⃗|| +d L⃗˙⊥ parallel und senkrecht zu L zerlegen. Der erste Anteil verlängert L, der zweite
schwenkt L um einen Winkel dγ. Wenn wir dγ durch dt dividieren, ist dγ/dt = ωP die Kreisfrequenz
⃗ P steht dabei senkrecht auf N und L. Damit
der Schwenkbewegung. Der zugehörige Vektor ω
⃗ = L⃗˙ ||+L⃗˙⊥ = L̇|| ⃗
können wir auch N in diese Anteile aufsplitten N
L / L +ω
⃗ P× ⃗L (4.60). Die durch ωP
⏟
⏟
verlängert
schwenkt
beschriebene Schwenkbewegung von L nennen wir Präzession. Wenn kein Drehimpuls vorhanden
⃗
⃗
⃗ = L⃗˙ ||= L̇ L = L̇ N (4.61) erzeugt oder
oder N || L ist, fällt der zweite Summand weg und N
L
N
verlängert L in Richtung N. Das ist der Fall, der Ihnen vertraut ist. Wenn dagegen N ┴ L ist, ist
⃗ = L⃗˙⊥ =ω
L seine Länge ändert sich
N
L (4.62). Dann bleibt nur die Schwenkbewegung von ⃗
⃗ P×⃗
nicht. Das ist der Fall, der einen beim Kreisel fasziniert.
Jetzt analysieren wir damit unser Kräftepaar: Wenn das Rad sich nicht
dreht, also L = 0 ist, kippt es um die Aufhängung nach unten, rutscht
dL L+dL
aus der Schlaufe und fällt. Die damit verbundene Änderung des Dreh- dL
impulses ist dL = N dt nach (4.61): Sie verlängert L ausgehend von
L
b)
L = 0 in Richtung N. Die Drehachse dieser Drehung liegt parallel zum a)
Rad. In Abb.4.33 a) ist diese Bewegung von oben betrachtet dargestellt.
Abb. 4.33: Das Rad von
Das ändert sich drastisch, wenn bereits ein Drehimpuls L parallel zur oben betrachtet
Achse vorhanden ist. Jetzt addiert sich dL nämlich nicht mehr zu null,
sondern zu L. Unser N und damit dL steht nun immer senkrecht auf L und kann deshalb den
Seite 89
vorhandenen Drehimpuls nur umlenken. Dadurch wird L ständig seitlich gekippt, ändert aber sein
Lage im Körper nicht. Das entspricht nach (4.62) einem Schwenk der Rotationsachse und damit des
Körpers im Raum. In Abb.4.33 b) ist diese Bewegung von oben betrachtet dargestellt.
Der Kreisel kippt deshalb nicht, weil L ≠ 0 ist und N stets senkrecht
zu L ist. Bei einer Drehimpulsänderung hängt also die Bewegung des
Körpers davon ab, ob bereits Drehimpuls vorhanden war. Die Präzessionsbewegung des Kreisels ist somit völlig analog zu einer gleichförmigen Kreisbewegung. Wenn Sie eine Idee haben, warum der
Mond nicht auf die Erde fällt, haben Sie auch eine Idee davon, warum
der Kreisel nicht kippt: Der Mond fällt nicht auf die Erde, weil er
einen Impuls p > 0 hat. Die Gravitationskraft steht senkrecht darauf
und lenkt p immer nur um. Würde man den Mond anhalten, würde er
sofort herunterfallen. Genauso kann das Drehmoment den Drehimpuls
nur umlenken, solange es senkrecht auf L steht und L nicht null ist.
Wurde man die Eigendrehung des Kreisels anhalten, würde er sofort
herunterfallen bzw. umkippen.
r
F
L
dL
θ
N dγ
LH dL
Abb. 4.34: Präzession des
Die Kreisfrequenz der Präzession ωP bestimmen wir allgemein an Kugelkreisels
unserem Kugelkreisel: Wenn L unter dem Winkel θ zur vertikalen
Achse steht, ist für ωP nur seine Projektion auf die horizontale Ebene LH = L sin(θ) relevant. dL
N dt
bewirkt einen Schwenk um den Winkel dγ = dL / LH 23. Einsetzen ergibt d γ=
. Division
L sin (θ)
dγ
N
=
durch dt liefert ω p=
in völliger Übereinstimmung mit (4.62) 24. Durch Einsetzen von
d t Lsin θ
r m g sin(θ) r m g
=
N = rmg sin(θ) sehen wir, dass die Präzessionsfrequenz ω p=
sogar unabhängig
L sin (θ)
L
vom Anstellwinkel θ ist.
4.12.3
Nutation
Die Präzession ist tatsächlich die einfachste Bewegung des Kreisels. Das liegt daran, dass mehrere
Vektoren und Achsen beteiligt sind. Bei der Präzession fallen die Richtungen von ω
⃗ , L und die
sichtbare Symmetrieachse des Kreisels entlang des Stabes zusammen. Das muss aber nicht so sein,
sondern ist eher die Ausnahme. Durch den Tensorcharakter des Trägheitsmomentes hängen L und
Ia 0 0 ω
I a ωa
a
̂
⃗
⃗ = 0 I b 0 ⋅ ωb = I b ωb
(4.63) zusammen. Man
ω
⃗ im Hauptachsensystem über L = I ω
ω
c
0 0 Ic
I c ωc
sieht daran sofort, dass L und ω
⃗ in der Regel in unterschiedliche Richtungen zeigen, wenn nicht
alle Hauptträgheitsmomente gleich sind.
( )( ) ( )
Wir können sehr leicht bewirken, dass die Richtungen auseinanderfallen. Bei unserem Kugelkreisel
müssen wir dazu nur die Stabspitze leicht antippen und schon wird sie „eiern“. Diese Bewegung
nennen wir Nutation. Was geschieht beim Antippen? Wir lassen kurzzeitig ein Drehmoment wirken,
das nicht senkrecht zu L steht. Dadurch wird die Drehachse im Körper verändert und ω
⃗
und L werden „aus dem Stab heraus“ gekippt. Die Winkelgeschwindigkeit zeigt immer in Richtung
der Drehachse und hat nun einen Anteil parallel und senkrecht zum Stab. Gleichzeitig stimmen aber
auch die unsichtbaren Richtungen von Drehachse und Drehimpuls nicht mehr überein, sofern die
23
24
Das ist der gleiche Zusammenhang wir bei Radius und Bogenlänge s = rφ. (r → LH, s → dL, φ → dγ).
Das ist der Betrag von (4.62).
Seite 90
Trägheitsmomente parallel und senkrecht zum Stab unterschiedlich
sind. Die einzige raumfeste Größe ist der unsichtbare Drehimpuls.
Daher eiern die Drehachse und der Stab in einer komplizierten Bewegung um den feststehenden Drehimpuls herum: Die Nutation ist die
Bewegung von Drehachse ( ω
⃗ ' in Abb.4.35) und Kreiselachse um den
raumfesten Drehimpuls (L' in Abb.4.35) .
4.13 Zusammenfassung
L
ω
⃗
dL
L'
ω
⃗'
Abb. 4.35: Nutation
Damit schließen wir das große Kapitel Newton'sche Mechanik ab. Die Inhalte werden wir immer
wieder benötigen. Die grundlegenden primären Größen Energie, Impuls und Drehimpuls begleiten
Sie in der gesamten Physik. Ich habe Ihnen gezeigt, wie sich die klassische Punktmechanik aus
einem grundlegenden Naturgesetz − dem Newton'schen Bewegungsgesetz − zusammen mit der
Impulserhaltung ergibt. Analog basieren alle physikalischen Gebiete auf einigen wenigen grundlegenden Gesetzen, kombiniert mit Erhaltungssätzen. Das Verständnis der Methode zum Aufstellen
von Bewegungsgleichungen und das Finden ihrer Lösungen ist die Basis zum Verständnis der
Quantenmechanik: Dort stellt man in ähnlicher Weise Schrödinger-Gleichungen für mikroskopische
Systeme auf und löst sie. Der in der Mechanik zentrale Begriff der Kraft verliert dagegen in weiterführenden physikalischen Gebieten zunehmend an Bedeutung: In der Elektrodynamik arbeitet man
außer mit der Coulomb-Kraft bereits überwiegend mit dem elektrischen Potenzial. In der Quantenmechanik werden Kräfte schließlich komplett durch die potenzielle Energie ersetzt und der zentrale
Erhaltungssatz ist die Energieerhaltung. Das ist die nächste grundlegende Methode, der wir uns jetzt
zuwenden. Wir lernen nun das nächste Standbein unseres Physikelefanten kennen: die Bilanzgleichungen, mit deren Hilfe man Erhaltungssätze anwendet.
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
4.66) Elektronen sind faszinierende Objekte: Ein Elektron entspricht z.B. einem winzigen magnetischen Kreisel, denn es trägt einen inneren Drehimpuls − seinen Spin − und ein sogenanntes
μ . Deshalb kann man kann man Elektronen mit Hilfe von Magnetfeldern
magnetisches Moment ⃗
orientieren. Ein konstantes Magnetfeld B sei entlang der z-Achse orientiert. Die z-Komponente des
Spins eines Elektrons ist sz = ½ ħ, der Betrag ist s = √ 0,75 ħ. Sein magnetisches Moment ist
μ =−g e µ B /ℏ ⃗s mit ge = 2,002 (g-Faktor), dem Bohrschen Magneton µB = 9,274 × 10−24 J/T und
⃗
dem Planckschen Wirkungsquantum ħ = 1,055 × 10 − 34 Js.
a) Welchen Winkel hat der Drehimpulsvektor des Spins zur z-Achse? Zeichnen Sie ein Achsensystem und skizzieren Sie die Orientierung von s und µ relativ zur z-Achse.
⃗ =μ
b) Das äußere Magnetfeld B erzeugt ein Drehmoment N
B auf das Elektron. Mit welcher
⃗× ⃗
Frequenz ωP wird das Elektron präzedieren? Welchen Zahlenwert hat die Frequenz für B = 1,450 T?
Zeichnen Sie ein Achsensystem und skizzieren Sie die Präzessionsbewegung von und µ.
c) Nehmen Sie spaßeshalber einmal an, Elektronen seien winzige Kugeln mit homogener Dichte.
Welchen Radius kann ein Elektron dann höchstens haben, wenn kein Punkt auf seiner Oberfläche
schneller als die Lichtgeschwindigkeit sein darf? Die Masse eines Elektrons ist me = 9,1 × 10 − 31 kg.
Recherchieren Sie, was man heutzutage über die Struktur und den Radius des Elektrons weiß.
4.67) Auch die Erde ist ein gigantischer Kreisel, der im Gravitationsfeld der Sonne präzediert. Wie
groß ist die Präzessionsfrequenz der Erde? Recherchieren und erklären Sie die Ursache der
Präzession der Erdachse.
Seite 91
5 Unser zweites Arbeitspferd: Erhaltungsgrößen und ihre
Bilanzen
In diesem Abschnitt mit einem scheinbar langweiligen Titel verbergen sich ganz wesentliche und
ganz unterschiedliche Gebiete der Physik. Sie werden feststellen, dass alle nach der gleichen Methode vorgehen: Wir bilanzieren extensive („mengenartige“) physikalische Größen und zwar hauptsächlich Impuls, Drehimpuls und Energie. Wenn Sie das einmal durchschaut haben, wird Sie die
Vielfalt der Themen nicht schrecken, denn wie bei den Bewegungsgleichungen wird einfach nur
eine fundamentale Methode auf viele verschiedenen Situationen transferiert. Diesmal ist die
Methode sogar wesentlich einfacher. Was ist eine Bilanzgleichung? Sie vergleicht eine extensive
Größe G an zwei Orten zur gleichen Zeit oder zu zwei Zeiten am gleichen Ort oder beides. Sie
ahnen schon: Wenn unterschiedliche Zeiten im Spiel sind, betrachten wir hierbei meistens Systeme,
die sich in irgendeiner Weise verändern, in denen also irgendein Prozess abläuft. Das Schicke ist:
Mit Bilanzgleichungen können wir oft etwas über das Ergebnis des Prozesses sagen, ohne das wir
Details über den eigentlichen Verlauf des Prozesses kennen oder berücksichtigen müssen.
Beispiel: Sie haben kein Geld G mehr in der Tasche aber noch welches auf dem Konto. Sie heben
deshalb Geld von ihrem Konto ab und stecken es sich in die Tasche. Die Bilanzgleichung für Ihr
Geld lautet GKonto(t1) + GTasche(t1) = GKonto(t2) + GTasche(t2). Die Bilanz ist sicher richtig, egal, wie das
Geld vom Konto in Ihre Tasche gewandert ist (Geldautomat, Bankschalter). Jetzt begeben Sie sich
von der Uni mit dem Geld in der Tasche zur Mensa und stellen dort fest, dass Sie nur noch die
Hälfte des Geldes in der Tasche haben. Ihre traurige Bilanz lautet nun GTasche(Uni) −
GTasche(Mensa) = Gverloren(unterwegs). Die Bilanz ist sicher richtig, egal, wie Sie von der Uni zur
Mensa gekommen sind.
Diese simplen Zusammenhänge nutzen wir überall in der Physik aus. Wenn V
IG
wir das ganz allgemein hinschreiben wollen, denken wir uns als ModellXG
vorstellung irgendein System, das ein bestimmtes Volumen V einnimmt und
G innerhalb V
das wir durch seine Systemgrenze symbolisieren. Zum Beispiel Ihre Tasche.
Wenn sich die Menge unserer extensiven Größe G (z. B. Ihr Geld) darin im
-XG
Zeitintervall dt um dG ändert, muss es entweder einen Strom IG von G durch -IG
die Grenze des Volumens oder Erzeuger (Quellen) oder Vernichter (Senken) Abb. 5.1: Modell
XG von G innerhalb des Volumens geben. Wir können das ganz allgemein so zur Bilanzgleichung
dG
=I G +X G (5.1). Das ist eine allgemeine Bilanzgleichung. Natürlich können IG
hinschreiben:
dt
und XG darin auch negativ sein, also einem Abstrom oder einer Vernichtung entsprechen und
stellvertretend für die Summen vieler Ströme und Erzeuger oder Vernichter stehen.
Beispiel: Für Ihre Tasche bedeutet das: Ändert sich die Menge des Geldes in Ihrer Tasche pro
Zeitintervall um d G/ dt , dann gab es einen Geldstrom IG in das Volumen Ihrer Tasche hinein
und/oder Gelderzeugung XG in Ihrer Tasche.
Sie glauben sicher nicht daran, dass Geld in Ihrer Tasche erzeugt werden kann. Genauso wenig
glauben wir in der Physik daran, dass Impuls, Drehimpuls oder Energie irgendwo erzeugt werden
können. Für diese Erhaltungsgrößen ist X also immer null und es bleibt nur die Stromstärke IG:
dG
=I G (5.2). Das ist die allgemeine Bilanzgleichung für eine Erhaltungsgröße.
dt
Jetzt werden wir noch konkreter und sagen, Ihre Tasche habe kein Loch und sei oben zugenäht, also
ist sie ein isoliertes (abgeschlossenes) System. Dann ist auch keine Geldstrom hinein oder hinaus
Seite 92
möglich und die Bilanz lautet nun
dG
=0 (5.3). Das ist die Bilanzgleichung einer Erhaltungsdt
größe in einem isolierten System.
Übergreifender Bezug: Diese einfachen Sachverhalte kann man durchaus komplizierter verpacken, in Form der
Kontinuitätsgleichung: Wir zitieren Wikipedia stellvertretend für unzählige Lehrbücher:
„Eine Kontinuitätsgleichung ist die mathematische Fassung der philosophischen Annahme „Von nichts kommt
nichts“. Sie ist eine bestimmte partielle Differenzialgleichung, die zu einer Erhaltungsgröße gehört (siehe unten)
und die zeitliche Änderung der zu dieser Größe gehörigen Dichte ρ mit der räumlichen Änderung ihrer
Stromdichte j in folgender Weise verknüpft:
dρ
+div ⃗j=0 .“
dt
Wir wollen uns das Leben noch nicht so schwer machen. Diese komplizierte Formulierung beinhaltet, dass man
die Erhaltung „lokal“ formuliert, d.h. sie ist für beliebig kleine Volumen, also auch für jeden Punkt des Raumes
gültig. Noch sind diese Feinheiten für uns nicht relevant, aber es ist doch schon einmal nützlich zu wissen, dass
unser Bilanzkonzept so universell anwendbar ist.
Wir werden in den folgenden Kapiteln lernen, wie wir Impuls, Drehimpuls, Energie und damit auch
Kräfte, Drehmomente und Arbeit bilanzieren. Was uns noch fehlt ist die Energie. Wir starten
deshalb mit der zentralen neuen Größe Energie. Danach schauen wir uns verschiedene
Anwendungsbeispiele für Bilanzen an. Dabei werden wir ganz nebenbei Gleichgewichte, die
Stoßphysik, die Kepler'schen Gesetze und die Gravitation genauer kennenlernen.
Seite 93
5.1 Das Chamäleon der Physik: Energie
Was ist Energie? Sicher eine der abstraktesten Größen, die die Physik überhaupt kennt. Und ganz
sicher nicht nur die Fähigkeit, Arbeit zu verrichten, wie Sie es vermutlich in der Schule gelernt
haben. Nur ein Teil der Energie in einem System kann Arbeit verrichten, man nennt ihn Exergie.
Den übrigen Anteil nennt man Anergie. Exergie ist für uns wertvoller als Anergie, deshalb sprechen
wir von Energieentwertung, wenn Exergie in Anergie umgewandelt wird. Den Vorgang nennt man
Dissipation („Zerstreuung“). Dabei wird Energie einer gerichteten Bewegung auf die ungeordnete
Bewegung von Atomen oder Molekülen verteilt.
Wir wissen jetzt, was Energie nicht ist, aber was ist sie dann? Tatsächlich ist die Energie ein abstraktes Chamäleon, das sowohl völlig formlos als auch in vielen Formen auftritt! Die Formen lassen sich vielfältig ineinander umwandeln und übertragen.
Experiment Dynamo: Wir treiben durch das
Freigeben eines hochgehobenen Körpers eine
Kurbelmechanik an, die einen Dynamo dreht,
der ein Glühlämpchen zum Leuchten bringt,
dessen Temperatur wir messen. Das zeigt:
Die Umwandlung von chemischer Energie im
Muskel in kinetische Energie der Hand mit
anschließender Umwandlung in potenzielle
Energie. Diese wandelt sich weiter in kinetische und Rotationsenergie um. Die Rotationsenergie wird in elektrische Energie umgewandelt und diese schließlich in Strahlungs- und thermische Energie.
Hat etwas, das ständig seine Form verändert
überhaupt eine eigene Form? Ich kann Ihnen
keine anschauliche Modellvorstellung bieten.
Nur weil wir ein oft benutztes Wort für etwas
haben, haben wir nicht unbedingt eine
Vorstellung davon (siehe Kraft). Die Redewendung „Energie in Form von... Solarenergie, chemischer Energie, elektrischer Energie,
potenzieller Energie, kinetischer Energie
usw.“, hören wir sehr oft. Aber was ist eigent- Abb. 5.2: Energie tritt in vielen Formen auf, die sich
ineinander umwandeln können.
lich damit gemeint?
Die vielen Vorsätze benennen zentrale Eigenschaften der Energie: Sie benötigt immer einen Träger.
Und man kann sie von einem Träger auf den anderen umladen. Und man kann sie speichern. „Reine
Energie“ gibt es nur im Science Fiction. Umgangssprachlich identifiziert man oft den Energieträger
mit der Energie selbst. Können Sie erklären, wie sich das Licht der Sonne von seiner Energie unterscheidet? Oder was der Unterschied zwischen einem elektrischen Strom und seiner Energie ist? Wir
werden genau das jetzt konkretisieren und die Verwendung des physikalischen Begriffs Energieform scharf eingrenzen. Dazu vorher ein Beispiel:
Beispiel Sandform: Ein Kind spielt im Sandkasten und hat ein paar Sandformen (Herz, Stern,
Muschel), eine Schaufel und einen Eimer dabei. Es nimmt die Muschelform und schaufelt damit
Sand in den Eimer, bis er halb voll ist. Dann nimmt es die Schaufel und füllt den Eimer bis zum
Seite 94
Rand mit Sand auf. Zum Schluss setzt es ein Sandherz und einen Sandstern obendrauf. Das
Ergebnis gefällt ihm nicht, also kippt es den ganzen Sand aus dem Eimer wieder in den Sandkasten.
Kommt Ihnen an diesem Beispiel irgend etwas befremdlich vor? Nein? Mir auch nicht. Kämen Sie
auf die Idee, der Eimer enthielte zur Hälfte „Muschelsand“, zur Hälfte „Schaufelsand“ mit Spuren
von „Herz-“ und „Sternsand“? Und all das wird als „Eimersand“ wieder dem „Kistensand“ hinzugefügt? Nicht wirklich, oder? Denn Sand ist Sand und durch welchen Träger, also in welcher Form
er dem Eimer zugeführt wird, ist für die Sandmenge im Eimer egal. Nur während des Transports
wird er in eine Form gepresst, im Eimer und im Sandkasten ist er formlos. Beides enthält einfach
Sand.
Energie ist formlos wie dieser Sand. Wenn sie transportiert wird, hat sie eine Form. Wenn sie
irgendwo gespeichert ist, ist sie formlos und kann bis auf den dissipierten Anteil in beliebiger Form
wieder entnommen werden. Tatsächlich steht unser Denken und deshalb auch unser Sprachgebrauch
zu dieser Auffassung in krassem Widerspruch. Wir sprechen von der Energie so, als ob sie ihre
Form auch im Speicher behalten würde.
Beispiel: Wenn wir einen Stein hochheben, erhält er potenzielle Energie Epo t = mgh, Wenn wir ihn
fallen lassen, wird seine potenzielle Energie in kinetische Energie Ekin = ½ mv2 umgewandelt. Wenn
er auf den Boden trifft, wird seine kinetische Energie in Wärme umgewandelt.
Diese vollkommen übliche Formulierung enthält einige Unklarheiten. Sie unterscheidet nämlich
nicht zwischen dem Energieübertragungsprozess und dem Energieinhalt und genau das ist das Problem. Starten wir mit dem letzten Satz: Er suggeriert, am Ende sei „die Energie in Form von Wärme
im Boden drin“. Wärme ist aber wie Arbeit eine Prozessgröße, und deshalb gibt es sie nur bei einem
Austauschvorgang. Sie kann nirgendwo „drin“ sein. Nur die in der Form „Wärme“ ausgetauschte
Energiemenge ist am Ende zusätzlich in der Erde „drin“. Ähnlich ist es mit den andern beiden
Sätzen: Wenn wir den Stein hochheben, übertragen wir Energie in Form von potenzieller Energie.
Das bedeutet aber nicht, dass sein Energieinhalt E diese Form hat, wie es der Satz suggeriert. Denn
seinen Energieinhalt E können wir ihm durch eine beliebige Form wieder entziehen, z. B. in Form
von kinetischer Energie, mechanischer Energie, Spannenergie, elektrischer Energie, wie unser
Dynamo zeigt. Das sollte Sie aufwecken. Wir vereinbaren:
Wenn wir von einer speziellen Energieform sprechen, meinen wir damit, welche Energiemenge
ein konkreter Energieträger in einem Energieaustauschprozess übertragen hat. Wenn wir von der
Energie ohne Zusatz sprechen, meinen wir den formlosen Energieinhalt E eines Systems.
Normalerweise kommen Sie mit dieser feinen Unterscheidung erst in der Thermodynamik in Berührung und verstehen dann nicht, warum Wärmeenergie nicht irgendwo drin sein kann. Wir wollen
deshalb die Begriffe Energie und Energieform von Anfang an klar definieren. Beim Sprachgebrauch
werden wir uns nicht gegen die halbe Physikwelt auflehnen, aber zumindest sollten Sie wissen, wie
zwiespältig die Ausdrucksweisen sind. Für den Energieinhalt reservieren wir das Wort Energie und
das Formelzeichen E. Alle Energieformen bekommen einen Index, der sie identifiziert, z. B. Ekin,
Epot, Echem usw.
Die Einheit der Energie ist das Joule [E] = J = kg∙m2/s2. Ein Joule ist in unserer makroskopischen
Welt eine sehr kleine Energiemenge, in der mikroskopischen Welt dagegen eine gigantische Menge.
Beispiel: Wie viel Energie ist ein Joule?
1. Kinetische Energie:
Eine 100g-Tafel Schokolde mit v = 4,4 m/s.
2. Potenzielle Energie:
Eine 100g-Tafel Schokolde in der Höhe von 1 m.
3. Chemische Energie:
Eine 100g-Tafel Schokolde in 2,2×106 Stücke geteilt, davon 1 Stück
Seite 95
Die Gesamtenergie eines Elektrons in einem Atom liegt in der Größenordnung von E ≈ 10-19 J.
Deshalb benutzen wir in der mikroskopischen Physik eine andere Energieeinheit: das Elektronenvolt. Es ist die kinetische Energie, die ein Elektron bekommt, wenn es eine elektrische Spannung
von 1 V durchläuft: 1 eV =̂ 1,6×10−19 J .
5.1.1 Energieformen
Wir bestimmen jetzt konkrete Ausdrücke für einige Energieformen. Dazu betrachten wir ein System
mit dem Volumen V, meinen mit E seinen Energieinhalt, mit dE dessen Änderung durch Energieübertragung und mit dEi eine Energieform („Energie unterwegs“). Wir formulieren dazu die
dE
= I E ⇒ dE =I E dt (5.4).
Bilanzgleichung (5.2) für die Energie und multiplizieren mit dt:
dt
Nun lassen wir den Index E weg und lassen aufgrund der vielen verschiedenen Energieträger auch
dEi
dE i
dt=∑ dE i (5.5). Jetzt suchen wir
viele verschiedene Ströme I i =
zu: dE =∑ I i dt=∑
dt
dt
i
i
i
konkrete Ausdrücke für dEi. Man kann sie z.B. mit Hilfe der Arbeit berechnen 25. Man kann sie aber
auch analog zur Thermodynamik aus der Energie durch Bildung des totalen Differenzials gewinnen:
E=E ( x1, x 2,... )
dE=∑ d E i=
i
∂E
∂E
dx1 +
dx +...
∂ x1
∂ x2 2
Y 1=
∂E
∂E
; Y 2=
; Y 3=... 26.
∂ x1
∂ x2
Jede Energieform kann danach allgemein als dEi = Yi dxi geschrieben werden. Darin ist Y immer eine
intensive und x eine extensive Größe (Merkhilfe „IndEx). Die extensive Größe x entspricht darin
dem Energieträger (der „Schaufel“), die intensive Größe Y bestimmt Stärke und Richtung („Beladung und Transportrichtung“). Der Energieübertragungsprozess erfolgt durch den Transport der
Größe x in Richtung eines Gefälles von Y. Je größer das Gefälle, umso mehr Energie wird übertragen. Skalare „Gefällegrößen“ nennt man in der Physik häufig „Potenzial“.
Jede der extensiven Größen ⃗p (Impuls), ⃗
L (Drehimpuls), n (Stoffmenge), q (elektr. Ladung),
m (Masse), S (Entropie) bildet eine Trägergröße und hat eine zugeordnete „Gefällegröße“.
v (Geschwindigkeit), ω
Ihre „Gefällegrößen“ sind ⃗
⃗ (Winkelgeschwindigkeit), μ (chemisches Potenzial), φ (elektrisches Potenzial), ϕ (Gravitationspotenzial), T (Temperatur).
Ihre Energieformen sind: dE=⃗v⋅d ⃗p +⃗
ω⋅d ⃗
L +μ dn+ϕ dq+φdm +T dS (5.6).
Wir nennen sie kinetische Energie, Rotationsenergie, chemische Energie, elektrische (potenzielle)
Energie, potenzielle Energie, Wärme.
Jede mechanische Verrückung ⃗s (Verschiebung), ϕ , d ϕ⃗ =ω
⃗ dt (Verdrehung), V (Volumenänderung) hat ihre Arbeit und eine zugeordnete „arbeitende“ Größe.
⃗ (Kraft), N
⃗ (Drehmoment), p (Druck).
Die „Arbeitsgrößen“ sind F
⃗ ⋅d ⃗s +N⋅d
⃗ ⃗
Die Arbeitsformen sind: dW = F
ϕ +p dV (5.7).
Wir nennen die ersten beiden einfach Arbeit und die letzte Druckarbeit.
Die Liste ist nicht vollständig, weitere Energieformen kommen später. Die Ausdrücke in (5.6) und
(5.7) sind nicht die Energieformen, mit denen wir im Folgenden umgehen. Uns interessiert eher, wie
viel Energie Ei ein System gespeichert hat, wenn wir ihm soundso viel von einer Trägergröße xi mit
der Beladung Yi gegeben haben. Dazu müssen wir dEi integrieren.
25
26
Diese Variante finden Sie in jedem Physikbuch. Wir machen das im Rahmen der Übungsaufgaben und Beispiele.
Diese Gleichung entspricht der Gibbsschen Fundamentalform. Sie bildet die Grundgleichung der Thermodynamik.
Seite 96
Beispiel: Für die kinetische Energie, transportiert durch Impuls, erhalten wir den Zusammenhang
E (⃗p)
⃗p
⃗p
dE =⃗
v⋅d ⃗p ⇒ E kin= ∫ dE ' =∫ ⃗
v d ⃗p '=
0
0
1
p2 1
p
'
d
p
'=
= m v 2 (5.8).
⃗
⃗
∫
m0
2m 2
Für die potenzielle Energie der Gewichtskraft, transportiert durch Masse, erhalten wir mit ϕ = gh:27
E (m)
m
m
dE=φ⋅dm ⇒ E pot = ∫ dE ' =∫ φdm' =gh ∫ dm ' =mgh (5.9).
0
0
0
Für die durch Arbeit zugeführte Energie beim Anheben einer Masse auf die Höhe h im Feld der
Gewichtskraft erhalten wir mit F = mg:
W (h)
h
h
⃗ ⋅d ⃗s ⇒ W s= ∫ dW '=∫ m ⃗g⋅d ⃗s=m g ∫ ds=mgh (5.10).
dW = F
0
0
0
Die anderen Energieformen gewinnen wir analog. Wir beschränken uns vorerst auf die folgenden:
Energieformen
1. kinetische Energie
E kin=1 /2 m v 2 (5.11)
2. potenzielle Energie
E pot =m g h
3. Rotationsenergie
E rot =1/ 2 I ω2 (5.13)
4. Chemische Energie
(5.12)
Echem (Die chemische Energie betrachten wir immer als gegeben.)
Arbeitsformen
f
5. Verschiebearbeit
⃗ ⋅d ⃗s
W s=∫ F
(5.14)
i
6. Dreharbeit
f
⃗ ⋅d φ
W φ =∫ N
⃗ dt .
⃗ (5.15) mit d ϕ⃗ = ω
i
5.1.2 Äußere und innere Energie
Ist die Energie E eines System eine absolute Größe? Nein. Die kinetische Energie hängt von der
Bewegung des Bezugssystems ab. Die kinetische Energie Ihres Körpers ist aus der Perspektive Ihres
Kopfes sicher null. Von der Sonne aus betrachtet ist sie jedoch sehr groß, denn Sie rasen mit
105 km/h um die Sonne herum. Ähnlich verhält es sich mit der Rotationsenergie und der potenziellen Energie: Der Wert von L wird durch den Bezugspunkt bestimmt. Der absolute Wert der potenziellen Energie wird erst mit der Wahl des Potenzialnullpunktes h = 0 festgesetzt. Weil diese Energien vom Beobachter und seiner Wahl abhängen, nennt man diese Größen äußere Energieformen.
Die Energie, die dem Körper per se zugeschrieben werden kann, heißt dagegen innere Energie U.
Dazu zählen zum Beispiel die thermische Energie Eth = c∙m∙T (c = spezifische Wärmekapazität) und
die Ruheenergie einer Masse E0 = m∙c2. Die Gesamtenergie eines Systems ist die Summe aus äußerer
Energie und innerer Energie. Bei Zufuhr von Energie in Form von Arbeit und Wärme erhöht sich die
Gesamtenergie. In der Mechanik betrachten wir nur die äußeren Energien und fassen sie als Gesamtenergie auf. Die Thermodynamik beschäftigt sich dagegen mit der Änderung der inneren Energie U.
⃗ r )⋅⃗r =G (r )r (siehe
Das Gravitationspotenzial einer kugelförmigen Masse ist außerhalb der Masse φ= G(⃗
Kap. 5.1.3.1). Auf der Erdoberfläche ist G(rE) = g und deshalb ϕ = grE. Im einem Abstand h = r – rE, der sehr klein
gegen rE ist, sehen wir G(r) ≈ G(rE) = g als konstant an. Dann ist ϕ = gr – grE = gh.
27
Seite 97
Experiment Pendel: Ein langes Fadenpendel mit einer Stahlkugel wird bis zu einer Markierung (je
nach gewünschtem Effekt ein stehender Nagel oder die Stirn des Dozenten) auf eine Höhe h ausgelenkt. Wenn es zurückkehrt erreicht es nahezu die Ausgangshöhe. Beim Durchgang durch die Ruhelage wird die Geschwindigkeit v gemessen. Aus h und v werden potenzielle und kinetische Energie
berechnet. Im Rahmen der Messgenauigkeit ergibt sich der gleiche Wert. Wartet man mehrere Perioden ab, nimmt die Höhe langsam ab. Das zeigt: Die äußeren Energien (potenzielle Energie und
kinetische Energie) werden periodisch ineinander umgewandelt. Ein geringer Teil davon wird
gleichzeitig durch Reibung dissipiert und in innere Energie umgewandelt.
5.1.3 Felder, Arbeit und potenzielle Energie
5.1.3.1 Potenzielle Energie
Wenn auf einen Körper eine Kraft wirkt, ohne das er in unmittelbarem Kontakt mit einem anderen
Körper steht, sagt man, die Kraft werde von einem Feld „vermittelt“. Beispiele sind das Gravita⃗ , das elektrische Feld ⃗
tionsfeld G
E oder das Magnetfeld ⃗
B . Sie vermitteln Kräfte. Auf einen
⃗ (⃗r )=m G
⃗ (⃗r ) . Die
Körper der Masse m am Ort ⃗r im Gravitationsfeld wirkt z. B. die Kraft F
potenzielle Energie Epot ist eine Energie, die man einigen dieser Felder und einigen ortsabhängigen
⃗ und ⃗
Kräften zuordnen kann, z. B. G
E sowie der Federkraft F ( x)=−D x .28 Man nennt diese
Kräfte konservativ. Wir konkretisieren das in Kap. 5.1.3.3. Wenn auf einem Körper am Ort ⃗r eine
⃗ ( ⃗r ) wirkt, kann man dem System eine potentielle Energie Epot( ⃗r ) zuschreikonservative Kraft F
ben. Der Zusammenhang zwischen Kraft und potenzieller Energie ist − wie so oft in der Physik −
differenziell bzw. integral (Das Dreieck ist der Nabla-Operator):
⃗ E
⃗ =−∇
Die negative Ableitung der potenziellen Energie nach dem Ort gibt die Kraft F
pot (5.16).
Die potenzielle Energie ist definiert über das negative Wegintegral 29 einer konservativen Kraft
f
⃗ ⋅d ⃗s (5.17). Die potenzielle Energie ist
entlang eines Weges von i nach f: E pot ( f )−E pot (i)=−∫ F
i
nur als Differenz definiert: Den Nullpunkt von Epot kann man deshalb frei wählen.
Für eine Komponente der Kraft, bzw. eine Kraft, die nur entlang einer Koordinate wirkt, ist (5.16)
d
die einfache Ortsableitung F x =− E pot (5.18) (x steht stellvertretend für eine beliebige Koordidx
nate). Wenn man die potenzielle Energie durch die jeweilige „Ladung“ teilt, nennt man die Größe
EG
kurz Potenzial. Das Gravitationspotenzial ist φ= pot (5.19) und das elektrische Potenzial
m
E
E
ϕ= pot (5.20). Elektrische Potenzialdifferenzen kennen Sie alle: Das ist die elektrische Spannung.
q
⃗ g =−m g ⃗e z . Hebt man einen Körper der Masse m auf die Höhe z, ist die
Beispiel: Gewichtskraft F
z
z
⃗ g⋅d ⃗s=−∫ (−mg ) d z ' =mgz mit Epot (z = 0) = 0. Die
potenzielle Energie E pot ( z)−E pot (0)=−∫ F
0
0
⃗ g ist F z =− d E pot =− d mgz=−mg . Das Potenzial ist φ = Epot/m = gz.
z-Komponente von F
dz
dz
28
29
Anderen aber nicht, z. B. ⃗
B oder der Reibungskraft FR. Die Arbeit ist bei ihnen nicht unabhängig vom Weg.
Den Umgang mit Wegintegralen lernen Sie in der mathematischen Ergänzung. Für einfache Wege lernen wir das auf
der nächsten Seite kennen.
Seite 98
Das negative Vorzeichen ist notwendig, damit die Kraft in die Richtung wirkt, in der die Energie
abnimmt. So gibt es uns die Natur vor.
Potenzielle Energie
p ot enzielle Energie
Zur potenziellen Energie gibt es eine sehr anschauliche Modellvorstellung: Für die Gewichtskraft
malt die Landschaft sie Ihnen hin und stellt ihren Wert direkt als Höhe dar. Die Alpen sind ein
Abbild der potenziellen Energie ihres Gesteins. Beim Fahrradfahren, spüren Sie sie unmittelbar:
Bergauf müssen Sie arbeiten, bergab gewinnen sie Energie. Diese „Erfahrung“ können Sie auch auf
andere potenzielle Energien übertragen: Potenzielle Energie bildet immer eine Art Höhenlandschaft, ihr Gefälle bestimmt die Stärke der zugehörigen Kraft, die die Objekte in die Täler treibt.
Wenn Sie den Verlauf der potenziellen Energie
entlang einer Koordinate (z. B. x) aufzeichnen,
betrachten Sie die Kurve als Straße entlang eines
Gebirgsgrats. Überlegen Sie sich, wohin Sie als
Fahrradfahrer rollen würden, wenn Sie sich an
F> 0
F< 0
F< 0
einer Stelle x dieser Straße befänden. Ihre Roll| F| m it t el
| F| groß | F| klein
F= 0
richtung gibt ihnen das Vorzeichen der Kraft bei
Ort x
x. Dann überlegen Sie sich, wie schnell Sie dort
Ort x
rollen würden: Je steiler die Straße, umso schnel- Abb. 5.3: Der Zusammenhang zwischen potenler würden Sie rollen. Die Steilheit der Straße zieller Energie und Kraft
gibt Ihnen die Größe der Kraft bei x.
5.1.3.2 Arbeit und Wegintegrale
Jetzt wenden wir uns der ziemlich tückischen Arbeit W zu. Oft werden Arbeit und potenzielle
Energie nicht klar getrennt. Dadurch entstehen häufig Vorzeichenfehler oder Widersprüche.
In der Physik wird als Arbeit W der Energietransfer durch die mechanische Verschiebung eines Objektes aufgefasst. Ganz anders als in der
Umgangssprache. Auch wenn es noch so anstrengend ist, eine 5-kg-Hantel mit ausgestrecktem Arm zu halten: In der Physik erfordert das keine
Arbeit, weil sich nichts verschiebt. Arbeit ist die Energie, die einem
System zugeführt wird, indem sich gemeinsam mit einem Systembe- Abb. 5.4: Fa arbeitet, FW
standteil der Angriffspunkt einer äußeren Kraft im System verschiebt. nicht.
Als Konsequenz sind Systeme, an denen Arbeit verrichtet wird, immer offen und nie isoliert. In
Abb. 5.4 arbeitet nur die Zugkraft Fa, die Kraft FW der Wand jedoch nicht, denn ihr Angriffspunkt
bleibt fest. Sie ist eine Zero-Work-Force. Eine mechanische Verschiebung erfordert immer eine
Kraft oder ein Drehmoment. Der Vorgang des Verschiebens ist ein Prozess. Arbeit ist also keine
Größe, die den Zustand eines Systems beschreibt, sondern eine Prozessgröße, die den Energieaustauschvorgang charakterisiert. Die Arbeit können wir in zwei Gruppen aufteilen: Arbeit durch die
sogenannten „konservativen Kräfte“ (Kap. 5.1.3.3) und Arbeit durch alle anderen Kräfte. Die
konservativen Kräfte sind z. B. die Gravitationskraft, die Coulomb-Kraft und die Federkraft. Für sie
gibt es eine potenzielle Energie.
Im Zusammenhang mit der Arbeit gibt es drei miteinander verknüpfte Schwierigkeiten: ihr
Vorzeichen, welche Kraft „arbeitet“ und wer die Energie bekommt. Wir wählen das Vorzeichen
positiv. Es gibt keine einheitliche Vorzeichenkonvention. Das wird von Buch zu Buch verschieden
gehandhabt. Bei uns so wie in vielen Experimentalphysikbüchern (und in der Schule) bleibt das
Arbeitsintegral aus gutem Grund positiv. Ich erkläre Ihnen gleich, warum.
Seite 99
f
⃗ ⋅d ⃗s ⇒ W i → f =∫ ⃗
dW = F
F⋅d ⃗s (5.21) (Arbeit in dieser Vorlesung, Arbeit in der Schulphysik)
i
Das Vorzeichen wird dadurch bestimmt, welche Kraft man arbeiten lässt: Ist es positiv, kann die
⃗ a aus der Umgebung sein. Eine positive Arbeit
arbeitende Kraft eine beliebige äußere Kraft F
bedeutet ein Energiezuwachs in unserem jeweils betrachteten System, ein negativer Wert eine Verringerung. Durch die Wahl des positiven Vorzeichens dürfen wir in das Integral die Kraft einsetzen,
die wir ganz intuitiv als „die arbeitende Kraft“ bezeichnen würden. 30
Beispiel: Wenn wir eine schwere Einkaufstüte anheben, müssen wir eine arbeitende Kraft gegen die
Gewichtskraft aufbringen. Wenn wir einen Kleiderschrank schieben, müssen wir eine arbeitende
Kraft gegen die Reibungskraft aufbringen. Wenn wir einen zu vollen Koffer zudrücken wollen,
müssen wir eine arbeitende Kraft gegen die Federkraft des Inhaltes aufbringen.
Die Energie, die wir durch Arbeit in das System hineinstecken, muss genauso groß sein, wie die
Energie, die das System abgibt, wenn es im umgekehrten Prozess selbst arbeitet (z. B. der Koffer
⃗ a folgendermaßen festgelegt:
wieder aufspringt.). Dadurch ist der Wert der arbeitenden Kraft F
Zur Berechnung der Verschiebearbeit gegen eine Kraft oder ein Kraftfeld setzen wir an jedem Ort
⃗ a ( ⃗r )=−F
⃗ ( ⃗r ) an, die die Kraft F
⃗ ( ⃗r ) , gegen die wir arbeiten, genau kompensiert.
⃗r eine Kraft F
Das Integral in (5.21) ist ein sogenanntes Wegintegral. Dazu ein kurzer mathematischer Einschub:
Bei Wegintegralen entlang eines Weges s durch ein Kraftfeld F muss man sich gedanklich auf den Anfang des Weges (i = initial) setzen und von dort den Weg bis zum Ende
(f = final) durchlaufen. Unterwegs denkt man sich den Weg s zerlegt in kleine gerade
Wegstücke ds, die tangential am Weg liegen. Sie werden mit der dort wirkenden
Kraft F skalar multipliziert. Diese vielen Skalarprodukte F∙ds summiert man auf. Sie
bilden das Wegintegral. Deshalb ist das Wegintegral immer positiv, wenn Kraft und Weg
überall gleich gerichtet sind, und immer negativ, wenn sie überall entgegengesetzt
gerichtet sind, egal welche Vorzeichen F und s jeweils haben.
Weg s
i
r(t)
r(t')
ds=dr
F(r)
f
Viele Wege kann man mit Hilfe eines Laufparameters t als r(t) ausdrücken. Ein Wegstück d ⃗s ist identisch mit
der Änderung des Ortsvektors d ⃗r , dessen Spitze den Weg durchläuft. Deshalb ersetzt man d ⃗s durch d ⃗r und
substituiert d ⃗r durch dt und die Integrationsgrenzen durch t. Das Integral berechnet sich dann durch
tf
d ⃗r
∫ F⃗ (⃗r )⋅d ⃗r =∫ F⃗ ( ⃗r (t ))⋅ dt dt . Das sieht komplizierter aus, als es eigentlich ist. Oft können wir das Integral
Weg ⃗s
t
i
auch skalar berechnen, z. B. wenn F und s immer den gleichen Winkel γ zueinander haben.
Beispiel: Berechne das Wegintegral für eine tangentiale Kraft F = konst. entlang eines gegen den Uhrzeigesinn
⃗ und d ⃗s =d ⃗r sind überall tangential
durchlaufenen kreisförmigen geschlossenen Weges mit dem Radius R. F
⃗ ⃗r zum Betragszum Weg und deshalb auch überall parallel zueinander. Also wird das Skalarprodukt F⋅d
produkt F∙dr. Für einen Kreisbogen mit Radius R gilt s = Rφ. Der Parameter ist t = φ, also auch dt = dφ. Aus s
erhalten wir durch Ableiten ds/dφ = R = dr/dφ. Das ergibt dr = dr/dφ∙dφ = R∙dφ. Für einen Vollkreis läuft φ von
0 bis 2π. Wir ersetzen noch i und f durch φ i = 0 und φf = 2π. Damit ist das Wegintegral
2π
2π
∫ F⋅R d ϕ= F⋅R ∫ d ϕ =F⋅R [ϕ ]20 π=2 π R F . Es ergibt einfach die Weglänge s mal F. Ein entsprechendes Ergeb0
0
nis, d. h. Arbeit = Kraft × Weglänge, erhalten wir für jeden Weg, wenn der Betrag der Kraft konstant und ihre
Richtung stets parallel zum Weg ist.
Für konservative Kräfte ergibt sich ein riesiger Vorteil (und deshalb stellt die Physik sie so heraus):
30
In der Theorie lernen Sie die Arbeit zum Verschieben von i nach f häufig mit einem negativen Vorzeichen kennen. Das
ergibt sich unmittelbar aus (5.17), weil man mit ihrer Hilfe die potenzielle Energie als die Differenz der Energien an den
Orten i und f definiert. Dann ist ⃗
F jedoch die Kraft, gegen die man arbeiten muss. Sie hat das umgekehrte Vorzeichen,
daher benötigt man ein Minuszeichen vor dem Integral.
Seite 100
Für konservative Kräfte muss man das Wegintegral der Arbeit nicht auswerten: Bei ihnen ist die
Arbeit − unabhängig vom Weg! − einfach die Differenz der potenziellen Energien zwischen
Endpunkt und Anfangspunkt des Weges.
Das ist doch ein guter Grund, potenzielle Energien zu kennen☺. Diesen riesigen Vorteil nutzen wir
aus, so oft wir können.
5.1.3.3 Konservative Kräfte
Konservative Kräfte erhalten die äußere Energie. Potenzielle Energie ist an konservative Kräfte
gebunden. Nicht konservative Kräfte dissipieren Energie. Diese betrachten wir zuerst: Wenn man
eine Kiste auf direktem Weg von A nach B schiebt, verrichtet man Arbeit gegen die Reibungskraft.
Diese Arbeit wird größer, wenn man nicht auf direktem Weg, sondern zum Beispiel auf einem
gebogenen Umweg schiebt, weil der Weg dann länger ist. Die verrichtete Arbeit ist also eine Frage
des Weges. Auch wenn man die Kiste im Kreis schiebt, also auf einem geschlossenen Weg von A
wieder nach A, muss man arbeiten und zwar umso mehr, je größer der Kreis ist. Die Reibungskraft
ist deshalb nicht konservativ.
Bei konservativen Kräften ist dagegen − zumindest theoretisch − die Arbeit zum Verschieben eines
Objektes unabhängig vom gewählten Weg. Als Beispiel können wir uns einen reibungsfreien Boden
vorstellen, z. B. eine Eisfläche mit einem Wasserfilm. Wir geben der Kiste kurz einen Schubs und
sie bewegt sich „von selbst“ mit konstanter Geschwindigkeit über die Eisfläche. Das ist die Aussage
des Trägheitsgesetzes. Es ist offensichtlich keine Kraft, also auch keine Arbeit mehr zum Verschieben erforderlich. Ohne Reibung ist die Arbeit zum Verschieben der Kiste immer null, egal ob die
Kiste auf direktem Weg oder „über die Bande“ von A nach B und wieder zurück nach A gelangt. Die
horizontale Verschiebearbeit ist dann also wegunabhängig. Nehmen wir nun an, die Eisfläche sei
geneigt wie eine Skipiste. Wir geben der Kiste bei A ordentlich „Schwung“ (also Impuls), dann wird
sie den Hang ein Stück bis B hinaufgleiten. Dabei verrichtet die Gewichtskraft Arbeit und bremst
sie ab. Anschließend wird sie umkehren und die Gewichtskraft verrichtet erneut Arbeit und
beschleunigt sie wieder. Wenn sie wieder bei A ankommt, hat sie die gleiche Energie wie beim Start.
Die insgesamt an ihr verrichtete Arbeit auf diesem geschlossenen Weg ist null. Jetzt nehmen wir
statt der Skipiste einen beliebig geformten geschlossenen Weg, z. B. einen Eiskanal wie bei einer
Bobbahn. Auch hier wird sie immer mit der gleichen Energie ankommen, mit der sie gestartet ist.
Das ist das Kennzeichen konservativer Kräfte: Sie erhalten die Energie. Die Arbeit, die auf dem
Hinweg am Objekt verrichtet wird, wird auf dem Rückweg wieder frei. Egal, wie Hin- und
Rückweg aussehen. Wir halten als Ergebnis fest:
Bei konservativen Kräften ist die Arbeit längs eines beliebigen geschlossenen Weges immer null:
W i →i =
∮
⃗
F⋅d ⃗s=0 (5.22). Der Kreis im Integralzeichen zeigt den geschlossenen Weg an.
geschl. Weg
Das hat Folgen: Wir können jetzt ein Objekt im Feld einer konservativen Kraft auf einem beliebigen
Weg von A nach B schieben, die Arbeit, die dafür erforderlich ist, ist zwar nicht null, aber
unabhängig vom Weg. Jetzt weisen wir dem Punkt A willkürlich die Energie Epot(A) = 0 zu. Dann
können wir auch dem Punkt B eine eindeutige Energie Epot(B) zuweisen, nämlich die, die nötig ist
um ein Objekt von A nach B zu schieben. Genau diese Energie nennen wir dann die potenzielle
Energie des Objektes bei B (bezogen auf den gewählten Nullpunkt) im Feld dieser konservativen
Kraft. Wenn die Verschiebearbeit nicht unabhängig vom Weg ist, wie bei der Reibungskraft, geht
das natürlich nicht und die Kraft ist nicht konservativ.
Neben den bereits genannten Kräften Gewichtskraft, Gravitationskraft, Coulomb-Kraft, Federkraft
können auch noch andere Kräfte konservativ sein, wenn keine Dissipation auftritt.
Seite 101
5.1.3.4 Vorsicht Falle: Potenzielle Energie und Arbeit
Lesen Sie diesen Abschnitt bitte unbedingt vollständig durch , sonst entgeht Ihnen der wesentliche Punkt.
Jetzt sind wir gewappnet für die Arbeit und betrachten drei (skalare) Beispiele zur Bewegung einer
Kiste im konservativen Feld der Gewichtskraft:
a) Anheben: Sie heben eine Kiste auf eine Höhe h hoch. Wir gehen davon a)
aus, dass Sie die arbeitende Kraft Fa aufbringen. Sie heben die Kiste von
unten nach oben. Ihre Kraft Fa und der Weg s der Kiste sind beide von unten
nach oben gerichtet, das sei die z-Richtung. Um die Kiste hochzuheben,
müssen Sie gegen die Gewichtskraft FG = − mg arbeiten, also ist Fa = mg.
h
h
Wir erhalten damit W =∫ mg⋅dz =mg ∫ dz=mg [z ]0=mgh . Unsere Energie- b)
h
0
0
bilanz für den Prozess des Hochhebens und die Energie E in der Kiste ist:
ΔE = W mit ΔE = E(t2) − E(t1) = mgh > 0. Das ist ein Energiezuwachs.
b) Absenken: Jetzt betrachten wir den umgekehrten Prozess: Wir heben die
Kiste herunter. Unsere Kraft muss wie vorher nach oben gerichtet sein, um
die Gewichtskraft zu kompensieren, aber unser Weg hat sich nun umgedreht.
c)
Durch die Wegumkehr s → −s wird das Skalarprodukt negativ, und damit
auch das Wegintegral. Wir wissen das schon, aber wir zeigen es noch einmal
explizit: Unser Weg kann durch r(z') = h − z' mit t = z' parametrisiert werden
und z' läuft von 0 bis h. Wir erhalten dr /dz' = − 1, also dr = − dz'. Folglich ist
h
die Arbeit jetzt: W =−∫ mg⋅dz=−mgh . Unsere Energiebilanz für den
Abb. 5.5: a) AnheProzess des Herunterhebens und die Energie E in der Kiste ist: ΔE = W mit ben, b) Absenken,
ΔE = E(t2) − E(t1) = − mgh < 0. Das ist ein Energieverlust.
c) Fallen einer Kiste
0
Wir sehen: Wenn wir die Kiste permanent Hoch- und Herunterheben, verrichten wir im physikalischen Sinn keine Arbeit: Was wir beim Hochheben hineinstecken, bekommen wir beim Herunterheben wieder.
c) Fallen: Trotzdem strengt es uns unphysikalische Wesen an, und deshalb lassen wir die Kiste
irgendwann fallen. Nun ist die arbeitende Kraft die Gewichtskraft. Deshalb muss sie eine äußere
Kraft sein und ihr Feld kann nicht Bestandteil des Systems sein. Sie ist aber nun, ebenso wie der
Weg, von oben nach unten gerichtet. Das Skalarprodukt ist also wieder positiv, weil wir jetzt
h
Fa = − mg und s → − s haben. Das Arbeitsintegral ist erneut positiv: W =−∫ (−mg)⋅dz =mgh .
0
Unsere Energiebilanz für den Prozess des Fallens und die Energie E in der Kiste ist: ΔE = W mit
ΔE = E(t2) − E(t1) = mgh > 0. Das ist ein Energiezuwachs.
Kann das sein? Hochheben führt Energie zu und Fallenlassen auch? Ist hier ein Vorzeichenfehler?
Nein: Beides ist korrekt. Denn beim Fallenlassen gewinnt unsere Kiste ebenfalls Energie: kinetische
Energie, anders als beim Absenken.
Trotzdem scheint dabei noch ein Denkfehler zu sein, denn beim Absenken verliert sie ja Energie.
Müsste sich das nicht genau mit dem Zuwachs an kinetischer Energie beim Fallen aufheben? Wenn
Sie diese Problematik erkannt haben, können Sie stolz auf sich sein! An diesem Punkt sind schon
einige verzweifelt, denn hier lauert eine fiese Physikfalle.
Jetzt kommt der wesentliche Punkt: Wir müssen uns klar machen, welche Energie wir welchem
System durch unsere Arbeit zuführen: Bei a) und b) ist es die Energie, die wir potenzielle Energie
Seite 102
nennen. Die Stolperfalle ist, dass diese Energie nicht in der Kiste allein, sondern in dem System aus
Kiste und Erde, genauer noch im Gravitationsfeld der Erde gespeichert wird. Wenn wir die Kiste
anheben, ziehen wir Kiste und Erde etwas auseinander wie zwei Enden einer Feder, wir „spannen“
das System. Diese Spannenergie ist das, was wir potenzielle Energie nennen. Um von dieser Energie
sprechen zu dürfen, müssen wir die Erde und ihr Feld in unser System mit einbeziehen. Wir können
ja auch nicht von der Spannenergie einer Feder sprechen, wenn wir nur ein abgeschnittenes Ende
losgelöst vom Rest betrachten. Tatsächlich haben wir bei a) und b) stillschweigend das Feld der
Gewichtskraft in das System einbezogen: Denn wenn Fg eine äußere Kraft wäre, würde auch sie
Arbeit verrichten, während wir die Kiste verschieben und die Bilanz für die Arbeit an der Kiste wäre
konsequenterweise bei a) W = mgh − mgh = 0 und bei b) W = − mgh + mgh = 0. In der Physik bleibt
viel zu oft das betrachtete System und der Speicherort der potenziellen Energie unerwähnt und man
schreibt sie einseitig und unreflektiert dem verschobenen Körper zu. Das geht, weil man dadurch in
der Regel auch keine Fehler macht, solange man die Arbeit des Feldes ignoriert. Sauber ist das aber
nicht. Wir definieren unser System jetzt nachträglich und schließen bei a) und b) die Kiste, die Erde
und das Feld der Gewichtskraft in unserer System ein. Es ändert an unseren Ergebnissen nichts,
sondern rechtfertigt sie im Nachhinein, denn innere Kräfte verrichten keine Arbeit.
Fehler entstehen oft, wenn man − wie beim Fallenlassen der Kiste − das Feld selbst am System arbeiten lässt. Wenn das Feld selbst arbeitet, kann es nicht zum System gehören, weil nur äußere
Kräfte Arbeit verrichten können. Damit liegt auch der Speicherort der potenziellen Energie außerhalb des Systems, folglich kann es innerhalb des System keine potenzielle Energie des äußeren
Kraftfeldes geben. Die Energieform „potenzielle Energie“ gibt es nur in Systemen, die das konservative Kraftfeld beinhalten. Das sind Systeme, die wir durch eine äußere Kraft „spannen“ können:
z. B. zwei Körper, zwei geladene Teilchen, eine Feder. Das Feld der konservativen Kraft ist dann
der Bestandteil des Systems, in dem die potenzielle Energie gespeichert wird.
Das wenden wir jetzt auf unsere fallende Kiste an: Die Gewichtskraft arbeitet und ist nun eine
äußere Kraft. Das System enthält daher nur noch die Kiste. Für die Kiste allein gibt es die Energieform „potenzielle Energie“ nicht, somit kann die potenzielle Energie nicht in der Energiebilanz der
Kiste enthalten sein. Aus diesem Grund ist unsere Rechnung zur fallenden Kiste völlig richtig:
Durch die Arbeit des Feldes gewinnt die Kiste kinetische Energie, ihre Energiebilanz ist positiv.
Diese Komplikation ist der Grund, warum wir die Arbeit positiv definiert haben. Wählt man das
negative Vorzeichen, arbeitet i. d. R. das Feld, was wesentlich unanschaulicher und fehleranfälliger
ist. Wir merken uns als wichtiges Ergebnis:
Arbeit und potenzielle Energie der gleichen konservativen Kraft können nicht gemeinsam in einer
Energiebilanzgleichung stehen31.
Häufig wird „vergessen“, dass die potenzielle Energie immer zu einem System aus zwei Objekten
gehört. Fast immer findet man Formulierungen, die die potenzielle Energie ausschließlich dem verschobenen Körper zurechnen. Lassen Sie sich davon nicht täuschen. Immer wenn Sie die potenzielle
Energie berücksichtigen, betrachten sie tatsächlich ein System bestehend aus beiden Objekten und
dem Feld. Abschließend berechnen wir noch als ausführliches Beispiel die potenzielle Energie der
Gravitationskraft.
Beispiel: Die potenzielle Energie der Gravitationskraft: Wenn wir die Gravitationskraft nicht mehr
nur an Orten nahe der Erdoberfläche betrachten, sondern auch für Orte in einem sehr großen
⃗ G =m ⃗
g einer konstanten Gewichtskraft
Abstand r >> RE, (RE Erdradius), dann ist die Näherung F
31
Verwechseln Sie nicht die Definition der potenziellen Energie mit einer Energiebilanzgleichung!
Seite 103
m1 m 2 ⃗r
ist vom Abstand der Körper
r 2 ∣⃗r ∣
abhängig und nimmt sehr schnell, nämlich quadratisch, mit zunehmendem Abstand r der Massezentren beider Körper ab. Ihre Richtung liegt immer auf der Verbindungslinie beider Massezentren.
nicht mehr angemessen. Denn die Gravitationskraft F⃗G =−G
Wir betrachten nun konkret die Erde und setzen sie in den Koordinatenursprung. Die Gravitationskraft, die sie auf einen anderen Körper der Masse m ausübt, ist
abhängig von deren Ort r. Schieben wir den Körper immer
weiter weg, wird die anziehende Kraft immer kleiner. Andererseits nimmt dabei die „Spannung“ des Systems Erde plus Körper
− und somit die potenzielle Energie des Systems − zu (so wie die
Spannung einer Feder zunimmt, wenn wir beide Enden weiter auseinanderziehen). Deswegen liegt
das Maximum der potenziellen Energie bei r → ∞. Jetzt berechnen wir die Arbeit, die nötig ist, um
einen Körper aus einem großen Abstand ri in einen kleineren Abstand rf < ri in Richtung Erde zu
rf
F a⋅d ⃗r . Wir lassen den Körper nicht „fallen“, sondern senken ihn sanft ab,
verschieben: W i → f =∫ ⃗
ri
⃗ a=− F
⃗ G ist positiv und zeigt von der Erde weg. Der Weg wird in negativer
d. h. unsere Kraft F
Richtung durchlaufen. Kraft und Weg liegen beide radial und haben antiparallele Richtungen.
Darum können wir skalar rechnen. Der ganze Prozess ist vollkommen analog zum Absenken der
Kiste auf S.101. Auch die Parametrisierung können wir mit r' = z', ri = h, rf statt 0 übernehmen:
Unser Weg kann durch r(r') = ri − r' parametrisiert werden und r' läuft von 0 bis ri − rf. Wir erhalten
dr /dr' = −1, also dr = − dr'. Das Arbeitsintegral ist wieder negativ und lautet:
r i −r f
r i −r f
W i → f =− ∫ F a⋅dr ' =−G m mE
0
∫
0
r −r
1
1
1 1
dr ' =−G m m E [
] =−G mm E ( − ) .
2
( r i −r ' ) 0
r f ri
(r i −r ' )
i
f
Es entspricht der Differenz der potenziellen Energie an den Orten i und f:
G m m E G m mE
1 1
E pot ( r f )−E pot (r i)=−G mm E ( − )=−
+
(5.23).
r f ri
rf
ri
Jetzt können wir noch einen Nullpunkt frei wählen. Dabei gibt es zwei „Standardnullpunkte“: auf
der Erdoberfläche oder in unendlicher Entfernung.
Um den Nullpunkt auf die Erdoberfläche zu legen, setzt man ri = rE + h und rf = rE und betrachtet die
umgekehrte Differenz. So erhält man wieder die potenzielle Energie der Gewichtskraft:
E pot (h)=E pot (r E +h)−E pot (r E )=−G m m E (
G m mE h
1
1
−h
− )=−G mm E (
)≈
=mgh (5.24).
r E +h r E
r E (r E +h)
r2E
Man nähert also den tatsächlichen Verlauf von Epot(h) in der Nähe der Erdoberfläche durch eine
Gerade.
In der Himmelsmechanik betrachtet man große Abstände
von einem Gestirn und legt den Nullpunkt in unendliche
Entfernung. Dazu lässt man ri → ∞ laufen. Dort liegt auch
der Maximalwert von Epot. Die Grenzwertbildung ergibt:
G m mE
lim E pot (r i)=lim
=0 . Man setzt noch rf = r und
ri
r →∞
r →∞
erhält die potenzielle Energie der Gravitationskraft:
G m mE
Abb. 5.6: Lage der potenziellen EnerE pot ( r )=E pot (r )−E pot (r i →∞)=−
(5.25).
gie für Gewichts- u. Gravitationskraft.
r
i
i
Seite 104
Ihr Verlauf ist für uns ungewohnt, denn sie hat die Form eines unendlich tiefen Trichters.32 Der
Maximalwert der potenziellen Energie liegt am Rand des Trichters und ist null. Dadurch nimmt die
potenzielle Energie nur negative Werte an. Das erscheint vollkommen anders, als wir es von
„Epot = mgh“ gewöhnt sind. Es scheint aber nur so: Stellen Sie sich wie üblich vor, auf dem
Erdboden sei Epot = 0. Wenn Sie eine Kiste hochheben, wird ihre potenzielle Energie größer null.
Und jetzt tragen Sie sie gedanklich in den Keller: Dort ist Epot < 0. Das negative Vorzeichen in (5.25)
beinhaltet einfach nur die Tatsache, dass wir von der Erde aus nicht höher steigen können, als
„unendlich weit weg“ und uns immer „im Keller“ befinden. Bei Bedarf können wir den Nullpunkt
beliebig verschieben, da die potenzielle Energie nur als Differenz definiert ist. Innerhalb der Erde
hat die potenzielle Energie einen anderen Verlauf, da die Gravitationskraft dort auch anders ist. Das
berechnen Sie in Aufgabe 5.9.
5.1.4 Die Leistung
Abschließend betrachten wir noch die Leistung P. Für die Arbeit ist die Dauer des Verschiebevorgangs egal, wir benötigen immer die gleiche Energie, wenn wir eine Kiste auf eine bestimmte
Höhe h heben. Wenn wir uns zusätzlich fragen, wie schnell wir die Kiste hochgehoben haben,
benötigen wir die Leistung. Umgangssprachlich ist Leistung „Arbeit pro Zeit“. Um von der Arbeit
W zur Leistung P zu kommen, müssen wir die Zeitableitung bilden. Der Zusammenhang ist wieder
einmal differenziell und genau wie zwischen Geschwindigkeit und Weg oder Beschleunigung und
Geschwindigkeit:
Leistung ist Energieänderung pro Zeitintervall P=
dW
(5.26).
dt
Die Einheit der Leistung ist das Watt: [P] = W = J /s.
Von der Leistung zur Arbeit kommen wir dann logischerweise durch die zeitliche Integration:
t2
W =∫ P dt (5.27). Wenn die arbeitende Kraft nicht von der Zeit abhängt, können wir das Arbeitst1
f
tf
tf
i
i
d ⃗s
F⋅d ⃗s =∫ ⃗
F⋅
dt=∫ ⃗
F⋅⃗v dt . Der Vergleich mit
integral in ein Zeitintegral umschreiben: W =∫ ⃗
dt
i
t
t
⃗ ⋅⃗v (5.28) und mit der Ersetzungstabelle (4.52) für die Drehbewegung auch
(5.27) liefert P= F
⃗
P= N⋅⃗
ω (5.29). Mit diesen Beziehungen wird die Leistung am häufigsten berechnet.
Beispiel: „Zwei Bergsteiger der Masse m besteigen den gleichen Berg der Höhe h. Der eine nimmt
einen Wanderweg mit l1 = 10 km Länge und benötigt t1 = 3 Stunden, der andere klettert an einer
steilen Felswand l2 = 1000 m hoch und benötigt t2 = 6 Stunden. Vergleichen Sie die Arbeit, die
Leistung und die erforderliche Kraft beider Bergsteiger.“ Die Arbeit W = mgh zum Hochsteigen ist
in beiden Fällen gleich und entspricht der potenziellen Energie Epot = mgh auf dem Gipfel. Die
Leistung P = W/t des Wanderers ist PW = W/t1, die des Kletterers PK = W/(2t1). Da der Wanderer in
der halben Zeit oben ist, ist seine Leistung doppelt so groß wie die des Kletterers. Wer den weiteren
Weg geht, benötigt die kleinere Kraft, hier also FW = mgh/l1 und FK = mgh/(0,1l1), also FK/FW = 10.
Der Kletterer muss eine 10fach größere Kraft aufwenden als der Wanderer. Fazit: Eine größere Kraft
führt nicht unbedingt zu einer größeren Leistung.
32
Beachten Sie, dass Epot für r = 0 unendlich wird. Dieses Problem schieben wir aufgrund noch fehlender mathematischer Kenntnisse in die theoretische Physik.
Seite 105
5.1.5 Zusammenfassung
Mit der Energie haben wir unsere letzte mechanische und die universellste Größe der Physik eingeführt. Wir haben ihre Einheit Joule und die wichtigsten äußeren Energieformen, kinetische Energie,
potenzielle Energie, Rotationsenergie kennengelernt. Die Mechanik betrachtet nur äußere Energieformen, die Thermodynamik dagegen die innere Energie. Dissipation entwertet Energie und wandelt
äußere Energie in innere Energie um. Der Energietransferprozess über die Systemgrenze durch
mechanische Arbeit ist verbunden mit der Verschiebung eines Objektes im System. Konservative
Kräfte sind Kräfte, bei denen die Arbeit unabhängig vom Weg ist. Für sie können wir eine potenzielle Energie definieren. Damit ist die Arbeit zum Verschieben eines Objektes von A nach B einfach die Differenz der potenziellen Energien bei B und A. Der Zusammenhang zwischen einer kon⃗ =−∇ E pot . Wenn wir die potenservativen Kraft und ihrer potenziellen Energie ist differenziell: F
zielle Energie eines Kraftfeldes in eine Energiebilanz aufnehmen, kann dieses Kraftfeld nicht
gleichzeitig am System arbeiten.
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden.. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
5.1) Erklären Sie den Begriff „potenzielle Energie“! Wann tritt sie auf? Wie hängt sie mit einer
Kraft zusammen? Wo wird sie gespeichert?
5.2) Berechnen Sie die potenzielle Energie Epot(x) der Federkraft F(x) = − Dx. Stellen Sie Epot(x)
zusammen mit F(x) für D = 1 N/mm in einem Diagramm als Funktion des Ortes x grafisch dar.
Beschreiben Sie die Form beider Kurven mit Worten. Wie ändert sich D und wie ändern sich beide
Kurven, wenn die Feder weicher oder härter wird?
5.3) Warum ist Gehen im Sand anstrengender als auf einer festen Straße? Vergleichen Sie die Arbeit
in beiden Fällen. Wobei gibt es eine Zero-Work-Force?
5.4) Erklären Sie auf Schülerniveau, wie Arbeit und potenzielle Energie zusammenhängen.
Erklären Sie auf Schülerniveau, wann und warum eine Arbeit und ihre potenzielle Energie nicht
gemeinsam in einer Bilanz auftauchen dürfen.
5.5) Der abgebildete Flaschenzug ist zwar genial − aber unbrauchbar.
a) genial ist er, weil er mit wenig Rollen eine große Kraftersparnis bewirkt. Berechnen
Sie die Kraft, mit der am Seil gezogen werden muss, um das Gewicht von 1600 N
anzuheben.
b) Geben Sie den Grund an, warum der Flaschenzug dennoch unbrauchbar ist.
1600 N
5.6) Macadamia-Nüsse sind die härtesten Nüsse der Welt. Um sie überhaupt
knacken zu können, benötigt man einen speziellen Nussknacker. Erklären
Sie die physikalischen Kniffe dieses Nussknackers.
5.7) Ein Turner mit einer Masse M = 75 kg hängt an
einem Reck und macht einen Klimmzug. Der Abstand
vom Reck zum Schwerpunkt des Turners beträgt anfänglich 1 m, dann zieht der Turner beim Klimmzug
seinen Schwerpunkt um Δh = 0,5 m hoch. Ziehen Sie die
Systemgrenze, wie rechts gezeigt, um den gesamten
Turner. Die Reckstange gehört jedoch nicht zum System.
a) Betrachten Sie die Situation zuerst unter Einschluss des Feldes der Gewichtskraft als isoliertes
Seite 106
System und schreiben Sie die Energiebilanz unter Einbeziehung der chemischen Energie der
Muskeln dafür auf. Welche chemische Energie müssen die Muskeln beim einmaligen Hochziehen
aufbringen?
b) Der Wirkungsgrad der Armmuskeln betrage etwa 25%, d.h. 75% der chemischen Energie werden
dissipiert, nur der Rest steht für die Klimmzüge zur Verfügung. Wieviel Klimmzüge muss der
Turner machen, um 1 Stück Schokoladen á 7∙104 J ab zu trainieren?
c) Betrachten Sie jetzt die Situation als offenes System. Dazu müssen Sie die am System verrichtete
Arbeit W finden, wenn es eine gibt. Geben Sie jeweils die Energiebilanz und die Arbeit W an für
den Fall, dass Sie i) das Gravitationsfeld in ihr System einbeziehen, ii) das Gravitationsfeld aus
ihrem System ausschließen.
5.8) Versuchen Sie doch einmal, den Nullpunkt der potenziellen Energie der Gravitation anhand
von Gleichung (5.23) in den Erdmittelpunkt zu legen. Welche Werte müssten ri und rf dann haben?
Beschreiben Sie die auftretenden Schwierigkeiten. Könnten Sie die Kurve der potenziellen Energie
mit diesem Nullpunkt in Abb. 5.6 einzeichnen?
mE m ⃗r
m g ⃗r
=− 3
gegeben.
3
rE r
rE r
Berechnen Sie die Arbeit, die Sie verrichten müssen, um gegen diese Gravitationskraft einen Körper der Masse m vom Mittelpunkt der Erde in einen Abstand r < rE zu verschieben. Integrieren Sie
dazu von i = 0 nach f = r. Rechnen Sie skalar. Gewinnt oder verliert der Körper dabei Energie?
Gewinnt oder verliert das System aus Körper und Erde dabei Energie? Wie lautet der Ausdruck für
die potenzielle Energie Epot(r) des Systems? Hat Epot(r) einen Nullpunkt? Wenn ja, wo liegt er?
⃗ (r )∣ analog zu Abb. 5.6 .
Wenn nein, wo würden sie ihn hinlegen? Zeichnen Sie Epot(r) und ∣F
⃗ ( ⃗r )=−G
5.9) Innerhalb der Erde ist die Gravitationskraft durch F
5.10) Welche Arbeit musste verrichtet werden, um die Masse m = 4875 kg des Satelliten Hotbird 8
von der Erdoberfläche auf sein Umlaufbahn in der Höhe von 37.000 km über der Erdoberfläche zu
befördern?
5.11) Die Masse eines Space Shuttle beträgt m = 8 · 104 kg und seine Umlaufzeit in 320 km Höhe
ist T = 90 Minuten. Der Erdradius ist RE = 6370 km und die Erdmasse ME = 6 ∙ 1024 kg.
a) Berechnen Sie die kinetische Energie des Shuttle.
b) Berechnen Sie die Änderung der potenziellen Energie des Shuttles zwischen seinem Start auf
dem Erdboden und auf seiner Umlaufbahn. (Nehmen Sie dazu ruhig die Erdbeschleunigung g als
konstant und gleich dem Wert auf dem Erdboden g = 10 m/s2 an.)
c) Weshalb ist die Änderung der potenziellen Energie wesentlich kleiner als die kinetische Energie?
Sollten nicht beide Werte gleich sein?
d) Berechnen Sie den Wert der Erdbeschleunigung g auf dem Erdboden und gh auf der Umlaufbahn
m m
 =−G 1 2 r mit G = 6,674·10-11 m3/(kg·s2). Um
in 320 km Höhe aus dem Gravitationsgesetz F
r2 r
wie viel Prozent ist gh auf der Umlaufbahn kleiner als g am Erdboden? Können Sie damit die
Schwerelosigkeit der Astronauten in einer Raumstation begründen?
5.12) Ein dreidimensionales elektrisches Potenzial hat die Gestalt φ(x,y,z) = ax2 − by2 + z.
Beschreiben Sie sein Aussehen mit Worten. Berechnen Sie das elektrische Feld ⃗
E =−∇ ϕ dieses
Potenzials. Beschreiben Sie sein Aussehen mit Worten. Würde in diesem Potenzial eine positive
Ladung festgehalten, die man in den Koordinatenursprung bringt?
Seite 107
5.13) Die Abbildung zeigt eine teure Designeruhr. Die Uhr mit der Masse M ist durch zwei dünne
masselose Drähte der Länge l, die über zwei masselose Rollen im Abstand 2d laufen, mit zwei
Gegengewichten der Masse m verbunden.
a) Zeigen Sie, daß die potenzielle Energie des Systems als Funktion
der Strecke y durch E pot ( y)=−M g y−2 m g (l−√ d 2 +y 2 ) gegeben
ist. Welche vertikale Kraft F(y) ergibt sich aus Epot(y)?
b) Zeigen Sie, dass die potenzielle Energie des Systems am kleinsten
M2
ist, wenn die Strecke y die Länge y min =d⋅
hat.
4 m 2−M 2

Seite 108
5.2 Bilanzgleichungen aufstellen
Jetzt lernen wir das nächste Standbein unseres Physikelefanten kennen:
die Anwendung von Bilanzgleichungen.
Wir können alle bisher kennengelernten Größen bilanzieren: Kräfte,
Drehmomente, Impuls, Drehimpuls und Energie. Im Großen und Ganzen
folgt das immer dem gleichen Schema: Wir vergleichen die Werte unserer
Größe in der Form „Summe links“ = “Summe rechts“.
Abb. 5.7: Der Schlüssel
Wie man diese Summen bildet, hängt davon ab, ob wir ein Gleichgewicht zum Gleichgewicht ist
oder einen Prozess betrachten. Bei einem Gleichgewicht behält das die Kraft- und DrehSystem seinen Zustand bei, es ändert sich nichts im Laufe der Zeit. Ein momentbilanz
Prozess ist ein Vorgang, bei dem sich etwas mit der Zeit ändert. Wenn wir einen Prozess betrachten,
hängen die Bilanzen davon ab, ob wir ein offenes oder ein isoliertes System wählen und ob die
Größe eine Erhaltungsgröße ist oder nicht.
Beispiel: Ein Gleichgewicht liegt z. B. vor, wenn eine Leiter an einer Wand lehnt, ein Eisberg im
Wasser schwimmt, ein Auto auf einer Brücke parkt. Prozesse sind z. B. das Fallen eines Körpers,
der Stoß mehrerer Körper, der Einsturz einer Brücke, das Entleeren eines Gefäßes, das Umfallen
eines Körpers, die Explosion einer Bombe, die Entladung einer Batterie, der Abschuss eines Pfeils,
das Anheben eines Arms usw.
Den Gleichgewichten widmen wir ein eigenes Kapietel und beschränken uns jetzt auf Prozesse.
Immer, wenn Sie es mit einem Prozess zu tun haben, sollten Sie also schauen, ob Sie ihn mit eine
Bilanzgleichung analysieren können. Folgende Schritte sind dabei immer gleich:
1. Prozess identifizieren und Zeitbereich t1 und t2 festlegen.
2. Systemgrenze ziehen und entscheiden, ob ein offenes oder ein isoliertes System betrachtet wird.
Wenn möglich, sollte ein isoliertes System gewählt werden.
3. Auffinden der Gesamtsummen der betrachteten Größe(n) für die betrachteten Zeiten t1, t2 unter
Berücksichtigung aller Systemkomponenten und Aufstellen der Bilanzgleichung.
4. Auflösen der Bilanzgleichung nach der gesuchten Größe.
5.2.1 Bilanz von Erhaltungsgrößen in einem isolierten System
Wir beginnen mit einer Erhaltungsgröße in einem isolierten (abgeschlossenen) System. Unsere zugehörige Bilanzgleichung ist (5.3). Ihre Aussage lautet: Innerhalb unseres Systems ändert sich die
Menge der betrachteten Größe nicht als Funktion des Zeit, d.h. während eines wie auch immer gearteten Prozesses. Sie kann sich höchstens innerhalb des Systems umverteilen. Die Integration von
(5.3) führt auf die
Bilanz einer Erhaltungsgröße in einem isolierten (abgeschlossenen) System:
∑ G i (t 1)=∑ G i (t 2)
i
(5.30).
i
„Summe der Größe G im System zur Zeit t1“ = „Summe der Größe G im System zur Zeit t2“.
Das ist die bei weitem häufigste und wichtigste Variante einer Bilanzgleichung. Wenn Sie das
anwenden können, haben Sie 95% des Lernziels dieses Kapitels erreicht. Sie gilt in isolierten
Systemen für den Impuls, den Drehimpuls und die Energie. Oft gilt sie auch für die Masse. Wichtig
Seite 109
ist, dass Sie die Größe G für alle Komponenten des Systems an beiden Zeitpunkten berücksichtigen.
Die Zeitpunkte sind beliebig. Meist wählt man t1 vor Beginn und t2 nach Beendigung des Prozesses.
Die Form dieser Bilanzgleichung ist für alle Größen gleich. Sie sollte immer die erste Wahl sein,
wenn auch noch andere Bilanzen möglich sind, weil man dabei die wenigsten Fehler machen kann.
Wir werden das in Anwendungsbeispielen vertiefen.
Energieerhaltung
Das Einfache bei der Energieerhaltung ist der Umstand, dass die Energie ein Skalar ist. Das Schwierige sind die vielen Energieformen. In der Mechanik beschränken wir uns jedoch fast immer auf
kinetische und potenzielle Energie. Manchmal kommt noch die Rotationsenergie hinzu. Die Bilanz
ist ∑ E kin,i (t 1 )+∑ E pot,i (t 1)+∑ E sonst,i (t 1)=∑ E kin,i (t 2)+∑ E pot,i (t 2)+∑ E sonst,i (t 2 ) . Wenn wir die
i
i
i
i
i
i
potenzielle Energie beim fallenden Körper berücksichtigen und ein isoliertes System haben wollen,
müssen wir das System aus fallendem Körper und der Erde mit ihrem Gravitationsfeld bilden. Die
potenzielle Energie haben sie gemeinsam, aber man schreibt sie üblicherweise dem fallenden Körper zu. Streng genommen müssen wir auch die kinetische Energie der Erde berücksichtigen. Unser
Bezugssystem ist jedoch i. d. R. fest mit ihr verankert, in anderen Worten: In unserem Bezugssystem
ruht die Erde. Deshalb ist ihre kinetische Energie null. Normalerweise schreiben wir das in unsere
Energiebilanz nicht mehr hinein.
Beispiel: Eine Katze fällt versehentlich aus der Höhe h vom Balkon. Mit welcher Geschwindigkeit v
kommt sie auf dem Boden an? Berechnen Sie v aus der Energieerhaltung. Unser System besteht aus
der Katze und dem Feld der Gewichtskraft. Dann ist die Gewichtskraft eine innere Kraft und das
System ist isoliert. Mögliche Energieformen sind kinetische und potenzielle Energie. t1 sei der
Zeitpunkt vor dem Fallen, t2 der Zeitpunkt des Aufpralls. Die potenzielle Energie sei null, wenn die
Katze auf dem Boden ist. Die kinetische Energie der Katze bei t1 ist Ekin,(t1) = 0 und Epot(t1) = mgh.
Die kinetische Energie der Katze bei t2 ist Ekin(t2) = 1/2mv2 und Epot(t2) = 0. Das ergibt die Bilanz:
E kin (t 1 )+E pot (t 1)=E kin (t 2 )+E pot (t 2 ) ⇒ 0+mgh=1/ 2 mv2 +0 . Auflösen nach v ergibt: v= √ 2 gh .
Impulserhaltung
Impulserhaltung
∑ ⃗pi ( t1 )=∑ ⃗p i (t 2 )
i
i
ist einfacher als Energieerhaltung, weil wir hier nicht ver-
schiedene Formen wie bei der Energie berücksichtigen müssen. Die Erhaltung gilt auch für jede
Komponente einzeln. Durch das Superpositionsprinzip können wir sie separat skalar betrachten.
Solange wir alle relevanten Komponenten einbeziehen, kann wenig schiefgehen.
Beispiel: Auto 1 fährt auf ein zweites ruhendes Auto 2 hinten auf. Beide rutschen unmittelbar nach
dem Aufprall mit der gemeinsame Geschwindigkeit v'. Beide haben die gleiche Masse m. Welche
Geschwindigkeit v hatte Auto 1 unmittelbar vor dem Aufprall? Berechnen Sie v aus der Impulserhaltung. Für den betrachteten kurzen Zeitraum sind Reibungskräfte ohne Belang. Nur die Autos
üben Kräfte aufeinander aus. Unser isoliertes System besteht daher aus Auto 1 und Auto 2. t1 sei
kurz vor dem Aufprall, t2 unmittelbar danach. Der Impuls von Auto 1 bei t1 ist p1(t1) = mv, der von
Auto 2 ist p2(t1) = 0. Der Impuls von Auto 1 bei t2 ist p1(t2) = mv', der von Auto 2 ist p2(t2) = mv'. Das
ergibt die Bilanz: p 1 (t 1 )+p 2 (t 1)= p1 (t 2 )+p 2( t 2) ⇒ mv+0=mv ' +mv ' . Auflösen nach v ergibt:
v=2 v ' .
Drehimpulserhaltung
Drehimpulserhaltung
∑ ⃗Li (t 1)=∑ ⃗Li (t 2 )
i
ist nicht ganz so einfach wie Impulserhaltung, weil wir
i
hier den richtigen Bezugspunkt finden müssen. Oft wird vergessen, dass auch geradlinig bewegte
Objekte einen Drehimpuls haben. Ein isoliertes System liegt nur dann vor, wenn keine Kräfte oder
Seite 110
Drehmomente über die Systemgrenze wirken. Für die Drehimpulserhaltung genügt jedoch bereits
der Ausschluss von Drehmomenten. Wenn möglich, sollte man immer Zeiten t1, t2 wählen, bei denen
⃗p ⊥ ⃗r ist, da man dann skalar rechnen kann. Auch beim Drehimpuls gilt die Erhaltung für jede
Komponente separat. Durch das Superpositionsprinzip können wir sie also skalar betrachten.
Beispiel: Ein Planet der Masse m auf einer elliptischen Umlaufbahn hat an dem Punkt mit dem
größten Abstand Ra zu seiner Sonne die Geschwindigkeit va. Wenn seine Entfernung zu seiner Sonne
am kleinsten ist, im sogenannten Perihel, hat er die Geschwindigkeit v b. Welchen Abstand Rb hat der
Planet im Perihel? Berechnen Sie Rb aus der Drehimpulserhaltung. Es wirkt nur die Gravitationskraft. Sie ist eine Zentralkraft, ihr Kraftzentrum liegt in der Sonne. Daher wählen wir ihre Position
als Bezugspunkt. Ein isoliertes System liegt vor, wenn wir den Planeten und die Sonne mir ihrem
Gravitationsfeld in unser System einzuschließen. Weil die Sonne im Bezugspunkt liegt, ist ihr
Drehimpuls jedoch immer null. Daher genügt es sogar, nur den Planeten einzuschließen. t1 sei der
Zeitpunkt, bei dem der Planet den Abstand Ra zur Sonne hat, t2 der Zeitpunkt, bei dem er den
Abstand Rb hat. An diesen Positionen ist ⃗v ⊥ ⃗r , also genügt es, die Beträge L = mvr zu betrachten.
Der Drehimpuls bei t1 ist L(t1) = mvaRa, derjenige bei t2 ist L(t2) = mvbRb. Das ergibt die Bilanzgleichung L(t 1 )=L( t 2 ) ⇒ m v a Ra =m v b Rb . Auflösen nach Rb ergibt: Rb=R a v a / v b .
5.2.2 Bilanz für Erhaltungsgrößen am offenen System
Wir machen weiter mit einer Erhaltungsgröße in einem offenen System. Unsere zugehörige Bilanzgleichung ist (5.2). Ihre Aussage lautet: Die betrachtete Größe G innerhalb unseres Systems ändert
sich als Funktion des Zeit, und zwar während eines wie auch immer gearteten Prozesses um die in
dieser Zeit durch die Systemgrenze transferierte Menge G↔. Kommt Ihnen das bekannt vor? Wir
schreiben es einmal explizit für den Impuls und den Drehimpuls hin:
dG
=
dt
⏟
Änderung
im System
I⏟G
Transfer
durch Grenze
⇒
d ⃗p
dt
⏟
⃗
=F
bzw.
Impulsänderung
im System
d ⃗L
⃗
=N
d
t
⏟
Drehimpulsänderung
im System
(5.31).
Das ergibt das Bewegungsgesetz und den Drehimpulssatz, also nichts neues. Diese Gleichungen und
der Umgang damit sind uns inzwischen gut vertraut. Um zu sehen, was man dennoch an zusätzlich
Aussagen gewinnen kann, integrieren wir die Gleichungen (5.31). Für den Impuls und den Dreht2
⃗ (t )dt
impuls erhalten wir ⃗p (t 2)−⃗p ( t 1 )=∫ F
t2
⃗
⃗ (t ) dt
L (t 2 )− ⃗
L (t 1 )=∫ N
bzw.
t1
(5.32). Beide
t1
Gleichungen sind gut anwendbar, wenn konstante oder bekannte Kräfte bzw. Drehmomente
während einer bestimmten Zeit einwirken, bzw. wenn ⃗p bzw. ⃗
L nur zu bestimmten Zeitpunkten
gesucht sind.
t2
Die erste Gleichung in (5.31) ergibt: G(t 2 )−G( t 1 )=∫ I G (t)dt
(5.33). Wir wählen jetzt explizit
t1
die Energie E als Bilanzgröße. Der zugehörige Energiestrom ist die Leistung P = dW/dt (siehe Kap.
dW
dt=W . Damit erhalten wir aus
5.1.4). Die zeitliche Integration der Leistung ergibt ∫ P dt=∫
dt
(5.33) die
Energiebilanz im offenen System: E (t 2)−E (t 1)=W
(5.34)
„Änderung von E im System zwischen t1 und t2“ = „Arbeit zwischen t1 und t2“.
Seite 111
Der große Vorteil dieser Gleichung ist der Fakt, dass wir über den zeitlichen Verlauf des Energietransfers zwischen den betrachteten Zeitpunkten nichts wissen müssen. Es genügt, die zeitunabhängige Arbeit zu kennen. Für konservative Kräfte erhalten wir die Arbeit aus der Differenz der
potenziellen Energien vor und nach der Verschiebung. Wichtig ist, dass die Zeitpunkte t1 und t2 so
gewählt werden, dass der Arbeitsprozess vollständig dazwischen liegt. Wir vertiefen jetzt alle
Bilanzen anhand von Beispielen.
Energieerhaltung
Auch bei der Energiebilanz am offenen System müssen wir wieder alle relevanten Energieformen
berücksichtigen: E (t i)=E kin (t i)+E pot (t i )+E sonst (t i ) . Wenn die Arbeit W durch eine konservative
Kraft verrichtet wird, müssen wir ihre potenzielle Energie bei E(ti) ausschließen. Ansonsten ist alles
wie beim isolierten System.
Beispiel: Wie groß ist die Spannenergie ESpann einer Feder,
wenn sie im entspannten Zustand die Länge L hat und wir
sie auf die Länge L + x auseinanderziehen? Ihre Federkonstante sei D. Berechnen Sie ESpann aus der zugeführten
Arbeit. Unser System besteht aus der kompletten Feder.
Dann ist die Federkraft F = − Dx eine innere Kraft. Die
arbeitende äußere Zugkraft Fa = − F = Dx wird von unseren Armen aufgebracht. Das System ist offen. Die möglichen Energieformen sind die kinetische und
die potenzielle Energie der (konservativen!) Federkraft, die wir Spannenergie nennen. t1 sei vor dem
Ziehen, t2 nach dem Ziehen. ESpann sei null für die entspannte Feder. Den Nullpunkt dürfen wir bei
jeder potenziellen Energie frei wählen. Auch die kinetische Energie aller Masseteile der Feder ist zu
beiden Zeiten null. Somit ist E(t1) = ESpann(t1) + Ekin(t1) = 0 und E(t2) = ESpann(t2) + Ekin(t2) = ESpann(t2).
x
x
1
1
2
2
Die Arbeit zum Auseinanderziehen der Feder ist W =∫ D x ' dx ' =[ D x ' ] = D x . Das ergibt
2
2
0
0
2
die Bilanzgleichung E (t 2)−E (t 1)=W ⇒ E spann=1 / 2 Dx . Da x quadratisch eingeht, ergibt sich
das gleiche Ergebnis, wenn wir die Feder um x zusammendrücken. Die Spannenergie (= potenzielle
1
2
Energie) einer Feder ist also E Spann = D x , wenn wir die Länge L der Feder um ± x verändern.
2
Impulserhaltung
⃗ in (5.32) nennen wir Kraftstoß. Wenn F
⃗ konstant ist, kann F
⃗
Das Zeitintegral über die Kraft F
t2
t2
⃗ dt= ⃗
⃗ ⋅(t 2−t 1 ) .
aus dem Integral gezogen werden und man erhält ⃗p (t 2)−⃗p ( t 1 )=∫ F
F ∫ dt= F
t1
t1
Andernfalls muss man das Integral ausführen. Durch das Superpositionsprinzip kann auch diese
Gleichung für jede Komponente separat, d.h. skalar berechnet werden.
Beispiel: Ein Auto der Masse m und der Geschwindigkeit v bremst auf nasser Straße und seine
Reifen blockieren sofort. Wie lange dauert es, bis es zum Stillstand kommt? Der Gleitreibungskoeffizient zwischen Reifen und nasser Straße ist µ = 0,8. Berechnen Sie Δt aus der Impulserhaltung. Der Impuls ist horizontal gerichtet, daher müssen wir auch nur horizontale Kräfte betrachten.
Beim Bremsvorgang wirkt nur die konstante Gleitreibungskraft FR = − µmg, ansonsten ist die vertikale Gewichtskraft ohne Belang. Unser offenes System besteht nur aus dem Auto. t1 sei am Anfang
des Bremsvorgangs, t2 unmittelbar wenn es steht. Der Impuls des Autos bei t1 ist p(t1) = mv, der von
t2 ist p(t2) = 0. Die konstante Reibungskraft FR bewirkt im Zeitintervall Δt = t2 − t1 die Impulsänderung p(t2) − p(t1) = FR ∙ Δt = − µGmgΔt. Das ergibt die Bilanz 0−mv=−μ mg Δt . Auflösen
Seite 112
nach Δt ergibt: Δt=
v
μG g
. Ein Zahlenbeispiel mit v = 10 m/s (36 km/h) ergibt bereits Δt = 1,3 s.
Drehimpulserhaltung
Analog kann man für den Drehimpuls vorgehen. Das Zeitintegral über das Drehmoment hat keinen
Namen. Wenn das Drehmoment konstant ist, kann es aus dem Integral gezogen werden und der
t2
t2
⃗ dt= N
⃗ ∫ dt= N
⃗ ⋅(t 2 −t 1 ) . Andernfalls müssen wir
Drehimpulstransfer ist einfach ⃗
L (t 2 )− ⃗
L (t 1)=∫ N
t1
t1
das Integral ausführen. Auch diese Gleichung gilt für jede Komponente separat. Alles ist völlig
analog zum Impuls.
Beispiel: Ein Dozent auf einem Drehschemel führt Experimente zur Drehimpulserhaltung vor. Die
Drehbewegung wird abgebremst, indem man durch eine konstante Reibungskraft ein konstantes
Drehmoment N auf den Drehstuhl ausübt. Dadurch kommt das System nach der Zeit Δt zur Ruhe.
Welchen Drehimpuls L0 hatte das System am Beginn des Bremsvorgangs? Der Drehimpuls L0 ist
vertikal gerichtet, daher müssen wir auch nur vertikale Drehmomente betrachten. Beim Bremsvorgang wirkt nur das entgegengesetzt gerichtete vertikale Drehmoment −N. Unser offenes System
besteht aus dem Dozent und dem Drehschemel. t1 sei zu Beginn des Bremsvorgangs, t2 unmittelbar,
wenn das System ruht. Der Drehimpuls des Systems bei t1 ist L(t1) = L0, der von t2 ist L(t2) = 0. Die
Drehimpulsänderung durch −N im Zeitintervall Δt = t2 − t1 ist L(t2) − L(t1) = − N ∙Δt. Das ergibt die
Bilanzgleichung 0−L0=−N Δt , also L0 =N Δt . Um den Zahlenwert von L0 angeben zu können,
muss man den Zahlenwert von N kennen. Wenn N nicht bekannt ist, kann man über gleiche Bremszeiten zumindest zeigen, dass zwei Drehimpulse gleich sind. Dazu muss N lediglich konstant sein.
5.2.3 Zusammenfassung
Wir stellen diese sechs Bilanzgleichungen noch einmal übersichtlich zusammen: Sie bilden die
Basis zur Analyse und Berechnung von physikalischen Größen, wenn diese nur zu bestimmten
Zeitpunkten gefragt sind.
System
isoliert/abgeschlossen
Energiebilanz
E (t 1)=E (t 2 )
Impulsbilanz
⃗p (t 1)= ⃗p(t 2 )
Drehimpulsbilanz
⃗
L ( t 1 )= ⃗
L (t 2 )
offen
E (t 2)−E (t 1)=W
t2
⃗ dt
⃗p (t 2)−⃗p(t 1 )=∫ F
t1
t2
⃗
⃗ dt
L (t 2 )− ⃗
L (t 1 )=∫ N
t1
Tabelle 3: Zusammenstellung der Bilanzen von Energie, Impuls und Drehimpuls
Beliebige Prozesse unterteilen wir in geeignete Teilabschnitte und wählen Zeitpunkte aus, an denen
wir Energie, Impuls und Drehimpuls bilanzieren können. Dann entscheiden wir, ob die Größen
zwischen zwei Zeitpunkten erhalten bleiben oder nicht und schreiben die entsprechende Bilanz auf.
Wenn möglich, sollten Bilanzen für isolierte Systeme verwendet werden, weil diese weniger fehleranfällig sind. Aus den sich ergebenden Bilanzgleichungen berechnen wir die gesuchten Größen. Oft
− insbesondere bei komplexeren Prozessen − kann man mehr Bilanzgleichungen aufstellen, als man
eigentlich benötigt. Probieren sie dann aus, welche Sie zum Ziel führen. Zum Schluss schauen wir
uns noch ein typisches Beispiel zur Anwendung von Energie und Impulserhaltung an.
Seite 113
Beispiel: Das ballistische Pendel: Eine Kugel mit dem Tempo v und der
Masse m wird horizontal in einen Pendelkörper aus Knetgummi der
Masse M geschossen, der an einem Faden der Länge l hängt. Die Auslenkung x des Pendels aufgrund des Einschlags wird gemessen. Aus der
Auslenkung x soll das Tempo v der Kugel ermittelt werden.
Wir zerlegen den Prozess in die Zeit t1 unmittelbar vor dem Einschlag,
die Zeit t2 unmittelbar nach dem Einschlag und die Zeit t3 bei maximaler
Auslenkung des Pendels. Die potenzielle Energie von Kugel und Pendel
in der Anfangshöhe sei null, v' sei die Geschwindigkeit des Pendels nach
dem Einschlag. Wir erhalten für die Energien, Impulse und Drehimpulse:
1
E (t 1)= m v 2 ; p (t 1 )=mv; L(t 1)=l mv
2
1
.
E (t 2)= (m+M ) v ' 2 ; p( t 2 )=(m+M )v ' ; L(t 2 )=l (m+M )v '
2
E (t 3)=(m+M )g h; p( t 3 )=0
Von t1 nach t2 bleiben nur Impuls und der Drehimpuls unverändert, beide werden vollständig von
der Kugel auf das Pendel übertragen. Dagegen wird ein Teil der kinetischen Energie der Kugel zur
Deformation der Knete benötigt, sie bleibt also nicht erhalten. Von t2 nach t3 bleibt die Energie
unverändert: Die kinetische Energie des Pendels wird vollständig in potenzielle Energie des Pendels
umgewandelt. Dagegen werden Impuls und Drehimpuls aufgrund der Gewichtskraft verändert,
bleiben also nicht konstant. Das führt auf die drei Bilanzgleichungen:
p (t 1)= p(t 2 ) ⇒ mv=(m+M ) v ' (1);
L(t 1 )=L(t 2 ) ⇒ l mv =l(m+M )v ' (2)
.
1
E (t 2)=E (t 3) ⇒ (m+M ) v ' 2 =( m+M ) gh (3)
2
Die ersten beiden Gleichungen sind äquivalent. Aus der Auslenkung x gewinnen wir die Höhe h
über h = l - l cos(α) und x = l sin(α). Setzt man alle Beziehungen ineinander ein ergibt sich für v
(m+M )
x
v=
2 g l (1−cos(α)) mit α=arcsin ( ) .
√
m
l
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden.. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
5.14) Ein Fahrradfahrer der Masse m = 62 kg wartet an einer roten Ampel. Bei Grün beschleunigt er
konstant 4,4 s lang. Er legt dabei die Strecke 14 m zurück. Wie groß war seine Beschleunigungsarbeit?
5.15) Um 1 l Teewasser zum Kochen zu bringen, benötigen Sie eine Energiemenge von ca. 1 kWh.
Vergleichen Sie diese Energiemenge mit der kinetischen Energie, die in folgenden Fällen auftritt:
a) Ein Hammerwerfer schleudert eine 7,2 kg schwere Kugel mit 27 m/s davon.
b) Ein Kleinwagen (Masse inkl. Fahrer 800 kg) fährt mit 50 km/h.
c) Eine 60 kg schwere Sprinterin läuft mit 9,0 m/s.
d) Ein Kurzzug der S-Bahn (Masse 200 t) rollt mit 2 ,0 m/s in den S-Bahnhof ein.
5.16) Beim Golf werden Bälle mit der Masse m = 48 g dank ihrer speziellen Oberfläche bis zu
200 m weit geschlagen. Die Anfangsgeschwindigkeit beträgt bis zu 50 m/s. Wie groß ist die
mittlere Leistung beim Abschlag, wenn die Stoßzeit zwischen Ball und Schläger 15 ms beträgt?
Seite 114
5.17) Truckerspiele: Man lässt einen LKW, der sich oben auf einem Hügel befindet, aus dem Stand
den Hügel hinabrollen. Unten angekommen hat er ein Tempo von 4 km/h. Man fährt ihn wieder
hinauf und lässt ihn erneut hinabrollen, diesmal aber mit einem Anfangstempo von 3 km/h.
Welches Tempo hat er nun, wenn er unten ankommt?
5.18) An einem Augustmorgen um 4:50 Uhr beginnt Bergsteiger Birchl bei der Hörnlihütte (3260 m
ü. M.) den Aufstieg auf das Matterhorn. Er erreicht den 4478 m ü. M. liegenden Gipfel um
8:40 Uhr.
a) Welche durchschnittliche mechanische Leistung erbringt Birchl beim Aufstieg, wenn er zusammen mit seiner Ausrüstung eine Masse von 85 kg hat?
b) Wie lange könnte man mit der beim Aufstieg verrichteten Arbeit auf einem iMac (120 W) im
Internet surfen?
5.19) Sie spielen mit einem Springfrosch der Masse m = 10 g. Die Feder wird um
1,0 cm zusammengedrückt, und Sie messen eine Sprunghöhe von 0,9 m.
a) Wie groß ist die Federkonstante der Feder?
b) Wie groß ist die Anfangsgeschwindigkeit des Frosches?
5.20) Eine Touristin stürzt sich, an einem elastischen Seil befestigt, von einer Brücke
in einen 115 m tiefen Abgrund. Sie nähert sich dem Boden bis auf 5,00 m und bleibt nach
mehrmaligem Auf- und Ab in 25,0 m Höhe über dem Boden hängen. Die Touristin hat eine Masse
von 70,0 kg. Das Seil hat im unbelasteten Zustand eine Länge von 87,75 m. Das Seil verhalte sich
wie eine ideale Feder.
a) Wie groß ist das Tempo der Frau in dem Augenblick, wenn das Seil gestreckt ist, aber noch nicht
mit dem Gewicht der Touristin belastet ist?
b) In welcher Höhe erreicht die Frau ihre maximales Tempo?
c) Bestimmen Sie die Federkonstante des Seils.
d) Wie groß ist das maximale Tempo der Frau?
e) Welche maximale Kraft muss das Seil aushalten?
5.21) Gute Reifen erreichen auf trockenem Asphalt eine Reibungskoeffizienten von µ H = 0,85. Ein
voll beladenes Fahrzeug mit einer Gesamtmasse von 1,7 t wird aus einer Geschwindigkeit von
100 km/h bis zum Stillstand voll abgebremst. Berechnen Sie den minimalen Bremsweg, die
minimale Bremszeit und die durchschnittliche Bremsleistung in kW. Vergleichen Sie diese Leistung
mit der maximalen Motorleistung von 110 PS, die der Hersteller angibt.
5.22) Tell spannt seine Armbrust, so dass die Auslenkung der Sehne s = 0,3 m beträgt. Für die
Sehne gilt das Hookesche Gesetz und ihre Federkonstante beträgt D = 200 N/m. Der Pfeil hat eine
Masse von m = 20 g. Irgendwelche Reibungseffekte oder eventuelle Schwingungen der Sehne sind
vernachlässigbar. Rechnen Sie mit g = 10 m/s2.
a) Welche Arbeit verrichtet Tell beim Spannen der Sehne an der Armbrust?
b) Mit welcher Anfangsgeschwindigkeit verlässt der Pfeil die Armbrust?
c) Wie hoch fliegt der Pfeil, gemessen von der Ruhelage der Sehne aus, wenn Tell ihn senkrecht
nach oben schießt?
d) Wie weit fliegt der Pfeil, gemessen von der Ruhelage der Sehne aus, wenn Tell ihn waagerecht
aus einer Höhe von h =1,8 m abschießt?
e) Tell schießt den Pfeil aus sehr kurzer Distanz (Fallbewegung vernachlässigbar) horizontal in
einen Apfel der Masse M = 100 g. Der Pfeil bleibt im Apfel stecken. Welche Geschwindigkeit hat
der Apfel mit Pfeil unmittelbar nach dem Treffer?
Seite 115
5.23) Eine Eiskunstläuferin zeigt eine Pirouette. Anfangs hat sie ihre Arme ausgestreckt und rotiert
mit einer Winkelgeschwindigkeit von ω =10 rad/s. Sie zieht nun ihre Arme an, so dass diese am
Rumpf anliegen. Der Rumpf der Eiskunstläuferin wird durch einen Zylinder mit dem Radius
R = 0,20 m angenähert und habe ein Trägheitsmoment IR = 0,50 kg m². Die Arme werden durch
Massenpunkte angenähert. Sie haben anfangs einen Abstand von a = 0,30 m vom Rumpf und eine
Masse von m = 2,0 kg pro Arm.
a) Welches Trägheitsmoment Ia hat die Eiskunstläuferin mit ausgestreckten Armen?
b) Welchen Drehimpuls hat die Eiskunstläuferin bevor sie die Arme anzieht?
c) Welche Winkelgeschwindigkeit ω'' hat sie, wenn sie die Arme angezogen hat?
d) Welche Arbeit muss sie beim Anziehen der Arme verrichten?
5.24) Ein anfangs in Ruhe befindlicher Achterbahnwagen gleitet
reibungsfrei eine Bahn hinunter und soll einen Looping durchfahren. Er startet genau aus einer solchen Höhe h0, dass er gerade
noch den Looping mit Radius R durchfahren kann, ohne am höchsten Punkt des Loopings (Position (A)) herunterzufallen.
a) Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Anfangshöhe h0
und der Geschwindigkeit v in Position (A)?
b) Geben Sie einen Ausdruck für h0 in Abhängigkeit des Loopingradius an!
c) Ändert sich der Wert h0, wenn diese Achterbahn auf dem Mond stehen würde? Warum?
5.25) Actionfilm: Ein Polizeiauto mit m = 1000 kg verfolgt mit v1 = 144 km/h ein Gangsterauto
derselben Masse, das zu fliehen versucht. Die Gangster wollen in eine Seitenstraße abbiegen und
bremsen dazu plötzlich auf v2 = 72 km/h ab. Dabei fährt der Polizeiwagen von hinten auf und beide
Autos verkeilen sich. Gemeinsam rutschen sie antriebslos noch s = 50 m die Straße entlang, bevor
sie zum Stillstand kommen.
a) Wie hoch ist ihre gemeinsame Geschwindigkeit vf unmittelbar nach dem Zusammenstoß?
b) Welche Menge ΔE der kinetischen Energie wird beim Zusammenstoß dissipiert?
c) Wie groß ist der Gleitreibungskoeffizient µ der Straße?
5.26) Betrachten Sie einen Trampolinspringer der Masse m = 75 kg auf
einem Trampolin. Seine Füße erreichen die Sprunghöhe von h = 3,2 m
bezogen auf den Rand des Trampolins. Das Trampolintuch senkt sich beim
Aufprall eine Strecke d = 80 cm nach unten ab. Für das Trampolin gilt das
Hooke'sche Gesetz und seine Federkonstante sei D. Vernachlässigen Sie jede
Reibung und jede Eigenbewegung des Springers.
a) Welche Geschwindigkeit v0 hat der Springer, wenn seine Füße beim Aufh
prall das Trampolintuch berühren?
b) Berechnen Sie die Federkonstante D des Trampolins.
c) Mit welcher maximalen Kraft Fmax beschleunigt das Trampolin den 0
Springer? Welche Höhe h' würde er erreichen, wenn über die gesamte d
Strecke d die Kraft Fmax wirken würde?
Seite 116
5.2.4 Spezielle Bilanzgleichungen: Mechanisches Gleichgewicht
Abschließend betrachten wir noch einen Spezialfall von (5.3) und beschränken uns dabei auf Impuls
und Drehimpuls. Wenn sich ein Objekt nicht bewegt, also weder eine Translation noch eine Rotation ausführt, ist die Summe aller zu- und abgeführten Impulse und Drehimpulse null:
∑
i
d ⃗p i
=0 und
dt
∑
i
d⃗
Li
=0 (5.35). Ausgedrückt durch die Kräfte und Drehmomente ergibt das:
dt
Die mechanischen Gleichgewichtsbedingungen:
∑ F⃗ i=0 und ∑ N⃗ i =0
i
(5.36).
i
Das sind die wesentlichen Bilanzen der Statik, also wenn alle Komponenten des Systems ruhen.
Wenn sich überhaupt nichts bewegt, müssen sich für alle Richtungen alle Kräfte und Drehmomente
aufheben. Auch das gilt für jede Komponente einzeln. Hier betrachten wir also keinen Prozess, denn
es ändert sich nichts.
Ein System kann sich aber durchaus entlang einer Koordinate gleichförmig bewegen, obwohl ein
Gleichgewicht herrscht. Dann gilt das Trägheitsgesetz. Und es kann sich in eine Richtung bewegen
und in eine andere nicht. Dann muss die Gleichgewichtsbedingung auch nur für letztgenannte
Richtung bzw. Koordinate erfüllt sein. Wenn die Bewegung in eine Richtung das Gleichgewicht
einer anderen Richtung beeinflusst, spricht man in der technischen Mechanik von einem dynamischen Gleichgewicht. Oft behandelt man solche Fragestellungen mit Hilfe von Scheinkräften
(Kap. 6.2.2), es geht aber häufig problemlos auch ohne sie.
Beispiel: Ein Flugzeug fliegt mit konstanter Geschwindigkeit auf horizontaler Bahn. Wo liegen
Gleichgewichte vor? Vertikal herrscht Gleichgewicht zwischen Gewichtskraft und dynamischer
Auftriebskraft. Horizontal herrscht Gleichgewicht zwischen Schubkraft und Luftwiderstandskraft.
Das Gleichgewicht ist dynamisch, weil der Auftrieb von der Horizontalgeschwindigkeit abhängt.
Gleichgewichte müssen nicht unbedingt einfach sein, auch wenn die Bilanzgleichungen sehr einfach
aussehen. Auch statische Gleichgewichte können unübersichtlich sein. Wir werden das in den
Anwendungsbeispielen vertiefen.
5.3 Anwendungsbeispiele
5.3.1 Kraft- und Drehmomentbilanz: Gleichgewichte
In der Statik unterscheidet man Gleichgewichte danach, wie sich eine kleine Ortsveränderung auswirkt, bzw. wie das zugehörige Potenzial geformt ist. Es gibt stabile,
labile und indifferente Gleichgewichte (Abb.5.8).
stabil
Stabiles Gleichgewicht: Bei einer kleinen Verschiebung wirkt eine Kraft oder ein
Drehmoment in Richtung Gleichgewichtslage. Das Potenzial besitzt ein Minimum.
labil
Labiles Gleichgewicht: Bei einer kleinen Verschiebung wirkt eine Kraft oder ein
Drehmoment von der Gleichgewichtslage weg. Das Potenzial besitzt ein Maximum.
indifferent
Indifferentes Gleichgewicht: Bei einer kleinen Verschiebung bleibt das Gleichgewicht erhalten. Es wirkt weder Kraft noch Drehmoment. Das Potenzial ist konstant. Abb. 5.8
Beispiel: Im Gravitationsfeld bestimmt die Lage des Schwerpunktes eines Körpers (als Angriffspunkt des Drehmomentes) relativ zu einem vorgegebenen Drehpunkt die Art des Gleichgewichts:
• Wenn der Schwerpunkt sich unterhalb des Drehpunktes befindet, herrscht ein stabiles Gleich-
Seite 117
gewicht, z. B. beim Pendel. Jede Auslenkung erhöht die potenzielle Energie.
• Wenn der Schwerpunkt sich oberhalb des Drehpunktes befindet, herrscht ein labiles Gleichgewicht, z. B. beim Balancieren eines Seiltänzers. Jede Auslenkung verringert die potenzielle Energie.
• Wenn der Schwerpunkt mit dem Drehpunkt zusammenfällt oder immer senkrecht über ihm bleibt,
herrscht ein indifferentes Gleichgewicht, z. B. beim Rad. Auf ebenem Boden (= konstante potenzielle Energie) bleibt der Schwerpunkt trotz Auslenkung immer über dem Auflagepunkt.
Bei allen statischen Gleichgewichtsbetrachtungen liegt der entscheidende Trick darin, dass man
beim Vergleich der Drehmomente den Bezugspunkt frei wählen kann. Wenn die Gleichgewichts⃗ i=0 , gilt für die Drehmomente:
bedingung für die Kräfte erfüllt ist, also ∑ F
Ist die Summe aller Kräfte null und ist auch die Summe aller Drehmomente für irgendeinen
Bezugspunkt gleich null, dann ist sie auch für jeden beliebigen Bezugspunkt gleich null.
Man kann das so einsehen: Wenn für irgendeinen Bezugspunkt P die Drehmomente verschwinden,
⃗ i=0 . Jetzt wählen wir einen anderen Bezugspunkt P', der gegen P
ist für ihn ∑ N⃗ i =∑ ⃗r i× F
a . Für die Drehmomente erhalten
um a verschoben ist. Also werden alle Ortsvektoren zu ⃗r ' i =⃗r i+⃗
⃗ ' i =∑ ⃗r ' i × F
⃗ i =∑ (⃗r i +⃗a )× F
⃗ i=∑ ⃗r i× F
⃗ i +∑ ⃗a × ⃗
⃗
wir jetzt ∑ N
F i =a⃗ ×∑
F i =0 .
⏟
⏟
=0
=0
Das nutzen wir aus und wählen uns die bequemsten Bezugspunkte aus. Bequem sind diejenigen, bei
denen eine unbekannte Kraft aus unseren Gleichungen verschwindet. Dazu wählt man am besten als
Bezugspunkt der Drehmomente den Angriffspunkt einer unbekannten Kraft. So kann man durch die
Wahl eines geeigneten Bezugspunktes die Kraft- und Drehmomentbilanz vereinfachen. Nicht immer
ist ein Problem bei ungünstiger Wahl des Bezugspunktes lösbar (zu viele Unbekannte).
Beispiel: Ein Balken der Masse mB und der Länge L
d
mL L
Fr
trägt eine Last der Masse mL im Abstand d vom linken F
l
Ende. Wie groß sind die Kräfte Fl und Fr auf die AuflagemB
FgB
FgL
punkte? Horizontal wirken keine Kräfte. Vertikal wirken
die zwei Gewichtskräfte FgL = − mLg und FgB = − mBg und die beiden unbekannten Auflagekräfte Fl
und Fr. Die Kräftebilanz lautet F l +F r−mL g−mB g=0 . Jede dieser vier Kräfte erzeugt ein Drehmoment. Für die Drehmomente wählen wir als Bezugspunkt einen der Auflagepunkte. Wir nehmen
willkürlich den linken. Im Gegenuhrzeigersinn zählen Drehmomente positiv, im Uhrzeigersinn
negativ. Folglich lauten sie Nl = −0∙Fl = 0, Nr = L∙Fr, NL = −d∙FgL, NB = −0,5L∙FgB. Die Drehmomentbilanz ist L⋅F r −d⋅m L g−0,5 L mB g =0 . Das lösen wir nach Fr auf: F r=(d⋅mL g +0,5 L⋅mg)/ L .
Aus der Kräftebilanz erhalten wir damit F l=−F r +mL g +mB g .
In diesem Fall könnten wir die Aufgabe auch bei einer anderen Wahl des Auflagepunktes lösen, da
wir zwei Gleichungen und zwei Unbekannte haben. Das muss aber nicht immer so sein. Zum
Schluss schauen wir uns noch ein dynamische Gleichgewicht an.
Ein Motorrad der Masse m fährt mit konstantem Tempo v in Schräglage um eine
Kurve mit dem Radius R. Seine Achse bildet einen Winkel φ mit der Vertikalen.
ϕ
Warum fällt es dabei nicht um? Wie hängt der Winkel vom Tempo ab? Wir
betrachten alle Richtungen einzeln. Horizontal in Fahrtrichtung herrscht
Gleichgewicht zwischen der Antriebskraft (der Straße) und der Luftwiderm
standskraft. Horizontal senkrecht zur Fahrtrichtung herrscht kein Gleichgewicht,
⃗
denn die Reibungskraft F R =μ R F N =m v 2 /R wirkt als Radialkraft und krümmt F
⃗ N s FG
die Bahn. Vertikal herrscht Gleichgewicht zwischen Gewichtskraft F g =−m g
⃗R
F
und Normalkraft F N =m g der Straße. Die Kräftebilanz lautet −m g +m g =0 .
Schräglage in Kurve
Seite 118
Als Bezugspunkt für die Drehmomente wählen wir den Schwerpunkt. Bei den Drehmomenten
bilden FN und Fg ein Kräftepaar. Ihr negatives Drehmoment (im Uhrzeigersinn)
N g=−s⋅F N⋅sin(φ) wird kompensiert durch das positive Drehmoment der Reibungskraft
N R=s⋅F R cos(φ) . Man kann also sagen: Das Motorrad fällt nicht um, weil die Normalkraft der
Straße und die Reibungskraft entgegengesetzte Drehmomente um den Schwerpunkt erzeugen. Die
Drehmomentbilanz lautet s⋅F R⋅cos (φ)−s⋅F N⋅sin (φ)=0 . Einsetzen der Radialkraft und der
v2
Gewichtskraft ergibt s⋅m ⋅cos( φ)−s⋅mg⋅sin (φ)=0 . Für den Winkel erhalten wir daraus
R
2
v
tan (φ)=
. Das Gleichgewicht ist dynamisch, weil FR und damit NR vom Tempo abhängt.
gR
Würde der Motorradfahrer sich nicht in die Kurve neigen, würde das Drehmoment der Reibungskraft ihn nach außen kippen. Fehlt dagegen die Reibungskraft, z. B. durch einen Ölfleck, dann rutschen die Reifen nach außen weg und er kippt nach innen. Deshalb ist Öl auf der Fahrbahn für
Motorradfahrer sehr gefährlich.
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
5.27) Ein Seiltänzer der Masse m = 70 kg tanzt auf einem 10 m langen Hochseil.
a) Welche vertikale Kraft wirkt auf die beiden Seilhalterungen, wenn er sich im Abstand d = 3 m
von der linken Halterung befindet und das Seil nicht einknickt?
b) Welche Kraft wirkt auf die beiden Seilhalterungen, wenn er sich im Abstand d = 3 m von der
linken Halterung befindet und das Seil am Ort des Tänzers um 0,5 m nach unten eingeknickt ist?
5.28) Beim Picknick passiert es schon mal, dass ein etwas schief stehenden Becher beim Eingießen
eines Getränks umkippt. Bis auf welchen Füllhöhe h können Sie einen zylindrischen Becher mit
dem Durchmesser d füllen, wenn er um den Winkel θ zur vertikalen Richtung geneigt ist?
5.29) Eine Turnerin der Masse m = 50 kg macht
auf einem 6 m langem Schwebebalken 1,5 m vom
rechten Balkenende einen Handstand. Der Balken
wird an beiden Seiten jeweils 0,5 m vom Ende
unterstützt und hat die Masse M = 40 kg.
Berechnen Sie die Kraft, die jede der Stützen auf
den Balken ausübt. Rechnen Sie mit g = 10 m/s2.
m
0,5 m
4m
1 m 0,5 m
M
FM
Fm
5.30) Eine Leiter (m = 10 kg, 4,8 m lang) soll ohne zu Rutschen schief an eine Wand
gelehnt werden. Die Haftreibungskoeffizienten betragen am Boden µ B = 0,4 und an
der Wand µW = 0,2.
a) Zeichnen Sie alle Kräfte ein.
b) Geben Sie die Gleichgewichtsbedingungen für die Leiter an.
α
c) Unter welchem minimalen Winkel α zwischen Boden und Wand kann die Leiter angelehnt werden, ohne das sie wegrutscht??
d) Vernachlässigen Sie die Reibung an der Wand. Unter welchem minimalen Winkel α zwischen
Boden und Wand kann die Leiter angelehnt werden, damit Sie sie bis ganz nach oben hochklettern
können, ohne das sie wegrutscht? Ihre Masse sei m = 54 kg.
Seite 119
5.31) In der Abbildung ist ein dünner horizontaler Träger AB von vernachlässigbarem Gewicht und einer Länge L an Punkt A mit der Wand
über ein Gelenk verbunden. An Punkt B wird er von einem dünnen
Draht BC gehalten, der unter einem Winkel θ zur Horizontalen
verläuft. Auf dem Träger liege eine Last mit der Gewichtskraft W,
deren Schwerpunkt von der Wand einen Abstand x habe. Berechnen
Sie a) die Spannung im Draht sowie
b) die horizontale und c) die vertikale Komponente der vom Gelenk
auf den Träger ausgeübten Kraft im Punkt A als Funktion von x.
5.32) Betrachten Sie noch einmal die Uhr von Aufgabe 5.13: Die
potenzielle Energie des Systems als Funktion der Strecke y ist
E pot ( y)=−M g y−2 m g (l−√ d 2 +y 2 ) . Sie ist am kleinsten, wenn

die Strecke y die Länge y min =d⋅
M2
hat.
4 m 2−M 2
Wenn die potenzielle Energie am kleinsten ist, ist das System im
Gleichgewicht und die Summe aller Kräfte ist null. Zeigen Sie anhand
des zweiten Newton'schen Axioms, dass dies für ymin tatsächlich der Fall ist. (Hinweis: Der
Nullpunkt von y liegt auf der Oberkante der beiden Rollen.)
Seite 120
5.3.2 Impuls- und Energiebilanzen: Stöße
5.3.2.1 Die Modellvorstellung
Was ist ein Stoß? Ein Vorgang, bei dem sich mehrere Körper in Elastischer Stoß
eine Region hinein bewegen, dort miteinander wechselwirken
und dabei Impuls und Energie austauschen und anschließend die
Region wieder verlassen. Wir werden uns auf zwei Körper be- Vollkommen unelastischer
schränken. Über die komplizierte Wechselwirkung beim Aus- Stoß
tauschprozess wissen wir nichts Genaues, sie kann auch berührungslos durch ein Feld stattfinden. Wir unterscheiden dabei zwei
t1
Zeit
t2
Fälle: elastische und inelastische Stöße. Beide Stoßarten haben
gemeinsam, dass Gesamtimpuls und Gesamtenergie erhalten Abb. 5.9: Ein Stoßprozess
bleiben. Der Unterschied besteht darin, dass beim unelastischen Stoß die kinetische Energie nicht
konstant bleibt, sondern teilweise dissipiert wird. Beim elastischen Stoß bleibt sie konstant.
Die wesentliche Erkenntnis, die Sie dabei gewinnen sollen, ist: Bei
Stoßvorgängen sind Energie- und Impulsübertrag unabhängig
voneinander möglich! Ein großer Impulsübertrag bedeutet nicht
zwingend einen großen Energieübertrag! Wie kann das sein, wo doch
der Impuls der Träger der kinetischen Energie ist? Des Rätsels Lösung
liegt im vektoriellen Charakter des Impulses und im skalaren Charakter
der Energie: Eine reine Impulsumkehr p → − p bewirkt keinen
Energieaustausch, denn in die Energie geht der Impuls quadratisch ein
⃗p2 (−⃗p) 2
E kin=
=
. Ein Impuls wird also ohne Energieübertrag
2m
2m
umgekehrt.
pw=0
E=0
vorher
pw
E>0
Phase1
pw
E=0
pB
pB=0
pB
Phase2
Abb. 5.10: Modellvorstellung zum elastischen Stoß
Folgende Modellvorstellung hilft, das zu verstehen: Man stellt sich zwischen den stoßenden
Körpern eine Feder vor und denkt sich den Stoß in zwei Phasen unterteilt: In der ersten Phase
erfolgt ein Impulstransfer in Richtung des Geschwindigkeitsgefälles bis beide Körper die gleiche
Geschwindigkeit haben: Schnelle Körper verlieren Impuls, langsame Körper erhalten ihn. Dabei
wird die Feder zusammengedrückt und speichert die freiwerdende kinetische Energie. In der
zweiten Phase entspannt sich die Feder und gibt ihre Energie wieder ab. Dabei wiederholt sich der
Impulstransfer aus Phase 1. Die Feder „drückt“ jetzt mit der gleichen Kraft, die sie zuvor gestaucht
hat. Im Grunde ist ein Stoß nichts anderes als actio = reactio, d. h. Impuls wird von einem Körper
auf den anderen übertragen: einer verliert ihn, einer gewinnt ihn. Ein schwerer Körper bekommt
dabei weniger kinetische Energie als ein leichter, ein Körper, der sich nicht bewegt (v = 0), wie eine
Wand, gar keine. Diesen Fall zeigt Abb. 5.10 modellhaft: Ein Flummi wird ohne Energieübertrag an
einer Wand reflektiert. So ist ein Impulsübertrag auch ohne Energieübertrag möglich. Wenn ein
Körper mehr Impuls verliert, als er vorher hatte, dreht sich einfach die Bewegungsrichtung um. Bei
einem unelastischen Stoß fehlt Phase 2 vollständig, weil die Feder dauerhaft verformt und die
gespeicherte Energie dissipiert wird. Bei einem unelastischen Stoß wird daher nur halb so viel
Impuls übertragen, wie bei einem elastischen.
Wie immer, wenn ein Impulsaustausch ohne Energieaustausch stattfindet, haben wir damit ein „intuitives
Problem“, so wie bei der Kreisbewegung und bei der Präzession des Kreisels, weil es in unserem Alltag
scheinbar nicht vorkommt.
Das Modell sagt uns, dass man bei Stoßarten gut unterscheiden kann:
Seite 121
Beim elastischen Stoß prallen die Körper voneinander ab. An den Stoßpartnern entstehen keine
dauerhaften Veränderungen, sie werden nur vorübergehend verformt. Energie wird nicht dissipiert.
Beim unelastischen Stoß erhalten die Körper die gleiche Geschwindigkeit, sie haften aneinander. An
den Stoßpartnern entstehen dauerhafte Veränderungen, sie werden permanent verformt. Die
maximal mögliche kinetische Energie wird dissipiert.
Ein realer Stoß ist in der Regel eine Mischform. Die Körper prallen ab, werden aber auch dauerhafte
verändert. Ein Teil der maximal möglichen kinetischen Energie wird dissipiert.
Wir merken uns:
Elastischer Stoß → kinetische Energie konstant → Objekte prallen ab.
Unelastischer Stoß → kinetische Energie NICHT konstant → Objekte haften aneinander.
Beispiele: Ein elastischer Stoß liegt beim Zusammenstoß zweier Billardkugeln vor oder wenn Sie
Trampolin springen. Ein inelastischer Stoß liegt bei einem Zusammenstoß zweier Autos vor, wenn
Sie ein Glas zu Boden fallen lassen oder wenn eine Fliege gegen die Windschutzscheibe klatscht.
Experimente Luftkissenschiene (LKS) Elastischer Stoß: Ein mit einer Feder versehener Wagen 1
wird in Bewegung gesetzt und stößt mit einem gleich schweren ruhenden Wagen 2 zusammen. Vor
und nach dem Stoß wird das Tempo v gemessen. Durch den Stoß bleibt Wagen 1 stehen und Wagen
2 bewegt sich stattdessen mit gleichem v. Dann werden beide Wagen mit unterschiedlichem v
gegeneinander geschickt. Durch den Stoß wird der schnelle Wagen langsamer und der langsame
Wagen schneller. Nun stoßen Wagen verschiedener Masse mit verschiedenem v gegen- und hintereinander. Immer wird der schnelle Wagen langsamer und der langsame Wagen schneller. Das zeigt:
Bei einem Stoß wird Impuls in Richtung des Geschwindigkeitsgefälles ausgetauscht.
Unelastischer Stoß: Zwei gleich schwere Wagen werden mit Klettband versehen. Wagen 1 wird in
Bewegung gesetzt und stößt mit dem ruhendem Wagen 2 zusammen. Vor und nach dem Stoß wird
das Tempo v gemessen. Durch den Stoß haften Wagen 1 und Wagen 2 aneinander und bewegen sich
danach mit halbem v. Beide Wagen werden mit gleicher Geschwindigkeit gegeneinander geschickt.
Sie ruhen nach dem Stoß. Das Klettband wird gegen Federn getauscht und das Experiment wiederholt. Die Wagen prallen mit gleicher Geschwindigkeit voneinander ab. Das zeigt: Bei einem unelastischen Stoß wird nur der halbe Impuls übertragen. Er entspricht einem „halben“ elastischen Stoß.
Animation zum elastischen und inelastischen Stoß: http://www.walter-fendt.de/ph14d/stoss.htm
Stöße betrachten wir immer im abgeschlossenem System, denn nur dann sind Gesamtimpuls und
Gesamtenergie konstant. Die Fragestellung bei Stoßprozessen lautet: Wie bestimme ich aus gegebenen Anfangsimpulsen pi die Impulse pf nach dem Stoß? Wir wählen folgende Indizes: i = „initial“
= vorher, f = „final“ = nachher. Die Massen setzen wir in der Regel als bekannt voraus, so dass wir
nur die Geschwindigkeiten bestimmen müssen. Stöße können ein-, und mehrdimensional erfolgen.
Wir legen unseren Schwerpunkt auf eindimensionale Stöße und schnuppern in die zweidimensionalen Stöße ein bisschen hinein. Die realen Stöße klammern wir weitestgehend aus. Den eindimensionalen Stoß nennt man auch zentralen Stoß. Seine Berechnung ist nicht schwierig:
Vorgehensweise bei der Berechnung von zentralen Stößen zweier Partner:
1. Schritt: Berechnung der Schwerpunktgeschwindigkeit v⃗ s= r⃗˙ s=
2. Schritt: Einordnung des Stoßes:
Körper haften → unelastisch → Endgeschwindigkeit v f =v s ,
1
⋅( m1 ⃗v 1+m2 v⃗ 2)
m1 +m2
Seite 122
Körper prallen ab, keine Deformation → elastisch → Endgeschwindigkeit v f =2 v s −v i ,
Körper prallen ab, bleibende Deformation → real → Endgeschwindigkeit nur berechenbar, wenn
m1
(v −v )k .
zusätzliche Größe gegeben, z. B. Stoßzahl k: v f1 =2 v s−
m1 +m2 i1 i2
Sie sehen: Das ist recht übersichtlich. Wo stecken jetzt die Energie und Impulserhaltung? Nun, in
der Herleitung unserer beiden Formeln. Bevor wir das machen, lassen wir es krachen.
5.3.2.2 Explosion als inverser Stoß und das Schwerpunktsystem
Im Film Armageddon rettet Bruce Willis die Welt, indem er einen
y
Asteroiden sprengt, der ansonsten die Erde getroffen hätte. Warum
x
hatte man überhaupt Angst, dass er die Erde trifft? Weil das Aufv
A
treffen ein Paradebeispiel für einen inelastischen Stoß gewesen wäre:
Der Asteroid hätte einen Großteil seiner kinetische Energie in Deformationsenergie umgewandelt: Die Erde hätte eine mächtige Beule Abb. 5.11: Bruce Aufgabe
bekommen, eine Katastrophe. Stellen Sie sich den Anblick des Einschlags aus Sicht eines Raumschiffes vor. Und nun lassen Sie den Film vor Ihrem geistigen Auge rückwärts laufen. Was ist das
dann für ein Vorgang? Sagen Sie jetzt nicht „ein senkrechter Wurf“ (obwohl sie damit auch Recht
hätten ☺). Wir wollen das nämlich als Sprengung auffassen: Ein Körper zerlegt sich durch einen
inneren Prozess in zwei oder mehr Teile. Wir beschränken uns auf zwei Teile. Eine Sprengung ist
also ein rückwärts ablaufender unelastischer Stoß. Sie ist intuitiver zu erfassen als der Stoß, und
deshalb nähern wir uns der mathematischen Beschreibung des Stoßes „rückwärts“. Vor allem wollen
wir dadurch eine Vorstellung von den Begriffen Schwerpunktsystem und Schwerpunktgeschwindigkeit bekommen. Der Prozess ist zweidimensional, daher sind unsere Beziehungen für den eindimensionalen Stoß hier nicht zutreffend.
Zurück zu Bruce: Er soll den Asteroiden der Masse m, der sich der
pf1
Erde nähert, in zwei Teile sprengen, die dann an der Erde gerade noch
vorbeifliegen. Jetzt gibt es zwei Perspektiven: Die von der bangenden
s
s
Menschheit auf der Erde und die von Bruce auf dem Asteroiden. Die
pi=0
pf2
Menschheit sieht den Asteroiden mit vA auf die Erde zufliegen. Das
t2
t1
erdfeste Bezugssystem nennen wir S. Bruce sieht die Erde mit − vA auf
sich zufliegen. Wir bleiben bei Bruce und betrachten als System jetzt Abb. 5.12:Bruce Perspektnur den Asteroiden. Für Bruce ruht er und damit auch sein Schwer- ive
punkt. Bruce befindet sich also im Ruhesystem des Schwerpunkts des Asteroiden.
Das Ruhesystem des Schwerpunkts nennen wir das Schwerpunktsystem S'. Dort ist die Geschwindigkeit des Schwerpunkts immer null, vs' = 0 und damit auch der Schwerpunktimpuls
⃗p ' s=m ⃗v ' s=0 .
Das genau macht das Schwerpunktsystem so wertvoll und alle Stoßvorgänge in ihm sehr einfach.
Solange keine äußeren Kräfte auf den Asteroiden wirken, wird ⃗p ' s immer Null bleiben. Größen im
Schwerpunktsystem bekommen bei uns einen Strich. Bruce sieht z. B. die Erde mit vA' = − vA auf
sich zufliegen.
Verwechseln Sie nicht das Bezugssystem S oder S', von dem aus man einen Prozess betrachtet, mit
dem in die Systemgrenze eingeschlossen System, das man betrachtet.
Die Sprengung gelingt Bruce unter Einsatz seines Lebens und der Asteroid zerplatzt in zwei Teile
der Massen m1 und m2, die voneinander weg fliegen. Können die Teile beliebig voneinander weg
Seite 123
fliegen oder gibt es eine Einschränkung? Die Explosion erzeugt keine äußere Kraft, sondern eine
innere, sie findet im System statt. Also muss der Schwerpunktimpuls auch nach der Explosion Null
sein. Wir erhalten als Impulsbilanz ⃗p ' s= ⃗p ' i= ⃗p ' f =0 . Der finale Schwerpunktimpuls setzt sich
nun aus den Impulsen der Fragmente zusammen: ⃗p ' f = ⃗p ' f1 +⃗p ' f2 =m1 ⃗v ' f1 +m2 ⃗v ' f2 =0 . Da er null
v ' f1 =−m2 ⃗
v ' f2 . Das bedeutet, dass es eine Einschränsein muss, erhalten wir ⃗p ' f1=− ⃗p ' f2 ⇒ m1 ⃗
kung gibt: Die Impulse müssen entgegengesetzt gleich sein. Die Massen müssen also in entgegengesetzte Richtung voneinander weg fliegen und zwar umso schneller, je kleiner sie sind.
Mit Bangen wird die Explosion von der Erde aus beobachtet: Die Geschwindigkeiten, die man von
dort sieht, ergeben sich nach dem Superpositionsprinzip aus der Summe der Geschwindigkeiten in
S' und der Geschwindigkeit von S' selbst: ⃗v =⃗v ' +⃗v A . Dort sieht man also die Schwerpunktgeschwindigkeit ⃗v s=0+⃗v A=⃗v A und mit ⃗v s=⃗v i vor der Explosion den initialen Impuls ⃗p i=m ⃗v i .
Nach der Explosion sieht man die Geschwindigkeiten der Massestücke ⃗v f1 =v⃗ ' f1 +v⃗ A und
v ' f2 +⃗v A , also die Impulse ⃗p f1=m 1 ⃗v f1 und ⃗p f2=m 2 ⃗
v f2 .
⃗v f2=⃗
Ändert sich durch die Explosion die Schwerpunktgeschwindigkeit aus Sicht der Erde? Nein, denn
die Explosion bewirkt nur innere Kräfte, wodurch sich der Schwerpunktimpuls und somit auch vs
nicht ändern kann.
Der Schwerpunkt eines abgeschlossenen Systems aus beliebig miteinander wechselwirkenden
Körpern bewegt sich geradlinig gleichförmig. Seine Geschwindigkeit und seine Richtung ändern
sich nicht, unabhängig davon, welche Vorgänge im Innern des Systems ablaufen.
Es bleibt noch die Frage, wie man vs bei z. B. n verschiedenen Fragmenten statt nur eines Körpers
finden kann? Ganz einfach: Wir müssen nur den Ortsvektor des Schwerpunktes (4.3) nach der Zeit
ableiten, das ist seine Geschwindigkeit. Wir merken uns:
Schwerpunktgeschwindigkeit bei n Fragmenten:
n
n
n
1
1
v j (5.37) . Darin ist M =∑ m j die Gesamtmasse des Systems.
⃗v S =⃗r˙S = ∑ m j ⃗r˙ j = ∑ m j ⃗
M j
M j
j
Beispiel: Wir berechnen die Schwerpunktgeschwindigkeit für unsere beiden Fragmente:
1
1
⃗v S =
⋅( m1 ⃗v f1 +m2 ⃗v f2 )=
⋅( m1 (⃗v ' f1 +⃗
v A )+m 2 (⃗v ' f2 +⃗
v A ))
m1 +m2
m1 +m2
.
1
1
=
⋅((m
v
⃗
'
+m
v
⃗
'
)
+
(m
⃗
v
+m
⃗
v
))=
⋅
m
+m
⃗
v
=⃗
v
(
)
1
f1
2
f2
1 A
2 A
1
2
A
A
m1 +m2 ⏟
m1+m2
=0
Wie verlangt, ergibt sich die gleiche Geschwindigkeit wie vor der Explosion.
Jetzt drehen wir unseren Film zeitlich wieder um und lassen die zwei Fragmente inelastisch
zusammenstoßen und sie einen großen Asteroiden bilden. Völlig analog kann auch dieser sich nur
mit der Schwerpunktgeschwindigkeit des Systems bewegen, das die zusammengestoßenen Fragmente enthält. Denn auf dieses System wirkt keine äußere Kraft. Wir halten als Ergebnis fest:
Beim inelastischen Stoß ist die Endgeschwindigkeit ⃗v f identisch mit der Schwerpunktgeschwindigkeit ⃗v s des Massensystems: ⃗v f =⃗v s .
Der inelastische Stoß ist also schön übersichtlich. Er führt immer zum Geschwindigkeitsausgleich
beider Stoßpartner mit der Endgeschwindigkeit vs. Und das ist nach unserem Modell auch beim
elastischen Stoß die gemeinsame Geschwindigkeit beider Körper zwischen Phase 1 und 2.
Um den Verlust an kinetischer Energie zu bestimmen, können wir die Energiebilanz für offene
Systeme verwenden. Vor dem Stoß (t1) haben wir die kinetischen Energien der Einzelmassen, nach
dem Stoß (t2) die der gemeinsamen Masse. Die Differenz ist der Verlust von kinetischer Energie
Seite 124
1
1
1
Δ E kin = m1 v 21 + m2 v 22− (m1 +m2 )v 2s . Bei einem inelastischen Stoß wird also die Differenz der
2
2
2
kinetischen Anfangsenergien zur kinetischen Energie der Schwerpunktbewegung dissipiert oder in
Deformationsarbeit umgesetzt.
Wir haben den gleichen Prozess der Explosion aus zwei Perspektiven betrachtet: Einmal aus dem
Schwerpunktsystem S', einmal aus dem erdfesten System S. Wichtig ist auch, dass wir festhalten
und uns merken, wie wir Geschwindigkeiten von S' nach S und umgekehrt transformieren: Diese
Art von Transformation nennt man Galilei-Transformation.
Galilei-Transformation: Wenn sich S' mit ⃗v s relativ zu S bewegt, ist ⃗v =⃗v ' +⃗v s die Geschwinv −⃗v s die Geschwindigkeit des Körpers in S'.
digkeit eines Körpers in S und ⃗v ' =⃗
Wann wird Bruce eigentlich die Erde retten? Nehmen wir an die verbleibende Zeit bis der Asteroid
die Erde erreicht sei t. Dann muss die Sprengung den Fragmenten eine so große Geschwindigkeit
verpassen, dass vf1∙t > RE und vf2∙t > RE ist. Wie schnell werden sie? Hier hilft die Energiebilanz im
S': Wenn Echem die chemische Energie des Sprengstoffs ist und wir Dissipation vernachlässigen, wird
sie vollständig in kinetische Energie umgewandelt. Vor der Sprengung ist Ekin' = 0. Die Energiebilanz lautet also E ' (t 1 )=E ' (t 2) ⇒ E ' chem =E ' kin,1 +E ' kin ,2=1/ 2 m1 v ' 2f1 +1 /2 m 2 v ' 2f2 . Im Idealfall
E ' chem
sind beide Massen gleich m/2. Dann wäre v ' f =
.
2m
√
5.3.2.3 Elastische Stöße: Energie- und Impulsbilanz im Schwerpunktsystem
Jetzt betrachten wir elastische Stöße zweier Körper theoretisch und berechnen vektoriell den allgemeinen Fall. Wir wenden dazu Impuls-und Energieerhaltung im isolierten System an. Mit m1, vi1 und
m2, vi2 bezeichnen wir die Massen und Anfangsgeschwindigkeiten, mit vf1 und vf2 die Endgeschwindigkeiten im erdfesten Bezugsystem S. Gestrichene Größen beziehen sich auf das Schwerpunktsystem S'. Zur Herleitung benötigen wir die Galileo-Transformation und die Bilanzen für Erhaltungsgrößen im isolierten System. Sie enthält folgende Schritte:
1
(m ⃗
v +m ⃗v ) und damit
m1 +m2 1 i1 2 i2
Transformation der vi ins Schwerpunktsystem S': ⃗v ' i1 =⃗v i1 −⃗v s ; ⃗v ' i2 =⃗v i2 −⃗v s (5.38).
1. Schritt: Berechnung der Schwerpunktgeschwindigkeit ⃗v s=
2. Schritt: Anwendung von Impuls- und Energieerhaltung im Schwerpunktsystem.
Impulsbilanz in S': Impulse vorher (t1) = Impulse nacher (t2) = 0.
Die Impulserhaltung fordert m1 ⃗v ' i1 +m2 ⃗v ' i2 =m1 ⃗v ' f1 +m2 ⃗v ' f2 =0 .
Daraus folgt m1 ⃗v ' i1 =−m2 ⃗v ' i2
(5.39) und m1 ⃗v ' f1 =−m2 ⃗v ' f2
2
2
i2
Außerdem folgt v ' =
m1
2
2
2
2
i1
2
f2
v' ; v' =
m1
2
2
(5.40).
2
v'
2
f1
2
i1
(1) und v ' =
m2
2
1
2
2
i2
2
f1
v' ; v ' =
m2
2
1
v ' 2f2 (2).
m
m
m
m
Energiebilanz in S': Energie vorher (t1) = Energie nacher (t2), (nur kinetische Energien)
Die Energieerhaltung fordert
1
1
1
1
m1 v ' 2i1 + m 2 v ' i22 = m 1 v ' 2f1 + m2 v ' 2f2 .
2
2
2
2
2
2
1
1 m1 2 1
1 m1 2
2
2
Daraus folgt mit (1)
m v' +
v ' = m v' +
v' .
2 1 i1 2 m2 i1 2 1 f1 2 m2 f1
Seite 125
Ausklammern ergibt
(
) (
)
2
2
1
1 m1
1
1 m1
2
m1 +
v ' i1 = m1 +
v ' 2f1 .
2
2 m2
2
2 m2
Das ergibt wiederum v ' 2i1 =v ' 2f1 (5.41). Und analog mit (2) v ' 2i2 =v ' 2f2 (5.42).
3. Schritt: Rücktransformation der Ergebnisse ins Laborsystem S durch ⃗v =⃗v ' +⃗v s .
Wenn man in (5.39) bis (5.42) ⃗v ' durch ⃗v −⃗v s ersetzt, erhält man m1 ( ⃗v i1 −v⃗ s )=−m2 ( ⃗v i2 −v⃗ s ) ,
m1 ( ⃗v f1 −⃗v s )=−m2 ( ⃗v f2−⃗v s ) , (⃗v i1 −⃗
v s )2=(⃗v f1 −⃗v s)2 und (⃗v i2 −⃗v s )2=(⃗
v f2−⃗v s) 2 . Die erste Gleichung aus (5.39) definiert nur das Schwerpunktsystem, die übrigen Gleichungen beinhalten das
Endergebnis:
Beim elastischen Stoß gilt: ⃗v f2 −⃗v s=−
m1
2
( v⃗ f1−⃗v s) (5.43) und (⃗v i−⃗v s )2=(⃗
v f −⃗v s) (5.44).
m2
In vektorieller Form diskutieren wir das Ergebnis bei den zweidimensionalen Stößen. Jetzt betrachten wir es für den eindimensionalen „zentralen Stoß“. Wir können dann alle v als Skalare auffassen
und erhalten aus (5.44): v i−v s=±(v f −v s ) . Das „+“ entspricht dem Fall, dass kein Stoß
stattgefunden hat, denn dann ist v i=v f . Der Stoß selbst wird also beschrieben durch das „−“:
v i−v s=−( v f −v s)=v s−v f ⇒ v f =2 v s−vi . Die erste Gleichung entspricht v ' i=−v ' f . Das bedeutet, dass ein Stoß im Schwerpunktsystem immer nur eine Impulsumkehr ist. Deshalb wird dort
nie Energie ausgetauscht. Und weiterhin folgt daraus unser Endergebnis:
Beim eindimensionalen (zentralen) elastischen Stoß gilt für beide Körper: v f =2 v s−v i .
Soviel zu trockenen Theorie. Jetzt wollen wir sie in Alltags-Situationen umsetzen. Anhand der
Unterschiede im Impuls- und Energieübertrag können wir auch den Stößen verschiedene Modellstöße zuordnen: Stoß mit ruhender Wand, Stoß mit bewegter Wand, Billardstoß usw. Als „Wand“
bezeichnen wir immer ein Objekt, dessen Masse viel größer ist als diejenige des Stoßpartners. Wir
können dann die Masse des Stoßpartners vernachlässigen und Wandgeschwindigkeit und Schwerpunktgeschwindigkeit sind identisch. Beim Billardstoß gehen wir von gleichen Massen aus und eine
davon ruht anfangs. Die Analyse der Stoßprozesse zeigt:
Der relative Impulsübertrag ist abhängig von der Richtungsänderung und maximal bei Rückreflexion.
Der relative Energieübertrag ist abhängig vom Massenverhältnis und maximal bei Massengleichheit.
Animation Impulsübertrag: Zwei Wagen mit m1 = 2m2 und v1 = 2v2 stoßen einmal frontal und einmal
durch Auffahren. Beim Frontalstoß werden die Wagen reflektiert, beim Auffahren nicht. Beim Auffahren verliert Wagen 1 Geschwindigkeit, beim Frontalstoß ist der Impulsübertrag deutlich größer,
denn er kehrt sogar um. Das zeigt: Der Impulsübertrag ist größer bei Rückreflexion.
(http://www.walter-fendt.de/ph14d/stoss.htm)
Experimente mit der Luftkissenschiene Energieübertrag: Mit einer Feder versehene Wagen stoßen
auf einer Luftkissenschiene unter verschiedene Bedingungen zusammen. Wenn der Wagen mit
einem ruhenden Wagen gleicher Masse zusammenstößt, bleibt er stehen und der andere Wagen fährt
mit gleichem Tempo davon. Die gesamte Energie und der gesamte Impuls werden übertragen. Wenn
der ruhende Wagen leichter oder schwerer gemacht wird, behält der andere eine Restgeschwindigkeit. Das zeigt: Der Energieübertrag ist vollständig, wenn die Massen gleich sind, ansonsten
unvollständig.
Seite 126
Experiment Astroblaster Ein Astroblaster besteht aus mehreren aufeinander gesetzten
Flummis, die nach oben leichter werden. Lässt man ihn vertikal auf den Boden fallen, so
springt der oberste Ball mit unerwartet großer Geschwindigkeit weg und erreicht eine
erstaunliche Höhe. Das zeigt: Wenn ein unterer Ball auf den nächsten noch im Fall befindlichen Ball trifft, gibt er den maximalen Impulses und einen Großteil seiner Bewegungsenergie an den nächsten Ball weiter, weil dieser zurückreflektiert wird. Da jeder obere Ball
eine kleinere Masse als der unter ihm hat, muss er mit einer höheren Geschwindigkeit
wegspringen. Das Gleiche geschieht bis zum letzten Ball.
Hier haben wir das Modell „Stoß mit einer bewegten Wand“. Eine sich mit v bewegende kleine
Masse m stößt elastisch gegen eine sich mit − w entgegengesetzt bewegenden großen Masse M. Das
2⋅(m v−M w)
( M w /v−m)
1
⋅(m v−M w) ⇒ v f =2 v s −v=
−v=−v⋅(2⋅
+1) .
ergibt v s=
m+M
m+M
m+M
Der Faktor zeigt, dass sich v nicht nur umkehrt, sondern auch vergrößert. Für v = − w und M = 3m
1
v
(mv−3 mv )=− ⇒ v fm=2 v s−v=−v−v=−2 v .
erhält man schon das dopplte v: ⃗v s=
4m
2
An v fM =−v +v=0 sieht man, dass von M der gesamte Impuls abgegeben wird. Für den Fall
m << M und v = − w ergibt sich sogar ⃗v s≈−v ⇒ v fm=2 v s−v=−3 v . Ähnliche Prozesse finden
auch in einer Supernova statt. Oder auch beim Schlag eines Balls beim Tischtennis (M Schläger,
m Ball), beim Schießen oder Köpfen eines Fußballs oder wenn Sie etwas mit dem Finger wegschnippen. Ebenso beim Swing-By-Manöver, wenn man eine Raumsonde durch den „Stoß“ mit
einem Planeten beschleunigt. Die kleine Masse bekommt dadurch eine überraschend große
Geschwindigkeit.
Experiment „Newton-Wiege“ (auch Kugelstoßpendel, Kugelpendel, Newtonpendel) Ein Pendel
von fünf identischen Metallkugeln, die an je zwei gleich langen Fäden in Reihe auf gleicher Höhe
aufgehängt sind, wird mit einer Kugel ausgelenkt. Dann wird am gegenüberliegenden Ende genau
eine Kugel abgestoßen, alle anderen Kugeln bleiben in Ruhe. Wenn die abgestoßene Kugel dann
zurückpendelt, stößt sie die äußerste Kugel auf der anderen Seite wieder ab: Das System
„schwingt“. Wenn man zwei oder mehr Kugeln auslenkt, werden auf der anderen Seite immer genau
so viele Kugeln weggestoßen, wie auf der Gegenseite mit dieser Geschwindigkeit aufgeprallt sind.
Das zeigt: Impuls- und Energie müssen beide erhalten bleiben.
Beispiel: Analyse der Newton-Wiege: Es sei l die Anzahl der linken, r die der rechten Kugeln.
l
r
2
2
2
2
Impulserhaltung ergibt l m vl =r m v r , Energieerhaltung ergibt ⋅m v l = m v r ⇒ l⋅m v l =r⋅mv r .
2
2
Die Kombination beider Bilanzen liefert r mv r v l=l m v l v r , also v r =v l ⇒ l=r .
(Tatsächlich reicht diese Erklärung allein nicht: Bei genauerer Betrachtung
muss man auch die Laufzeit der Stoßwellen berücksichtigen: Die Kugeln
trennen sich dort, wo die Stoßwellen wieder zusammenlaufen.)
Stoß
Trennung
5.3.2.4 Zweidimensionale Stöße
Anders als beim eindimensionalen Stoß reichen beim dreidimensionalen Stoß die beiden
Gleichungen (5.43) und (5.44) nicht aus, um aus den Anfangsgeschwindigkeiten die Endgeschwindigkeiten zu berechnen, denn das Problem ist unterbestimmt. Wir haben sechs Unbekannte (die
zwei mal drei Impulskomponenten), jedoch nur vier Gleichungen (eine aus (5.43), drei skalare
Gleichungen für jede Impulskomponente aus (5.44)). Tatsächlich finden aber Stöße immer in einer
Ebene statt. Das liegt schlicht an der Drehimpulserhaltung. Beide Stoßpartner bringen Drehimpuls
Seite 127
mit, der sich durch den Stoß nicht ändern kann. Der Drehimpulsvektor steht senkrecht auf der von
⃗p i1 und ⃗p i2 aufgespannten Ebene und bleibt beim Stoß konstant. Daher müssen auch ⃗p f1 und
⃗p f2 in dieser Ebene liegen. De Facto haben wir also nur vier Unbekannte, aber dafür auch nur drei
Gleichungen, weil eine Impulskomponente immer null ist. Hier benötigen wir deshalb neben den
beiden Anfangsimpulsen auch Angaben über einen Endimpuls, z. B. Richtung und/oder Betrag. Ist
beides gegeben, bekommen wir den fehlenden vierten Impuls immer aus ⃗p i1 +⃗pi2 = ⃗p f1 +⃗p f2 und die
Sache ist simpel. In praktischen Rechnungen legt man das Koordinatensystem gern so, dass der
Anfangsimpuls parallel zur x-Achse liegt, also pi,y = 0 ist und berechnet den Endimpuls
komponentenweise. Man führt den zweidimensionalen Stoß damit auf zwei eindimensionale
Impulsbilanzen zurück.
Ein einfacher Spezialfall liegt beim Billardstoß vor, wenn zwei Körper
⃗v f1
gleicher Masse stoßen, wobei einer vorher ruht: Hier fliegen die Stoßpartner ⃗
v i1
immer unter einem Winkel von 90° im Laborsystem zueinander weg! Wir
⋅
haben dann m1 = m2 = m und vi1 > 0, vi2 = 0. Damit vereinfacht sich die
⃗v f2
v i1 +m ⃗
v i2=m ⃗v f1 +m ⃗v f2 zu ⃗v i1=⃗v f1 +⃗v f2 (1). Analog wird die
Impulsbilanz m ⃗
Energiebilanz zu ⃗v 2i1=⃗v 2f1 +⃗v 2f2 (2). Um zu sehen, wann beide Bilanzen (1) Abb. 5.13: Billardund (2) gleichzeitig erfüllt werden können, quadrieren wir (1): Das ergibt stoß
⃗v 2i1=⃗v 2f1 +2 ⃗v f1⋅⃗
v f2 +⃗v 2f2 (3). Der Vergleich von (2) und (3) verlangt ⃗v f1⋅v⃗ f2=0 . Ein Skalarprodukt
ist null, wenn beide Vektoren senkrecht aufeinander stehen. Daher müssen beide Kugeln unter
einem Winkel von 90° wegfliegen.
Die Unterbestimmtheit zeigt uns, dass es eine große Schar
⃗pi1 Stoß ⃗p f1
möglicher Paare für die Endimpulse gibt. Welche Möglichkeit
y
davon wirklich realisiert wird, hängt von dem bisher ausgeklammerten Prozess während der Wechselwirkung ab. Wenn man die
γ
⃗pi
⃗p f x
Wechselwirkung kennt, verschwindet die Unbestimmtheit und das
⃗p i2
⃗p f2
Lösungspaar ist eindeutig festgelegt. Genau darin liegt der Wert
von Stoßprozessen: Man untersucht experimentell, wie sich Stöße Abb. 5.14: Beim zweidimensioals Funktion eines Parameters verändern und vergleicht das mit nalen Stoß gibt es eine Schar
den Vorhersagen eines theoretischen Modells. Dabei lässt man möglicher Endimpulspaare.
meist eine bewegtes Teilchen (Projektil) gegen
ein festes ruhendes Objekt (Target) stoßen. Der
⃗p f
Parameter solcher Experimente ist, neben dem
Projektil
Anfangsimpuls des Projektils, der sogenannte
Stoßparameter b: Dahinter verbirgt sich der
Abstand, in dem das Projektil am Target vorStoßpi
beifliegen würde, wenn keine Wechselwirkung ⃗
parameter
stattfände. Solche Stoßexperimente nennt man
Target
Streuexperimente. Darin misst man den Streuwinkel θ und oder den Impuls der gestreuten Abb. 5.15: Stoßparameter eines Streuexperiments
Projektile p'. So gewinnt man z. B. Informationen über die Wechselwirkung oder bei bekannter
Wechselwirkung über das Target. Ein berühmtes Streuexperiment ist z. B. das von Rutherford: Er
ließ Helium-Kerne mit Goldatomen zusammenstoßen und fand dadurch heraus, dass das Goldatom
quasi „leer“ ist und nur einen „punktförmigen“ positiv geladenen Kern besitzt. Streuexperimente
sind mit die wichtigste experimentelle Methode der mikroskopischen Physik.
?
Seite 128
Richtig übersichtlich ist der zweidimensionale Stoß im Schwerpunkt⃗p ' f1 Δp
system S': Da sich dort die Impulse beider Körper immer aufheben müs⃗p ' i1
sen, sind sie immer gleich lang und zeigen in entgegengesetzte Richtung.
θ

Und da sich die kinetische Energie nicht ändern kann, behalten beide
Impulsvektoren ihre Länge. Ergo kann ein Stoß nichts anderes bewirken
als eine Verdrehung beider Impulse um einen Winkel θ. Jeder Winkel θ
entspricht einem möglichen Impulspaar der Lösungsschar im erdfesten
Laborsystem. θ ist aber nicht der Winkel γ, den die Impulse in S zuein- ⃗
p ' i2
ander haben und ist auch nicht einfach darin umzurechnen. Sehr schön
⃗p ' f2
sieht man in S' aber den Impulsübertrag Δp (roter Pfeil in Abb. 5.16) und
Abb. 5.16: Zweidimenes wird sofort klar, dass er maximal wird, wenn θ = 180° ist, also bei
sionaler Stoß in S'
Rückreflexion.
Wir werden dieses Thema aus Zeitgründen nicht weiter vertiefen, schauen uns aber noch ein
Beispiel an: Bei einem Swingby-Manöver lässt man eine Raumsonde sehr nahe an einem Planeten
vorbeifliegen und beschleunigt sie dadurch. Obwohl sich beide nicht berühren, handelt es sich nach
unserer Definition um einen Stoß. Durch einen solchen Stoß mit Jupiter wurde 1973 die Raumsonde
Pioneer 10 so stark beschleunigt, dass sie das Sonnensystem verlassen konnte. Sollten Sie neugierig
auf das Swingby-Manöver und mehr Stoßphysik sein, lesen Sie Kapitel 11 in [4].
Beispiel Swingby: Von einem Ruhesystem der Sonne aus y
betrachtet näherte sich die Raumsonde Pioneer 10 im November
⃗v f
1973 dem Planet Jupiter mit einem Tempo von vi = 9,94 km/s
⃗v J
Jupiter
unter einem Winkel von 3,8° zur x-Achse. Jupiter hatte ein
Tempo von vJ = 13,4 km/s unter einem Winkel von 50,1° zur
⃗v i
x-Achse. Durch den Stoß wurde die Sonde abgelenkt und
Pioneer
x
verließ Jupiter unter einem Winkel von 49,6° zur x-Achse.
Welches Tempo hatte Sie nach dem Stoß? Da Jupiter ungleich schwerer ist als die Sonde ist die
Schwerpunktgeschwindigkeit identisch mit vJ. Ausmultiplizieren von (5.44) ergibt:
⃗v 2i −2⋅⃗v i⋅⃗v s+⃗v 2s =⃗
v 2f −2⋅⃗v f⋅⃗v s+⃗v 2s bzw. skalar formuliert v 2i −2⋅vi⋅v s cos γ 1=v 2f −2⋅v f⋅v s cos γ2 .
2
2
Das führt auf die quadratische Gleichung v f −2⋅v f⋅v s cos γ2−(v i −2⋅v i⋅v s cos γ 1)=0 , also die Lösungen v f1 ,2=v s cos γ2 ±√ v 2s cos2 γ2 +(v 2i −2⋅vi⋅v s cos γ 1) . Die Winkel sind γ1 = 50,1° − 3,8° = 46,3°
und γ2 = 50,1° − 49,6° = 0,5°. Einsetzen der Zahlenwerte liefert vf = 23,2 km/s. Durch den Stoß hat
sich das Tempo der Sonde mehr als verdoppelt. Überlegen Sie selbst, welche physikalische
Bedeutung die Lösung mit dem negativen Vorzeichen vor der Wurzel haben könnte.
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
5.33) Überlegen Sie sich mindestens fünf Alltagsbeispiele für einen elastischen und einen
inelastischen Stoß.
5.34) Betrachten Sie drei verschiedene Unfälle jeweils gleicher Fahrzeuge mit gleichem Anfangstempo: Frontalzusammenstoß, Auffahrunfall auf stehendes Fahrzeug, Fahrt gegen Wand. Was sind
das für Stöße? Wann ist die Verletzungsgefahr am größten? Sortieren Sie sie danach.
5.35) Von einem Turm wird ein Ball fallengelassen und gleichzeitig ein identischer Ball hochgeworfen. Beschreiben Sie die Bewegung des Schwerpunkts des Systems, das beide Bälle enthält.
Seite 129
5.36) Eine Fliege klatscht frontal gegen die Windschutzscheibe eines LKWs. Da sie ihre Bewegung
umkehrt, muss sie irgendwann v = 0 gehabt haben. Der LKW hatte jedoch nie v = 0. Erklären Sie,
wie das zusammenpasst. Zeichnen Sie beide Geschwindigkeiten in ein v(t)-Diagramm ein.
5.37) Welche Endgeschwindigkeiten haben zwei Kugeln (m1=1 kg, m2=5 kg), die mit v1 = 7 m/s und
v2 = 5 m/s a) frontal b) durch Einholen zusammenstoßen?
5.38) Ein Asteroid der Masse mA = 3∙1021 kg nähert
d0
v0
sich auf direktem Weg der Erde und wird in tK = 26 h
Erde
frontal mit ihr kollidieren. Zum Zeitpunkt seiner Ent- Asteroid
deckung t0 ist der Abstand seines Schwerpunkts zum
RB
Konstellation bei t0
Erdmittelpunkt d0 = 6,4∙106 km und seine Geschwindigkeit relativ zur Erde v0 = 10000 km/h. Vernachlässigen Sie dort, wo es möglich ist, die Krümmung
Sonne
der Erdbahn um die Sonne. Vernachlässigen Sie außerdem die Geschwindigkeitsänderung der Erde durch die Gravitationsanziehung des Asteroiden
sowie den Radius des Asteroiden. (Erdradius RE = 6370 km, Masse der Erde mE = 6∙1024 kg,
mittlerer Radius der Erdbahn um die Sonne RB = 150∙106 km, Masse der Sonne mS = 2∙1030 kg.)
a) In welchem Abstand rS vom Erdmittelpunkt liegt der Schwerpunkt beider Massen bei t0?
b) Wie groß ist die Schwerpunktsgeschwindigkeit vS beider Massen bei t0 im Ruhesystem der Erde?
c) Wie groß ist die Schwerpunktsgeschwindigkeit vSB beider Massen bei t0 im Ruhesystem der
Sonne? Beschreiben Sie die Bewegung beider Massen aus Sicht der Sonne.
d) In welchem Abstand rK, gemessen von der Position der Erde bei t0, werden die beiden kollidieren?
e) Der Asteroid wird im Gravitationsfeld der Erde beschleunigt. Mit welcher Geschwindigkeit vK
relativ zur Erde schlägt der Asteroid in die Erde ein?
f) Welche Energie wird bei dem Einschlag in „Deformationsenergie“ umgesetzt?
g) Um welchen Wert ändert sich die Länge eines Erdjahres durch den Einschlag? Geben Sie die
Änderung in Stunden an.
Seite 130
5.3.3 Energie- und Drehimpulsbilanzen: Gravitation und Keplergesetze
Die Keplerschen Gesetze lauten:
1) Die Bahnkurven der Planeten sind Ellipsen, in
deren einem Brennpunkt die Sonne steht.
2) Flächensatz: Die Verbindungslinie Sonne–Planet
(der Ortsvektor bzw. „Fahrstrahl“) überstreicht in
gleichen Zeiten gleiche Flächen.
(
)
G mS
a3
3) Für alle Planeten gilt: 2 =konst. =
mit
T
4 π2
3
m
G=6,67⋅10−11
wobei a die große Halbachse
kg s2
der Ellipse, T die Umlaufzeit des Planeten um die Abb. 5.17: Planten bewegen sich auf ellipSonne und mS die Masse der Sonne ist.
tischen Umlaufbahnen.
Das erste und zweite Gesetz ergeben sich aus der Energie- und Drehimpulserhaltung, weil die Gra⃗ G eine konservative Zentralkraft ist, die immer auf die Sonne zeigt. Auf einer
vitationskraft F
elliptischen Bahn wird bei kleiner werdendem r der Impuls p entsprechend größer (siehe Abb. 4.16,
Kap. 4.10.1). Das dritte Gesetz folgt letztlich aus dem Newtonschen Bewegungsgesetz und ist damit
Ausdruck der Impulserhaltung. Das 1. Keplersche Gesetz werden wir im nächsten Kapitel vertiefen,
die beiden anderen schauen wir uns jetzt an.
Das 2. Keplersche Gesetz ist eine Selbstverständlichkeit, wenn der Drehimpuls erhalten bleibt. Das
Kreuzprodukt ⃗
L =⃗r × ⃗p entspricht anschaulich der der Fläche des Parallelogramms, das die Vekr
p
toren ⃗ und ⃗ aufspannen. Die Einheit von L ist jedoch kg∙m²/s. Auf die Dimension einer Fläche
(m²) kommt man durch L∙t/m. Die Fläche A, die der Fahrstrahl im Zeitintervall dt überstreicht, ist
1 ⃗L
1
die halbe Parallelogrammfläche, also
dt = ⃗r ×⃗v dt . Der Betrag von A, den ⃗r zwischen t0
2m
2
t
t
1 L
1 L
1
und t1 überstreicht, ist A=∫
dt=
(t 1−t 0)=∫∣ ⃗r ×⃗v∣dt . Da L konstant ist, ist auch A
2m
2
t 2 m
t
konstant.
1
1
0
0
Das 3. Keplersche Gesetz ist am einfachsten für den Spezialfall einer Kreisbahn zu zeigen: Für eine
Kreisbahn ist die große Halbachse a = R. Da die Gravitationskraft als Radialkraft wirkt, ist
1 G m mS
4 π2
r3 G ms
2
2
−mω r=−
=const. . Weil die
. Daraus erhält man mit ω = 2. sofort 2 =
2 r2
T
T
4 π2
Masse m des Planeten nicht eingeht, sondern nur die Masse mS der Sonne, gilt das für alle Planeten
des Sonnensystems.
Wenn man für r den Erdradius RE und für die Masse die Erdmasse mE einsetzt, erhält man die
Umlaufdauer eines Körpers, der die Erde direkt an der Oberfläche umkreist. Die zugehörige
Bahngeschwindigkeit vB nennt man 1. kosmische Geschwindigkeit. Für die Erde ergibt sich
Kreisbahngeschwindigkeit (1.kosmische Geschwindigkeit)
−m
√
G mE
v2
1 G mm E
=−
⇒ v B=
=7,9 km/s (5.45).
2
rE
2 rE
2rE
Seite 131
In jedem größeren Abstand ist die Kreisbahngeschwindigkeit kleiner als vB: Sie nimmt mit
zunehmendem Abstand ab. Daher haben innere Planeten eine größere Bahngeschwindigkeit als
äußere Planeten.
In keinem der Keplerschen Gesetze steht die Masse des umlaufenden Planeten! Dies ist eine Folge
der Tatsache, dass eine „Umlaufbahn“ ein freier Fall des umlaufenden Körpers um das Zentralgestirn ist. Und alle Körper fallen im Gravitationsfeld unabhängig von ihrer Masse.
5.3.3.1 Keplerbahnen und Fluchtgeschwindigkeit
Das erste Keplersche Gesetz und die Parameter der Bahn (Halbparameter p = b2/a = a (1 − ε2),
numerische Exzentrizität ε=√ a 2−b 2 /a , große Halbachse a, kleine Halbachse b) ergeben sich aus
der Energieerhaltung EGes = Eki n + Epot = konst. und der Drehimpulserhaltung L = konst.. Dabei
splittet man Ekin in den radialen ( v r =ṙ ) und den Rotationsanteil ( v T =r θ̇=r ω ) auf. Die Bahn
eines Körpers hängt von seiner Energie E und seinem Drehimpuls L ab. Als Bahnen ergeben sich
allgemein Kegelschnitte. Für negative Energien sind das Ellipsen.
Beispiel: Herleitung des 1. Keplerschen Gesetzes: Die Energiebilanz und die Drehimpulsbilanz
1
GmM
2 1
2
=konst. und L=I ω=m r 2 ω=konst. . Eges lässt sich mit
lauten E ges= mv r + I ω −
2
2
r
dθ
dr dr d θ dr
m ω2 dr 2
L2
GmM
(
)+
−
ω=
=
ω umformen: E ges =
und v r = =
. Daraus wird
2 dθ
r
dt
dt d θ dt d θ
2 m r2
mω 2
L2
2m r4
GmM
L2
dr 2
m 3 (GM )2
(E
+
−
)=(
)
=
mit
über
durch
Ausklammern
von
ges
r
dθ
2
L2
2m r2
2 m r4
2 L2
die Gleichung:
2
m 4 (GM )2 r 4 E ges 2 L
2 L2
L4
dr 2
(
+
−
)=(
) (5.46). Sie beschreibt Bahndθ
L4
m3 (GM )2 m2 GM r m4 (GM )2 r 2
kurven r(θ), die Kegelschnitten entsprechen: r (θ)=
L2
m2 GM
p
(5.47) mit den Parametern
1+ε cos (θ)
√
E ges 2 p
(5.49). Man sieht das, wenn man r(θ) ableitet und
m GM
2
2
2 2
2
p
dr
( pε sin(θ))
p ε (1−cos (θ) )
)=
=
quadriert: (
und darin ε cos(θ)= −1 ersetzt:
4
4
r
dθ
( 1+ε cos (θ))
(1+εcos (θ))
2
2 2
2
4
2
dr
p (ε −( p /r −1) ) r 2
p p
(
)=
= 2 (ε −1+2 − 2 ) (5.50). Der Vergleich der Koeffizienten von
4
dθ
r r
( p/r )
p
(5.46) und (5.50) ergibt (5.48) und (5.49).
p=
(5.48) und ε= 1+
Für den Fall 0 < ε < 1, (E < 0), sind die Bahnen r(θ) Ellipsen. Für ε = 1 (E = 0) sind die Bahnen
r(θ) Parabeln, für ε > 1, (E > 0) sind die Bahnen r(θ) Hyperbeln. Für ε = 0 (L = 0) ergibt sich eine
Gerade, auf der der Planet auf das Zentrum zustürzt.
Die Bahn (5.47) eines Körpers hängt über ε und p von Eges und L ab. Eges hängt auf einer Ellipsenbahn jedoch nur von der großen Halbachse a ab, bzw. für den Grenzfall einer Kreisbahn nur vom
Radius R. Für R = a sind die Energien bei Kreis- und Ellipsenbahn gleich.
Die Energie auf einer elliptischen Bahn mit der großen Halbachse a ist: E ges=−
Für eine Ellipse ist die große Halbachse a=
p
p
=
2
1−ε 1−(1+E ges
2p
)
m GM
=−
mGM
(5.51).
2a
mGM
. Aufgelöst nach
2 E ges
Eges sieht man (5.51). Für ε = 0 wird die Ellipse zur Kreisbahn, und somit p = a = R. Für die Energie
Seite 132
√
E ges 2 p
GmM . Da E die Summe aus E und
ges
kin
⇒ E ges =−
m GM
2R
GmM 1
GmM
1
−GmM GmM
= m v 2−
⇒ E kin= mv 2 =
+
Epot ist, erhalten wir für Ekin: E ges=−
.
2a
2
R
2
2a
R
Auflösen nach v ergibt die Geschwindigkeit auf einer elliptischen Bahn im Abstand r,
des Planeten ergibt sich: ε=0= 1+
√
2 1
die sogenannte Vis-Viva-Gleichung: v (r)= G ms ( − ) (5.52).
r a
Nur für negative Energien ergeben sich geschlossene Bahnen. Statt der kinetischen Energie kann
man auch die Geschwindigkeit angeben, die benötigt wird, damit ein Körper einem Zentralgestirn
entweichen kann: Man nennt sie Fluchtgeschwindigkeit vF. (2. kosmische Geschwindigkeit). Für
v < vFlucht ist die Energie negativ, der Körper ist an das Zenralgestirn gebunden und die Bahn ist eine
Ellipse. Für v = vFlucht ist der Köper frei und es ergibt sich eine Parabel. Für v > vFlucht ergeben sich
Hyperbeln. Die Wurfparabel auf der Erdoberfläche ist nur ein Ausschnitt der Ellipsenbahn eines
gebundenen Körpers, wobei die Ellipse nun aber durch die Erde verläuft.
Die Modellvorstellung zur FluchtgePot. Energie der Gravitationskraft
schwindigkeit beinhaltet, dass wir auf
Epot
rE h
h'
h→∞
der Erdoberfläche im Inneren des Ener0
EFlucht Ort r
gietrichters der potenziellen Energie
E'kin
beim
sitzen. Und zwar in einer Tiefe
beim
Start
Epot (rE)/kg = − GM/rE = − 63 MJ/kg,
Start
Ekin
wenn wir den Nullpunkt der potenziellen
beim
Energie ins Unendliche legen. Der TelStart
lerrand liegt bei Epot (r = ∞)/kg = 0 in un- Epot(rE)/kg =
− 63 MJ/kg
endlich großem Abstand. Um einen (Wert auf der Erdoberfläche)
Körper über den „Tellerrand“ des Trichters zu senden, müssen wir ihm deshalb Abb. 5.18: Modellvorstellung zur Fluchtgeschwindigkeit
mindestens die Energie Epot(rE)/kg in
Form von kinetischer Energie mitgeben. Praktisch bedeutet das: Ein Körper, der mit vf
hochgeworfen wird, wird durch die Gravitationskraft mit zunehmendem Abstand h zwar immer
langsamer, er wird jedoch erst in einem unendlich großen Abstand r gestoppt und kehrt seine
Bewegungsrichtung deshalb nicht mehr um (Masse ganz rechts (grün) in Abb. 5.18). Werfen wir mit
einer Geschwindigkeit v < vf schafft es der Körper bis zu einem maximalen Abstand h, dann hat ihn
die Gravitationskraft gestoppt und er kehrt um und fällt zurück auf die Erde (z. B. linke Masse
(blau) in Abb.5.18). Mit zunehmendem Abstand wird kinetische in potenzielle Energie
umgewandelt. Der Körper kann entfliehen, wenn seine kinetische Energie erst für r = ∞ oder
überhaupt nicht null wird. Im Grenzfall wird Ekin(r = ∞) = 0. Den Wert von vF erhalten wir aus der
Energiebilanz (t1 bei r = rE, t2 bei r = ∞)
Fluchtgeschwindigkeit (2. kosmische Geschwindigkeit)
E kin (t 1)+E pot (t 1)=E ( t 2)=0 ⇒
√
m mE
Gm E
1
m v 2F −G
=0 ⇒ v f = 2
=11,2 km/s .
2
rE
rE
Die Fluchtgeschwindigkeit hängt nicht von der Masse des entfliehenden Körpers ab. Abschließend
machen wir uns noch kurz klar, dass nirgendwo in unserer Energiebilanz die Abwurfrichtung
eingeht, sondern nur v2 und stellen „nebenbei“ fest, dass die Fluchtgeschwindigkeit nicht von der
Wurfrichtung abhängt.
Seite 133
5.3.3.2 Die Newton-Kanone oder „Der Umfall“
Die Newton-Kanone ist ein Gedankenexperiment, das Sir
Isaac Newton sich überlegt hat: Was geschieht, wenn man
eine Kanonenkugel horizontal von einem Berg der Höhe h
abschießt, und die Startgeschwindigkeit v immer weiter
steigert?
→
vU
→
FG
Die Antwort ist: Es ergeben sich die Kepler-Bahnen und die
Startbedingungen v und h bestimmen die Gesamtenergie
Eges. Die herkömmliche Wurfparabel ist nichts weiter, als
derjenige Abschnitt einer eigentlich durch die Erdkugel
hindurch verlaufenden elliptischen Keplerbahn, der außerhalb der Erde liegt.
Die Erklärung ist: Schießen wir die Kugel aus einer Höhe h
über dem Erdboden waagerecht ab, fällt sie nach einer Abb. 5.19: Newtons Gedankenexpergewissen Weite wieder auf die Erde zurück. Schießen wir iment zum freien Fall.
mit immer größeren Geschwindigkeiten, wird die Kugel immer weiter fliegen, bis sie ab einer
Grenzgeschwindigkeit vU den Erdboden nie mehr erreicht. Denn, wenn die Kugel mit vU abgeschossen wird, schafft es die Gravitationskraft gerade noch, die Richtung des Geschwindigkeitsvektors so zu verändern, dass die Kugel auf einer Kreisbahn um die Erde bleibt und sich nicht vom
nach unten gekrümmten Erdboden entfernt. Die Gravitationskraft kann die Kugel aber nicht mehr
näher an die Erde heranziehen. Sie wirkt also jetzt als Radialkraft. Die Grenzgeschwindigkeit vU
m mE ⃗r
mE
v 2 ⃗r
⃗ G=F
⃗ R ⇒ −G
=−m
⇒ vU = G
findet man deshalb durch F
.
2
( r E +h) r
( r E +h)
(r E +h) r
√
Für h = 0 ergibt sich daraus die erste kosmische Geschwindigkeit. Wie immer beim freien Fall hängt
vU nicht von der fallenden Masse m ab. Für Geschwindigkeiten v > vU ergeben sich elliptische
Umlaufbahnen. Bei elliptischen Bahnen kann sich der Körper zwar vom Erdboden entfernen, wird
mit zunehmender Entfernung jedoch immer langsamer, bis die Gravitationskraft ihn wieder
Richtung Erdboden treibt. Man kann das auf viele Arten erklären:
Zum einen über die Kraft und Beschleunigung: Da die Bahn keine Kreisbahn mehr ist, bekommt die
Gravitationskraft eine Tangetialkomponente, die den Körper bremst, wenn er sich von der Erde
entfernt und sein Tempo erhöht, sobald er sich der Erde wieder nähert (siehe Kap. 4.10.1, Abb.
4.16).
Zum anderen über die Energiebilanz: Wenn der Körper sich von der Erde entfernt, nimmt seine
potenzielle Energie zu, somit muss seine kinetische Energie abnehmen, da das System aus Körper
und Erde abgeschlossen ist und die Gesamtenergie erhalten bleibt (siehe Kap. 5.2.1 und (5.25)).
Möglich ist auch die Drehimpulsbilanz: Da der Drehimpuls des Körpers auf seiner Bahn konstant
bleibt (weil keine Drehmomente wirken), muss der Impuls und damit die Geschwindigkeit im
selben Maß abnehmen, wie der Abstand zunimmt (siehe Kap. 5.2.1, drittes Beispiel).
Wenn v die Fluchtgeschwindigkeit vF überschreitet, dann verlässt der Körper die Erde auf einer
Hyperbelbahn. Er wird zwar mit zunehmender Entfernung immer langsamer, jedoch nirgendwo so
langsam, dass die Gravitationskraft ausreicht, um ihn wieder Richtung Erdboden zu treiben.
Dieses Gedankenexperiment lehrt uns die wichtige Erkenntnis:
Ein Körper auf einer Keplerbahn befindet sich im fortwährenden freien Fall.
Seite 134
5.3.3.3 Vom richtigen Weg abgekommen: Gezeiten
In einem homogenen Gravitationsfeld
(wie es in sehr guter Näherung im
Bereich der Erdoberfläche vorliegt) fallen alle Massen gleich schnell. Und wenn
sie gleich abgeworfen werden, fallen sie
r
auf gleichen Bahnen (Abb. 5.20a). Deshalb wirken zwischen frei fallenden Körpern keine Kräfte, sie erscheinen „schweFG
relos“ (siehe Kap. 6.2.3.1). Fallen Körper
FG(r)
jedoch in einem inhomogenen Gravitationsfeld, in dem die Kraft mit dem Qua- a)
b)
drat des Abstandes r vom der ZentralAbb. 5.20: Waagerechter Wurf a) im homogenen b) im
masse abnimmt, so fällt jeder Körper abinhomogenen Gravitationsfeld
hängig von r auf einer anderen Keplerbahn und mit einer anderen Geschwindigkeit. Je größer r umso
geringer die Gravitationskraft und umso langsamer fällt ein
FGZ
Körper (Abb. 5.20b).
FSt
Wenn man mehrere Körper, die im inhomogenen Feld frei fallen,
wie in Abb. 5.21 mit einer Stange verbindet, so werden sie gezwungen, alle mit der gleichen Bahnkurve und Geschwindigkeit
rS
zu fallen, nämlich der des gemeinsamen Schwerpunkts im
Abstand rS. Die Stange muss dazu Zugkräfte FSt auf die Körper
ausüben, die die unterschiedlichen Gravitationskräfte ausgleichen
und die Körper auf die Schwerpunktsbahn zwingen. Als GegenFG(r)
kraft ziehen die Körper an der Stange. Und zwar nach oben, wenn
ihr Abstand r > rS ist und nach unten, wenn r < rS ist. Diese
Kräfte, mit der die Körper an ihrer Befestigung ziehen, nennt man Abb. 5.21: Zugkräfte der Stange
Gezeitenkräfte. Sie sind die Differenz der Gravitationskraft am (orange) und die Gezeitenkräfte
Ort eines Körpers zur Gravitationskraft im gemeinsamen Schwer- der Objekte (rot) .
FGZ(rS+Δr) = FG(rS+Δr) – FG(rS)
punkt aller Körper.
Gezeitenkräfte F GZ (r S +Δ r )=F G (r S +Δ r ) – F G ( r S ) (5.53)
Δr
–
Abb. 5.22 zeigt den Zusammenhang am Beispiel einer Hantel.
S =
Gezeitenkräfte bewirken Abweichungen von der Schwerelosig- rS
keit. Wären die Körper mit Federn oder Seilen statt mit einer
FGZ
FG
FG(rS)
Stange verbunden, würden die Federn gedehnt, bzw. die Seile
gespannt. Sie erzeugen deshalb Deformationen der Körper oder Abb. 5.22: Gezeitenkräfte am
können sie zerreißen.
Beispiel einer Hantel
Beispiel Weltraumseile „Die Ideengeschichte der Weltraumseile mutet zum Teil wie Sciencefiction in Reinkultur an. Sie nachzuerzählen erweist sich als überaus reizvoll und nicht zuletzt auch als lehrreich, da sich alle
Utopien mit den physikalischen Gegebenheiten in irgendeiner Form auseinander setzen. Beginnen wir im Jahr
1895. Konstantin Tsiolkovski33, dem Mathematikprofessor, der sich in seiner Freizeit mit Raketengleichungen und
Marsreisen beschäftigte, war die Idee gekommen, am Äquator einen schmalen hohen Turm zu errichten, der bis
über den geostationären Orbit hinausreichen sollte. Da am oberen Ende des Turmes die Fliehkräfte aus der Erd drehung größer als die Gewichtskräfte wären, würde das Bauwerk auf Zug beansprucht, so dass die Gefahr eins
33
Gemeint ist Konstantin Ziolkowski
Seite 135
Einsturzes nicht mehr bestünde. Natürlich wäre es
unmöglich, Tsiolkovskis Turm vom Boden her
aufzubauen, da er sich während der Bauphase in
höchst instabilen Gleichgewicht befinden würde.
Der Stabilisierungseffekt wird vielmehr erst
eintreten, wenn das Bauwerk eine Höhe jenseits
des geostationären Orbits erreicht hat. Klüger
wäre es, mit dem Bau direkt im geostationären
Orbit zu beginnen. Aufbauend auf dieser Über- Quelle[5]
legung schlug der russische Ingenieur Y. N. Artsutanov im Jahr 1960 vor, aus einem geostationären Satelliten
zwei Seile abzuwickeln, von denen das eine zum Erdmittelpunkt und das andere radial nach außen in den
Weltraum weist. Das äußere Seil dient dabei lediglich dazu, den Massenmittelpunkt im geostationären Orbit zu
halten, so dass sich die Orbitalgeschwindigkeit des Gesamtsystems nicht ändert. Prinzipiell wäre es denkbar, das
untere Seil bis an die Erdoberfläche reichen zu lassen, wenn man nur ein entsprechend langes Gegenseil nach
außen abspult. (Durch ein zusätzliches Gegengewicht könnte die Länge des Gegenseiles verkürzt werden.) Mit
Artsutanovs Konstruktion stünde eine Art „Weltraumaufzug" zur Verfügung, an dem man ohne aufwendige
Raketenstarts in einen geostationären Orbit „hochklettern" könnte.“(Quelle [5])
Tatsächlich scheitert dies unrealistisch anmutende Projekt nicht an der physikalischen Unmöglichkeit, sondern schnöde am Material. Die auftretenden Gezeitenkräfte sind so stark, dass sie selbst
Stahlseile mühelos zerreißen, weil sie die zulässigen Zugkräfte im Seil um etwa das 100fache überschreiten.
Statt mehrerer verbundener Körper können wir uns auch einen ausFGZ Mond
gedehnten Körper wie einen Mond auf der Umlaufbahn um einen
N
Planeten vorstellen. Auf einer Umlaufbahn umfällt ein Mond den
S rS
Planeten. Die dem Planeten zugewandte Seite des Mondes sieht eine
ω
stärkere Gravitationskraft und sollte schneller fallen als die abgeFGZ
wandte Seite. Beide müssen jedoch mit der Schwerpunktsgeschwindigkeit fallen. Die dem Planeten zugewandte Seite fällt zu langsam
Planet
und zieht daher radial nach innen. Die abgewandte Seite fällt zu
Abb.
5.23:
Gezeitenkräfte
schnell und zieht radial nach außen. Die Gezeitenkräfte ziehen deshalb den Mond radial auseinander. Wenn ein Mond seinen Planeten eines Mondes
auf einer elliptischen Umlaufbahn umkreist, verändern sich die Gezeitenkräfte periodisch und der
Mond wird abwechselnd mehr oder weniger stark auseinandergezogen. Im Sonnensystem wird der
Jupitermond Io durch diesen Effekt geradezu durchgeknetet und zeigt dadurch extremen Vulkanismus. Wenn ein Mond um seine eigene Achse rotiert, bewirken die Gezeitenkräfte bremsende oder
⃗ , weil sich die Längsachse des Mondes ständig von der radialen
beschleunigende Drehmomente N
Position weg dreht. Diese Drehmomente verschwinden nur, wenn der Mond dem Planeten stets die
selbe Seite zeigt, bzw. sich in einer Umlaufperiode einmal um sich selbst dreht. Das nennt man
gebundene Rotation. Ein Paradebeispiel ist der Erdmond.
Das Gezeitenproblem Erde-Mond ist weitaus
27,3 Tage
1 Tag
komplizierter, weil die beteiligten Massen sehr
M
unterschiedlich sind (Sonnemasse >> Erdmasse
>> Mondmasse) und die Fallbewegungen sehr zur Sonne
Flutberge
unanschaulich sind: Die Erde fällt sowohl um
die Sonne als auch um den gemeinsamen Abb. 5.24: Fallbewegung der Erde um den
Massenmittelpunkt des Erde-Mond-Systems. Massenmittelpunkt M von Erde und Mond
Zudem dreht sich die Erde um sich selbst.
Die bewegliche Materie der Erdoberfläche - die Wassermassen der Meere - werden durch die
dominanten Gezeitenkräfte im Gravitationsfeld des Mondes zu zwei Flutbergen getürmt: Einen auf
Seite 136
der mondzugewandten, einen auf der mondabgewandten Seite. Diese zwei Flutberge entstehen
analog zu Abb. 5.23 durch den Fall der Erde um den Massenmittelpunkt M von Erde und Mond.
Dieser Punkt liegt innerhalb der Erdkugel bei etwa ¼ des Erdradius.Würde die Erde sich nicht um
sich selbst drehen, wären diese zwei Flutberge ortsfest. Durch die Erdrotation wandern sie über die
Erdoberfläche und erzeugen den Tidenhub: etwa alle 12 Stunden ist Flut. Der Fall der Erde um die
Sonne erzeugt ebenfalls zwei kleinere Flutberge. Diese Gezeitenkräfte sind aufgrund des größeren
Abstandes Sonne ↔ Erde trotz der größeren Sonnenmasse schwächer (etwa halb so groß wie die
des Mondes). Wenn sich alle Gezeitenkräfte addieren, also Mond, Erde und Sonne auf einer Linie
liegen (Neumond und Vollmond), erleben wir besonders hohe Fluten und besonders niedrige Ebben:
sogenannte Springtiden. Bei Halbmond sind dagegen die Gezeitenkräfte besonders schwach und es
entstehen Nipptiden.
Seite 137
5.3.4 Impuls- und Massenbilanz: Rakete
Eine Rakete steht stellvertretend als Modellsystem für einen Körper mit veränderlicher Masse. Bei
veränderlichen Massen müssen wir zur Berechnung der Beschleunigung nicht nur die Impulsänderung durch die äußere Kraft sondern auch die Massenänderung und die Impulsänderung durch
die Massenänderung bilanzieren. Eine Rakete verliert durch den ausgestoßenen Treibstoff Masse
dm
)
=ṁ=−∣ṁ∣< 0 immer negativ.
und damit Impuls: Für sie ist die Massenänderung (
dt Rakete
Wir betrachten zuerst die Impulsbilanz eines isolierten Systems bestehend aus einer Rakete
inklusive ihrem Treibstoff. Ruht die Rakete anfangs am Startpunkt, so ist der Gesamtimpuls
⃗p ges =0 . Wird ein kleiner Teil des Treibstoffs durch eine innere Kraft abgestoßen, ist der
Gesamtimpuls des Systems immer noch null, d.h. die Impulse des abgestoßenen Treibstoffs ⃗p T und
des restlichen Rakete (inklusive Resttreibstoff) ⃗p R müssen entgegengesetzt gleich sein:
⃗p R +⃗pT =0 ⇒ ⃗p R=− ⃗pT . Den auf die Rakete (inklusive Resttreibstoff) übertragenen Impuls ⃗p R
nennt man Rückstoßimpuls. Die Zeitableitung der Impulsbilanz ergibt ⃗p˙ R =−⃗p˙ T , d. h. die Impulse
müssen sich zu allen Zeiten entgegengesetzt gleich ändern. Wenn die Masse des ausgestossenen
Treibstoffs zunimmt, nimmt die Masse der Rakete ab. Daher ist die Massenbilanz ṁ=−ṁT .
Jetzt betrachten wir nur noch die Rakete (inklusive Resttreibstoff) als offenes System. Unser
Bezugssystem ist der ruhende Startpunkt: Die Rakete bekommt den Rückstoßimpuls. Dadurch wird
sie beschleunigt. Weil ihre Masse nun zeitabhängig ist, müssen wir bei der Bestimmung ihrer
d ⃗p
)
= ṁ⃗v +m ⃗
v˙ . Sie
Impulsänderung die Produktregel anwenden: Ihre Impulsänderung ist (
dt System
beinhaltet den Impulsverlust im System durch den Massenverlust (erster Summand) und den
Impulsgewinn des Systems durch den Rückstoß (zweiter Summand). Diese Impulsänderung muss
gleich dem Impulsstrom durch die Systemgrenze sein, also dem Rückstoßimpuls. Wir drücken ihn
durch den Impuls aus, den der ausgestossene Treibstoff im gleichen Zeitintervall wegträgt:
d ⃗p
(
)
= ⃗p˙ R =−ṁT v⃗T . Aus unserem Bezugssystem betrachtet, ist die Geschwindigkeit des
dt Grenze
v +⃗c . Darin ist ⃗c die von
Treibstoffs von der aktuellen Geschwindigkeit der Rakete abhängig: ⃗v T =⃗
der Rakete aus betrachtet konstante Ausströmgeschwindigkeit des Treibstoffs. Die Bilanz der
v +m ⃗v˙ =−ṁT (⃗
v +⃗c ) . Das Einsetzen der Massenbilanz ṁ=−ṁT
Impulsänderungen lautet damit ṁ ⃗
ergibt ṁ ⃗
v +m ⃗v˙ = ṁ( ⃗
v +⃗c ) . Auflösen nach m ⃗
v˙ liefert m ⃗
v˙ =ṁ ⃗c . Jetzt setzen wir noch das Vorzeichen der Massenänderung explizit negativ und erhalten damit die Bewegungsgleichung der Rakete:
die Raketengleichung: m ⃗
v˙ =−∣ṁ∣⃗
c (5.54).
⃗ Schub auch
⃗ . Daher nennt man den Ausdruck −∣ṁ∣⃗
c =F
Formal entspricht diese Gleichung m ⃗
a=F
Schubkraft (siehe (4.26)). Das negative Vorzeichen zeigt, dass die Beschleunigung immer entgegengesetzt zur konstanten Ausströmgeschwindigkeit ⃗c erfolgt.
5.3.4.1 Lösung der Raketengleichung
Wir betrachten jetzt folgende Situation: Eine Rakete habe vor dem Start die Gesamtmasse m0 und
trage die anfängliche Treibstoffmenge mT. Sie befindet sich im Weltraum und startet ihre Triebwerke. Die Treibstoffgase werden mit der konstanten Rate ṁ=−∣ṁ∣ ausgestoßen und verlassen die
Rakete mit der konstanten Geschwindigkeit c = |c|. Wir bestimmen die Geschwindigkeit der Rakete
v(t) unter Vernachlässigung der Gewichtskraft. Welche Endgeschwindigkeit erreicht sie?
Seite 138
1. Schritt: Koordinaten wählen: Die Rakete startet senkrecht nach
oben, wir können also die y- oder z-Koordinate wählen. Wir nehmen willkürlich z. Wir wählen die Erde als Bezugssystem und legen den Ursprung
unseres Koordinatensystems in den Startpunkt. Die Bewegung ist eindimensional, wir können also skalar rechnen. Dann müssen wir die Richtungen der Geschwindigkeiten durch das Vorzeichen erfassen: Die Geschwindigkeit v der Rakete sei positiv, dann ist die konstante Ausströmgeschwindigkeit der Gase von der Rakete aus gesehen negativ (− c).
Von der Erde aus betrachtet ist vT = v - c.
z
v
m0 −∣ṁ∣t
c
v-c
∣ṁ∣t
2. Schritt: Systemgrenze ziehen: Die Situation besteht aus zwei
Komponenten: Der verbliebenen Masse der Rakete (Startmasse minus
verbrauchter Treibstoffmasse) m0−∣ṁ∣t und der Masse des ausgestoße- Abb. 5.25: Die Situation
nen Treibstoffs ∣ṁ∣t . Die Erde und ihr Gravitationsfeld sollen vernach- und das Koordinatenlässigt werden. Wir suchen die Bewegung der Rakete und ihres Rest- system
treibstoffs und schließen deshalb nur diese Masse in unser System ein. Wir zeichnen wieder
symbolisch die Systemgrenze ein.
3. Schritt: Träge Masse bestimmen: Sie ist die zeitabhängige Masse m = m(t) des Systems Rakete + Resttreibstoff: m=m0−∣ṁ∣t .
4. Schritt: Äußere Kräfte identifizieren. Grundlage des Raketenantriebs ist die Schubkraft nach
⃗ Schub =−∣ṁ∣⃗
c mit einer negativen Ausströmrate ṁ und der Ausströmgeschwindigkeitin
(4.26): F
die negative z-Richtung. Also wirkt die Schubkraft in die positive z-Richtung. In der Literatur ist es
üblich, in der skalaren Schreibweise das Vorzeichen von ṁ „zu verschlucken“: Aus
F Schub =−∣ṁ∣(−c) wird F Schub =−ṁ c .
5. Schritt: Vereinigung zur Bewegungsgleichung: In der skalaren Schreibweise wird die
Raketengleichung damit zu −ṁ c=m v̇ (5.55).
6. Schritt: Allgemeine Lösung finden: Wir schauen zuerst auf die mathematische Form: Sie ist
ṁ
v̇ +c =0 (5.56) mit konstantem c. Ihre allgemeine Lösung kennen wir noch nicht. Hier müssen
m
wir tatsächlich diese Gleichung durch Trennung der Variablen (siehe Kap.3.2) integrieren. Wir
stellen die Gleichung so um, das auf jeder Seite nur noch Größen vorhanden sind, die nur von einer
der Variablen m und v abhängen. Hier haben wir scheinbar drei Variablen (m,v,t), doch die
Zeitabhängigkeit können wir durch „schlimmes“ Multiplizieren mit dt. entfernen:
ṁ
ṁ
1dv
1 dm
dv dm
=0 ⇒ v̇=−c
⇒
=−
|⋅d t ⇒
=
. Wir ersetzen wie üblich m
m
m
c dt
m dt
c
m
durch m' und v durch v' und integrieren beide Seiten über den gleichen Zeitraum t1 bis t2:
m(t )
v(t )
dm' 1
m(t ) 1
v (t )
1
−∫
= ∫ dv ' ⇒ −[ ln m ' ]m(t )= [ v ' ]v (t ) ⇒ −[ln( m(t 2 ))−ln(m( t 1 ))]= [v (t 2)−v (t 1)]
c v(t )
c
c
m(t ) m'
v̇ +c
2
1
2
2
2
1
1
1
⇒ v (t 2 )−v (t 1 )=c⋅ln
[ ]
m( t 1 )
.
m( t 2)
Schließlich setzen wir die Zeit t1 auf den Startzeitpunkt t1 = 0 und erhalten die Geschwindigkeit der
m0
) (5.57). Darin ist m0 die Startmasse der
Rakete zur Zeit t = t2 nach dem Start: v (t )=c⋅ln (
m(t)
vollgetankten Rakete. Die restliche Masse m(t) zu jedem Zeitpunkt können wir aus m(t )=m0−∣ṁ∣t
Seite 139
∣ṁ∣
dv
=c⋅
erhalten wir durch Ableiten und die
dt
m( t)
m0
∣ṁ∣
Bahnkurve z (t )=∫ v (t) dt= z 0 +ct +c⋅( −t)⋅ln(1− t ) durch Integrieren von (5.57) (siehe
∣ṁ∣
m0
z. B. [6]). Damit ist die allgemeine Lösung der Bewegungsgleichung komplett.
berechnen. Die Beschleunigung der Rakete a (t)=
7. Schritt: Spezielle Lösung finden: Die allgemeine Lösung enthält drei Kontanten: z0, c und ṁ .
Hier sind uns kleine speziellen Werte für diese Konstanten gegeben. Wir können jedoch den
allgemeinen Ausdruck für die Endgeschwindigkeit berechnen. Die Treibstoffmenge mT ist nach der
Zeit tend = mT/ ṁ ausgebrannt. Dann ist die Leermasse mleer = m0 − mT. Für die Endgeschwindigkeit
m0
) . Wir sehen, dass diese nur von dem Verhältnis
der Rakete erhalten wir dann v end =c⋅ln(
mleer
Startmasse zu Leermasse und der Ausströmgeschwindigkeit abhängt.
Experiment Spielzeugrakete: Setzt man den Tank einer Spielzeugrakete mit einer Luftpumpe
unter Druck, wird die Rakete durch die herausströmende Luft angetrieben und kommt einige Meter
weit. Füllt man den Tank der Spielzeugrakete halb mit Wasser und halb mit Luft, und setzt diesen
anschließend mit einer Luftpumpe unter Druck, wird die Rakete durch das herausströmende Wasser
effizient angetrieben und durchquert den gesamten Hörsaal. Das zeigt: Das Massenverhältnis
bestimmt die Endgeschwindigkeit, denn c ist in beiden Fällen etwa gleich.
Beide Größen sind technisch limitiert (c ca. 3500 m/s und m0 / mleer ca. 5), womit auch die
Endgeschwindigkeit technisch auf ca. 5600 m/s limitiert ist. Dieser Wert liegt deutlich unter der
Fluchtgeschwindigkeit. Mit einer einstufigen Rakete kann man also die Erde nicht verlassen. Man
kann aber das Masseverhältnis verbessern, indem man unterwegs überflüssige Masse abwirft. Dies
ist das Prinzip der Mehrstufenrakete, mit der man größere Geschwindigkeiten erreichen kann. Mit
drei Stufen läßt sich die Fluchtgeschwindigkeit überschreiten.
Beispiel: Eine Dreistufenrakete habe folgende Massenverhältnisse der einzelnen Stufen: Q1 =
m1A/m1E, Q2 = m2A/m2E, Q3 = m3A/m3E. Die Ausströmgeschwindigkeit sei für alle Stufen gleich. Nach
Ausbrennen einer Stufe wird jeweils 15% der Restmasse als leerer Treibstofftank abgeworfen. Wie
groß ist die Endgeschwindigkeit vend? vend ist die Summe der Endgeschwindigkeiten der einzelnen
Stufen:
m
m
m
m 0,85 m1 E 0,85 m2 E
m
v end =c⋅ ln( 1A )+ln( 2A )+ln( 3A ) =c⋅ ln( 1A ⋅
⋅
) =c⋅ ln ( 1A ⋅0,852) .
m1 E
m2 E
m3 E
m1 E
m2 E
m3 E
m3 E
(
) (
) (
)
Die Raketengleichung ist ein weiteres Beispiel für eine Bewegungsgleichung. Obwohl auch hier mit
der Schubkraft eine konstante äußere Kraft im System der Rakete wirkt (denn sowohl die Massenverlustrate als auch die Ausströmgeschwindigkeit werden als konstant angenommen), haben wir
hier jetzt auf der rechten Seite eine zeitabhängige Masse m(t). Darin unterscheidet sich diese Bewegungsgleichung grundlegend z. B. von der Bewegungsgleichung für den freien Fall, wo wir es auch
mit einer konstanten Kraft, aber eben auch mit konstanten Massen zu tun hatten. Deshalb sieht auch
die Lösung ganz anders aus als für den freien Fall.
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
5.39) Von den Planeten in unserem Sonnensystem hat Pluto die größte numerische Exzentrizität
ε = 0,25. Wie ist sein Quotient a/b aus großer zu kleiner Halbachse der Bahn? Wie ist der Quotient
seiner Geschwindigkeiten am sonnennächsten Punkt (Perihel) zum sonnenfernsten Punkt (Aphel)?
Seite 140
5.40) Superman wirft einen Stein mit der halben Fluchtgeschwindigkeit (2. kosmische Geschwindigkeit), und zwar
a) senkrecht nach oben. Welchen maximalen Abstand h vom Erdmittelpunkt erreicht der Stein?
b) in horizontale Richtung. Wie lauten die Parameter (Halbparameter p = b2/a = a (1 − ε2),
numerische Exzentrizität ε=√ a 2−b 2 /a , große Halbachse a, kleine Halbachse b) der Umlaufbahn?
Welchen maximalen Abstand h vom Erdmittelpunkt erreicht der Stein?
5.41) Doppelmond: Stellen Sie sich vor, zwei gleiche Monde der Masse m wären
durch eine starre masselose Stange der Länge 2Δr verbunden und bilden ein Doppelmondsystem mit dem Schwerpunkt S. Der Ortsvektor vom Mittelpunkt eines
Planeten der Masse M nach S sei ⃗r . S kreist im Abstand r um den Planeten.
a) Welcher Bahngeschwindigkeit hat S? Welche Bahngeschwindigkeit
ein einzelner Mond bei den Abständen r, r − Δr, r + Δr?
hätte
b) Zeichnen Sie die resultierenden Kräfte auf die Monde, wenn die Stange
i) parallel zu ⃗r , ii) senkrecht zu ⃗r , iii) unter 45° zu ⃗r ausgerichtet ist.
Berechnen Sie für i) die Zugkraft der Stange und für iii) den Betrag des wirkenden Drehmoments.
c) Wie wird sich das System letztendlich ausrichten? ( ) überhaupt nicht, ( ) senkrecht zu ⃗r ,
( ) parallel zu ⃗r .
5.42) In welcher Entfernung vom Mittelpunkt der Erde heben sich die Gravitationskräfte von Erde
und Mond gerade auf? Die Mittelpunkte beider Himmelskörper haben eine Entfernung von 60
Erdradien, das Massenverhältnis beträgt 81:1.
5.43) Astronomen gehen heute davon aus, dass sich im Zentrum unserer Milchstraße ein schwarzes
Loch befindet. Einer Forschergruppe gelang es, einen Stern auszumachen, der in nur 15 Jahren um
dieses Zentrum kreist. Die große Halbachse seiner Umlaufbahn beträgt etwa 0,013 LJ (Lichtjahre).
Berechnen Sie aus den Daten dieses Sterns die Masse des schwarzen Lochs und vergleichen Sie sie
mit der Masse unserer Sonne.
5.44) Ein Asteroid, dessen Masse mA ein Bruchteil γ der Erdmasse mE sei (mA = γ · mE), bewege sich
auf einer Kreisbahn mit dem Radius r um die Sonne, der doppelt so groß sei wie die Entfernung
Sonne-Erde. Der Asteroid habe dieselbe Dichte ρ wie die Erde.
a) Wie groß ist seine Umlaufzeit TA in Jahren?
b) Welche kinetische Energie EA hat er im Verhältnis zur Erde? Drücken Sie das Verhältnis EA /EE
durch γ aus.
c) Leiten Sie die Formel für die Fluchtgeschwindigkeit von de Asteroiden bzw. Planetenoberfläche
her. Wie ist das Verhältnis der Fluchtgeschwindigkeiten zwischen Asteroid und Erde? Drücken Sie
das Ergebnis vA2/vE2 durch γ aus.
5.45) Welches Massenverhältnis muss eine Rakete
haben, um die Fluchtgeschwindigkeit zu erreichen?
Die Ausströmgeschwindigkeit der Treibstoffgase sei
c = 3000 m/s.
5.46) Das stärkste je gebaute Raketentriebwerk sind
die zwei Feststoff-Booster des Spaceshuttle. Jeder
Booster enthält 500 T Treibstoff, hat eine Brenndauer
von 125 s und entwickelt die Schubkraft 14,5 MN.
Mit welche Geschwindigkeit treten die Gase aus?
Seite 141
6 Wechsel der Sichtweise: Bezugssysteme
6.1 Galilei-Transformation
Die Galilei-Transformation ist uns bereits in Kap. 5.3.2.2 begegnet. Jetzt wollen wir Transformationen in andere Bezugssysteme genauer studieren: Dazu betrachten wir einen Körper K, der
sich zum Zeitpunkt t irgendwo im Raum befindet und eine beliebige Geschwindigkeit und
Beschleunigung haben kann aus zwei verschiedenen Bezugssystemen S und S': Aus S heraus
a (t) , aus der Perspektive von S' messen wir
betrachtet messen wir die Größen ⃗r (t) , ⃗v (t) , ⃗
a ' (t) .
⃗r ' ( t), ⃗v ' ( t) , ⃗
Beispiel: Ein Pferd tobt sich auf einer Weide aus. Wir stehen am Weidezaun (S) und betrachten das
a (t) des Pferdes. Ein Reisender betrachtet die Situation aus
Pferd. Vorn dort sehen wir ⃗r (t) , ⃗v (t ) , ⃗
einem mit konstanter Geschwindigkeit vorbeifahrenden Zug heraus (S') und sieht statt dessen
a ' (t) .
⃗r ' ( t), ⃗v ' ( t), ⃗
Die Galilei-Transformation ist die Transformation zwischen
zwei Systemen S und S', wenn sich S' gegen S mit der konstanten Geschwindigkeit u gleichförmig bewegt. Wir nehmen an,
dass die Ursprünge der beiden Koordinatensysteme zum Zeitpunkt t0 = 0 am gleichen Ort waren. Dann sind ihre Ursprünge
zu einem späteren Zeitpukt t um den Vektor ut gegeneinander
verschoben.
y' bewegtes System S'
(Geschwindigkeit u)
K
y
r'
u∙t
Laborsystem S
r (ruht)
x'
x
Aus Abb.6.1 lesen wir die Transformation aus der Vektorsumme ab und erhalten die
Abb. 6.1: Galilei-Transformation
Galilei-Transformation: Aus S betrachtet:
Aus S' betrachtet:
u⋅t
⃗r ' (t)=⃗r (t)−⃗
(6.1)
Geschwindigkeit:
⃗r (t)=⃗u⋅t+⃗r ' (t)
⃗v (t)=⃗r˙ (t )=⃗
u +⃗r˙ ' (t)=⃗
u +⃗v ' (t)
u
⃗v ' (t)=⃗v (t)−⃗
(6.2)
Beschleunigung:
a (t)=⃗
⃗
v˙ (t)=⃗v˙ ' (t)=⃗r¨ ' (t)=⃗
a ' ( t)
a⃗ ' (t)=⃗a ( t)
(6.3)
Ort:
.
Die wichtigste Erkenntnis dabei ist:
Eine Galilei-Transformation ändert die Beschleunigung, und damit die Newton'sche Bewegungsgleichung nicht! Daher gilt das Trägheitsgesetz in S und S'. Solche Systeme, in denen das
Trägheitsgesetz gilt, nennt man Inertialsysteme.
u ist
Die gleiche Prozedur wenden wir jetzt auf den Fall an, dass S' gegen S beschleunigt ist, d. h. ⃗
¨u ≠0 und die Transformation wird
nicht mehr konstant. Dann ist die zweifache Zeitableitung ⃗
a ' (t )≠⃗a (t) .
deutlich komplizierter. Insbesondere ist dann ⃗
6.2 Beschleunigte und rotierende Bezugssysteme
6.2.1 Der Wolf im Schafspelz: Scheinkräfte
Zuerst betrachten wir den Fall, dass ein Bezugssystem S' gegen ein ruhendes System S mit
konstanter Beschleunigung aS beschleunigt wird, d.h. die Relativgeschwindigkeit ändert sich als
1
u (t)=⃗a S⋅t . Dann ist z. B. ⃗r ' =⃗r − ⃗a s t 2 und die zweite
gleichförmig beschleunige Bewegung: ⃗
2
Seite 142
2
d 1
2
a s verschwindet nicht mehr. Die in S' gesehene Beschleunigung ist
⃗a s t = ⃗
Zeitableitung von
2
dt 2
a ' =⃗
a −⃗a s und die Bewegung sieht in S' anders aus als in S. Jetzt muss man aufpassen: Der in
nun ⃗
a ' enthaltene Zusatzterm −⃗a s beschleunigt nur das Bezugssystem S' und wirkt in keiner Weise
⃗
auf den Körper K. Dennoch wird jetzt in der Physik so getan, als sei −⃗a s eine Beschleunigung, die
auch auf den Körper wirkt. Man bezeichnet das Produkt von −⃗a s mit der Masse des Körpers m als
⃗ Schein . Damit erhält man m a⃗ ' =m a⃗ −m a⃗ s =m ⃗a +⃗
F Schein . Zusammen mit
„Scheinkraft“: −m ⃗a s= F
⃗ =m ⃗
der realen Kraft F
a , die tatsächlich auf den Körper wirkt, erhält man als Bewegungsgleichung
⃗ +F
⃗ Schein . In dieser Form ist nicht mehr erkennbar,
im beschleunigten Bezugssystem S': m a⃗ ' = F
⃗ Schein in S' überhaupt nicht auf den Körper wirkt und
dass die künstlich erzeugte Scheinkraft F
⃗ in S zu unterscheiden ist.
sorgfältig von der realen Kraft F
Beispiel: Sie sitzen auf einer Parkbank (S) unterhalten sich mit einem Hundebesitzer (S'), dessen
Hund (Körper K) ihm plötzlich − angeregt durch ein schmuckes Kaninchen − mit konstanter Gea S beschleunigt
schwindigkeit ⃗v 0 entlang ⃗r (t)=⃗v 0 t wegläuft, woraufhin der Besitzer ihm mit ⃗
hinterher rennt. Sie schauen zu, wie der Besitzer den Hund einholt und einfängt. Der Besitzer sieht
aus seiner Perspektive seinen Hund ihm gegenüber langsamer werden ( ⃗v '(t )=⃗v 0−⃗a S t ) und seinen
Abstand zu ihm schrumpfen, ⃗r '(t )=⃗r (t)−1/ 2 ⃗
a S t 2 , bis er ihn greifen kann. Als Hund und Herrchen zu Ihnen zurückkehren, gratulieren Sie zu dem Spurt. Daraufhin grinst der Besitzer, entpuppt
sich als Physiker, und sagt: „Wieso, ich hab mich doch gar nicht bewegt. Mein Hund ist rückwärts
auf mich zu gerannt, hat dabei von selbst abgebremst und schließlich bei mir angehalten.“
Das Beispiel mag Ihnen unpassend oder absurd erscheinen, doch genauso geht die Physik in solchen
Fällen vor: In unserem Beispiel beschleunigt der Hundbesitzer durch die Kraft seiner Beinmuskeln,
die sicher nicht auf den Hund wirkt. Beschreibt man den Vorgang aus der Perspektive des Hundebesitzers mit den Methoden der Physik, dann bleibt der Besitzer tatsächlich stehen, während der
Hund rückwärts auf ihn zu rennt, wobei eine „von selbst kommende“ Bremskraft auf den Hund
wirkt. Diese „von selbst kommenden“ Kräfte, die überhaupt nicht existieren, nennt man Scheinkräfte. Wir nennen sie „Trägheitskraft“, „Zentrifugalkraft“ oder „Corioliskraft“.
Immer, wenn Sie eine dieser Scheinkräfte ins Spiel bringen, argumentieren Sie genau wie dieser
Hundebesitzer mit Kräften, die ebenso wenig existieren wie die Bremskraft auf den rückwärts rennenden Hund. Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist rein mathematischer Natur: Man kann damit
dynamische Probleme auf statische Gleichgewichte zurückführen und Rechnungen vereinfachen.
Die Nachteile liegen darin, dass
a) man sehr sorgfältig zwischen zwei Arten von Kräften unterscheiden muss:
•
Echte Kräfte, die auf einer physikalischen Wechselwirkung beruhen, und die stets durch
irgendein Objekt, z. B. ein Feld, ein Seil, einen Muskel, eine Oberfläche etc. bewirkt werden. Nur für diese Kräfte gelten alle Newtonschen Axiome.
•
„Scheinkräfte“, die ausschließlich in beschleunigten Bezugssystemen auftreten, die keine
reale Wechselwirkung beinhalten, die geheimnisvoll aus dem Nichts „von selbst“ entstehen
und bei deren Vorhandensein das Trägheitsgesetz oder „actio = reactio“ nicht mehr gilt.
b) Scheinkräfte oft mit realen Kräften verwechselt werden.
•
Dadurch bleibt das Trägheitsgesetz und „actio = reactio“ unverständlich.
•
Dadurch wird die Argumentation mit realen Kräften verlernt.
Seite 143
Versuchen Sie deshalb, die Argumentation mit Scheinkräften − vor allem in der Schule − nach
Möglichkeit zu vermeiden. Das nächste Kapitel zeigt, wo die drei Scheinkräfte: „Trägheitskraft“,
„Zentrifugalkraft“, „Corioliskraft“ herkommen.
6.2.2 Transformation in beschleunigte rotierende Bezugssysteme
Wir betrachten jetzt die Transformation zwischen zwei Systemen S und S', wenn S' gegen S mit der
a S beschleunigt wird: Als erstes zerlegen wir ⃗
a S in eine TranslationsbeschleuniBeschleunigung ⃗
¨
gung ⃗r 00 des Ursprungs von S' gegen den Ursprung von S und in eine Rotation von S' gegen S mit
konstantem ω
⃗.
Um die Notation zu verschlanken, benennen wir die kartesischen Koordinaten jetzt mit x1, x2, x3 statt x, y, z. Die Rotation
soll um die x3-Achse erfolgen. Bis auf ω
⃗ sind alle Größen zeitabhängig und wir schreiben kurz ⃗r statt ⃗r (t) , ⃗v statt ⃗v (t) ,
⃗e i statt ⃗e i (t) , usw.
Wir benötigen folgende Größen:
•
•
•
K
x2
..
Den Ortsvektor ⃗r =x 1 ⃗e 1 +x 2 ⃗e 2 +x 3 ⃗e 3 in S, mit den Koe 2, ⃗e 3 .
ordinaten x1, x2, x3 und den Einheitsvektoren ⃗e 1, ⃗
r'00
ω
Laborsystem S
r (ruht)
Den Ortsvektor ⃗r '=x '1 ⃗e '1 +x '2 ⃗e '2 +x '3 ⃗e '3 in S', mit den
x1
Koordinaten x'1, x'2, x'3 und den Einheitsvektoren
Abb. 6.2: Transformation in ein
⃗e '1, ⃗e '2, ⃗e '3 .
beschleunigtes Bezugssystem
˙
ω×⃗e 'i (6.4) der Einheitsvektoren in S': Sie ruhen in S' und rotieren
Die Zeitableitung ⃗e 'i =⃗
ω×⃗e 'i .
in S mit ω
⃗ . Ihre Spitzen laufen in S auf Kreisbahnen mit der Geschwindigkeit ⃗e˙ 'i =⃗
( )(
)()( )
−sin(ω t )
cos( ω t)
0
d cos (ω t)
ω ×⃗
e '1 .
Beispiel: ⃗e˙ '1= dt sin (ω t) =ω cos (ω t) = 0 × sin(ω t) =⃗
ω
0
0
0
Wie in Kap. 6.1 lesen wir als Ausgangspunkt aus Abb. 6.2 die Transformation des Ortsvektors aus
3
e 'i . Das Ausführen der Zeitableitungen ist jetzt
der Vektoraddition ab: ⃗r =⃗r 00 +⃗r '=⃗r 00 ' +∑ x 'i ⃗
i
aufwändiger (siehe z. B. [7]) und ergibt mit der Produktregel und mit (6.4):
3
3
3
3
3
3
i
i
i
i
i
i
e˙ 'i=⃗r˙ 00 +∑ ẋ 'i ⃗
e ' i +∑ x 'i ( ω
⃗ ×⃗e 'i)=⃗r˙ 00 +∑ ẋ 'i ⃗e ' i +⃗
ω×∑ x 'i ⃗
e 'i .
⃗v =⃗r˙ =⃗r˙ 00 +∑ ẋ 'i ⃗e 'i +∑ x 'i ⃗
v '+⃗
ω ×⃗r ' .
Die erste Summe entspricht ⃗v ' , die zweite ⃗r ' , also ist ⃗v =⃗r˙ 00 +⃗
3
3
3
3
d
a =⃗v˙ =⃗r¨ 00 +∑ ẍi ⃗e 'i+∑ ẋ i ⃗
e˙ 'i +ω
⃗˙ ×∑ x i ' ⃗e 'i +⃗
ω × ∑ x i ' ⃗e 'i .
Die nächste Zeitableitung ergibt ⃗
dt i
i
i
i
a ' , die zweite ist etwas komplizierter und ergibt mit (6.4)
Die erste Summe entspricht ⃗
∑ v ' i ( ω⃗ ×⃗e ' i)=∑ (⃗ω ×v ' i ⃗e ' i )=⃗ω ×∑ (v ' i ⃗e ' i )= ω⃗ ×⃗v ' . Die dritte Summe ist ⃗r ' , die vierte
i
i
i
Summe ist ⃗r˙ ' und wir können die Ableitung aus ⃗v ablesen: ⃗r˙ '=⃗
v '+⃗
ω ×⃗r ' .
ω×⃗v '+ω
⃗˙ ×⃗r '+⃗
ω×( ⃗v '+⃗
ω×⃗r ') . Wenn man den letzten SumAlles zusammen ergibt a⃗ =⃗r¨ 00 +a⃗ '+⃗
manden auswertet, erhält man ω
⃗ ×( ⃗v '+ω
⃗ ×⃗r ')= ω
⃗ ×⃗v '+ω
⃗ ×( ω
⃗ ×⃗r ') .
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a =⃗r¨ 00 +⃗
a '+⃗
ω×⃗v '+ω
⃗˙ ×⃗r '+⃗
ω×⃗v '+⃗
ω ×( ω
⃗ ×⃗r ') und zusammengefasst als
Alles zusammen ergibt ⃗
˙
¨
⃗ ×(⃗
ω×⃗r ')+2 ω
⃗ ×⃗v '+ ω
⃗ ×⃗r ' (6.5).
allgemeines Ergebnis ⃗a =⃗r 00 +⃗a '+ ω
Weil wir uns auf konstante ω
⃗ beschränkt haben, ist der letzte Term null: ω
⃗˙ ×⃗r '=0 . Die bac-cab2
Regel liefert ω
⃗ ×(⃗
ω ×⃗r ')=−m ω ⃗r ' . Unser Endergebnis ist damit:
Transformation in ein mit ⃗r¨ 00 beschleunigtes und mit ω
⃗ rotierendes Bezugssystem S':
Aus S betrachtet:
Aus S' betrachtet:
Ort:
⃗r =⃗r 00 +⃗r '
⃗r '=⃗r −⃗r 00
Geschwindigkeit:
⃗v =⃗r˙ 00+⃗v '+⃗
ω ×⃗r '
⃗v '=⃗
v −⃗r˙ 00−⃗
ω×⃗r '
Beschleunigung:
a =⃗r¨ 00+⃗a '−ω 2 ⃗r '+2 ω
⃗
⃗ ×⃗v ' ⃗
a '=⃗
a −⃗r¨ 00+ω 2 ⃗r '−2 ω
⃗ ×⃗v ' .
⃗ =m ⃗
⃗ =m a⃗ in S wird in S' zu: F
Die Bewegungsgleichung F
a =m( ⃗r¨ 00 +⃗
a '−ω 2 ⃗r '+2 ω
⃗ ×⃗v ' ) . Um
auch in S' die einfache Gestalt „F = ma“ der Bewegungsgleichung zu erhalten, zieht man alle
⃗ −m ⃗r¨ 00+mω 2 ⃗r '−m2 ω
Transformationsterme auf die „Kraftseite“ der Gleichung F
⃗ ×⃗
v '=m⃗a ' und
erklärt sie zu scheinbaren Kräften. Das erzeugt − nur in S' !!! − die drei
Scheinkräfte
Aus S betrachtet:
nicht existent
Aus S' betrachtet:
Trägheits“kraft“:
⃗ T =−m ⃗r¨ 00
F
(6.6),
nicht existent
Zentrifugal“kraft“:
⃗ ZF =m ω
F
⃗ 2 ⃗r '
(6.7),
nicht existent
Coriolis“kraft“:
⃗ C =−m 2 ω
F
⃗ ×⃗v ' (6.8).
Oft werden auch alle Scheinkräfte als „Trägheitskräfte“ bezeichnet. Keine von ihnen ist eine Kraft,
⃗ aus S. Mit den Scheinkräften lauten die
die auf einen Körper wirkt. Die einzige reale Kraft ist F
Bewegungsgleichungen
Aus S betrachtet:
⃗ =m ⃗
F
a
Aus S' betrachtet:
⃗ +F
⃗ T + ⃗F ZF + F
⃗ C =m ⃗a '
F
(6.9)
⃗ null ist, bewegt sich ein Objekt in S', als würde es
Daran sehen Sie: Selbst, wenn die reale Kraft F
durch die Scheinkräfte beschleunigt. Daher gilt das Trägheitsgesetz jetzt nicht mehr. Tatsächlich
wird aber nur das Bezugssystem S' relativ zum Objekt beschleunigt. Wir fassen zusammen:
Im beschleunigten und rotierenden Bezugssystem sieht die Bewegungsgleichung anders aus. Die
Transformationsartefakte werden als „Scheinkräfte“ interpretiert! Scheinkräfte entstehen nur durch
eine mathematische Umformung. Scheinkräfte treten ausschließlich in beschleunigten Bezugssystemen auf. Scheinkräfte beinhalten keine physikalische Wechselwirkung. Scheinkräfte haben
kein Objekt, das sie erzeugt. Scheinkräfte setzen das Trägheitsgesetz außer Kraft. Scheinkräfte
genügen nicht „actio = reactio“.
Wann ist es sinnvoll, mit Scheinkräften zu argumentieren? Dann, wenn eine gegebene Situation aus
einem beschleunigten Bezugssystem S' heraus betrachtet, einfacher zu beschreiben ist als im Laborsystem. Wenn man beispielsweise eine gleichförmige Kreisbewegung eines Körpers im Laborsystem kompliziert findet, kann man diese auch im mitrotierenden Ruhesystem des Körpers S' als
statisches Gleichgewicht beschreiben. Man darf dabei jedoch nicht vergessen, dass in S beschleunigte oder kreisende Körper im mit dem Körper mitbewegten System S' ruhen. Sie können nur dann
korrekt mit Scheinkräften umgehen, wenn Sie in der Lage sind, zu unterscheiden, in welchem der
Bezugssysteme S oder S' Sie gerade argumentieren, welche Kräfte dort auftreten und welche
Bewegung dort vorliegt. Sollten Sie das noch verwirren, dann lassen Sie die Argumentation mit
Scheinkräften sein.
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6.2.3 Trägheitskraft
Im beschleunigten nichtrotierenden Bezugssystem mit ω = 0 wird die Bewegungsgleichung zu
⃗ +F
⃗ T =m ⃗a ' (6.10) und die Kraft F
⃗ '= F
⃗+⃗
F
F T (6.11).
Als Trägheitskraft nehmen wir (in S') die Kräfte war, die scheinbar wirken, wenn unser Bezugssystem beschleunigt. Wenn wir z. B. im Auto (S') an einer grünen Ampel (S) anfahren, werden wir
scheinbar in den Sitz gepresst und unser Kaffee schwappt aus dem Becher. Tatsächlich wollen unser
Körper und unser Kaffee nur weiter an der Ampel (in S) ruhen, während das Auto nach vorn beschleunigt. Das Auto fährt uns nur deshalb nicht unter dem Hintern weg, weil der Sitz, vor allem die
Rückenlehne, gegen unseren Rücken drückt und so die Kraft auf uns ausübt, die uns passend zum
Auto beschleunigt. Wenn keine Rückenlehne da ist, kann es passieren, dass einem das Fahrzeug unter dem Hintern wegfährt. Wenn sich die Sozia eines Motorradfahrers nicht festhält, während der
Fahrer an einer Ampel sehr sportlich beschleunigt, kann es durchaus passieren, das sie dabei verloren geht. Denn die meisten Motorräder haben keine Rückenlehne. Analog beschleunigen die Wände
des Bechers den Kaffee. Warum er dabei aus dem Becher schwappt? Weil Flüssigkeitsoberflächen
sich immer senkrecht zu einer angreifenden Kraft stellen. Denn bei einer Kraft quer zur Oberfläche
verschiebt sich die Flüssigkeit sofort. Wenn Sie Ihren Kaffee nach vorn beschleunigen, stellt sich
seine Oberfläche schräg und der Kaffee schwappt heraus.
Ernsthafte Studie: So schwappt Kaffee nicht mehr über
SANTA BARBARA − Drehmoment und Beschleunigung. Oberflächenspannung und die Größe des Behälters. Klar, bei diesem physikalischen
Experiment kann es nur um das eine gehen: Kaffee und wie wir ihn mög lichst unfallfrei von einem Punkt zum anderen transportieren. Der menschliche Kaffeeträger als Physik-Experiment. Der Wissenschaftler Rouslan
Krechetnikov und seinen Studenten Hans Mayer nahmen sich nun dem weitverbreiteten Phänomen des Verschüttens von Kaffee in einer Studie an. Sie
ließen Männer und Frauen verschiedener Altersgruppen Tassen mit Kaffee
transportieren. Und siehe da: kaum wird das mal systematisch untersucht,
Foto: iStockphoto
lässt es sich auch erklären.
Wenn sie es noch nicht wussten: Sie verschütten Kaffee, weil Sie unaufmerksam oder zu schnell unterwegs sind.
Wissenschaftlich ausgedrückt: Sie könnten zu alt oder zu jung sein. Ihre Fähigkeit zu vorausschauendem Denken
und Ihre Reflexe funktionieren mal besser, mal weniger gut. Sie haben sich für den falschen Kaffeebecher
entschieden, oder die Tasse einfach zu voll gemacht. Sie sind zu schnell unterwegs.
Natürlich haben die Forscher der University of Santa Barbara knallhart geforscht, wie Sie die Gefahr des
Überschwappens minimieren. Hier die ernst gemeinten wissenschaftlich belegten Tipps!
• langsamer Gehen
• Becher nicht bis zum Rand füllen (unter dem Rand sollte ein Stück frei bleiben. Die freie Fläche sollte einem
Achtel des Durchmessers des Bechers entsprechen)
• auf den Weg achten ( Stolperfallen, Kinder, Haustiere, oder im schlimmsten Fall Kollegen, die ebenfalls eine
Tasse Kaffee balancieren könnten fatale Auswirkungen auf das eigene Gleichgewicht haben)
Die Wissenschaftler haben natürlich noch einen weiteren Kracher-Tipp auf Lager. Wer mit Kaffee unterwegs ist,
sollte auf einen Becher mit Deckel zurückgreifen (Kaffee to go).
Übrigens: Wenn Sie glauben, diese Studie ist nonsens, irren Sie. Das Kaffee-Experiment ist Kandidat für den IGNobelpreis. Eine Auszeichnung, die die Havard Universität Cambridge (USA) für unnütze oder skurrile
wissenschaftliche Leistungen vergibt. Voraussetzung: Die Studie sollte zunächst zum Schmunzeln verleiten, doch
dann zum nachdenken anregen.
Das können Sie ja jetzt bei einer Tasse Kaffee tun...
Quelle:http://www.express.de/living/ernsthafte-studie-so-schwappt-kaffee-nicht-mehr-ueber,2484,15206862.html
Seite 146
Interessant ist auch der Fall, wenn das Bezugssystem und ein Körper darin gleich beschleunigt
⃗ T =− F
⃗ und F
⃗ +F
⃗ T =m ⃗a '=0 . Diesen Fall schauen wir uns jetzt am
werden. In diesem Fall wird F
Beispiel der Schwerelosigkeit an.
6.2.3.1 Schwerelosigkeit
Warum sind Astronauten in einer Raumstation auf einer Umlaufbahn
„schwerelos“? Die Graviationskraft hat am Ort der Umlaufbahn immer
noch ca. 90% ihres Wertes der Erdoberfläche, daran kann es also nicht
liegen. Um die Frage zu beantworten, müssen wir uns zu Beginn klarmachen, was „schwerelos“ bedeutet. Als „Schwerkraft“ bezeichnen wir die
Gravitationskraft, die die Erde auf massebehaftete Körper ausübt (also
auch auf uns). „Schwerelosigkeit“ bedeutet somit, dass wir die Gravitationskraft nicht mehr nachweisen können, also keine Beschleunigung
durch sie spüren oder messen können. In diesem Sinne ist jeder frei
fallende Körper schwerelos und die Antwort auf unsere Eingangsfrage
lautet: Weil die Astronauten und die Raumstation frei fallen.
Aufzug
y0
y
0
a
– FF
FF
– mg
Um das zu verstehen, betrachten wir einen sportlichen Studenten der
Masse m im Selbstversuch, der sich in einem Aufzug an einer kräftigen
masselosen Feder mit der Federkonstanten D festhält, so dass er hängt. Abb. 6.3: Student im
Nach oben gerichteten Kräfte und Auslenkungen seien positiv, nach unten Aufzug
gerichtete negativ. Die Auslenkung der unbelasteten Feder ist y0. Die negative Auslenkung der Feder
Δy = y – y0 ist unser Maß für die Schwerkraft analog zu einer Federwaage.
Zuerst bestimmen wir die Kraft, mit der die Feder am Studenten zieht: Der Aufzug beschleunigt mit
a, darum beschleunigt auch der Student mit a. Auf ihn wirken als äußere Kräfte die Gewichtskraft
FG = – mg und die Kraft FF, mit der die Feder an ihm zieht. Seine Bewegungsgleichung in S lautet
daher FF – mg = ma. Folglich zieht die Feder mit der Kraft FF = m(a + g) an ihm. Nach dem
Hookschen Gesetz ist FF = – D ·Δy. Weil Δy = y – y0 negativ ist, ist FF positiv,
Jetzt betrachten wir die nach unten gerichtete negative „Schwerkraft“ – FS, mit der an der Feder
gezogen wird: Der Student zieht nach Actio = Reactio an der Feder mit der betragsmäßig gleichen
Kraft, wie diese an ihm, also mit – FS = – FF = D·Δy = – m(a + g). Damit ergibt sich für die
Auslenkung der Feder das Ergebnis Δ y =−m( a+g )/ D (6.12).
Nun können wir die Ursache der Schwerelosigkeit entlarven: Wenn der Fahrstuhl frei fällt, ist seine
Beschleunigung a = – g. Wie (6.12) zeigt, wird dann die Auslenkung der Feder und somit die
Schwerkraft Δy = – m(– g + g) = 0. Der Student wird „schwerelos“, obwohl die Gewichtskraft weiter
auf ihn wirkt. Er fällt einfach nur genauso schnell wie Feder und Fahrstuhl. Dadurch ist jeder frei
fallende Körper „schwerelos“. Völlig analog sind Astronauten in einer frei fallenden Raumstation
auf einer Umlaufbahn schwerelos (siehe Kap. 5.3.3.2).
Eleganter - jedoch weniger anschaulich - erhält man das Ergebnis, indem man die Bewegungsgleichung des Studenten in das beschleunigte Bezugssystem S' des Aufzugs transformiert. Im
Aufzug S' ruht der Student, seine Beschleunigung ist somit a' = 0. Im frei fallenden Fahrstuhl ist die
Trägheitskraft FT = – ma = mg (siehe (6.6)). Die Bewegungsgleichung in S' entsprechend (6.10)
lautet somit F F −mg+mg=m a ' . Da a' = 0 ist, ergibt sich unmittelbar F F =m a '=0 . Voilá.
Seite 147
6.2.4 Zenrifugalkraft
Kaum eine Kraft wird so oft fehlerhaft angewendet und als leere Floskel verwendet, wie die Zentrifugalkraft, die jedes Kind bereits zu kennen glaubt. Wenn Sie als Ursache einer Bewegung die Zentrifugalkraft angeben, argumentieren Sie mit einer nicht existierenden Kraft, so wie der Hundebesitzer im Kommentar zu seinem Spurt. Werden Sie sensibel dafür und denken Sie statt dessen
über die real wirkenden Kräfte nach. Machen Sie sich außerdem stets klar, in welchem Bezugssystem − S oder S' − Sie eine Situation betrachten und verwenden Sie konsequent nur die dort
jeweils existierenden Kräfte. Dazu betrachten wir jetzt noch einige Beispiele:
Beispiel: Argumentation mit der „Zentrifugalkraft“ und der Radialkraft: Eine mit kleinen Klötzchen
beladene Modelleisenbahn fährt mit konstantem Tempo v = ωr auf einer Kreisbahn. Wenn man das
Tempo erhöht, fallen die Klötzchen nach außen herunter. Warum bleiben sie zuerst liegen und
warum fallen sie bei größerem v herunter? Die stereotype Standardantwort lautet: „Sie bleiben
liegen, wenn die Zentrifugalkraft und die Radial(Zentripetal-)kraft gleich groß sind. Sie fallen
herunter, weil bei größerem Tempo die Zentrifugalkraft zunimmt und sie dann nach außen zieht.“
Die Antwort vermischt Kräfte, die nur entweder in S oder S' existieren und ist daher unsauber. Der
zweite Satz ist eine flache Floskel, denn er gibt keine physikalische Wechselwirkung an.
Wie lauten bessere Antworten? Zuerst müssen wir entscheiden, aus welchem Bezugssystem heraus
wir antworten wollen:
Im Laborsystem S kreist ein Klötzchen, folglich muss es durch eine Radialkraft nach innen beschleunigt werden. Als Radialkraft wirkt die Haftreibungskraft zwischen Klötzchen und Wagen. Die
Klötzchen bleiben liegen, wenn die erforderliche Radialkraft kleiner als die maximale Haftreibungskraft ist. Sie fallen herunter, sobald die erforderliche Radialkraft größer als die maximale Haftreibungskraft wird. Da S nicht beschleunigt ist, gibt es in S keine Scheinkraft wie die Zentrifugalkraft.
Im beschleunigen System S', das mit ω rotiert, ruhen die Klötzchen: v' = 0. Es ist das Ruhesystem
der Klötzchen. In S' muss folglich ein statisches Kräftegleichgewicht vorliegen. Die reale Haftreibungskraft muss im Gleichgewicht mit der Zentrifugalkraft sein. Sobald diese die maximale Haftreibungskraft überschreitet, bewegt sich das Klötzchen und fällt herunter. Da v' = 0 ist, gibt es in S'
keine Kreisbewegung und damit auch keine Radialkraft.
Dieses Beispiel soll Ihnen zeigen: Eine gleichzeitige Argumentation mit Zentrifugal- und Radialkraft (Zentripetalkraft) ist grundsätzlich immer unsauber, weil es die Zentrifugalkraft nur in S' und
einer Radialkraft nur in S gibt. Eine alleinige Argumentation mit der Zentrifugalkraft ist inhaltsleer
und erklärt überhaupt nichts. Man sollte stets die reale Kraft mit betrachten, die der Zentrifugalkraft
entgegenwirkt, und die eigentliche Physik beinhaltet.
Experiment: Konische Pendel Ein konisches Blei- und Korkpendel werden
in Drehung versetzt. Durch die Drehung
werden die Massen nach außen abgelenkt und das Seil wird um einen Winkel θ gegen die Vertikale geneigt, der
für beide Körper gleich ist. Je schneller
die Rotation, umso größer wird θ.
Das zeigt: In S: Der Körper kreist. Die
Horizontalkomponente der Seilkraft
wirkt als Radialkraft, die Vertikalkomponente kompensiert die Gewichtskraft.
Im ruhenden Laborsystem S
m läuft auf Kreisbahn
x - Richtung: Radialkraft
z - Richtung: Kräftegleichgewicht
2
F Sx = F R=m v /r F Sy −mg=0
F Sx = F S sin(θ)
F Sy =F S cos(θ)
F S sin(θ)=m v 2 / r F S cos(θ)−mg=0
⇒ mg tan(θ)=m v 2 / R ⇒ tan(θ)=v 2 /( gR)
θ
F R =−mv 2 / R
Im beschleunigten System S'
m ruht
x - Richtung: Kräftegleichgewicht
z - Richtung: Kräftegleichgewicht
F Sx −F ZF =0
F Sy −mg=0
F Sx =F S sin(θ)
F Sy =F S cos(θ)
F S sin(θ)−m v2 / r=0 F S cos(θ)−mg=0
⇒ mg tan(θ)=m v 2 / R ⇒ tan(θ)=v 2 /( gR)
F ZF =mv 2 / R
L
Fs
m
Fg
θ
L
R
Fs
FZF
m
Fg
R
Seite 148
In S': Der Körper ruht. Die Horizontalkomponente der Seilkraft ist im Gleichgewicht mit der Zentrifugalkraft. In beiden Fällen kürzt sich die Masse weg.
Rotierende Flüssigkeit: Ein Glas mit gefärbten Wasser wird in Rotation versetzt. Dadurch wird das
Wasser von der Mitte nach außen gedrängt und das Höhenprofil der Oberfläche bildet eine Parabel.
Das zeigt: Die resultierenden Kräfte neigen sich zunehmend gegen die z-Achse. In S: Die Flüssigkeitsoberfläche stellt sich senkrecht zur resultierenden Normalkraft ein. In S': Die Flüssigkeitsoberfläche stellt sich senkrecht zur Resultierenden aus Gewichtskraft und Zentrifugalkraft ein.
Flüssigkeiten geben Kräften parallel zur Oberfläche sofort
nach. Darum zeigt das Höhenprofil indirekt die Richtung der
resultierenden Kräfte an: Sie
stehen überall senkrecht auf der
Oberfläche. Deshalb ist z. B. die
Wasseroberfläche in einem Glas
Wasser im Feld der Gewichtskraft horizontal und eben. Die
Gefäßwände (Seiten und Boden) bewirken die Normalkräfte
FN, die das Wasser einschließen.
Flüssigkeiten wie Wasser nimmt
man als inkompressibel an, daher leiten sie auf sie wirkende Kräfte weiter. In S: Betrachtet man eine kleines ruhendes Wasservolumen V der Masse m an der Oberfläche des Wasserglases, dann liegt ein statisches Gleichgewicht
vor: Gewichtskraft und Normalkraft des Bodens kompensieren sich (− mg + FNz = 0), ebenso wie
die Normalkräfte der Seitenwände (+ FNx − FNx = 0). Die resultierende Normalkraft FN zeigt in
z-Richtung. Bei rotierendem Wasser müssen die Wände das Volumen V auf eine Kreisbahn zwingen.
Jetzt muss FNx als Radialkraft wirken (FNx = − mω2x) und FNz weiterhin die Gewichtskraft kompensieren (FWz − mg = 0). Die resultierende Kraft FN ist nun um α gegen die z-Richtung geneigt und
zwar umso stärker, je größer x ist. Die Flüssigkeit verschiebt sich so, dass die resultierende Kraft FN
wieder senkrecht auf der Oberfläche steht. Der Tangens des Winkels α von FN zur zur z-Achse
entspricht der Steigung dz/dx des Höhenprofils des Wassers. Durch Integration läßt sich das
Höhenprofil z(x) bestimmen und die Parabelform zeigen. In S: Jetzt betrachtet man das statische
Gleichgewicht zwischen Normalkraft einerseits und der Resultierenden aus Gewichtskraft sowie
Zentrifugalkraft andererseits. Die gesamte sonstige Argumentation bleibt gleich.
6.2.5 Coriolis-Kraft
Die Coriolis-Kraft wirkt nur auf Körper, die sich in S' senkrecht zur Drehachse bewegen. Sie ist die
komplizierteste Scheinkraft und kann komplizierte Bewegungen in S' erzeugen, auch wenn die
Bewegung in S einfach ist. Zuerst betrachten wir ein paar Experimente.
Experiment zur Coriolis-Kraft: Kameras: Eine Kamera A wird mit einer rotierenden Scheibe
verbunden, so dass sie mit dieser mitrotiert (S'). Eine weitere Kamera B ruht im Hörsaal (S) und
filmt die rotierende Scheibe. Über die Scheibe wird ein Tennisball auf gerader Bahn geworfen.
Kamera B sieht die gerade Flugbahn des Balls in S. Kamera A sieht eine gekrümmte Flugbahn des
Balls. Die Krümmung ist umso stärker, je schneller die Scheibe rotiert. Ein Pendel wird über der
Scheibe zum Schwingen gebracht. Kamera B sieht die konstante Schwingungsebene des Pendels.
Kamera A sieht eine Rosettenbahn des Pendels und eine Rotation der Schwingungsebene. Das
Seite 149
zeigt: Die Coriolis-Kraft bewirkt keine Kraft auf ein Objekt, sondern spiegelt nur die Rotation des
Bezugssystems wieder, aus dem man eine Bewegung betrachtet.
Foucault-Pendel: Ein Pendel mit einem nach unten spitz
zulaufenden Pendelkörper wird so aufgehängt, dass die
Schwingungsebene frei rotieren kann. Zu Beginn wird es
mit einem Faden bei einer Auslenkung x fixiert und eine
Nagelreihe genau gegenüber (etwas kürzer als bei − x)
aufgestellt. Dann wird das Pendel durch Durchbrennen des
Fadens gestartet. Im Laufe der Zeit wird ein Nagel nach
dem anderen vom Pendel umgeworfen. Das zeigt: Die
Schwingungsebene des Pendels dreht sich aus Sicht der
Erde (S'), weil die Erde sich unter dem Pendel wegdreht.
Von einem Punkt außerhalb der Erde betrachtet (S), − z. B.
über dem Nordpol schwebend − bleibt die Schwingungsebene des Pendels bestehen.
Am Nordpol wäre die Periodendauer einer kompletten
Umdrehung T = 24 h. Für Berlin (Breitengrad 52°) ergibt
sich T = 30,25 h. Am Äquator würde sich das Pendel überhaupt nicht drehen, da es dort parallel zur Drehachse der
Erde schwingt
Die Erde ist ein rotierendes kugelförmiges Bezugssystem. Bei großflächigen Bewegungen, z. B.
Windströmungen, kann sich die Corioliskraft bemerkbar machen. Um das zu verstehen, betrachten
wir zuerst ein flaches rotierendes System S'. S' rotiere mit ω gegen den Uhrzeigersinn (UZS) um die
senkrechte z-Achse gegen S. Wir schauen uns zum Warmwerden einige einfache Bewegungen in S
und S' an und wenden unsere Erkenntnisse dann auf die Erde als rotierendes Bezugssystem an.
Obwohl die Erde eine Kugel und keine Scheibe ist, können wir die Ergebnisse übertragen.
Bei einer in S ruhenden Kugel (rot), sehen wir in
S' eine gleichförmige Kreisbewegung im UZS,
weil sich S' dreht: ⃗v ' =ω
⃗ '×⃗r ' =−ω
⃗ ×⃗r ' . Dann
⃗ ' R=−m ω2 ⃗r ' wirFC
muss in S' die Radialkraft F
ken. Sie wird erzeugt durch die Scheinkräfte:
S'
die Corioliskraft, die nach innen zeigt und radial
⃗ C =−2 m ω
wirkt F
⃗ ×(−⃗
ω×⃗r ')=−2 mω 2 ⃗r ' 34,
S
sowie die Zentrifugalkraft, die nach außen
⃗ ' ZF =mω 2 ⃗r ' . Die Summe beider Kräf- Abb. 6.4: Ruhe und Kreisbewegungen in S und S'.
wirkt: F
⃗ ' R=−2 m ω2 ⃗r ' +mω 2 ⃗r '=−m ω2 ⃗r ' .
te ergibt genau F
Bei einer in S mit ω gegen den UZS kreisenden Kugel (grün), sehen wir in S' eine ruhende Kugel,
denn S' dreht sich genau mit der Kugel mit. Die Corioliskraft ist null, entsprechend ⃗v ' =0 .
Bei einer in S mit −⃗
ω im UZS kreisenden Kugel (gelb), sehen wir sie in S' doppelt so schnell
kreisen: ⃗v ' =ω
⃗ ' ×⃗r ' =−2 ω
⃗ ×⃗r ' , denn S' dreht sich entgegengesetzt zur Kreisbahn der Kugel. Jetzt
2
⃗ C =−2 m ω
erzeugt die Corioliskraft allein die Radialkraft: F
⃗ ×(−2 ω
⃗ ×⃗r ' )=−4 m ω ⃗r ' , denn die
Zentrifugalkraft hebt die reale − in S als Radialkraft wirkende − Kraft auf.
34
Hier haben wir wieder die bac-cab-Regel angewendet.
Seite 150
Bewegen wir eine Kugel in S auf einer
Schraubenbahn mit der Winkelgeschwindigkeit
ω
⃗ und der vertikalen Geschwindigkeit ⃗v z ,
dann bewegt sich die Kugel in S' mit ⃗v ' z =v⃗ z
S'
S
senkrecht nach oben. In S' sehen wir keine
Ablenkung. Die Corioliskraft ist null. Geschwin- Abb. 6.5: Eine Schraube in S ist Anheben in S'.
digkeiten ⃗v ' z parallel zur Drehachse bewirken keine Corioliskraft, was man direkt dem Kreuz⃗.
produkt entnehmen kann, entsprechend ⃗v ' z ∥ω
Wenn in S eine Kugel auf einer geraden radialen
Bahn mit konstanter Geschwindigkeit läuft,
B
dann bewegt sie sich in S' auf einer gekrümmten
horizontalen Bahn und es scheint die Kraft
FC
⃗ C =−2 m ω
F
⃗ ×⃗v ' auf die Kugel zu wirken. TatS'
sächlich dreht sich jedoch nur das Bezugssystem
A
S' relativ zur Kugel weiter. Bewegt sich die
S
Kugel (grün) in S von innen nach außen, läuft
sie in S' auf einer Spiralbahn nach außen. Die Abb. 6.6: Radiale Bewegung in S und S'.
Corioliskraft enthält eine Komponente gegen die Drehrichtung von S' (Kurve A in Abb. 6.6).
Bewegt sich die Kugel (rot) in S von außen nach innen, läuft sie in S' auf einer Spiralbahn nach
innen. Die Corioliskraft enthält eine Komponente in Drehrichtung von S' (Kurve B, Abb. 6.6). In
Richtung von v' schauend, wirkt die Kraft in beiden Fällen nach rechts.
Versuchen wir die gleiche radiale Bewegung in
S', geht das im wahrsten Sinne des Wortes
B
A
schief: Die Kugeln laufen auf krümmen Bahnen.
Aus S betrachtet, sieht man den Grund: Dort
laufen die Kugeln vor Beginn der RadialS'
bewegung auf Kreisbahnen. Bewegt sich die
Kugel (grün) von innen nach außen, nimmt sie
S
als horizontale Geschwindigkeit die Bahngeschwindigkeit (blaue Pfeile) ihres Ausgangs- Abb. 6.7: Radiale Bewegung in S und S'.
kreises mit. Sobald sie ihre Kreisbahn verlässt, dreht sich S' unter ihr schneller und sie hinkt S'
hinterher. Aus S' gesehen, erzeugt das eine Ablenkung gegen die Drehrichtung (Kurve A). Bewegt
sich die Kugel (rot) von außen nach innen, ist sie dagegen schneller als S' und eilt voraus. Das sieht
in S' wie eine Ablenkung in Drehrichtung aus (Kurve B).
Jetzt wenden wir dies auf die Erde und ihre Winde an und betrachten dazu die Situation zuerst aus
einer Perspektive oberhalb des Nordpols. Die Erdachse sei die z-Achse. Die Projektion der Erde auf
die xy-Ebene ist wieder eine Scheibe. Die Kugelgestalt der Erde berücksichtigen wir, indem wir von
jeder dreidimensionalen Windgeschwindigkeit ⃗v ' auf der Erde (S') nur ihr Anteil ⃗v ' xy senkrecht
zur Erdachse betrachten, denn nur dieser erzeugt die Corioliskraft. ⃗v ' xy ist die Projektion von ⃗v '
auf die xy-Ebene. ⃗v ' xy ist bei Nord/Süd-Winden radial und bei Ost/West-Winden identisch mit
⃗v ' und tangential gerichtet. Wenn z. B. Wind auf der Nordhalbkugel von Nord nach Süd weht,
zeigt ⃗v ' xy radial nach außen.
Am Äquator ist Bahngeschwindigkeit des Erdbodens am größten und nimmt zu den Polen bis auf
null ab. Wenn nun ein Luftpaket seine geographische Breite verlässt, behält es deren Bahngeschwindigkeit bei. Wind, der auf der Nordhalbkugel nach Süden strömt, kommt in Breiten, die
sich schneller bewegen als seine Herkunftsregion: Der Erdboden eilt dem Wind voraus. Der Wind
Seite 151
wird wie die Kurven A in Abb. 6.7, also gegen die Erddrehung (nach Westen) abgelenkt. Das gleiche
gilt, wenn Wind auf der Südhalbkugel von Süd nach Nord weht. Strömt dagegen Wind auf der
Nordhalbkugel von Süd nach Nord oder auf der Südhalbkugel von Nord nach Süd, ist ⃗v ' xy radial
nach innen gerichtet. Der Wind strömt also in "langsamere" Breiten: Jetzt eilt der Wind der
Erdoberfläche voraus. Dann werden die Winde wie Kurven B in Abb. 6.7, also in Richtung der
Erddrehung (nach Osten) abgelenkt.
v'xy
v'
v'
v'Ist
Abb. 6.8: Die Ablenkung der Winde entsteht, weil der Wind die Geschwindigkeit (Tempo und
Richtung) seines Ursprungsbreitengrades beibehält, während die Erde sich weiterdreht.
Auch Winde, die entlang eines Breitengrads wehen, werden abgelenkt. Das erklären die „Scheibenprojektionen“ nicht ohne weiteres. Denn hierfür sind nicht die unterschiedlichen Bahngeschwindigkeiten verantwortlich, sondern die Krümmung der Erdoberfläche und der Breitengrade: Nach
Osten wehendem Wind läuft ein Breitengrad nach Norden weg. Vom Breitengrad aus gesehen, wird
der Wind südlich abgelenkt. Gleichzeitig wächst der Abstand der Winde zum Erdboden, sie steigen
scheinbar auf. Nach Westen wehendem Wind läuft ein Breitengrad aus Norden entgegen. Sie
werden deshalb scheinbar nördlich abgelenkt. Ein Punkt auf dem Erdboden nähert sich ihnen. Sie
sinken scheinbar ab. Auf der Südhalbkugel ist die Nord/Süd-Ablenkung umgekehrt, weil die
Breitengrade andersherum gekrümmt sind. Die Auf/Ab-Ablenkung ist gleich, weil die Erdoberfläche genauso gekrümmt ist. Am einfachsten merkt man sich die Ablenkungen so:
Auf der Nordhalbkugel wirkt die Corioliskraft in Richtung von v' schauend immer nach rechts.
Auf der Südhalbkugel wirkt die Corioliskraft in Richtung von v' schauend immer nach links.
Nach Osten wehende Winde steigen hoch, nach Westen wehende Winde sinken ab.
Die Coriolisablenkung bestimmt auch die Drehrichtung großer Tiefdruckgebiete (Zyklone35): Auf
der Nordhalbkugel dreht eine Zyklone im Uhr- Fp FC
zeigersinn, auf der Südhalbkugel andersherum. Das
T
kann man anhand Abb. 6.9 folgendermaßen versteFR
hen: Der Druckunterschied zwischen Hoch- und
Tiefdruckgebieten bewirkt eine radiale Kraft Fp, die
die Winde direkt in die Tiefdruckzone (T) treibt. Auf Abb. 6.9: Eine Zyklone auf der Nordhalbihrem Weg dahin erzeugt die Corioliskraft FC eine kugel.
35
Ein Tiefdruckgebiet nennt man „die Zyklone“. Einen Tropensturm nennt man dagegen „der Zyklon“.
Seite 152
Ablenkung nach rechts, so dass sie rechts an ihrem Ziel vorbeischrammen. Die resultierende Kraft
ist also nicht mehr auf das Zentrum, sondern rechts daneben gerichtet Auch auf die „vorbeigeschrammten“ Winde wirkt diese Kraft. Die Winde werden also immer nach innen, aber rechts am
Zentrum vorbei gelenkt. Das ergibt insgesamt einen Wirbel, der gegen den Uhrzeigesinn dreht.
Es ist eine Mär, dass dieser Effekt auch für den Drehsinn von ablaufendem Wasser in einen Abfluss
verantwortlich ist: Hierfür ist die Corioliskraft viel zu schwach. Der Drehsinn des Wasserstrudels
wird durch die individuelle Beschaffenheit des Abflusses bestimmt.
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
6.1) Ein ICE hält unvorhergesehen auf gerader Strecke. Er
bremst mit konstanter Kraft in 20 s von 300 km/h zum Stillstand. Ihr Kaffeebecher (m = 200 g) auf Ihrem Tisch kommt
sofort ins Rutschen (Gleitreibungszahl µ = 0,2). Welche
Beschleunigung wirkt auf Ihren Kaffeebecher? Wohin bewegt er
sich? Innerhalb welcher Zeitspanne müssen Sie reagieren und
ihn festhalten, damit er nicht vom Tisch fällt?
20 cm
80 cm
Fahrtrichtung
6.2) Der Erdradius ist am Äquator größer als als in Nord-Süd-Richtung. Erklären Sie ohne
Zuhilfenahme der Zentrifugalkraft, sondern nur mit realen Kräften, wie das Zustande kommt.
6.3) Wenn Sie Kaffee oder Tee umrühren, bildet sich in der Mitte ein schlanker Trichter und kein
parabelförmiges Höhenprofil wie im Experiment auf S. 148. Überlegen Sie sich mit Hilfe der
Zentrifugalkraft die radiale Geschwindigkeitsverteilung, die im Kaffee herrschen muss. Haben Sie
eine Erklärung für diese abweichende Geschwindigkeitsverteilung?
6.4) Karussell: In einem Round Up wie dem Carribean Star
„kleben“ Sie scheinbar an der Wand und können ohne weiteres
die Füße vom Boden nehmen.
a) Woran liegt das? Zeichnen Sie die auf Sie wirkenden Kräfte
i) aus der Perspektive eines Fahrgastes, ii) aus der Perspektive
eines Zuschauers.
b) Mit welcher Kreisfrequenz muss das Round Up mindestens
drehen, damit ein Fahrgast bei der maximalen Neigung von
75° zum Erdboden auch im höchsten Punkt seiner Bahn an der Wand „kleben“ bleibt?
6.5) Betrachte ein in Berlin (geografische Breite φ = 52°) stehendes Foucault-Pendel, also ein
drehbar gelagertes entdämpftes Fadenpendel mit einer Fadenlänge von mehreren Metern und einer
Schwungmasse von einigen kg.
a) Um wieviel Grad würde sich die Schwingungsebene des Pendels aufgrund der Erdrotation
während eine Vorlesung, also der Dauer von 1,5 h weiterdrehen?
b) Wie wären die Werte für diesen Winkel, wenn unsere Vorlesung am Äquator und am Nordpol
stattfinden würde?
6.6) Ein geostationärer Satellit läuft so um die Erde, dass er immer über dem gleichen Punkt der
Erdoberfläche steht. Welche Kräfte wirken auf den Satelliten? Bestimmen Sie aus dem Kräftegleichgewicht die Höhe des Satelliten. Geben Sie an, in welchem Bezugssystem Sie argumentieren.
Seite 153
6.7) Coriolisbahn: Student Ole spielt gern mit

Modelleisenbahnen: Er lässt eine mit einem Stift verStift
sehene Modellbahn mit konstanter Geschwindigkeit
d =1 m
gerade über eine rotierende Scheibe fahren und den
h =12,5 cm
Stift dabei eine Kurve auf die Scheibe zeichnen. Wie
sieht die Kurve auf der Scheibe aus, wenn die |v| = 0,5 m/s
Scheibe einen Durchmesser von 1 m hat, sich in
einer Sekunde einmal gegen den Uhrzeigersinn dreht
und der Zug mit einer Geschwindigkeit von 0,5 m/s im Abstand h = 1/3 m parallel zum
Durchmesser unterhalb des Mittelpunktes von links einfährt?
Seite 154
7 Methodenmix oder „Viele Wege führen nach Rom!“
7.1 Die Qual der Wahl
Wir haben jetzt die wesentlichen Methoden kennengelernt, mit denen man an physikalische
Fragestellungen herangehen kann:
•
Bewegungsgleichungen aufstellen und lösen,
•
Bilanzierung von Erhaltungsgrößen (vor allem Energie, Impuls, Drehimpuls),
•
Gleichgewichte (vor allem Kräfte und Drehmomente),
•
Bezugssystemtransformationen (vor allem ins rotierende Bezugssystem).
Auf viele Fragestellungen kann man mehrere dieser Methoden anwenden, es gibt nicht die eine
richtige Lösung. Oft führt jedoch eine der Methoden zu einer besonders übersichtlichen Lösung.
Dazu ein paar Tipps:
Das Aufstellen, Lösen und Verwenden der Lösung einer Bewegungsgleichung ist i. R. nur dann
erforderlich, wenn nach Funktionen wie z. B. Ort, Geschwindigkeit oder Beschleunigung innerhalb
eines kontinuierlichen Zeit- oder Raumbereichs gefragt wird, wenn wir also Funktionen wie z. B.
x(t) oder v(x) suchen.
Werden dagegen einzelne Zahlenwerte gesucht, sind also Größen wie z. B. kinetische Energie oder
Geschwindigkeit nur an einigen Zeit- oder Ortspunkten gefragt, dann führen Energie-, Impuls- oder
Drehimpulsbilanzen wesentlich einfacher zum Ziel. Wenn Kräfte im Spiel sind, kann die Arbeit in
der Energiebilanz für offene Systeme weiterhelfen. Wenn die Kraft konservativ ist, gibt es eine
potenzielle Energie. Prüfen Sie, ob nicht irgendwo oder irgendwann ein Kräfte- oder Drehmomentgleichgewicht vorliegt. Bei allen Kreisbewegungen muss im rotierenden Bezugssystem stets ein
Kräftegleichgewicht herrschen oder im Laborsystem eine Radialkraft wirken. Wenn Körper
kollidieren, gilt stets die Impulserhaltung.
Wenn beschleunigte Bezugssysteme auftreten, kann es sinnvoll sein, in diese zu transformieren.
Aber nur dann, wenn nach Größen aus der Sicht des beschleunigten Systems gefragt ist.
Im weiteren Verlauf unserer Reise durch die Physik werden wir diese Methoden immer wieder
anwenden, meistens, ohne explizit darauf hinzuweisen. Am häufigsten werden wir Energiebilanzen
verwenden. Das begründet die zentrale Rolle der Energie und ihrer Erhaltung in der Physik.
Dagegen werden uns Bewegungsgleichungen immer seltener begegnen und schließlich in der
Quantenphysik komplett verschwunden sein, weil wir dort das Bewegungsgesetz durch ein anderes
Gesetz – die Schrödinger-Gleichung – austauschen müssen.
Seite 155
8 Schwingungen
8.1 Modellvorstellung „Harmonische Schwingung“
Jetzt wollen wir die Modellbewegung „harmonische Schwingung“ weiter vertiefen. Wir werden
herausstellen, was harmonische von anderen Schwingungen unterscheidet. Dann werden wir neben
der Rückstellkraft noch weitere Kräfte zulassen: eine konstante Kraft, eine dämpfende Kraft ~ v und
eine periodische anregende Kraft. Das führt uns auf die Federschwingung im Schwerefeld, die
gedämpfte Schwingung und das Phänomen der Resonanz. Dabei werden wir die komplexe
Schreibweise für Schwingungen kennen lernen, die wir auch später bei den Wellen benötigen.
Es gibt eine unendlich große Anzahl schwingungfähiger Systeme. Beispielsweise Fadenpendel,
Federpendel, physikalische Pendel (wie schwingende Stäbe oder Scheiben), schwingende Wasseroder Luftsäulen, Torsionspendel (bei Verdrillung eine Drahtes). Das mit großem Abstand wichtigste
dieser Pendel ist das Federpendel: Es wird uns in der Physik wieder und wieder als Modell
begegnen. Schon im nächsten Kapitel bei den Wellen und später in der Quantenmechanik bei der
Beschreibung von Schwingungen in Materie. Deshalb sollte man zumindest für das Federpendel die
Physik im Kopf haben. Alle schwingungsfähigen Systemen haben gemeinsam, dass es bei ihnen
eine Gleichgewichtslage (Ruhelage) und eine rücktreibende Kraft in diese Ruhelage gibt. Wenn
diese rücktreibende Kraft proportional zur Auslenkung aus der Ruhelage ist, sprechen wir von
einem harmonischen Oszillator oder einer harmonischen Schwingung. Bei realen Oszillatoren ist
diese Bedingung häufig nur näherungsweise für kleine Auslenkungen erfüllt, weil man dann die
rücktreibende Kraft F ~ sin(x) ≈ x nähern kann.
8.2 Der harmonische Oszillator
Eine harmonische Schwingung liegt dann vor, wenn
•
die zugehörige potenzielle Energie quadratisch von der Auslenkung abhängt, also grafisch
dargestellt eine nach oben geöffnete Parabel bildet,
•
die Kraft proportional zu Auslenkung ist, also grafisch dargestellt eine Gerade ist,
•
die Auslenkung als Funktion der Zeit als eine Sinus- oder Cosinusfunktion dargestellt
werden kann,
•
die Periodendauer unabhängig von der Auslenkung ist, also grafisch dargestellt eine Konstante ist.
Alle Eigenschaften bedingen einander: Wenn eine der ersten drei zutrifft, treffen auch die anderen
1
2
zu und die Schwingung ist harmonisch. Eine quadratische potenzielle Energie E pot ( x)= k x
2
d
d 1
k x 2=−k x . Für eine harmoniergibt durch F =− E pot ( x ) die harmonischen Kraft F =−
dx
dx 2
k
sche Kraft F =−k x mit der Konstante k erhalten wir durch −k x=m ẍ ⇒ ẍ + x=0 die Bewem
k 2π
gungsgleichung ẍ +ω2 x=0 , worin ω=
konstant ist. Ihre allgemeine Lösung lautet
=
m T
x (t)=Asin (ω t +ϕ 0 ) . Die Kreisfrequenz ω der Schwingung kann man aus der Bewegungsgleichung ablesen: ω ist stets die Wurzel aus der Konstante vor x. Die Amplitude A und die Phasenverschiebung φ0 bestimmt man aus den Anfangsbedingungen.
√
Seite 156
Wenn dagegen die rücktreibende Kraft anders von der Auslenkung abhängt (z. B. F = − k sin(x)) oder die potenzielle Energie
eine andere Form hat (z. B. Epot = k |x|) findet zwar immer noch
eine Schwingung statt, sie ist jedoch nicht mehr harmonisch.
Die Auslenkung x(t) ist jetzt nicht mehr durch eine Sinus- oder
Cosiunusfunktion gegeben, sondern kann eine ganz andere periodische Funktion sein. Eine beliebige periodische Funktion
kann man als Summe von Sinus- und Cosinusfunktionen verschiedener Frequenzen und Amplituden darstellen. Eine solche
Summe nennt man Fourierreihe. Das beinhaltet: Für Schwin- Abb. 8.1: Ein nicht harmonischer
gungen gilt das Superpositionsprinzip. Deshalb kann man Oszillator (rot) als Überlagerung
nichtharmonische Schwingungen als eine Überlagerung vieler von harmonischen Oszillatoren
harmonischer Schwingungen ansehen. Und ein nichtharmoni- unterschiedlicher Frequenz (blau
scher Oszillator schwingt gleichzeitig mit verschiedenen Fre- und grün).
quenzen. Der harmonische Oszillator bildet demnach die Basis für komplexere Schwingungen.
Daher ist gerade er so wichtig und grundlegend, und seine Physik sollte man kennen.
Physik des harmonischen Oszillators
Die Kraft, die die Schwingung bewirkt, genügt dem Hooke'schen Gesetz, d.h. sie wächst
proportional zur Auslenkung x: F = − kx . Dabei ist k die Federkonstante in N/m. Wenn k
groß ist, ist die Feder hart und läßt sich nur schwer stauchen oder dehnen. Weil F mit der
0 A x
-A
Auslenkung wächst, wird die Masse bei großer Auslenkung stärker beschleunigt als bei
Epot
kleiner. Lässt man bei t = 0 ein per Hand bis x = A ausgelenktes Federpendel los, so wird
die Masse solange mit ständig abnehmender Kraft in Richtung Ruhelage bei x = 0
beschleunigt, bis dort die Kraft F = 0 ist. Sobald die Masse aufgrund des Trägheitsgesetzes
die Ruhelage überwunden hat, kehrt F das Vorzeichen um und wirkt bremsend. Daher wird
die Masse nun langsamer, bis ihre Geschwindigkeit v am Umkehrpunkt x = − A schließlich
v = 0 ist. Jetzt beginnt derselbe Prozess wie bei t = 0 in umgekehrter Richtung erneut. Eine
F x
Schwingung ist daher ein periodischer Vorgang, bei dem periodisch kinetische und
potenzielle Energie ineinander umgewandelt werden. Die Zeit, die benötigt wird, bis die
Ausgangsposition A erneut erreicht wird, ist die Periodendauer T. Da die Masse bei größex
rer Auslenkung stärker beschleunigt wird als bei kleiner Auslenkung, ist sie beim Durch gang durch die Ruhelage schneller. Der Witz bei einer harmonischen Schwingung ist, dass
deshalb die Periodendauer T unabhängig von der Amplitude A wird: Obwohl die Strecke Abb. 8.2: Der
pro Periode mit zunehmendem A wächst, wird dafür immer die gleiche Zeit benötigt. Denn harmonische
eine lineare Kraft wächst genau richtig mit, um die Masse passend schneller zu machen. Oszillator
Man kann diese Eigenschaft auch mit Hilfe der potenziellen Energie erklären: Eine
parabelförmige potenzielle Energie bewirkt eine lineare Kraft und folglich eine harmonische Schwingung.
8.3 Oszillator im Schwerefeld
Wenn man ein Federpendel senkrecht statt waagerecht aufhängt, wirkt zusätzlich zur Federkraft die
k
Schwerkraft. Die Bewegungsgleichung lautet jetzt −k x +m g =m ẍ ⇒ ẍ+ x=g (8.1). Das ist
m
eine inhomogene Differenzialgleichung. Ihre Lösung gewinnt man aus der Lösung der homogenen
Differenzialgleichung x h (t )=A sin(ω t +ϕ 0 ) plus einer speziellen Lösung. Die spezielle Lösung liemg
fert das Gleichgewicht ΣF = 0: −k x 0 +m g =0 ⇒ x 0=
. Damit ist die Lösung von (8.1)
k
x (t)=Asin (ω t +ϕ 0 )+x 0 , was man durch Ableiten und Einsetzen leicht überprüfen kann. Wenn
man die Auslenkung x' = x − x0 von der Gleichgewichtslage einführt, ist (8.1) völlig äquivalent zur
bisherigen Schwingungsgleichung. Weil x0 konstant ist, ist ẍ ' = ẍ− ẍ0 = ẍ . Damit erhält man wieder
Seite 157
k
k
k
k
k
die übliche Bewegungsgleichung ẍ + x−g = ẍ + x− x0 = ẍ + ( x−x 0)= ẍ ' + x ' =0 mit der
m
m
m
m
m
Lösung x ' (t )= x(t)−x 0= Asin (ω t+ϕ 0) . Eine konstante Kraft ändert also eine Schwingung nicht,
sondern verschiebt nur den Nullpunkt.
8.4 Die gedämpfte Schwingung
Als nächstes passen wir die Schwingung der Realität an, indem wir eine dämpfende Kraft FD = − bv
zulassen, die von der Geschwindigkeit abhängt, und die Schwingungsbewegung bremst. b ist eine
Konstante. Die dämpfende Kraft ist i. d. R. eine Reibungskraft.
Beispiel: Wenn man eine Kugel mit dem Radius R an einem Faden (Fadenpendel) durch die Luft
oder durch Wasser schwingen lässt, wirkt die Stokesreibungskraft (4.25) F = 6πηRv der
rücktreibenden Kraft entgegen. Dann wäre b = 6πηR.
b
k
Die Bewegungsgleichung ist nun F =−kx−b v=m ẍ , was wir zu ẍ + v + x=0 umformen. Mit
m
m
k b
2
v= ẋ ; ω 0= ; =2 γ ergibt das die
m m
2
Bewegungsgleichung der gedämpften harmonischen Schwingung: ẍ +2 γ ẋ +ω 0 x =0
(8.2).
Für diesen Typ Bewegungsgleichung lernen wir nun eine neue Lösungsmethode kennen. Sie lautet:
λt
Wir probieren als Lösung eine Exponentialfunktion x (t)=x 0 e aus. Ihre Ableitungen ergeben
ẋ (t)=x 0 λ e λ t und ẍ (t)=x 0 λ2 e λ t . Einsetzen in (8.2) liefert x 0 λ 2 eλ t +2 γ x0 λ eλ t +ω20 x 0 eλ t =0 . Wir
e−λt
multiplizieren mit
und erhalten eine quadratische Gleichung λ 2 +2 γ λ +ω 20 =0 für λ, die wir
x0
mit der p,q-Formel lösen: λ 1,2=−γ±√ γ 2 −ω 20 .
Der Fakt, dass wir zwei λ bekommen, bedeutet, dass unsere Lösung eine Linearkombination aus
zwei Exponentialfunktionen mit unterschiedlichem λ ist: Sie lautet prinzipiell: x (t)=A e λ t +B e λ t .
Weil die Differentialgleichung 2. Ordnung ist, d. h. die zweifache Zeitableitung enthält, muss die
Lösung zwei Integrationskonstanten beinhalten. Diese stecken in den Amplituden A und B. A und B
berechnet man aus den Konstanten x0 und v0, die sich aus den Anfangsbedingungen für x(t = 0) und
v(t = 0) ergeben. λ wird dagegen wieder aus der Bewegungsgleichung abgelesen 36. Dabei müssen
wir die Fälle unterscheiden, ob γ > ω0, γ = ω0 oder γ < ω0 ist.
1
2
Im Fall γ = ω0 vereinfacht sich (8.2) zu ẍ +2 γ ẋ +γ 2 x=0 und liefert die zusätzliche Lösung
x (t)=B t e −γ t 37. Im Fall γ < ω0 ist die Differenz unter der Wurzel negativ und die Lösung wird
komplex. Daher benötigen wir jetzt die komplexe Schreibweise für Schwingungen, die wir dann
auch im nächsten Kapitel bei den Wellen und später in der Quantenmechanik weiter benötigen.
36
37
A und B beinhalten analog zu x0 und v0 in x(t) = x0 + v0 t + ½ a t2 die Anfangsbedingungen. λ ist analog zu a durch die
Kräfte und Massen gegeben.
2
Man findet die zweite Lösung, indem man ω0 =γ verwendet: (8.2) wird zu ẍ+2 γ ẋ+γ x=0 (8.2b). Nun nimmt
−γ t
man den Lösungsansatz x(t)= x0 (t) e , der eine zeitabhängige Amplitude x0(t) enthält: Die Ableitungen sind mit der
−γ t
−γt
−γ t
−γt
−γ t
2
−γt
Produktregel ẋ(t )= ẋ0 e − γ x0 e
und ẍ(t)= ẍ0 e − γ ẋ0 e − γ x˙ 0 e +γ x0 e . Einsetzen in (8.2b) ergibt
2
−γt
−γt
2
−γ t
( ẍ0 −γ ẋ0 −γ ẋ 0 +γ x 0 )e +2 γ ( ẋ 0− γ x 0) e +γ x 0 e =0 . Die Multiplikation mit e−γt ergibt jetzt die Gleichung
2
2
( ẍ0 −γ ẋ0 −γ ẋ 0 +γ x 0 )+2 γ ( ẋ0 −γ x0 )+γ x 0=0 . Auflösen der Klammern und Zusammenfassen der Terme liefert
2
2
2
ẍ0 −2 γ ẋ 0+γ x 0 +2 γ ẋ 0− 2 γ x 0+γ x 0=0 ⇒ ẍ 0=0 . Die Lösung für x0 ist x0 ( t)= B t und somit x(t)=B t e−γ t .
Seite 158
Mathematischer Einschub: Komplexe Schreibweise für Schwingungen und Wellen
Schwingungen und Wellen werden durch reelle Winkelfunktionen wie Amplitude ∙ sin(Phase1) oder cos(Phase2)
dargestellt. Durch die Einführung der komplexen Schreibweise „Amplitude ∙ ei ∙ Phase“ führt man die aufwendige
Addition von Winkelfunktionen mit unterschiedlichen Argumenten auf die Addition von komplexen Zahlen zurück,
was mathematisch einfacher ist. Die Transformation zwischen komplexer und reeller Schreibweise geschieht mit
der Eulerschen Formel: e±i ϕ =cos(ϕ )±i sin (ϕ) . Die Phasen von Schwingungen und Wellen sind zeitabhängig,
daher entsprechen ihre komplexen Funktionen Zeigern, die in der komplexen Zahlenebene rotieren. Sie
bedeuten: mit ω rotierender Zeiger = Schwingung mit ω. Wenn man einen „Schnappschuss“ des Zeigers zum
Zeitpunkt t macht, kann man ihn folgendermaßen interpretieren:
• Winkel φ des Zeigers zur reellen Achse = aktuelle Phase φ = ωt + φ0 der Schwingung
• Länge des Zeigers = Amplitude A der Schwingung
• Realteil des Zeigers = aktuelle Elongation Y(t) der Schwingung
Beispiel: Eine Schwingung Y (t )=A cos(±(ω t±ϕ 0 )) in komplexer Schreibweise:
±i( ω t±ϕ )
Man schreibt: Ỹ (t )=∣A∣e
0
für
Y (t)=Re( Ỹ (t ))= Acos(±(ωt ±ϕ 0 )) .
Man meint damit den Realteil Re (Y (t )) der komplexen Funktion, also A cos(...) und spart das „Re“ ein.
Die Amplituden der komplexen Funktion können auch komplex sein und die Phasenverschiebung enthalten:
iϕ
̃ ±i( ω t) für Y (t )=∣A∣cos(±ωt +ϕ 0 )=Re ( A⋅e
̃ (±ω t )) .
̃
. Dann schreibt man Ỹ (t )= Ae
A=∣A∣e
0
Beispiel: Komplexe Darstellung einer Sinus-Schwingung: Eine Sinus-Funktion ergibt sich mit der komplexen
iπ
±i( ω t)
2
̃
Amplitude A=∣A∣e
ergibt
=∣A∣(cos ( π )+i sin ( π ))=i∣A∣ , denn der Realteil von Ỹ ( x , t)=i∣A∣e
2
2
Re ( Ỹ ( t))=Re (i∣A∣⋅[ cos(±ω t )+i sin(±ω t)])=∣A∣⋅Re (i cos (±ω t )−sin (±ω t))=−∣A∣sin (±ωt)=∓∣A∣sin(ω t) .
Nun können wir die Lösung von (8.2) fortführen: Wir führen die Abkürzung ω '=√ γ2 −ω20 (8.3) ein
und erhalten: x (t)= Ae −γ t +ω ' t +B e−γ t−ω ' t =A e−γ t e+ω ' t +B e− γ t e−ω ' t =e−γ t ( A e +ω ' t +B e−ω ' t ) .
Wir unterscheiden folgende Fälle:
2
2
1. Kriechfall: γ>ω 0 . Dann ist ω '=√ γ −ω0 reell, wir
x(t)
setzen ω '=ω , sowie λ 1 =−γ+ω und λ 2 =−γ−ω . Die
Lösung lautet: x (t)=e−γ t ( Ae ω t +B e −ω t ) (8.4).
2. Aperiodischer Grenzfall: γ=ω0 . Dann ist ω ' =0
und λ 1 =λ 2 =−γ . Das liefert x (t)= Ae −γ t . Die zweite
Lösung ist x (t)=B t e −γ t (siehe Fußnote S. 157).
Zusammen lautet die Lösung: x (t)=e−γ t ( A+B t) (8.5).
3. Schwingfall: γ<ω 0 . Dann ist ω ' =i ω komplex und
2
2
ω=√ ω0 −γ 38. Mit λ 1 =−γ+i ω und λ 2 =−γ−i ω lautet
die Lösung: x (t)=e−γ t ( Ae i ω t +B e−i ω t ) (8.6).
ω = ω(γ) ist die Kreisfrequenz der gedämpften Schwingung und somit jetzt von der Dämpfung abhängig. Der
Wert ohne Dämpfung ist ω0.
T
4
T
t
Abb. 8.3: Die gedämpfte Schwingung: γ
nimmt von blau nach rot ab: Kriechfälle
(blau bis türkis), Aperiodischer Grenzfall (dicke grüne Linie), Schwingfälle
(grün bis rot)
Abb. 8.3 zeigt die Lösungen im Vergleich: Beim Kriechfall findet keine Oszillation statt und die
Auslenkung nähert sich exponentiell abklingend allmählich der Ruhelage. Im Aperiodischen
Grenzfall wird die Ruhelage am schnellsten erreicht. Diese Fall ist technisch bedeutsam und wird
angestrebt, wenn man Schwingungen verhindern möchte, z. B. bei Zeigern von Instrumenten oder
38
ω '= √ γ −ω 0 =√−(ω0 −γ )=√ i (ω0 −γ )=i √(ω0 −γ )
2
2
2
2
2
2
2
2
2
Seite 159
Stoßdämpfern von Autos. Beim Schwingfall entsteht eine Oszillation mit der Kreisfrequenz ω,
wobei ω kleiner als ω0 ist. Nur für γ = 0 ist ω = ω 0. Die Amplitude nimmt exponentiell mit der Zeit
ab und zwar umso schneller, je größer γ ist. Aus der Abnahme der Amplitude während einer Periode
kann man die Abklingkonstante γ bestimmen, denn weil e i ω t=e−i ω (t +T ) ist, ergibt der Quotient
x (t)/ x(t+T )=e−γ t /e−γ (t +T )=e γ T .
Abschließend betrachten wir noch ein Beispiel und zeigen daran, wie man γ und ω aus der
Bewegungsgleichung abliest und wie man die Amplituden A und B aus den Anfangsbedingungen
bestimmt.
Beispiel: Eine Feder mit den Federkonstanten k ist einerseits mit
0
x
einem Block der Masse m verbunden und andererseits an einer
k
Seitenwand fest verankert. Die Unterlage des Blocks ist mit Öl
m
geschmiert, daher wirkt die geschwindigkeitsabhängige Reibungskraft FR = − cav auf den Block. Darin ist c eine Konstante und a die
Auflagefläche des Blocks. Der Block werde bei x0 = 0 mit der Anfangsgeschwindigkeit v0 angestoßen. Er beginnt mit abnehmender Amplitude zu schwingen. Geben Sie Ausdrücke für γ und ω in
an. Bestimmen Sie die Konstanten A und B in (8.6) aus den Anfangsbedingungen und berechnen Sie
damit die reelle Lösungsfunktion, d. h. den Realteil von (8.6).
ca
k
Die Bewegungsgleichung ist ẍ + ẋ + x=0 . Daraus lesen wir durch Vergleich mit (8.2) γ und ω
m
m
ca
ca
k
k
⇒ γ=
ab: 2 γ=
(1) und ω20 =
(2).
⇒ ω0 =
m
2m
m
m
√
Im vorliegenden Schwingfall ist die Lösung x (t)=e−γ t ( Aei ω t +Be−i ω t ) (3). Zur Bestimmung von A
und B benötigt man neben x(t) auch ẋ (t)=−γ e−γ t (A e i ωt +B e−i ω t )+e−γt (i ω A e i ωt −i ω B e−i ω t ) (4).
Für x(t = 0) = 0 ergibt sich aus (3): x (0)=1( A+B)=0 ⇒ A=−B (5).
Für v(t = 0) = v0 liefert (4): ẋ (0)=−γ( A+B)+(i ω A−i ω B)=v 0 ⇒ −γ( A+B)+i ω( A−B)=v 0 .
Mit (5) erhält man daraus B: ẋ (0)=−γ(−B+B)+i ω(−B−B)=v 0 ⇒ −2i ω B=v 0 ⇒ B=i
−γ t
Die komplexe Lösung lautet damit: x (t)=(e (−i
−γt
Ihr Realteil ist x (t)=Re( e (−i
Mit Re(−i e
iωt
v0
.
2ω
v 0 i ωt
v
e +i 0 e−i ωt )) .
2ω
2ω
v 0 i ωt
v
v
e +i 0 e−i ω t ))=e−γt 0 Re (−i e i ω t +i e−i ω t ) .
2ω
2ω
2ω
−i ω t
+i e
)=−i( cos( ω t)+isin (ω t))+i(cos (ω t)−i sin (ω t ))=2 sin( ω t) ergibt sich die
ca
−
t
v0
−γ t v 0
sin ( √ k /m⋅t ) .
reelle Lösung: x (t)=e ω sin(ω t ) bzw. mit (1) und (2): x (t)=e 2 m
k /m
√
8.5 Erzwungene Schwingungen und Resonanz
Zum Abschluss überlegen wir, welche Phänomene auftreten können, wenn man einen Oszillator
durch eine externe periodische Kraft zum Schwingen bringt. Der wesentliche Unterschied zu allen
bisherigen Schwingungen ist, dass das Pendel nun mit einer aufgezwungenen Frequenz schwingen
muss. Wenn man z. B. ein Federpendel durch einen Motor mit einer externen periodischen Kraft
F(t) = F0 cos(ωE t) und der Frequenz ωE anregt, schwingt es mit ωE statt mit seiner „eigenen“
Frequenz ω0. Man kann schon ahnen, dass die Anregung umso schwieriger wird, je weiter ω E von
Seite 160
ω0 entfernt ist. Außerdem wird es eine Rolle spielen, ob die anregende Kraft die aktuelle Bewegung
unterstützt oder gegen die Bewegung arbeitet. Dafür ist natürlich die Phasenverschiebung zwischen
„Bewegung“ und Anregung entscheidend. Der Clou ist nun, dass diese Phasenverschiebung sich
von selbst einstellt, nur von der Anregungsfrequenz abhängt, und genau dann optimal ist, wenn
ωE = ω0 ist. Diesen Fall nennt man dann Resonanz und ω 0 entsprechend Resonanzfrequenz. Wir
überlegen uns nun anhand der Arbeit, warum das so ist.
Wenn man die Masse des Federpendels in die Hand nimmt und auslenkt, führt man ihm potenzielle
Energie zu. Wenn man es dann wieder in die Ruhelage zurückführt, nimmt man ihm die potenzielle
Energie wieder weg. Die Netto-Energiezufuhr ist null. Betrachtet man die dabei verrichtete Arbeit,
ist diese auf dem Hinweg positiv (gegen die Feder ziehende Kraft F und Weg sind gleichgerichtet)
und auf dem Rückweg negativ (gegen die Feder ziehende Kraft F und Weg sind entgegengesetzt
gerichtet).
Wie bekommt man dauerhaft Energie in die Schwingung hinein? Dazu müssen Kraft und Weg stets
gleichgerichtet sein: Beim Vergrößern der Auslenkung muss die Kraft parallel zum Weg wirken und
beim Verkleinern der Auslenkung auch. Die Kraft muss also bei der maximalen Auslenkung ihr
Vorzeichen wechseln, so dass sie immer das gleiche Vorzeichen hat wie die Geschwindigkeit: Kraft
und Geschwindigkeit müssen in Phase sein. Dann ist die Arbeit (F∙s) stets positiv und die Leistung
(F∙v) auch und wir führen der Schwingung permanent Energie zu.
So weit so gut, die Frage ist nur, wie wir die Phasenverschiebung steuern können? Tatsächlich nur
darüber, wie schnell wir unsere Kraft ändern, also über die Anregungsfrequenz ω E. Wenn wir die
Kraft sehr langsam ändern (ωE ≈ 0), kann das Pendel der Kraft immer folgen. Kraft und Auslenkung
sind in Phase und die Energiezufuhr ist im Mittel null. Wenn wir die Kraft sehr schnell ändern
(ωE >> ω0), kann das Pendel der Kraft nicht mehr folgen und hinkt ihr hinterher. Bewegt sich das
Pendel z.B. gerade nach rechts, dann ändert die Kraft schon wieder ihre Richtung nach links. Kraft
und Auslenkung sind stets entgegengesetzt gerichtet, ihre Phasenverschiebung ist 180°. Auch in
diesem Fall ist die Energiezufuhr im Mittel null. Dazwischen muss allerdings die Phasenverschiebung irgendwo π/2 sein. Das ist bei ω E = ω0 der Fall: Das Pendel schwingt mit seiner
eigenen Frequenz und die Kraft schiebt es permanent in Bewegungsrichtung an. Wenn Kraft und
Auslenkung um π/2 verschoben sind, sind Kraft und Geschwindigkeit in Phase: es erfolgt eine
ständige Leistungszufuhr und die Energie der Schwingung nimmt mit jeder Periode zu. Das nennt
man Resonanz.
Wir fassen zusammen: Für langsame Anregungen folgt die Auslenkung x(t) der Kraft F(t)
unmittelbar: x und F sind in Phase. Da v= ẋ ist , sind F und v um π/2 phasenerschoben, so dass ihr
Produkt (die Leistungsaufnahme) über eine Periode gemittelt verschwindet. Das gleiche gilt für sehr
hohe Frequenzen ωE ≫ ω0. Nur wenn ωE = ω0 ist, sind F und v in Phase und die Leistungsaufnahme
ist maximal: Es liegt Resonanz vor. Dann ist die Phasenverschiebung zwischen Kraft und
Auslenkung – π/2.
Jetzt formulieren wir das mathematisch. Mit der externen Kraft F(t) = F0 cos(ω t) erhalten wir die
2
F
Bewegungsgleichung der erzwungenen Schwingung: ẍ +2 γ ẋ +ω 0 x = m cos (ω E t) (8.7)
Wenn man sich auf die stationäre Schwingung nach dem Einschwingvorgang beschränkt, ist die
Lösung dieser Bewegungsgleichung eine harmonische Schwingung mit der Erregerfrequenz ωE:
F m /m
x (t)=x M cos(ωE t+ϕ 0) (8.8), der Amplitude x M =
(8.9) und der Phasenver2
√(ω 0−ω 2E )+4 γ 2 ω 2E
2 γ ωE
) (8.10).
schiebung ϕ0=arctan (− 2
ω 0−ω 2E
Seite 161
Amplitude und Phasenverschiebung hängen also von
der Erregerfrequenz ωE ab: Die Amplitude wächst
kontinuierlich mit zunehmender Annäherung an die
Resonanzfrequenz. Dabei ist es egal, von welcher Seite
(ωE < ω0 oder ωE > ω0) man sich ihr nähert. Im
Resonanzfall ωE = ω0 wird die Amplitude maximal mit
F m/ m
dem Wert x M =
. Man sieht daran, dass sie
√ 4 γ 2 ω 20
unendlich groß werden kann, wenn die Dämpfung γ
verschwindet. Diesen Fall bezeichnet man als Resonanzkatastrophe. Auch wenn die Dämpfung sehr klein
ist, kann ein schwingungsfähiges System sehr viel
Energie aufnehmen und es können sehr große Amplituden entstehen. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die
Zerstörung der Tacoma-Brücke: Hier hatte Wind die
Hängebrücke zu Schwingungen sehr großer Amplitude
angeregt, bis sie schließlich kollabierte (Sie finden
zahlreiche Videos davon auf YouTube).
Wenn man die Amplitude als Funktion von ωE aufträgt,
ergeben sich charakteristische Kurven, die einer Gaußkurve ähneln, aber in den Flügeln deutlich langsamer
abfallen (Abb. 8.4). Solche Resonanzkurven ergeben
sich bei jeder Art von Resonanz: Man nennt sie
Lorentzkurven und wir werden ihnen noch öfter begegnen. Lorentzkurven beschreiben z. B. auch die Form
von Spektrallinien. Die Höhe ihres Maximums nimmt
mit zunehmender Dämpfung ab und ihre Breite auf
halber Höhe bis zum Maximum (die Halbwertsbreite)
nimmt mit zunehmender Dämpfung zu.
kleine
Dämfung
Schwingungsamplitude
Diese Lösung ergibt sich aus der Lösung der
homogenen Differenzialgleichung für den Schwingfall
plus einer speziellen Lösung, die man aus dem
stationären Endzustand gewinnt. Die detaillierte
Rechnung findet man z.B. in [8].
mittlere
Dämfung
starke
Dämfung
Abb. 8.4: Amplitude als Funktion der Anregungsfrequenz: Resonanzkurven
Phasenverschiebung
0
Anregungsfrequenz ωE
ω
0
- π/2
-π
Abb. 8.5: Phasenverschiebung der Auslenkung gegen die Kraft als Funktion von ωE.
Die erzwungene Auslenkung muss der anregenden
Kraft stets hinterherhinken. Daher ist diese Phasenverschiebung negativ. Sie beginnt bei null und nimmt mit
steigender Frequenz immer weiter ins Negative zu: Im
Resonanzfall ωE = ω0 beträgt sie genau − π/2, für noch
größere Frequenzen nähert sie sich schließlich − π an.
Auch dieser Sachverhalt wird uns wieder begegnen und
uns z. B. helfen, die Wechselwirkung von Licht mit
Atomen und Molekülen zu verstehen. Denn diese basiert darauf, dass Lichtwellen erzwungene Schwingungen der Elektronen bewirken. Im Resonanzfall können Abb. 8.6: Abhängigkeit der Leistungsdie Elektronen Energie der Lichtwelle aufnehmen. Und aufnahme von der Phasenverschiebung
Seite 162
schon jetzt hilft es uns zu verstehen, warum die Leistungsaufnahme im Resonanzfall maximal ist. In
Abb. 8.6 ist das grafisch verdeutlicht. Wenn Kraft und Geschwindigkeit nicht in Phase sind, mitteln
sich aufgenommene und abgeführte Leistung weg.
Experiment zu gedämpften und angeregten Schwingungen: Pohlsches Rad Ein Pohlsches Rad ist ein Spiralfederpendel, bei dem man mit Hilfe einer Wirbelstrombremse eine
stufenlose Dämpfung einstellen kann. Zusätzlich kann man es
durch einen Motor anregen. Die Phasenverschiebung zwischen
Anregung und Auslenkung sowie die Auslenkung kann man
über Zeiger ablesen. Lässt man das Pendel frei schwingen,
zeigt es eine sehr schwach gedämpfte Schwingung mit seiner
Eigenfrequenz. Erhöht man die Dämpfung, nimmt die Amplitude schnell exponentiell ab. Wird die Dämpfung bis zum aperiodischen Grenzfall erhöht, läuft es
nach einer Auslenkung sofort in seine Ruhelage zurück ohne zu oszillieren. Wird die Dämpfung
noch stärker erhöht, strebt es langsam gegen die Ruhelage, erreicht sie aber erst nach sehr langer
Zeit. Das zeigt die drei Fälle der gedämpften Schwingung.
Wenn man das Pendel mit Hilfe des Motors anregt, und die Frequenz langsam erhöht, sieht man
sehr schön, dass Kraft und Auslenkung anfangs in Phase sind, sich immer weiter gegeneinander
verschieben und schließlich gegenphasig sind. Wenn man die Resonanzfrequenz einstellt und dann
die Dämpfung erhöht, sieht man eine Abnahme der Amplitude. Das zeigt die Phasenverschiebung
zwischen Kraft und Auslenkung und die Abhängigkeit der Amplitude von der Dämpfung bei einer
erzwungenen Schwingung.
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
8.1) Ein kaputter Stoßdämpfer schwingt mit der Frequenz f = 2 Hz. Die Amplituden zweier aufeinanderfolgenden Oszillationen sind A1 = 1 cm und A2 = 0,5 cm. Welchen Wert hat die Dämpfungskonstante γ?
8.2) Analysieren Sie, welchen Einfluss die Luftreibung auf ein Fadenpendel hat. Der Pendelkörper
sei eine Kugel mit dem Durchmesser d = 3 cm. Die Fadenlänge sei L = 1 m, Masse und Luftreibung
des Fadens werden vernachlässigt. Die dämpfende Kraft sei die Stokes-Reibungskraft. Vergleichen
Sie den Wert der Frequenz und die Amplitude nach 10 Perioden mit den Werten des ungedämpften
Pendels.
8.3) Ein homogener Stab der Masse m und der Länge L bilde ein physikalisches Pendel mit der Aufhängung bei Punkt O.
a) Stellen Sie die Bewegungsgleichung des Pendels für kleine Auslenkungen auf. Lesen Sie daraus einen Ausdruck für die Periodendauer T des
Pendels als Funktion von L und x (dem Abstand zwischen Aufhängung
und Schwerpunkt des Pendels) ab. (Tipp: Das Trägheitsmoment eines
Stabes bezogen auf die Drehung um die Querachse durch den Schwer1
2
punkt ist I = m L .)
12
b) Für welchen Wert von x/L ist die Periodendauer T am kürzesten?
(Tipp: Wo T2 minimal ist, ist auch T minimal.)
Seite 163
8.4) Rennpendel: Ein einfaches Fadenpendel der Länge L und der Masse m hänge in einem Auto,
das mit konstanter Geschwindigkeit v eine kreisförmige Rennstrecke vom Radius R durchfährt.
Angenommen, das Pendel führt kleine Schwingungen in radialer Richtung um seine Gleichgewichtslage aus. Welche Frequenz hat die Schwingung?
8.5) Der Zeiger eines Voltmeters (Spannungsmessinstrument) soll so gedämpft werden, dass er
schnellstmöglich beim anzuzeigenden Skalenwert zur Ruhe kommt, wenn eine konstante Spannung
U anliegt. Eine Feder mit der Federkonstanten k zieht den Zeiger in Richtung Ruhelage beim
Skalenwert 0. Die zu messende Spannung U bewirkt eine Kraft FU = c∙U, die den Zeiger zum
Skalenwert „U“ treibt. c ist eine Konstante, die Masse des Zeigers ist m.
a) Wie können Sie die optimale Dämpfungskonstante γ des Zeigers berechnen?
b) Warum hängt γ nicht von der jeweils anliegenden Spannung U ab?
(Wird noch ergänzt).
Seite 164
9 Wellen
Wellen sind neben Teilchen das zweite wichtige Konzept der Physik. Bisher haben wir gelernt, wie
die Physik mit Hilfe von Bewegungsgleichungen die Bewegung und Ausbreitung von Teilchen und
Teilchensystemen beschreibt. Für Wellen sind dagegen andere Konzepte nützlicher, denn hier
bewegen sich keine Teichen in Ausbreitungsrichtung fort, sondern etwas anderes. Tatsächlich
bewegt sich nur Energie in Ausbreitungsrichtung durch den Raum: Eine Welle ist Energietransport
ohne Massentransport. Stellen Sie sich eine Reihe stehender Dominosteine vor: Wenn Sie den ersten
Stein umkippen, kippt dieser den zweiten Stein um, der zweite den dritten usw. Dabei wird der
Impuls und die kinetische Energie des ersten Steins weitertransportiert, ohne dass sich ein Stein von
seinen Standort entfernt. Das wäre eine Stoßwelle. So ähnlich funktioniert das bei den Wellen, die
wir in diesem Kapitel betrachten. Der Unterschied ist, dass unsere „Dominosteine“ nicht einfach
nebeneinander stehen, sondern durch Federn verbunden sind und harmonisch schwingen können.
Die Energie, die von einem Objekt zum nächsten übertragen wird, ist die der harmonischen
Schwingung. Das Wandern der Energie nehmen wir als Wandern der maximalen Auslenkung der
Schwingung war. Die Bewegung der Energie selbst ist vergleichsweise einfach: Sie bewegt sich
gleichförmig in Ausbreitungsrichtung. Nur zwei Phänomene können die Ausbreitungsrichtung oder
die Geschwindigkeit ändern: Brechung und Beugung. Bei der Brechung ändert sich beides, bei der
Beugung nur die Richtung. Unseren Hauptaugenmerk werden wir auf eine spezielle Form von
Wellen legen: den harmonischen Wellen. Harmonische Wellen sind periodisch und können durch
Sinus und Cosinus-Funktionen beschrieben werden.
9.1 Wellen in der Natur: Wasser-, Schall- und Lichtwellen
Bevor wir in die Theorie einsteigen, wollen wir ein paar Beispiel für Wellen anschauen. Im
Experiment betrachtet man häufig eine Seilwelle oder die Welle einer Wellenmaschine, weil man sie
sehr einfach erzeugen und beobachten kann. Dabei läuft eine Querauslenkung ein Seil oder eine
Reihe von miteinander verbundenen Pendeln entlang. An solchen Wellen kann man viele Phänomene sehr schön studieren, weil sie sich nur in eine Richtung ausbreiten und man die Auslenkung
sehr gut sehen kann. Ihre Geschwindigkeiten sind in der Regel so langsam, (ca. 0,1 m/s), dass man
die Welle gut mit dem Auge verfolgen kann.
Bei unseren Alltagswellen Licht, Schall und
Wasser ist das anders: Schallwellen sind
unsichtbar. Lichtwellen zwar nicht, aber viel
zu schnell und zu klein, als das wir ihren
Wellencharakter unmittelbar wahrnehmen
könnten. Wasserwellen haben beide Nachteile nicht, doch sie treten in der Natur selten
als harmonische Welle auf, weil Wind und
Wetter ein zu großes Durcheinander erzeugen. Nur bei Brandungswellen und aus dem
Flugzeug über einem Ozean kann man die
„Harmonie“ der Wasserwellen erahnen.
Wenn man sie jedoch künstlich erzeugt, oder
einen Zeh in ein unberührtes Schwimmbad
steckt, sind sie genau das Richtige, wenn
man flächige Wellenausbreitung studieren
Abb. 9.1: Tief- und Flachwasserwellen
möchte.
Seite 165
Wasserwellen sind Schwerewellen. Das bedeutet, die rücktreibende Kraft der zugehörigen
Schwingung ist die Schwerkraft. Bei Wasserwellen schwingen die Wassermoleküle nicht einfach
auf- und ab, sondern laufen von der Seite betrachtet in kleinen Kreisen. Wasserwellen muss man in
Tief- und Flachwasserwellen unterscheiden. Tiefwasserwellen haben eine Geschwindigkeit, die von
gλ
der Wellenlänge λ abhängt c≈
. Bei Tsunamis kann sie bis zu 800 km/h erreichen.
2π
Flachwasserwellen (wie z. B. in einer Wellenwanne) haben eine Geschwindigkeit, die von der
Wassertiefe d abhängt: c≈ √ g d . Ihre Geschwindigkeiten in kleinen Wannen sind im Bereich 1 m/s.
√
Schallwellen sind Druckwellen (Druck siehe Kap. 10.2).
Sie entstehen, wenn z. B. die Luft an einem Ort kurzzeitig
in eine Richtung verdichtet wird. Diese Verdichtung wird
weitergereicht, dahinter normalisiert sich der Druck
wieder. Die Luftmoleküle schwingen dabei nur in AusAbb. 9.2: Die Schallwelle eines Tons
breitungsrichtung hin- und her. Wenn diese Verdichtung
besteht aus periodischen Luftverdichunser Ohr erreicht, hören wir ein kurzes Geräusch oder
tungen, die weiterwandern.
einen Knall. Wenn die Verdichtung periodisch wiederholt
wird, hören wir einen andauernden Ton, dessen Höhe davon abhängt, wie schnell wir die
Verdichtung wiederholen. Schallwellen treten nicht nur in Luft, sondern auch in Wasser, festen
Körpern und anderen Gasen auf. Sie benötigen immer irgendein Medium, dass sich verdichten
kann. Ihre Geschwindigkeit hängt vom jeweiligen Medium ab: In Luft ist sie bei Raumtemperatur
etwa c = 330 m/s. Die Schwingung der Luftmoleküle in einer Schallwelle ist schwierig vorzustellen.
Dabei helfen Animationen39. Sie zeigen, dass bei einer laufenden Schallwelle die Geschwindigkeit
der Moleküle am größten ist, wenn der Druck am größten ist: Druck und Geschwindigkeit
verändern sich synchron. Die Maximalgeschwindigkeit der Moleküle bei einer Schwingung ist die
Schallschnelle. Vorsicht: Das ist nicht das gleiche wie die Schallgeschwindigkeit, denn die
Moleküle schwingen ja nur hin und her.
Das Spektrum des Schalls reicht von
wenigen Hz bis zu Frequenzen mit
einigen 10 kHz. Die Wellenlängen
reichen von einigen Metern bis in
Bruchteile von mm. Wir hören als
junger Mensch Frequenzen bis etwa
20 kHz, Hund, Katz, Fledermaus etc.
haben wesentlich höhere Hörgrenzen. Schall mit Frequenzen unterhalb
unseres Hörbereichs nennen wir
Infraschall, den darüber nennen wir
Ultraschall. Eine Ultraschallwelle in
Wasser entspricht in der mikroskopischen Modellvorstelleung einer
schnellen Hin- und Herbewegung der
Wassermoleküle. Das ist wie eine Abb. 9.3: Schallspektrum
Waschmaschine oder ein Hammer in sehr kleinem Maßstab: Ultraschallbäder werden zum Reinigen
von kratzempfindlichen Flächen wie Brillengläsern oder zum Zerkleinern von Feststoffen
verwendet, z. B. zur Zertrümmerung von Nierensteinen.
39
http://home.edvsz.fh-osnabrueck.de/~ludemann/tmp/Physik/java/physlets.www.zum.de/physlet/applets/welle01.html
http://www.geogebra.org/de/upload/files/dynamische_arbeitsblaetter/lwolf/wellen/welle_transversal_longitudinal_de.html
Seite 166
Abb. 9.4: Das Spektrum elektromagnetischer Wellen.
Lichtwellen sind elektromagnetische Wellen. Bei ihnen verändern
sich elektrische und magnetische Felder periodisch und sinusförmig. Die Vektoren beider Felder stehen senkrecht aufeinander
und schwingen senkrecht zur Laufrichtung, also z. B. senkrecht zu
einem Lichtstrahl. Sie benötigen kein Medium und laufen im
Vakuum mit der enormen Geschwindigkeit c = 3 ∙ 108 m/s. Das ist
die höchste Geschwindigkeit, die überhaupt erreicht werden kann.
Nach den Axiomen der Relativitätstheorie kann sie von keinem Abb. 9.5: Unser Modell einer
elektromagnetische Welle
Objekt mit Masse erreicht werden.
Das Spektrum elektromagnetischer Wellen erstreckt sich kontinuierlich von λ = 0 bis λ = ∞. Es
kann grundsätzlich alle Wellenlängen geben. Abb. 9.4 zeigt: Je größer ein Objekt ist, umso langwelliger ist in der Regel die Strahlung, die es erzeugt. Der Bereich des Lichts, also der Strahlung,
die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können, ist ein winziger Ausschnitt aus dem Bereich des
elektromagnetischen Spektrums mit Wellenlängen zwischen 400 nm und 800 nm. Diese Strahlung
wird durch die äußeren Bereiche der Hülle von Atomen und Molekülen erzeugt. Auf der kurzwelligen Seite schließt sich das UV (ultraviolette Strahlung) an, auf der langwelligen Seite das IR
(infrarote Strahlung, Wärmestrahlung). Dann folgen die Mikrowellen und schließlich die
Radiowellen. Auf der kurzwelligen Seite folgt hinter dem UV die Röntgenstrahlung und
schließlich die Gammastrahlung. Die Grenze zwischen beiden ist fließend. Als Gammastrahlung
bezeichnet man meist nur die Strahlung, die von Atomkernen oder bei Elementarteilchenprozessen
emittiert wird, und als Röntgenstrahlung jede andere kurzwellige Strahlung, z.B. auch Synchrotronstrahlung oder die Strahlung aus dem inneren Bereich der Elektronenhülle von Atomen und
Molekülen.
Ist ihnen aufgefallen, dass die Abb. 9.4 eine Energieskala enthält?
Können Sie erklären, wo die herkommt? Möglicherweise sagen Sie „Ja“
und haben eine nebulöse Vorstellung von Photonen dabei im Kopf. Das
ist richtig. Bevor wir das konkretisieren, wollen wir uns verdeutlichen,
dass es überhaupt nicht selbstverständlich ist, dass wir der Wellenlängenskala einer Welle eindeutige Energiewerte zuordnen können. Betrachten
Sie dazu die beiden Wellen in Abb. 9.6 rechts: Welche der Wellen ist wohl
energiereicher und welche hat die größere Wellenlänge? Wenn Sie jemals
in der Brandung getobt haben, wissen Sie, das eine hohe Welle sie eher
umwerfen wird − also energiereicher ist − als eine kleine Welle: Für die
Energie ist normalerweise die Höhe der Welle ausschlaggebend und die
Wellenlänge (das ist der Abstand zweier Wellenberge) eher unbedeutend! Abb. 9.6: Niedrige und
Und die Höhe einer Welle − auch einer elektromagnetischen Welle − sollte hohe Brandungswellen.
Seite 167
doch beliebige Werte annehmen können. Wie kommt es also zu dieser Energieskala?
Tatsächlich hat Einstein herausgefunden (und dafür 1921 den Nobelpreis bekommen), dass
elektromagnetische Wellen als quantenmechanische Besonderheit Energie E nur in bestimmten
von der Frequenz f abhängigen Portionen hf transportieren können, worin h = 6,63∙10-34 Js das
Plancksche Wirkungsquantum ist. Diese Energieportionen nennt man Photonen. Das bedeutet,
dass elektromagnetische Wellen nicht jede beliebige Höhe haben können. Allerdings ist die
Abstufung so fein, dass wir sie im Normalfall nicht bemerken. Die Energieskala entspricht damit
der kleinsten möglichen Energieportion einer elektromagnetischen Welle für eine gegebene
Frequenz, also der Photonenenergie.
Das gibt schon einen kleinen Vorgeschmack auf eine große Klasse von Wellen, die wir erst in der
Quantenmechanik kennenlernen werde: Die Materiewellen. Nahezu alles, was wir in diesem Kapitel
behandeln, wird Ihnen dann wiederbegegnen. Dieses Kapitel enthält somit wesentliche Grundlagen
und Modellvorstellungen, die wir für Materiewellen benötigen. Die Quantenmechanik an sich ist
schon skurril und gewöhnungsbedürftig genug: Versuchen Sie deshalb, Grundlagenwissen zu
Wellen parat zu haben, damit Sie sich dann auf neue spannende Physik konzentrieren können.
9.2 Entstehung einer Welle und das Modell „Harmonische Welle“
Wellen entstehen, wenn viele identische Pendel lose gekoppelt sind. Um das zu verstehen, betrachten wir zuerst ein Experiment:
Experiment gekoppelte Pendel: Zwei gleiche Stangen werden am
oberen Ende aufgehängt und bilden zwei gleiche Pendel, die
einfach nebeneinander hängen ohne sich zu berühren. Wenn wir sie
anstoßen, schwingen sie unabhängig voneinander mit der gleichen
Frequenz und beeinflussen sich nicht gegenseitig. Ein Austausch
von Energie findet nicht statt. Jetzt verbinden wir sie durch eine
starre Stange. Wenn wir jetzt die Pendel anstoßen, müssen sie
gemeinsam, d. h. gleichphasig, schwingen. Auch hierbei findet kein Austausch von Energie
zwischen den Pendeln statt, beide Pendel tragen die gleiche Energie. Nun verbinden wir die Pendel
durch eine weiche Feder. Zuerst lenken wir beide Pendel gleich aus, so dass sie gleichphasig mit
gleicher Amplitude schwingen. Auch hierbei ändert sich nichts, ein Energieaustausch zwischen den
Pendeln findet nicht statt. Nun lassen wir beide Pendel mit gleicher Amplitude gegenphasig schwingen. Wir erhalten das gleiche Ergebnis. Zum Abschluss lenken wir nur eines der Pendel aus. Nun
geschieht folgendes: Die Amplitude seiner Schwingung nimmt ständig ab, während das andere Pendel
mit zunehmender Amplitude zu schwingen beginnt.
Nach einigen Perioden ist unser erstes Pendel in
Ruhe und nur noch das zweite Pendel schwingt.
Jetzt beginnt der Prozess rückwärts: Die Amplitude
der Schwingung des zweiten Pendels wird kleiner, während die des ersten Pendels wieder wächst,
bis schließlich der Ausgangszustand wieder hergestellt ist. Das ganze wiederholte von vorn. Jetzt
findet ein Energieaustausch zwischen den Pendeln statt: Die Energie der Schwingung überträgt sich
periodisch von einem Pendel zum andern: Sie „schwingt“ selbst zwischen beiden Pendeln hin und
her. Das zeigt: Zwischen zwei gleichen Pendeln findet nur dann ein Energieaustausch statt, wenn
sie lose gekoppelt sind und nicht gleich- oder gegenphasig schwingen.
Seite 168
Das wollen wir jetzt verstehen. Als Basismodell benötigen wir die Physik der angeregten Schwingung. Dort haben wir gesehen, dass ein Motor einem Oszillator dann effizient Energie übertragen
kann, wenn er ihn mit seiner Resonanzfrequenz ω0 anregt und die Kraft der Auslenkung um π/2
vorauseilt. Sobald zwei gleiche Pendel gekoppelt sind, können wir ein Pendel als Motor des anderen
auffassen: Weil die Pendel gleich sind, ist die Frequenzbedingung immer erfüllt. Aber nur im letzten
Fall − bei der losen Kopplung und der einseitigen Auslenkung − ist auch die Phasenverschiebung
zwischen Kraft und Auslenkung passend. Daher kann nur dann Pendel 1 seine Energie an Pendel 2
abgeben. Der Witz ist nun, dass der Energieaustausch nicht stoppt, sobald beide Pendel gleich viel
Energie haben, sondern so lange weitergeht, bis ein Pendel seine Energie komplett abgegeben hat.
Das liegt daran, dass durch die Phasenbedingung immer nur das vorauseilende Pendel als Motor
wirkt und sich die Pendel nur „überholen“, wenn eines der Pendel ruht. Dadurch ist die Richtung
des Energietransportes festgelegt.
Jetzt denken wir uns eine ganze Reihe aus lose gekoppelten Pendeln, von der wir das erste anstoßen: Es wird seine Energie auf das zweite übertragen, dieses auf das dritte usw. Pendel 1 ist
Motor von Pendel 2, Pendel 2 wird Motor von Pendel 3 usw. Die vorauseilenden Pendel übertragen
ihre Energie auf die nachhinkenden Pendel: Eine Welle läuft durch die Pendelreihe.
Experiment Pendelreihe Eine größere Anzahl identischer Fadenpendel wird in einer Reihe im gleichen Abstand aufgehängt. Die
Pendel werden lose gekoppelt, indem ihre Fäden mit einem weiteren
Faden verbunden werden, an den zwischen je zwei Pendel eine kleine
Masse (z. B. eine kleine Wäscheklammer) gehängt wird. Das erste
Pendel wird nun senkrecht zur Stange (transversal) ausgelenkt. Man
kann anhand der Amplitude der Pendel beobachten, wie die
Schwingungsenergie langsam von einem Pendel zum anderen
übertragen wird, am Ende der Pendelreihe umkehrt und wieder zurückläuft. Die Pendel bewegen
sich dabei deutlich schneller als die Energie. Das gleiche Phänomen sieht man, wenn das erste
Pendel parallel zur Stange (longitudinal) ausgelenkt wird. Das zeigt: Bei einer Reihe lose
gekoppelter Pendel wird Schwingungsenergie in eine Richtung transportiert. Die Geschwindigkeit
des Energietransports ist anders als die der Pendel. Die Schwingung kann senkrecht oder parallel
zur Laufrichtung der Energie erfolgen.
Dieses Experiment verdeutlicht uns nicht nur den Energietransport in einer Welle, sondern auch die
Unterscheidung in zwei Arten von Wellen: Transversal- und Longitudinalwellen:
Bei Transversalwellen erfolgt die Schwingung senkrecht zur Laufrichtung der Energie.
Bei Longitudinalwellen erfolgt die Schwingung parallel zur Laufrichtung der Energie.
Beispiele: Seilwellen sind Transversalwellen. Die kurzzeitige Stauchung einer Feder erzeugt eine
Longitudinalwelle. Wasserwellen sind eine Mischform: Aus der Vogelperspektive betrachtet sind sie
Longitudinalwellen, von der Seite gesehen laufen die Moleküle auf Kreisen.
Was geschieht, wenn wir die Kopplung zwischen den Pendeln stärker machen? Dann wird die Kraft
zwischen den Pendeln stärker und folglich die Arbeit, die das „Motorpendel“ verrichtet größer. Es
überträgt seine Energie also schneller auf das nächste Pendel und daher läuft die Energie schneller
durch die Pendelreihe. Die Geschwindigkeit der Welle erhöht sich also, wenn man die Zugkraft
zwischen den Pendeln erhöht.
Bei den bisher betrachteten Wellen war es so, dass die Übertragung der Energie immer mehrere
Perioden der Schwingung benötigte. Das ist nicht zwingend. Jetzt betrachten wir den Fall, dass die
Kopplung so stark ist, dass bei einer Auslenkung von Pendel 1 sein Nachbar gleich mitgezogen wird
und Pendel 1 seine Energie bereits abgegeben hat, wenn es das erste Mal in die Ruhelage
Seite 169
zurückkehrt. Wir betrachten dazu Abb.
P1
P2
P3
P4
P5
P6
P7
P8
9.7. Die Richtung der Ausbreitung ist
x, die der Auslenkung ist y. Zum Start
(2. Reihe) lenken wir das erste Pendel
t0
(P1) durch eine äußere Kraft (dicker
roter Pfeil) schnell gegen die rücktreibende Kraft seiner Feder aus und
lassen es sofort wieder los. Dabei nehmen wir seinen Nachbarn P2 bereits
etwas mit. Solange die Auslenkung
von P2 kleiner als die von P1 ist, wird
tx
P1 nach − y und P2 nach + y bey
schleunigt. P1 und P2 bewegen sich
t1
gegenläufig. Sobald die Auslenkung
von P2 größer als die von P1 ist, wird Zeit t x
Ort x
xt
x1
0
P1 nach + y beschleunigt, also
Abb. 9.7: Erzeugung eines Wellenpulses in einer Pendelgebremst und verliert seine Energie.
kette. Die schwarzen Pfeile deuten die Geschwindigkeit an,
Gleichzeitig dreht sich auch die Kraft
die roten Pfeile die resultierende Kraft. Rote Kurve: Ausauf P2 um, das nun ebenfalls
lenkung des Pendels P2 bei xt als Funktion der Zeit.
abgebremst wird, bis im Umkehrpunkt
Schwarze Kurve: Auslenkung aller Pendel P1 .. P8 zum
v = 0 ist. Gleichzeitig beschleunigt P2
Zeitpunkt tx.
jedoch P3 nach + y und führt diesem
einen Teil seiner Energie zu. Ab jetzt wiederholt sich der gleiche Vorgang wie beim Start: Sobald die
Auslenkung von P3 größer ist als die von P2, wird P2 gebremst und verliert seine verbliebene
Energie an P3. Die Anfangsenergie wird so von Pendel zu Pendel weitergereicht. Wir betrachten
dazu auch die Arbeit: Weg und Geschwindigkeit sind stets gleichgerichtet. Man sieht an den Pfeilen
in Abb. 9.7 (rot = F, schwarz = v) sehr schön: Beim jeweils rechten Nachbarn sind Kraft und Weg
gleichgerichtet, die Arbeit ist positiv: hier wird Energie zugeführt. Am jeweils linken Pendel sind
Kraft und Weg entgegengesetzt gerichtet: hier wird Energie entnommen. Völlig analog können wir
das für die Geschwindigkeit und die Leistung formulieren. Als letzten Schritt stellen wir uns jetzt
vor, dass wir unser erstes Pendel P1 nicht nur einmalig, sondern periodisch in beide Richtungen auslenken. Das führt dann zu einer harmonischen Welle statt zu einem einzelnen Wellenpuls.
9.3 Mathematische Beschreibung von Wellen
Jetzt haben wir die Aufgabe, diesen Mechanismus als Bewegungsgleichung zu formulieren. Dazu
müssten wir uns die Kräfte auf die Massen überlegen und daraus die Bewegungsgleichung bilden.
Anders als bei einer Schwingung, bei der wir nur die Zeitabhängigkeit der Auslenkung einer Masse
beschreiben müssen, enthält eine Welle viele Massen an vielen Orten. Ihre Bewegungsgleichung
und deren Lösungen müssen daher nicht nur die Zeitabhängigkeit der Auslenkung, sondern auch
deren Ortsabhängigkeit beschreiben: Sie müssen angeben, welche Auslenkung ein Oszillator am Ort
x zum Zeitpunkt t hat. Wenn wir die Auslenkung u nennen, müssen die Lösungen also Funktionen
u(x,t) von Ort und Zeit sein.
Für verschiedene Wellen, wie z. B. Wasserwellen, Schallwellen, Seilwellen etc, ergeben sich jeweils
andere Kräfte und andere Herleitungen, so wie sich z. B. auch die Bewegungsgleichung eines
Federpendels aus anderen Kräften herleitet als die eines Fadenpendels. Aber genau wie bei der
harmonischen Schwingung haben alle sich ergebenden Bewegungsgleichungen eine einheitliche
Form. Für die Welle können wir sie uns auch anhand Abb. 9.7 überlegen. Wenn wir zum Zeitpunkt
t0 = 0 eine Auslenkung u am Ort x0 verursachen, bewegt sich u unverändert mit der Geschwindigkeit
Seite 170
c in x-Richtung. Zum Zeitpunkt t1 ist sie bereits an den Ort x1 = x0 + ct1 gelaufen. Daraus ergibt sich
für den Ausgangsort x0 = x1 − ct1 und für die Auslenkung u(x1, t1) = u(x1 − ct1, 0). Jetzt können wir den
Index einsparen und und nennen x − ct = g(x,t). Dann ist u(x,t) = u(g(x,t)) und wir können u mit
du
= f '( g ) zweimal nach der Zeit ableiten:
Hilfe der Kettenregel und der Abkürzung
dg
du
u̇=
ġ=−c f '( g ) und ü=−c(−c ) f ''( g )=c 2 f ''(g ) (9.1) und zweimal nach dem Ort ableiten:
dg
du
u '= g '=1⋅ f '( g ) und u ''= f ''(g ) (9.2).
dg
Der Vergleich von (9.1) und (9.2) liefert ü=c 2 u '' . Das ist die gesuchte Differenzialgleichung: Die
Bewegungsgleichung von Wellen ist die
Wellengleichung ü−c 2 u ''=0
(9.3).
Sie verknüpft die zweite Ableitung nach Zeit mit der zweiten Ableitung nach dem Ort und enthält
als Konstante nur die Ausbreitungsgeschwindigkeit c der Welle. c hängt von den „Federeigenschaften“ des betrachteten Mediums und den „Trägheitseigenschaften“ des Mediums ab.
Beispiel: Für eine Seilwelle ist c durch die Zugkraft F im Seil und die lineare Massendichte µ
(Masse pro Länge) c= F
μ (9.4) gegeben. Für eine Schallwelle ist c durch das Kompressionsmodul
K und die Dichte ρ des Mediums gegeben: c= K (9.5).
ρ
√
√
Unsere Herleitung beinhaltet, dass jede beliebige Funktion u(g) mit g(x,t) = x − ct die Wellengleichung löst. Das drückt aus, dass Wellen eine beliebige periodische oder nichtperiodische Gestalt haben können. Also können sie z. B. auch die Form u (g ( x , t))=A cos(k⋅g ( x , t))=A cos(k ( x−c t))
haben. Die Konstante k muss die Dimension m-1 haben, weil das Argument der Winkelfunktion
dimensionslos sein muss. Das Argument nennen wir wie bei der Schwingung „Phase“. Die
Periodizität des Cosinus verlangt, dass sich die Auslenkung reproduziert, wenn sich die Phase um
2π ändert, denn cos(ϕ )=cos( ϕ±2 π) . Nun betrachten wir einen einzelnen Oszillator an einem
beliegen festen Ort x'. Dessen Auslenkung u(t) muss sich nach einer Periodendauer T =2 π/ω
seiner Schwingung wiederholen: u(t) = u(t + T). Das geht nur, wenn die Phasen folgende Bedingung
erfüllen: k ( x−c( t+T ))=k (x−c t)−2 π 40. Daraus erhalten wir sofort: k cT =2 π . Das Produkt cT
2π ω 2 π
= =
nennen wir Wellenlänge λ, die Konstante k =
nennen wir Wellenzahl, die AusbreicT c λ
tungsgeschwindigkeit c nennen wir jetzt Phasengeschwindigkeit, weil sie das Tempo eines Punktes
konstanter Phase angibt.
Die Wellenlänge λ=c T (9.6) ist der Weg, den eine harmonische Welle in einer Periodendauer
2π
T = ω seiner Oszillatoren zurücklegt und entspricht dem Abstand zweier Wellenberge.
2π
Die Wellenzahl k =
(9.7) ist der Kehrwert der Wellenlänge multipliziert mit 2π und gibt die
λ
Anzahl der Wellenberge pro Länge multipliziert mit 2π an.
ω
Die Phasengeschwindigkeit c= k (9.8) gibt an, wie schnell sich ein Punkt der Welle mit festem
Wert der Phase (z. B. ein Wellenberg bzw. ein Maximum der Auslenkung) fortbewegt.
Mit diesen Größen können wir jetzt eine eindimensionale harmonischen Welle in ihrer üblichen
Form in reeller und komplexer Schreibweise aufschreiben:
40
− 2 π , weil die Phase mit zunehmendem t kleiner wird.
Seite 171
Harmonische Welle:
reell:
u ( x , t)=A cos( kx±ω t±ϕ 0)
(9.9)
komplex:
ũ ( x , t)=A ei (kx±ω t ±ϕ )
(9.10)
0
Die Auslenkung u(x,t) gibt uns die Art der Welle an. Darin sind u und x Platzhalter:
•
Der Ortsparameter x gibt die Laufrichtung der Welle an. Schreibt man u(y,t), dann läuft die
Welle in y-Richtung. Schreibt man u(z,t), dann läuft die Welle in z-Richtung.
•
u ist der Platzhalter für die schwingende physikalische Größe: Schreibt man bei einer
Seilwelle Y(x,t), dann schwingt das Seil in y-Richtung und man beschreibt die Auslenkung in
y-Richtung. Schreibt man bei einer Schallwelle p(x,t), dann schwingt der Druck p und man
beschreibt die Abweichung des Druckes vom Normaldruck.
Die Amplitude A gibt uns den Maximalwert von u(x,t) an:
•
u(x,t) = A, wenn die Phase null ist oder ein ganzzahliges Vielfaches von 2π ist.
Die Phase kx ± ωt ± φ0 enthält die Konstanten der Welle:
•
Die Wellenzahl k = 2π/λ enthält die Wellenlänge λ.
•
Die Kreisfrequenz ω = 2π/T enthält die Periodendauer T.
•
Beide gemeinsam bestimmen die Phasengeschwindigkeit c = ω/k.
•
Jeweils zwei der Konstanten k, ω, c legen die dritte fest.
Das Vorzeichen in der Phase bestimmt, in welche Richtung die Welle läuft: Die Laufrichtung ist die
Bewegung eines Punktes konstanter Phase für t > 0. Die Phase kann bei wachsendem t nur konstant
bleiben, wenn sich der Summand „kx“ gegenläufig zu „ ± ωt“ ändert:
•
Bei einer in positive Richtung (rechts) laufenden Welle haben kx und ωt unterschiedliche
Vorzeichen: u rechts ( x , t)= Acos ( kx−ω t) .
•
Bei einer in negative Richtung (links) laufenden Welle haben kx und ωt gleiche Vorzeichen:
u links ( x , t)=A cos (kx +ω t) .
Die Phasenverschiebung ± φ0 bestimmt die Startauslenkung bei x = 0 und t = 0.
•
Eine negative Phasenverschiebung schiebt die Welle nach rechts, eine positive nach links.
•
Über die Phasenverschiebung φ0 = − π/2 kann man vom Cosinus zum Sinus wechseln: Weil
−i π
̃ A e 2 =−i A in der komcos (ϕ−π/2)=sin( ϕ) ist, macht die komplexe Amplitude A=
i (kx−ω t)
}=cos (kx−ωt ) und
plexen Schreibweise aus dem Cosinus einen Sinus: Es ist Re{ e
−i π
2
Re{ e
i (kx−ω t )
e
i (kx−ω t )
}=Re{−i⋅e
}=sin(kx−ω t) .
Wir fassen noch einmal alles zusammen, was man sich merken sollte:
u⏟
( x ,t )=
Auslenkung
⏟A
i (k x±ω t±ϕ0 )
⋅cos( k⏟
x±ω t±ϕ0 )=Re{ A⋅e
Amplitude
Phase
}; k =
2π
2π
; ω=
; c= ω = λ
λ
T
k T
(9.11).
Die Wellenzahl k ist eine charakteristische Größe der Welle, die anfangs sehr unanschaulich wirkt,
obwohl sie eigentlich nur die Wellenlänge beinhaltet. Sie gibt die „räumliche Frequenz“ der Welle
an. Bei mehrdimensionalen Wellen im Raum wird k zu einem Vektor ⃗
k , der in die Laufrichtung der
Welle zeigt, und Wellenvektor genannt wird. Damit wird die Phase zu ⃗
k⋅⃗r ±ωt und z. B. (9.10) zu
i (⃗
k⋅⃗r ±ω t +ϕ )
⃗
(9.12). Die Wellenzahl k =∣k∣ ist der Betrag des Wellenvektors. Der Wellenũ ( x , t)= A e
⃗
vektor k hat bei einer Welle eine ähnlich Bedeutung wie der Impuls ⃗p bei einem Teilchen: Er
0
Seite 172
drückt die Bewegungsrichtung der Welle aus und beinhaltet ihre „Trägheit“. Wenn k =∣⃗k∣ klein ist,
ist die Wellenlänge λ = cT groß. Dann ist die Periodendauer T groß, also die Schwingung langsam.
Beispiel: Bei einer Lichtwelle entspricht der Wellenvektor ⃗
k anschaulich dem Lichtstrahl: Er zeigt
genau dahin, wohin sich die Welle bewegt. Die Wellenzahl k =∣⃗k∣ beinhaltet die Wellenlänge und
beschreibt die Farbe des Lichts.
9.4 Energietransport
Eine Welle transportiert die Energie der Schwingungen ihres Mediums. Man
drückt den Energietransport entweder in Form der Leistung P (Energie pro F
c
Zeit) oder als Intensität I (Leistung pro Fläche) aus. Jeder Oszillator trägt eine
w
aktuelle kinetische (Ekin) und potenzielle Energie (Epot). Wenn man das
ct
quantitativ ausdrücken möchte, muss man berücksichtigen, dass eine Welle
Abb.
9.8:
Das
Voluausgedehnt und veränderlich ist. Daher betrachtet man ein Volumen V, durch
das die Welle läuft und addiert die Energien aller darin enthaltenen Oszilla- men bewegt sich mit
toren. Daraus bestimmt man die Energie E = Ekin + Epot pro Volumen V, also c durch F hindurch.
die Energiedichte w = E/V. Die Welle läuft jedoch durch das Volumen hindurch, wodurch die
Energiedichte periodisch schwanken kann. Dann berechnet man ihren Mittelwert im Verlauf einer
⟨ E ⟩ ⟨ E kin ⟩+⟨ E pot ⟩ 41
=
Periodendauer T. Das ist die zeitlich gemittelte Energiedichte ⟨w ⟩=
. Das
V
V
Zeichen für die Mittelwertbildung ⟨... ⟩ lässt man in der Regel weg. Mit Hilfe der Energiedichte
kann man die Intensität I einer Welle ausdrücken. Wenn sich die Welle mit c ausbreitet, trifft in der
Zeit t Energie aus dem Volumen V = F∙ct auf eine Fläche F. Daraus ergibt sich
E
E
P
I
w= =
=
= . Umgestellt nach I erhalten wir die wichtige Beziehung für die
V F⋅c t F⋅c c
Intensität I einer Welle: I =w c (9.13).
[I] = W/m2
Sie zeigt unmittelbar, dass eine Welle Energie ist, die sich mit der Geschwindigkeit c bewegt42.
Jetzt fehlt uns noch der Zusammenhang zwischen I und den Parametern der Welle, wie Amplitude
A, Wellenzahl k oder Kreisfrequenz ω. Dazu betrachten wir eine Welle, die in x-Richtung läuft und
berechnen die Energie der Oszillatoren in dem Volumen dV = F ∙ dx. Ihre Federkonstante sei D, die
Masse sei dm, die Auslenkung sei Y(t) = A sin(ωt). Ihre potenzielle Energie ist dE pot =1/2 D Y 2 und
ihre kinetische Energie ist dE kin=1/2 dm Y˙ 2 . Weil ω2 =D/dm ist, können wir D durch D=dm⋅ω2
ersetzen. Die Masse drücken wir über die lineare Massendichte µ (Masse pro Länge) der Welle aus:
dm
dm=
dx=µ dx . Schließlich bilden wir noch die Ableitung Ẏ (t)=ω Acos (ω t) . Das alles
dx
setzen wir in dE=dE kin +dE pot ein und erhalten
1
1
1
1
2 2
2
2 2
2
2 2
2
2
2 2
dE = µ dx ω A cos (ωt )+ µ dx ω A sin (ω t )= µ dx ω A (cos (ω t)+sin (ω t))= µ dx ω A .
2
2
2
2
Die Summe aus kinetischer und potenzieller Energie ist konstant, daher ist sie auch gleichzeitig der
Mittelwert der Energie über eine Periode. Ableiten nach der Zeit liefert die Leistung, denn für die
41
42
Bei harmonischen Wellen ist die Energie ist immer ~ cos2(ωt) oder ~ sin2(ωt). Damit liefert die zeitliche MittelwertT
T
1
2
2
bildung stets den Faktor ½, denn 1/T ∫ cos ( ωt ) dt = ∫ sin (ω t) dt =1/2 .
T 0
0
Diese Beziehung kann man sich besonders gut merken, wenn man an eine verschmutzte Toilette denkt ...
Seite 173
dE 1
= µ c ω2 A2 . Division durch die Fläche F liefert die
dt 2
P 1µ
µ dm dm
c ω 2 A2 . Schließlich können wir noch =
=
=ρ setzen und erhalIntensität: I = =
F 2F
F dx F dV
P 1
2 2
ten: I = = ρ c ω A . Als wesentliches universelles Ergebnis davon halten wir fest:
F 2
Welle ist dx/dt = c. Das ergibt P=
Die Intensität I einer Welle wächst quadratisch mit der Amplitude I ~ A2 (9.14).
In dieser rudimentären Form ist das Ergebnis für jede Art von Welle gültig, z. B. auch für elektromagnetische Wellen, die keine Massen enthalten.
9.5 Grafische Darstellung von Wellen
Wellen sind Funktionen von Ort und
Zeit, daher ist ihre grafische Darstellung aufwendig und erfordert drei Dimensionen, da man ja die Auslenkung
als dritte Achse neben Ort und Zeit
benötigt. Als Vereinfachung stellt man
Wellen in der Regel zweidimensional
dar, wobei man entweder den Ort oder
die Zeit konstant hält. In Abb. 9.7 ist
das beispielhaft gezeigt. Man stellt
entweder der zeitlichen Verlauf der
Auslenkung eines Oszillators an einem
bestimmten Ort dar (quasi ein Video
seiner Bewegung). In Abb. 9.7 ist das
die rote Kurve, die Y(xt,t) des Oszilla- Abb. 9.9: Vereinfachte Darstellung einer Welle: Oben:
tors P2 am Ort xt zeigt. Oder man stellt Video am festen Ort, Unten: Foto zum festen Zeitpunkt.
die Ortsabhängigkeit der Auslenkung vieler Oszillatoren zu einem bestimmten Zeitpunkt dar (quasi
ein Foto der Welle). In Abb. 9.7 ist das die schwarze Kurve, die die momentane Auslenkung Y(x,tx)
der Oszillatoren P1 bis P8 zum Zeitpunkt tx zeigt.
Diese vereinfachten Darstellungen zeigen unterschiedliche Aspekte der Welle: Aus dem „Video“ kann man die
Periodendauer ablesen, aus dem „Foto“ die Wellenlänge.
Keine von ihnen beinhaltet die Fortbewegung der Welle
und keine von ihnen liefert die Phasengeschwindigkeit.
Beide Darstellungen sehen auf den ersten Blick wie
Schwingungen aus und lassen deshalb den Unterschied
zwischen Schwingung und Welle „verschwimmen“. Zur
Darstellung von Wellen sind deshalb dreidimensionale
Bilder oder bewegte Bilder (Animationen) vorzuziehen.
3D-Bilder werden jedoch schnell unübersichtlich. Eine
Abb. 9.10: 3D-Darstellung einer Welle
Sammlung schöner Animationen zu Wellen finden Sie
demnächst auf meiner Webseite.
9.6 Zeichnungen von Wellen
Zur zeichnerischen Darstellung von Wellen im Raum verwenden wir Wellenfronten oder Strahlen.
Seite 174
Eine Welle ist nichts Lokalisiertes, sondern etwas, das sich im Raum ausbreitet. Die Wellenfronten
sind Flächen gleicher Phase (z. B. "Wellenberg" oder "Wellental"), die zum gleichen Zeitpunkt
erzeugt wurden. Ihre Oszillatoren schwingen synchron und ihre Schwingungen sind „gleich alt“. Es
sind ausgedehnte Objekte, die sich mit der Phasengeschwindigkeit c durch den Raum schieben. Sie
sind das, was man von einer (sichtbaren) Welle sieht. Man bezeichnet Wellen auch nach der Form
ihrer Wellenfronten. Die wichtigsten Formen sind:
Ebene Wellen: Die Wellenfronten sind Ebenen:
Y ( ⃗r , t)= Acos ( ⃗k⋅⃗r −ω t−ϕ 0 ) ⇔
⃗
Ỹ ( ⃗r , t)= Ae i ( k⋅⃗r−ω t −ϕ ) (9.15).
0
Kugelwellen: Die Wellenfronten sind Kugelflächen:
Y (⃗r , t)=
A
cos( ⃗k⋅⃗r −ω t−ϕ 0 ) ⇔
r
A
Ỹ (⃗r , t)= ei ( k⋅⃗r −ωt −ϕ ) (9.16).
r
⃗
0
Auch hierbei fällt die dreidimensionale Darstellung oft schwer, weswegen man sie meist zweidimensional zeichnet: ebene Wellenfronten
werden zu geraden Strichen, kugelförmige Wellenfronten werden zu
Kreisen. Der Abstand zwischen den Linien ist die Wellenlänge. Bei
einer ebenen Welle ist die Amplitude der Welle überall gleich und
bleibt es beim Weiterwandern auch. Bei Kreis- oder Kugelwellen ist
die Amplitude auf einer der Fronten überall gleich, wird aber beim
Weiterwandern ständig kleiner, was man auch in Abb. 9.12 (oben) sehr
schön sehen kann. Kreis- oder Kugelwellen entstehen, wenn die Welle
durch eine Auslenkung an einem Punkt erzeugt wird. Ebene Wellen
entstehen bei einer großflächigen gleichphasigen Anregung. Außerdem
können wir einen kleinen Ausschnitt einer Kreis- oder Kugelwelle im
großen Abstand von ihrem Zentrum als ebene Wellen nähern, was wir
oft tun werden. Auf jeden Punkt einer Wellenfront können wir uns
einen Wellenvektor denken, der senkrecht auf ihr steht, weil er in ihre
Ausbreitungsrichtung zeigt. Bei ebenen Wellen sind die Wellenvektoren überall gleich lang und gleich gerichtet. Bei Kugelwellen sind
sie auch überall gleich lang, zeigen aber radial nach außen.
Bei Lichtwellen zeichnen wir häufig Strahlen
statt Wellenfronten. Strahlen zeigen immer die
Richtung des Wellenvektors ⃗
k einer Welle
und stehen wie ⃗
stets
senkrecht
auf den
k
Wellenfronten. Anders als Wellenfronten
können Strahlen nicht gekrümmt sein. Dort,
wo Strahlen eng beieinander sind, ist die
Intensität der Welle groß. In ebenen Bereichen
der Wellenfronten verlaufen Strahlen parallel
zueinander, in gekrümmten Berichen dagegen
nicht. Auseinanderlaufende Strahlen nennen
wir divergent 43. Aufeinander zu laufende
Strahlen nennen wir konvergent.
43
a)
c
b)
Abb. 9.11: Ebene Wellen
und Kugelwellen
Abb. 9.12: Oben: kreisförmige Wellenfronten, unten:
gerade Wellenfronten
c)
Abb. 9.13: Strahlen (Pfeile) stehen immer senkrecht auf Wellenfronten (gestrichelt) und zeigen in
Laufrichtung. a) Ebene Wellenfronten ergeben
parallele Strahlen, b) gekrümmte Wellenfronten
ergeben divergente oder c) konvergente Strahlen.
Sagen Sie dazu bitte niemals „gestreut“ oder „zerstreut“, denn „Streuung“ bedeutet in der Physik etwas ganz anderes,
auch wenn die entsprechende Linse unglücklicherweise „Zerstreuungslinse“ genannt wird!
Seite 175
9.7 Wellen unterwegs
Um die Ausbreitung von Wellen und ihre Phänomene zu verstehen, gibt es verschiedene Modelle.
„Was der Masse die Bewegungsgleichung ist der Welle das Prinzip.“ Ausbreitung und Amplituden
von Wellen werden durch drei Prinzipien beschrieben. Versuchen Sie zu verstehen, wie man die
Phänomene durch Anwendung dieser Prinzipien erklärt.
Das Huygens'sche Prinzip → zur Beschreibung der Ausbreitung von Wellenfronten.
Das Fermat'sche Prinzip → zur Beschreibung von Wegen und Strahlen.
Das Superpositionsprinzip → zur Beschreibung von Interferenz und resultierenden Amplituden.
9.7.1 Wellenwanderung: Das Huygens'sche Prinzip
Wellenausbreitung stellen wir uns modellhaft so vor, als ob an jedem Punkt im
Raum, den eine Wellenfront trifft, durch
c
Elementardiese ein punktförmiger Elementarwellenwellen
sender eingeschaltet wird, der mit der
aktuellen Phase der Welle startet. Dabei ist
λ
es egal, ob an diesem Punkt etwas vorhanden ist oder nicht, das gilt also auch für ankommende
neue
Wellenfront
eine Lichtwelle im Vakuum. Die Einhül- Wellenfronten
lende aller neuen Elementarwellen ergibt Abb. 9.14: Das Huygensche
die neue Wellenfront (Abb. 9.14). Der Ab- Prinzip
stand der Wellenfronten ist die Wellenlänge. Die Wellenfronten können
eine beliebige Form haben, Elementarwellen sind normalerweise Kugelwellen44, die man durch Kreise andeutet. Oft zeichnet man die Elementarwellen nur als Halbreise in Laufrichtung der Welle, obwohl man sie
sich als komplette Kreise denken muss. Das darf man, weil die Elementarwellensender ja in Bewegungsrichtung der Welle nacheinander „angeschaltet“ werden. Dadurch überlagern sich die Elementarwellen nur in Abb. 9.15: Nur in LaufVorwärtsrichtung zu einer neuen Wellenfront, in Rückwärtsrichtung inter- richtung entstehen neue
Wellenfronten.
ferieren sie sich weg (Abb. 9.15).
Beispiel Beugung = Ablenkung in den Schattenraum. Phänomen: An den
Rändern ebener Wellenfronten, die durch ein Hindernis scharf begrenzt
wurden, ist die Welle nicht scharf begrenzt, sondern breitet sich mit
gekrümmten Wellenfronten in den Schattenraum aus. Erklärung: An den
Rändern macht sich die Kugelgestalt der Huygenschen Elementarwellen
bemerkbar, weil sie keine Nachbarwellen mehr haben, mit denen sie sich zur ebenen Welle
überlagern können.
Beispiel Brechung = Abknickung der Laufrichtung. Trifft eine ebene Welle
schräg auf eine ebene Grenzfläche zweier Medien, in denen die Phasengeschwindigkeit unterschiedlich ist, ändert sie ihre Laufrichtung. Erklärung:
Durch das schräge Eintreffen der Wellenfront, werden auf der Grenzfläche
an nebeneinander liegenden Punkten Elementarwellen nacheinander ausgesendet. Der Einfallswinkel der Front und ihre Geschwindigkeit c1 bestimmen den Zeitversatz. Im zweiten Medium haben die Elementarwellen zu den
betrachteten Zeiten andere Radien, da hier die Geschwindigkeit c2 anders ist.
Die Tangente an diese Wellen ergibt damit auch eine andere Richtung der neuen Wellenfront.
44
In manchen Medien kann die Phasengeschwindigkeit von der Richtung abhängen. Dann sind es Rotationsellipsoide.
Seite 176
9.7.2 Wellen geknickt: Brechung
Wir betrachten die Brechung jetzt quantitativ: Wenn eine Welle aus einem Gebiet mit der Phasengeschwindigkeit c1 schief auf ein Gebiet mit anderer Phasengeschwindigkeit c2 trifft, wird sie an der
Grenzfläche gebrochen, d. h. ihre Richtung ändert sich. Einfallswinkel α und Ausfallswinkel β sind die Winkel der Wellenfronten zur
B
●
Grenzfläche (bzw. gleichbedeutend der Wellenvektoren zum Lot auf
c1·t
α
die Fläche). Zum Zeitpunkt t = 0 schneidet die Wellenfront die
α
C
A
Grenzfläche im Punkt A und erzeugt dort eine Elementarwelle. In der
β
●
c
·t
2
Zeit t (z.B. eine Periodendauer) schiebt sich die Wellenfront in
βE
Medium 1 um die Strecke BC = c1∙t weiter und schneidet dann die
Grenzfläche im Punkt C. Der Abstand AC hängt vom Einfallswinkel
α der Front zur Grenzfläche und von c1 ab: Das blaue Dreieck liefert: Abb. 9.16: Zur Herleitung
c t
des Brechungsgesetzes.
sin α= 1 . Während dieser Zeit t hat sich die in A erzeugte EleAC
mentarwelle in Medium 2 um c2∙t ausgebreitet. Die Tangente EC an diese Kreiswelle durch C ergibt
die Front der gebrochenen Welle. Für ihren Winkel β zur Grenzfläche erhält man aus dem roten
c t
Dreieck: sin β= 2 . Division beider Gleichungen liefert
AC
das Snellius'sche Brechungsgesetz:
sin (α) c 1
=
sin (β) c 2
(9.17).
Man lernt es oft in der Optik für Lichtstrahlen kennen, es gilt jedoch für jede Welle.
9.7.3 Wellenwege: Fermat'sches Prinzip
Wellen nehmen immer den schnellsten Weg. Das bedeutet auto- A
mögliche Wege?
matisch, dass Strahlen in Bereichen mit homogener (d.h. überall und in alle Richtungen gleicher) Ausbreitungsgeschwindig- c
keit c immer den kürzesten Weg zwischen zwei Punkten nehmen, also immer gerade sind. Wenn dagegen Bereiche mit
c'=1/2 c
unterschiedlichen Geschwindigkeiten durchquert werden müsB
sen, ist die Frage nach dem schnellsten Weg kniffliger. Messen
Sie sich mit einer Welle! In Abb. 9.17 ist die Welle im grauen Abb. 9.17: Welcher Weg zwischen
Bereich halb so schnell wie außerhalb. Welches ist der schnell- A und B ist der Schnellste?
ste Weg zwischen A und B? Einer der Gezeigten? Eine Welle kriegt das hin, auch ohne Hirn und
Verstand. Sie auch? (Mit beidem natürlich ☺.)45
Beispiel Reflexionsgesetz Wie kommt man am schnellsten von A
nach B, wenn man unterwegs die Fläche C berühren muss? Eine Welle
kennt die Lösung. Man findet sie, indem man A an der Fläche C
spiegelt → A'. Der schnellste Weg von A' nach B ist der direkte, der
genauso lang ist wie von A nach B. Vergleicht man die Winkel, findet
man das Reflektionsgesetz: Einfallswinkel = Ausfallswinkel
B
A
α
α
A'
α
C
9.7.4 Wellen am Limit: Reflexion
Auch Reflexion ändert die Richtung einer Welle, wobei jedoch − wie im letzten Beispiel gezeigt −
45
Die Auflösung ist das Brechungsgesetz. Seine Herleitung mit dem Fermat'schen Prinzip ist ein Eckchen schwieriger.
Seite 177
Einfalls- und Ausfallwinkel gleich sind. Eine Welle wird also wie ein Flummi, der an eine Wand
geworfen wird, reflektiert. Und bei senkrechtem Einfall kehrt sie ihre Bewegungsrichtung um.
Daher lautet
das Reflexionsgesetz: Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel, α=β (9.18)
Bei der Reflexion ist jedoch mehr zu beachten, als nur die
Richtungsänderung: Das reflektierenden Objekt − der Reflektor − kann
die Welle zusätzlich verändern. Wenn die Welle am Reflektor eine
beliebige Auslenkung annehmen kann, kehrt sie einfach nur ihre
Bewegungsrichtung um. An so einem „losen Ende“ bleibt das Vorzeichen der Auslenkung erhalten. Wenn die Welle am Reflektor keine
Auslenkung haben kann, geht das nicht. Trotzdem wird sie reflektiert.
Als Beispiel betrachten wir eine Welle auf einem Seil, das am Ende an
einer Stange festgeknotet ist. An so einem „festen Ende“ muss die Auslenkung immer null sein. Wenn die Auslenkung der ankommenden
Welle die Stange erreicht, zieht sie an dem Knoten. Nach Actio =
Reactio zieht entsprechend der Knoten am Seil, und zwar so stark, dass Abb. 9.18: Reflexion am
die Auslenkung immer null bleibt. An der Stange ist die Auslenkung losen und am festen Ende
die Summe aus ankommender und reflektierter Welle. Daher bedeutet eine verschwindende
Auslenkung: Die reflektierte Welle muss entgegengesetzt zur ankommenden Welle ausgelenkt sein.
Genau das sieht man auch im Experiment.
Experiment Wellenmaschine Bei einer Wellenmaschine wird der letzte Oszillator durch eine
Mechanik festgeklemmt. Startet man einen kurzen Puls, wird diese mit umgekehrter Auslenkung
reflektiert.
Wir merken uns:
Bei einer Reflexion am losen Ende bleibt das Vorzeichen der Auslenkung gleich.
Bei einer Reflexion am festen Ende kehrt sich das Vorzeichen der Auslenkung um.
Nicht immer ist so einfach wie bei der Seilwelle erkennbar, ob ein Reflektor ein festes oder loses
Ende bildet. Bei der Druckwelle des Schalls bildet z. B. eine Wand ein loses Ende. Für das elektrische Feld einer elektromagnetischen Welle bildet ein elektrischer Leiter ein festes Ende.
9.8 Wenn sich Wellen treffen: Superposition
Wellen überlagern sich ohne sich gegenseitig zu stören. Sie demolieren sich nicht gegenseitig,
sondern laufen durcheinander hindurch wie Aliens durch Wände: Vorher und nachher sind Alien und
Wand unbeschädigt, wären des Durchgangs sind beide gleichzeitig am gleichen Ort und „addieren“
sich. Genauso ist das mit Wellen: Keine Welle kann eine Welle des gleichen Typs verformen, wenn
sie sie trifft. Wir müssen zwei Wellen am gleichen Ort einfach addieren. Diese Addition geht
besonders einfach in komplexer Schreibweise, denn dann müssen wir nur zwei komplexe Zahlen
addieren, anstatt uns durch eine Liste von Additionstheoremen für Winkelfunktionen zu kämpfen.
Wir werden uns bei dieser Gelegenheit eine ziemlich universell gültige Formel erarbeiten, mit der
wir viele Wellenphänomene beschreiben können. Die einzige Einschränkung für ihre Gültigkeit ist,
dass beide Wellen die gleiche Amplitude A haben sollen. Diese Einschränkung wird uns kaum
behindern, denn das ist in vielen wichtigen Fällen zumindest näherungsweise der Fall.
⃗1
⃗2
Wir starten mit zwei Wellen gleicher Amplitude, also Y 1 =A ei ( k ⋅⃗r −ω t −φ ) und Y 2=A e i( k ⋅⃗r −ω t−φ ) .
Unser Ziel ist es, ihre Summe Y =Y 1+Y 2 zu berechnen. Dazu führen wir folgende Abkürzungen
1
1
2
2
Seite 178
ein: x=⃗k 1⋅⃗r −ω1 t−φ1 und y=x=⃗k 2⋅⃗r −ω 2 t−φ2 .
Damit
ix
iy
werden unsere Wellen zu Y 1=A e und Y 2=A e . Die beiden Wellen sind in Abb. 9.19 als blaue Pfeile in der
komplexen Zahlenebene dargestellt. Ihre Phasen x bzw. y
bilden den Winkel zur reellen Achse. Wir suchen den Betrag
r (rot) und Phase φ (blau). Dazu lesen wir folgende
geometrischen Zusammenhänge ab:
Im
Die Summe ist Y = Y1 + Y2 = A(eix + eiy) = A∙z = A∙reiφ.
Die Phasendifferenz ist Δφ = y − x.
Der Betrag ist r = 2r', r' = cos(Δφ/2), also r = 2cos((y − x)/2).
Die Phase ist φ = x + Δφ/2 = x + y/2 − x/2 = (x + y)/2.
Re
Abb. 9.19: Addition zweier komplexer Zahlen mit gleichem Betrag.
1
1
Zusammen ergibt sich: z=2 cos( 2 [ y−x ])⋅exp (i( 2 [ y+x])) .
Einsetzen liefert: y−x=( ⃗
k 2⋅⃗r −ω2 t−φ2)−( ⃗k 1⋅⃗r −ω1 t −φ1 )=( ⃗k 2−⃗
k 1)⋅⃗r −(ω 2−ω1 )t −(φ2−φ1 ) und
⃗
⃗
⃗
⃗
y+x=( k 2⋅⃗r −ω 2 t−φ2 )+( k 1⋅⃗r −ω1 t−φ1)=( k 2 +k 1)⋅⃗r −(ω 2+ω1)t−(φ2+φ1) .
Damit erhalten wir das Ergebnis
Summe zweier Wellen gleicher Amplitude:
1
Y (⃗r , t)= A' e i ϕ =2 Acos ( [( ⃗k 2 −⃗
k 1)⋅⃗r −(ω 2−ω1 )t−(φ2−φ1 )])
2
⋅e
1
i⋅ [( ⃗
k +⃗
k )⋅⃗r −(ω 2+ω1)t −(φ2+φ1)]
2 2 1
Amplitude
(9.19).
Oszillation
Es wird uns ziemlich weit bringen und wir werden es gleich an einigen Beispielen anwenden. Dabei
ist es hilfreich, sich das Verhalten der Amplitude und der Oszillation separat klarzumachen.
9.8.1 Entgegenkommend: Stehende Wellen
Zuerst betrachten wir die Superposition zweier gegenläufiger Wellen gleicher Frequenz ω mit
ϕ 1=ϕ 2=0 . Für zwei gegenläufige Wellen gilt ⃗
k 1=−⃗
k 2=⃗k . Damit ergibt sich aus (9.19) mit
x=⃗k⋅⃗r −ω t und y=−⃗
k⋅⃗r −ω t als Ergebnis eine
stehende Welle:
Y (⃗r , t)=2 A cos( ⃗k ⃗r )
Amplitude
⋅exp(−i(ωt )) Oszillation
(9.20)
Die Welle steht, weil die Amplitude jetzt nur noch vom Ort abhängt und Knoten ∙ Bauch
sich ein Maximum der Auslenkung nicht mehr im Raum fortbewegt.
Stattdessen schwingen alle Oszillatoren der Welle synchron mit der
Frequenz ω. Die Einhüllende ihrer Amplituden ist cosinusförmig. Es Abb. 9.20: Eine stehende
gibt also Orte, an denen die Amplitude immer null ist, und Orte, an Welle zu zwei unterschieddenen sie immer maximal ist. Im Maximum ist die Amplitude doppelt lichen Zeiten.
so groß wie die der einzelnen Wellen.
Orte, an denen die Amplitude immer null ist, nennen wir Knoten.
Orte, an denen die Amplitude maximal ist, nennen wir Bauch.
Stehende Wellen lassen sich am besten durch Animationen verdeutlichen, wie z. B.
Seite 179
http://www.walter-fendt.de/ph14d/stwellerefl.htm. Wenn die entgegenlaufende Welle durch eine
Reflexion erzeugt wird, müssen wir unterscheiden, ob die Reflexion an einem losen oder festen
Ende erfolgt. Beim festen Ende kehrt die reflektierte Welle ihr Vorzeichen um. Das entspricht einer
Phasenverschiebung um π. Dann müssen wir in (9.20) bei beiden Phasen π/2 addieren. Das bedeutet
anschaulich:
Bildet der Reflektor ein festes Ende, dann hat die stehende Welle dort einen Knoten.
Bildet der Reflektor ein loses Ende, dann hat die stehende Welle dort einen Bauch.
Eine stehende Welle entsteht bei jeder vollständigen Reflexion einer harmonischen Welle, also z. B.
auch, wenn Licht an einem Spiegel reflektiert wird.
9.8.1.1 Resonanzen
Wenn man eine Welle zwischen zwei Reflektoren einsperrt, passen nur noch ganz bestimmte
stehende Wellen hinein, denn beide Reflektoren geben nun eine Randbedingung für die Welle vor:
An ihnen muss entweder ein Bauch oder ein Knoten der Welle liegen, je nachdem, ob der Reflektor
ein festes oder loses Ende bildet. Wenn die Reflektoren den Abstand L haben, gelten für die
möglichen Wellen die
Resonanzbedingungen:
fest ↔ fest,
λ
L=n⋅ n
2
fest ↔ lose
λ
L=(2 n−1)⋅ n
4
lose ↔ lose
λ
L=n⋅ n
2
n∈ℕ (9.21)
Wird in so eine Anordnung ständig eine neue Welle einge- n
speist, dann nimmt die Amplitude der stehenden Welle mit 1
λ=2 L
jeder Reflexion zu. Ohne Verluste, würde sie ins Unendliche
ansteigen und zur Resonanzkatastrophe führen. Es liegt ein 2
λ= L
Resonanzphänomen vor, genau wie bei der angeregten
2
Schwingung. Deshalb nennt man eine solche Anordnung auch 3
λ= L
3
Resonator. Die Frequenzen der möglichen stehenden Wellen
1
nennt man Resonanzfrequenzen. Ihre Werte f n=c/ λn=n f 1
λ= L
4
2
sind Vielfache der Grundfrequenz f 1=c /λ1 . Die Welle zu
n = 1 hat die längste Wellenlänge λ1, man nennt sie Grund- Abb. 9.21: Stehende Wellen in einem
welle. Diejenige zu n = 2 bildet die erste Oberwelle, die zu Resonator mit festen Enden.
n = 3 die zweite Oberwelle usw. Bei gleichen Enden hat die Grundwelle die Wellenlänge λ1 = 2L,
bei ungleichen Enden hat sie die Länge λ1 = 4L.
Beispiel: Bei Lichtwellen bildet eine Anordnung von zwei parallelen Spiegel einen Resonator. Man
findet ihn in jedem Laser. Für eine Schallwelle bildet jedes Rohr einen Resonator, denn Schallwellen werden auch an offenen Rohrenden reflektiert, weil sich durch die Querschnittsveränderung
der Druck ändert. Das ist die Grundlage vieler Musikinstrumente, wie Orgeln oder Flöten. Stehende
Wellen auf einer Gitarrensaite erzeugen den hörbaren Ton, der durch die stehenden Wellen im
Resonanzkörper der Gitarre verstärkt wird.
Experiment Resonanzrohr Ein Lautsprecher wird mit einem Frequenzgenerator betrieben, so dass
ein kaum hörbarer Ton entsteht. Dann wird er vor ein Glasrohr gestellt und die Frequenz der Schall welle verändert. Immer wenn man eine Resonanzfrequenz des Rohres trifft, wird der Ton laut und
deutlich hörbar. Sobald man den Lautsprecher vom Rohr weg schwenkt, ist der Ton wieder leise.
Das zeigt: Nur wenn die Frequenz zu einer Wellenlänge gehört, die der Resonanzbedingung
entspricht, entsteht im Rohr eine stehende Welle mit wesentlich größerer Amplitude als die der
Ausgangswelle.
Seite 180
Experiment Kundsches Rohr In das Rohr aus dem vorherigen
λ/2
Experiment wird Korkmehl gefüllt. Im Resonanzfall bilden sich
regelmäßige Staubfiguren mit Querrippen aus. Dort, wo die Staubfiguren am breitesten sind, sieht man eine deutliche Bewegung des
Geschwindigkeitsknoten
Mehls, an den schmalen Stellen ruht es. Dort befinden sich
Geschwindigkeitsknoten. Die Staubfiguren können ausgemessen werden und daraus via c = λf die
Schallgeschwindigkeit bestimmt werden. Ein verschlossenes Rohrende bildet für die Geschwindigkeit ein festes Ende, dort liegt ein Knoten vor. Für den Druck bildet es ein offenes Ende, die Druckwelle hat dort einen Bauch. Das zeigt: Im Rohr bilden sich im Resonanzfall stehende Wellen aus.
Experiment Stehende Seilwelle Ein Seil wird an einer Seite durch einen Motor transversal angeregt und am anderen Ende festgebunden. Wenn die Frequenz der Anregung einer Resonanzfrequenz
entspricht, ist die Welle mit großer Amplitude deutlich erkennbar. Dazwischen ist keine merkliche
Amplitude zu sehen. Das zeigt: Nur im Resonanzfall wird der Welle Energie zugeführt und nur
dann wird ihre Amplitude deutlich großer als die der Einzelwelle.
Experiment Cladnische Klangfiguren Eine mittig eingespannte runde oder eckige Platte wird mit etwas Vogelsand
bestreut und mit einem Geigenbogen angeregt. Wenn man
einen klaren Ton hört, bildet der Sand auf der Platte schöne
regelmäßige Muster. Das zeigt: Auch auf einer Platte entstehen stehende Wellen, die erkennbar
werden, weil sich in deren Knoten Sand sammelt.
9.8.2 Gleichgesinnt: Interferenz
Jetzt betrachten wir die Superposition zweier gleichlaufender Wellen gleicher Frequenz ω mit
φ1=0 und beliebigen φ2=φ . Für zwei gleichlaufende Wellen gilt ⃗
k 1=⃗k 2 =⃗
k . Damit folgt mit
x=⃗k⋅⃗r −ω t und y=⃗k⋅⃗r −ω t−φ aus (9.19) die
φ
Y (⃗r , t)=2 A cos( )
Amplitude
2
Interferenz zweier Wellen:
⃗ r −ω t− φ )) Oszillation
⋅exp(i ( k⋅⃗
2
(9.22)
Dies ist wieder eine laufende Welle gleicher Frequenz und Richtung,
deren Amplitude aber nun nur von der Phasendifferenz abhängt. Das
ist die Grundlage aller Interferenzerscheinungen. Der Betrag der
Amplitude variiert von 0 bis 2A, je nach Phasenverschiebung. Er ist
maximal mit dem Wert 2A, wenn φ/2 ein ganzzahliges Vielfaches n
von π ist, also wenn φ/2=n π und φ=n⋅2 π (9.23) mit n∈ℕ ist.
Diesen Extremfall nennt man konstruktive Interferenz. Der andere
Extremfall liegt vor, wenn die Amplitude null ist. Das geschieht,
wenn wenn φ/2 ein ungerades ganzzahliges Vielfaches von π/2 ist,
also wenn φ/2=(2 n+1)π/2 und somit φ=(2 n+1)π (9.24) gilt.
Diesen Extremfall nennt man destruktive Interferenz. Für alle
anderen Werte von φ liegt die Amplitude dazwischen.
Wir bestimmen jetzt, um welchen Wert Δs zwei Wellen räumlich
gegeneinander versetzt sein müssen, damit sie konstruktive oder
Phase
0
2π
4π
destruktive Interferenz zeigen. Diesen Versatz Δs nennt man Gangunterschied. Wenn sie genau um eine Wellenlänge λ versetzt sind, ist Abb. 9.22: Interferenz zweier
ihre Phasenverschiebung φ=2 π . Wenn φ kleiner ist, bestimmen Wellen
Seite 181
φ
λ Δs
wir den Gangunterschied Δs aus dem Verhältnis 2 π = φ ⇒ Δ s= 2 π λ . Einsetzten von (9.23)
und (9.24) liefert
konstruktive Interferenz bei einem Gangunterschied von Δ s=n λ
destruktive Interferenz bei einem Gangunterschied von Δ s=( 2 n+1) λ /2
(9.25),
(9.26).
Für die Berechnung von Interferenzerscheinungen genügt häufig die Bestimmung des Gangunterschiedes Δs. Wenn zwei Wellen mit gleicher Phase an unterschiedlichen Orten loslaufen und sich an
einem entfernten Ort treffen, ist ihr Gangunterschied einfach durch die unterschiedliche Weglänge
gegeben. Zur Berechnung von Interferenzerscheinungen müssen wir deshalb häufig nur Weglängen
vergleichen. Das schauen wir uns an zwei Beispielen aus der Optik an.
9.8.2.1 Verwandte: Beugung und Interferenz
Vorher wollen wir aber noch zwei Begriffe sauber gegeneinander
Abgrenzen, die eng miteinander verbunden sind: Beugung und
Interferenz. Wenn wir von Interferenz sprechen, sprechen wir über
Amplituden und Intensitäten. Wenn wir von Beugung sprechen, sprechen
wir über Ausbreitungsrichtungen. Oft suchen wir nur die Richtungen, in
denen konstruktive oder destruktive Interferenz auftritt. In diesem Fall
betrachten wir also die Beugung. Die genaue Intensitätsverteilung, also
die Interferenz, betrachten wir quantitativ erst im nächsten Semester. Die Abb. 9.23: Unterschied
Beugungsrichtungen geben wir in der Regel durch den Winkel zur von Beugung und Interursprünglichen Richtung der Wellen an. Beide Phänomene gemeinsam ferenz
bewirken eine Umverteilung der Intensität und damit der Energie der Welle im Raum. Irgendwo
wird durch destruktive Interferenz Intensität weggenommen und durch konstruktive Interferenz
woanders hingetragen. Beide Interferenzen treten immer gemeinsam auf. Die Energie der Welle
bleibt bei allen Interferenzerscheinungen erhalten.
Beugung tritt immer auf, wenn wir eine Welle irgendwie beschneiden, indem wir ihren Ausbreitungsraum einschränken. Der Raum, auf den sie bei gradliniger Ausbreitung beschränkt sein
sollte, nennen wir hilfsweise den „Lichtraum“. Der Raum, in den sie bei gradliniger Ausbreitung
nicht laufen sollte, nennen wir hilfsweise den „Schattenraum“.
Beugung ist die Ablenkung einer Welle in den „Schattenraum“. Beugung beschreibt die Richtungsänderung.
Interferenz liefert die resultierende Amplitude bzw. Intensität. Energie wird dabei räumlich
umverteilt!
Experiment Interferenz und Beugung am Spalt, Doppelspalt und Gitter: Wenn
man einfarbiges Licht eines Lasers auf einen schmalen Spalt schickt, sieht man auf
einem Schirm in großer Entfernung hinter dem Spalt kein scharfes Bild des Spaltes,
sondern eine Intensitätsverteilung mit einem breiten Maximum in der Mitte und
nach außen abnehmenden Nebenmaxima. Diese Verteilung wird umso mehr in die
Breite gezogen, je schmaler man den Spalt macht. Wenn man zwei identische
Spalte beleuchtet, entstehen zusätzlich dunkle Streifen. Wird die Anzahl der Spalte
erhöht, werden die hellen Bereiche schmaler, bleiben aber am gleichen Ort. Das
zeigt: Licht ist eine Welle und wird in den Schattenraum gebeugt. Durch Interferenz
wird Intensität umverteilt. (Das die hellen Streifen umso heller werden, je breiter
die dunklen Bereiche werden, kann man mit dem bloßen Auge nicht sehen, sondern
nur durch eine Messung der Intensität zeigen.)
Seite 182
Diese Phänomene werden wir jetzt quantitativ anschauen und uns dabei auf die Beugung
beschränken. Wir suchen also die Richtungen, unter denen die Intensitätsmaxima und Minima
liegen.
9.8.2.2 Beugung an zwei und mehr Spalten
In unserer Modellvorstellung nehmen wir zuerst ein Gitter mit
einer großen Zahl von Spalten an und picken uns gedanklich
zwei benachbarte Spalte heraus. Wir lassen eine ebene Welle
darauf treffen. Beim Auftreffen schaltet sie simultan in allen
Spalten identische Elementarwellen gleicher Amplitude an. Die
Spalte bilden also in gleichem Abstand stehende synchron
laufende Quellen von Kugelwellen. Das Anschalten dieser
Quellen ist der Startschuss für einen ungerechten Wettlauf mit
bekanntem Ausgang: Betrachten wir einen beliebigen Ort r, so
wird diejenige Welle dort zuerst ankommen, die dahin den
kürzesten Weg hat, denn alle Wellen laufen gleich schnell. Der
Wegunterschied zweier Wellen zu einem Ort r ist der Gangunterschied Δs, der die Art der Interferenz − d. h. ob konstruktiv oder Abb. 9.24: Modell zur Beugung
destruktiv − bestimmt. Das A und O ist es, die Wegunterschiede am Gitter
zu bestimmen, um die Richtungen der Maxima und Minima zu finden. Die höhere Schule ist es
dann, dazu auch noch die Intensitätsverteilungen auszurechnen.
Soweit das Grundmodell, nun werden wir konkret. Die Laufrichtung der Welle deuten wir durch
Strahlen an. Wir betrachten einen Ort r sehr weit weg von den Spalten. Dort nähern wir die
Elementarwellen als ebene Wellen und diesen Fall nennen wir Fraunhofer-Beugung. Jetzt gibt es
eine Komplikation: In der Nähe der Spalte betrachten wir zwei Strahlen, die an unterschiedlichen
Orten in die gleiche Richtung − also parallel − loslaufen. Sehr weit weg wollen wir die Wellen
dagegen am selben Ort betrachten. Zeichnerisch bauen wir eine Unterbrechung ein, die das „sehr
weit weg“ andeutet. Parallele Strahlen sind aber nie am selben Ort. Deshalb werden die Strahlen in
vielen Büchern tatsächlich sich schneidend gezeichnet, wodurch dann aber die Winkelbeziehungen
nicht mehr stimmen. Dieses Dilemma ist eigentlich unnötig und löst sich sofort auf, wenn man sich
erinnert, dass ein Strahl ja nur eine gedankliche Idealisierung ist, die die Richtung der Welle angibt.
Eine Welle ist aber etwas Ausgedehntes und die Wellenfronten durchdringen sich. Wir deuten
deshalb einfach auch sehr weit weg die Wellenfronten an und lassen die Strahlen parallel.
Wie bestimmt man nun den Wegunterschied von zwei solchen Wellen? Man nimmt die Welle, die
näher an r liegt, und zeichnet durch ihren Quelle eine ebene Wellenfront, also die Senkrechte zu
ihrem Strahl. Diese Senkrechte muss den Strahl der zweiten Welle schneiden. Die Strecke zwischen
diesem Schnittpunkt und der Quelle der zweiten Welle ergibt den Wegunterschied Δs. Nun müssen
wir noch die Geometrie analysieren und Δs durch gegebene Größen ausdrücken. Für einen
Doppelspalt mit dem Spaltabstand d finden wir: Δs=d⋅sin(α) . Für konstruktive Interferenz muss
das ein ganzzahliges Vielfaches von λ sein Δ s=n⋅λ , für die Minima Δ s=( 2 n+1)⋅λ /2 .
Zusammen ergibt das die
λ
Richtungen der Maxima bei synchronen Quellen im Abstand d: sin(αn )=n d
(9.27),
1 λ
Richtungen der Minima bei synchronen Quellen im Abstand d : sin(αn )=( n+ )
(9.28),
2 d
mit der Beugungsordnung n∈ℕ .
Seite 183
Die Gleichungen gelten nicht nur für Spalte und Gitter in der Optik, sondern universell für eine beliebige Anzahl synchroner Punktquellen, z. B.
auch für Wasserwellen. Bevor wir weitergehen, machen wir uns noch klar,
dass ein Maximum oder Minimum nicht nur am Ort r, sondern überall
entlang der durch α gegebenen Richtung vorliegt. Beides zeigt Abb. 9.25.
Um vom Doppelspalt zu einer beliebigen Anzahl von Spalten (Gitter) zu
kommen, wählen wir jetzt beliebige andere nebeneinanderliegende Spalte
in Abb. 9.24 und finden natürlich das gleicher Ergebnis. Alle Paare
erzeugen in die gleichen Richtungen Maxima, deren Winkel ändern sich
nicht. Nun betrachten wir ein Paar, zwischen dem ein anderer Spalt liegt:
Wenn der Gangunterschied zum Nachbarspalt gleich λ ist, ist er zum übernächsten Nachbarn 2λ, also auch wieder konstruktive Interferenz. Das Abb. 9.25: Alle Wellen
können wir beliebig weiterspinnen und stellen fest: Die Wellen aller Spalte verhalten sich gleich.
interferieren in der gleichen Richtung konstruktiv. Je nachdem, wie viele Spalte zwischen einem
Paar sind, ist der Gangunterschied ein entsprechend höheres, aber immer ganzzahliges Vielfaches
von λ. Damit erklärt unsere Modellvorstellung, unter welchen Richtungen die Maxima bei Doppelspalt und Gitter auftreten und dass die Richtungen der Maxima unabhängig von der Zahl der Spalte
sind. Außerdem steuern zu allen Maxima alle Spalte ihre Elementarwelle bei. Das erklärt, warum
die Intensität eines Maximums mit der Spaltzahl zunimmt. Es führt aber gleichzeitig dazu, dass alle
Maxima gleich intensiv sein sollten. Das haben wir im Experiment nicht gesehen. Statt dessen sind
die Intensitäten der Maxima durch die Intensität der Beugung am einzelnen Spalt vorgegeben. Um
das zu verstehen, betrachten wir jetzt den einzelnen Spalt.
9.8.2.3 Beugung am einzelnen Spalt
Der einzelne Spalt ist seltsamerweise komplizierter als mehrere Spalte. Zuerst
könnte man meinen, dass von einem Spalt auch nur eine Elementarwelle
ausgeht. Das würde zwar das Auftreten der Beugung grundsätzlich erklären,
aber die Intensität wäre nicht vom Winkel abhängig und diese Modellvorstellung passt nicht zum experimentellen Ergebnis. Sie muss also falsch sein.
Die richtige Modellvorstellung zeigt Abb. 9.27. Tatsächlich müssen wir uns Abb. 9.26: Falsche
jetzt des erste Mal den leeren Raum innerhalb des Spaltes als Quelle von Modellvorstellung
unendlich vielen unendlich dichten Elementarwellen vorstellen. Zu den unendlich vielen unendlich dichten Elementarwellen gehören auch unendlich viele unendlich dichte Strahlen.
Von diesen unendlich vielen Strahlen betrachten wir jetzt
wieder alle, die in die gleiche Richtung unter dem gleichen
Winkel α, also parallel loslaufen. Diese Strahlen bilden ein
paralleles Strahlenbündel. Der Trick ist nun, dass man dieses
Strahlenbündel in eine kleine Zahl von Teilbündeln zerlegt.
Aus jedem Teilbündel greift man sich einen Strahl heraus und
betrachtet die Interferenz paarweise. Dazu gleich ein konkretes
Beispiel: Wir zerlegen das Strahlenbündel in zwei gleiche
Teilbündel und greifen uns aus jedem Bündel den obersten Abb. 9.27: Richtiges Modell
Strahl heraus, also 1 und 2 in Abb. 9.28. Ihr Gangunterschied ist dann Δs=b/ 2⋅sin (α) . Wenn jetzt
Δs=λ / 2 ist, löschen sich die Strahlen aus. Das Gleiche gilt für jedes nach unten versetzte
Strahlenpaar, also z.B. auch für das gepunktete mittlere Paar 1' und 2'. Deshalb löschen sich die
beiden Teilbündel gegenseitig vollständig aus. In Richtung α liegt also ein Interferenzminimum und
wir finden den Winkel durch Δs=b / 2⋅sin (α)=λ / 2 ⇒ sin(α)=λ / b .
Seite 184
Wo liegen die anderen Minima und wo die Maxima? Wir
könnten nun folgenden Fehler begehen und argumentieren:
„Na, wenn Δs=n⋅λ ist, muss doch ein Maximum vorliegen,
denn dann haben wir konstruktive Interferenz zwischen den
Teilbündeln“. Das ist leider falsch, denn dann ist der Gangunterschied zwischen Strahl 1 und 1' ebenso wie zwischen 2
und 2' wieder λ/2, das heißt, nun löschen sich die Strahlen
innerhalb eines Bündels aus. Und die konstruktive Interferenz
zwischen den Bündeln ist bedeutungslos, denn zweimal nix ist
wieder nix. Die gleiche Argumentation gilt für jedes Vielfache
n∙λ/2. Wir müssen gedanklich dann immer unser Strahlenbündel in 2n Teilbündel zerlegen, also eine gerade Anzahl, die Abb. 9.28: Zur Beugung am Spalt
sich dann paarweise auslöschen. Und da Δs ' =2⋅Δs=b⋅sin(α) ist, finden wir daraus die
Beugungsrichtung der Minima: 2⋅Δs=b⋅sin (α)=2⋅n⋅λ/ 2 ⇒ sin(α)=n⋅λ /b .
Wenn Sie das nachvollziehen konnten sind die Richtungen der
Maxima für Sie nun ein Kinderspiel. Damit Intensität überbleiben kann, brauchen wir eine ungerade Zahl von Teilbündeln. Die bekommen wir, wenn Δs' ein ungradzahliges Vielfaches von λ/2 ist. Dann löschen sich immer alle Teilbündel bis
auf eines paarweise aus. Abb. 9.29 zeigt das am Beispiel dreier
Teilbündel: Wenn Δs' = 3/2 λ ist, dann ist Δs = λ/2 und Strahl 1
und 2 und Bündel 1 und 2 löschen sich aus, Bündel 3 bleibt
über. Daraus finden wir sofort die Richtung der Maxima
Δs ' =b⋅sin (α)=(2 n+1)⋅λ / 2 ⇒ sin(α)=(n+1/ 2)⋅λ / b . Und
wir verstehen auch sofort, warum ihre Intensität so gering ist
und sehr schnell abnimmt, denn ein Großteil der Intensität Abb. 9.29: Zur Beugung am Spalt
interferiert sich weg.
Jetzt können wir abschließend auch die Intensitäten betrachten und
verstehen, warum die Intensitätsverteilung des einzelnen Spaltes
auch bei mehreren Spalten die Intensität der Maxima vorgibt. Die
Argumentation kennen wir im Grunde schon: Setzen wir uns gedanklich in die Spalte hinein, dann liefert jeder der einzelnen Spalte
in der gleichen Richtung seine Beugungsmaxima und -minima.
Wenn ein Beugungsminimum des einzelnen Spaltes vorliegt, nützt
es nichts, wenn für diese Richtung ein Interferenzmaximum des
Doppelspalts vorliegt: nix plus nix ist immer noch nix, es bleibt
dunkel. Aus dem gleichen Grund gibt die Beugung des Einzelspalts
für alle Richtungen die Intensität vor: Es kann sich nur die Intensität Abb. 9.30: Überlagerung von
überlagern, die pro Spalt in diese Richtung geschickt wird.
Beugung und Interferenz
Wir fassen zusammen: Zur Erklärung der Beugung an Spalten und Gittern nehmen wir an, dass
innerhalb der Spalte simultan kugelförmige Elementarwellen erzeugt werden. Weit weg von den
Spalten nähern wir diese als ebene Wellen an. Die Intensität in einer bestimmten Richtung wird
dadurch bestimmt, welchen Gangunterschied zwei in diese Richtung laufende Wellen haben. Die
Richtung der Beugungsmaxima und- minima drücken wir durch den Winkel α zur Senkrechten aus.
Einen einzelnen Spalt behandeln wir wie ein Gitter aus unendlich vielen unendlich schmalen
Spalten.
Seite 185
9.9 Wellen in Bewegung: Doppler-Effekt
Sicher ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Sie − auch ohne es zu sehen −
wissen, ob ein Auto oder Krankenwagen sich nähert oder wegfährt. Tatsächlich kann man den Unterschied hören und der physikalische Hintergrund des
Phänomens ist der Doppler-Effekt. Denn bewegte Quellen senden in Vorwärtsrichtung kürzere und in Rückwärtsrichtung längere Wellen aus. Und
weil die Geschwindigkeit der Welle gleich bleibt, hören Sie einen höheren
oder tieferen Ton, je nach Bewegungsrichtung. Ähnlich ist es, wenn Sie sich
relativ zu einer Wellenquelle bewegen. Nun schlägt die Galilei-Transfor- Abb. 9.31: Eine Welmation zu: Bewegen Sie sich auf die Quelle zu, erscheint Ihnen die lenquelle, die sich
Geschwindigkeit der Welle größer, bewegen Sie sich von ihr weg, erscheint nach links bewegt.
sie Ihnen langsamer. Weil die Wellenlänge dabei gleich bleibt, nehmen Sie eine größere bzw.
kleinere Frequenz wahr, je nach Bewegungsrichtung. Wir drücken diese Erkenntnisse jetzt
mathematisch aus und nehmen an, Quelle und Sender bewegen sich für ein positives vS bzw. vE
aufeinander zu. Der Sendergrößen bekommen den Index S und Empfängergrößen den Index E: Wenn
sich die Quelle zwischen der Aussendung zweier Maxima mit vS fortbewegt, erscheint die
Wellenlänge um die Strecke vST kürzer. Daraus erhalten wir für die bewegte Quelle:
λ E =λ S−v S T ⇒
v
v
fS
c
c
1
1
= − S ⇒
= (1− S ) ⇒ f E=
.
fE fS fS
fE fS
c
(1−v S /c )
Wenn sich der Empfänger mit vE auf die Quelle zubewegt, sieht er die Phasengeschwindigkeit c + vE
bei unveränderter Wellenlänge. Daraus erhalten wir für den bewegten Sender:
v
v
v
1
1
(c +v E )T E =c T S ⇒ (1+ E )c T E=c T S ⇒
( 1+ E )=
⇒ f E = f S (1+ E ) .
c
fE
c
fS
c
Wenn wir beides zusammen nehmen, ergibt sich für die Frequenz bei einer beliebigen Relativbewegung der allgemeine Ausdruck für den
Doppler-Effekt: f E = f S
(c+v E )
(c−v S )
(9.29)
Der Doppler-Effekt hat viele Anwendungen. Mit seiner Hilfe kann man z. B. die Strömungsgeschwindigkeit von Blut in den Adern messen, auf ihm basieren Geschwindigkeitsmessungen in
Radarfallen der Polizei und vieles mehr. Mit seiner Hilfe lassen sich auch die Geschwindigkeiten
weit entfernter Sterne oder von Atomen und Molekülen in der Atmosphäre messen, denn er gilt in
ähnlicher Form46 auch für Lichtwellen.
Was geschieht, wenn sich eine Quelle
α
schneller bewegt, als ihre Welle? Dann
ct
reihen sich ihre Wellen hinter ihr wie eine
vt
Perlenschnur auf, wobei ältere Wellen
sich bereits weiter ausgedehnt haben als
v=0
v<c
v=c
v>c
jüngere. Dadurch entsteht als einhüllende
Wellenfront ein Kegel, den man Mach- Abb. 9.32: Entstehung des Mach-Kegels mit zunehmenKegel nennt. Den halben Öffnungswinkel der Geschwindigkeit.
c 1
α des Mach-Kegels kann man aus Abb. 9.32 ablesen: sin α= =
mit der Machzahl M = v/c.
v M
46
Bei Lichtwellen gilt die Galileo-Transformation nicht. Mit v = vE − vS und es ergibt sich f E = f S
√
(c+v)
.
(c−v)
Seite 186
Wenn Flugzeuge schneller als die Schallgeschwindigkeit fliegen, ziehen
sie so einen Mach-Kegel hinter sich her. Trifft die Einhüllende des
Kegels unser Ohr, nehmen wir das als Kall war und sagen: „Das Flugzeug hat die Schallmauer durchbrochen“. Bei hoher Luftfeuchtigkeit
kann die Spitze des Machschen Kegels als Wolkenscheibe sichtbar werden (Wolkenscheiben-Effekt). In der Wellenfront der Spitze ist die Luft
verdichtet, es herrscht hoher Druck. Unmittelbar hinter der Front herrscht
ein ähnlich starker Unterdruck. Die Luft expandiert vom Überdruck- in Abb. 9.33: Wolkenscheiden Unterdruckbereich. Dadurch kühlt sie ab. Als Folge kondensiert beneffekt
Wasserdampf zu kleinen Tröpfchen, die als Nebelwand sichtbar sind. Hinter der Spitze bei einem
größeren Kegeldurchmesser normalisiert sich alles wieder und der Nebel löst sich auf. Es entsteht
der Eindruck, als sei am Flugzeug eine kegelförmige Wolke befestigt.
Auch Schiffe fahren häufig schneller als die Geschwindigkeit der Wasserwelle. Die keilförmige
Heckwelle ist jedoch nicht als Mach-Kegel interpretierbar, sondern hat andere Ursachen. Das zeigt
schon allein die Tatsache, dass ihr Öffnungswinkel − anders als beim Mach-Kegel − nicht von der
Geschwindigkeit des Bootes anhängt.
9.10 Zusammenfassung
Damit schließen wir das Kapitel Wellen ab. Ich habe versucht, Ihnen zu zeigen, dass man zum
Verständnis des Phänomens „Welle“ die Basismodelle „harmonische Schwingung“ und „Arbeit“
richtig zusammensetzen muss. Wir haben verschiedene Beispiele für Wellen kennengelernt. Zur
mathematischen Beschreibung haben wir die komplexe Schreibweise angewendet. Und wir haben
gesehen, dass mit Wellen eine Vielzahl von Phänomenen verbunden sind. Viele davon werden uns
in der Optik und in der Quantenmechanik wieder begegnen. Dann werden wir lernen, dass wir
Teilchen als Materiewellen auffassen müssen, denn sie benehmen sich so wie die Wellen, die sie in
diesem Kapitel kennengelernt haben. Das bedeutet, sie lassen sich nicht lokalisieren, sie
interferieren miteinander, lassen sich beugen usw. Lassen Sie sich überraschen.
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
9.1) Welche Frequenz f hat eine Schallwelle, wenn λ = 0,34 m und die Schallgeschwindigkeit
c = 340 m/s ist?
9.2) Zeichnen Sie für eine longitudinale Welle ein Bild von unserer Modellvorstellung einer Welle,
d. h. mit Federn, Massen und Auslenkungen analog zu Abb. 9.7 und nennen Sie ein Beispiel für
eine Lonitudinalwelle aus der Natur oder Technik.
9.3) Warum breitet sich in Wasser eine Welle aus, wenn Sie einen Stein hineinwerfen, in Sand aber
nicht?
9.4) Welche Darstellung aus Abb. 9.9 ist geeignet, um
a) eine Schallwelle mit der Frequenz 1 kHz und der Amplitude 10-4 Pa,
b) eine Wasserwelle mit der Amplitude 5 cm und der Wellenlänge 10 cm,
c) eine stehende Seilwelle mit der Wellenlänge 1m und der Amplitude 5 cm zu verdeutlichen?
9.5) Kann eine Lichtwelle mit λ = 600 nm und c = 3∙108 m/s eine Frequenz von ν = 5 THz haben?
9.6) Eine Seilwelle sei gegeben durch y (x ,t)=0,3 m⋅cos(15,7 m−1⋅x−31,4 s−1⋅t) .
Seite 187
a) In welche Koordinatenrichtung läuft die Welle? Wie nennt man die als Zahlenwerte gegebenen
Größen vor x und vor t und welche Formelzeichen haben sie üblicherweise? Welche Amplitude A,
Wellenlänge λ und Periodendauer T hat die Welle?
b) Wie lautet y(x,t) in komplexer Schreibweise?
c) Mit welcher Geschwindigkeit c bewegt sich die Welle?
d) Welchen Wert hat die Auslenkung der Welle zur Zeit t = 1,25 s am Ort x = 0,7 m? Handelt es
sich um eine Transversal- oder eine Longitudinalwelle? Das Seil habe die Länge L und sei an
beiden Enden festgebunden. Es werde nun mit passender Frequenz eine Seilwelle mit der Wellenlänge λ = 2/3 L erzeugt. Was für eine Art Welle entsteht? Skizzieren Sie sie!
9.7) Schreiben Sie die Gleichung Y(x,t) für eine in die negative x-Richtung laufende sinusförmige
Welle der Amplitude A = 0,010 m, Frequenz f = 500Hz und Geschwindigkeit c = 330 m/s auf.
9.8) Zwei sinusförmige Wellen mit identischen Wellenlängen und Amplituden laufen mit einer
Geschwindigkeit von 10 cm/s in entgegengesetzte Richtungen entlang eines Seils. Angenommen,
das Zeitintervall zwischen zwei Momenten, in denen das Seil flach ist, beträgt 0,50 s. Welche
Wellenlänge haben die Wellen?
9.9) Rechts ist ein auf einer Seite offenes Glasrohr
der Länge l gezeichnet, in das mit einem Lautsprecher Schallwellen mit der Frequenz f0 der
Grundwelle eingekoppelt werden. Betrachten Sie
die Geschwindigkeitswelle.
l
a) Zeichnen Sie die Auslenkung der Grundwelle dieses Rohrs in die Abbildung ein.
b) Welche Wellenlänge λ0 in Einheiten von l hat die Grundwelle des Rohrs?
c) Was trifft zu, wenn die Frequenz des Lautsprechers von f0 auf 1,1∙ f0 vergrößert wird?
Die Wellenlänge der Schallwelle
Die Schallgeschwindigkeit
Die Lautstärke des hörbaren Tons
○ nimmt zu
○ nimmt zu
○ nimmt zu
○ nimmt ab
○ nimmt ab
○ nimmt ab
○ bleibt gleich
○ bleibt gleich
○ bleibt gleich
d) Betrachten Sie nun die Schallwelle innerhalb des Rohrs genauer. Was liegt bei einer externen
Anregung durch den Lautsprecher mit der Frequenz f0 der Grundwelle vor? (Mehrere richtige
Antworten sind möglich !)
○ links eine Reflexion am offenen Ende
○ zwei gegenläufige Wellen
○ am rechten Ende des Rohrs ein Druckbauch
○ konstruktive Interferenz
e) Welche Frequenzen haben die Grundwelle, die erste Oberwelle und die fünfte Oberwelle, wenn
das Rohr die Länge l = 66 cm hat? Die Schallgeschwindigkeit ist c = 330 m/s.
9.10) Eine sinusförmige Welle der Frequenz f = 500 Hz habe eine Geschwindigkeit von c = 350
m/s. Welchen Abstand Δx haben zwei Punkte der Welle, die sich zu einem festen Zeitpunkt t in der
Phase um π/3 rad unterscheiden? Welche Phasendifferenz Δφ besteht zwischen zwei Auslenkungen
an einem festen Ort x im zeitlichen Abstand von 1,00 ms?
9.11) In welche Richtung bewegt sich die Welle Y (x , t)=A cos(ω t−k⋅x +ϕ 0 ) ? Wie lautet sie in
komplexer Schreibweise? Unterscheidet sich ihr Real- oder ihr Imaginärteil von der Welle
i (k x−ωt −ϕ )
?
Ỹ (x , t)=A e
0
Seite 188
10 Weg mit dem Starrsinn: Flummis und Fluide
Bisher haben wir als Modellvorstellung für reale Körper den Massepunkt und den starren Körper
kennengelernt. Beide Modelle sind Idealisierungen, die oft, aber nicht immer anwendbar sind. Wann
sind sie nicht anwendbar?
1. Wenn die Deformation eines Körpers aufgrund von Kräften nicht mehr vernachlässigbar ist oder
wir uns gerade dafür interessieren. Dann benötigen wir das Modell des elastischen Körpers.
2. Wenn wir flüssige oder gasförmige, mehr oder weniger scharf abgegrenzte Objekte wie Gase,
Dämpfe oder Flüssigkeiten beschreiben wollen. Dann benötigen wir eines der Modelle für Fluide.
Können wir die bisher gelernten Methoden und Konzepte auf diese neuen Körpermodelle weiterhin
anwenden? Die Antwort ist: Natürlich! Die Physik ist modular aufgebaut, ihre grundlegenden
Methoden und Konzepte sind auf alle Modelle für Teilchen und Körper anwendbar. Wir können und
werden sie - angepasst an die neuen Modelle - mit Hilfe der neuen Größen Druck = Kraft pro Fläche
und Dichte = Masse pro Volumen (siehe Kap. 4.10.5, (4.53)) lediglich etwas geeigneter verpacken.
Wir beginnen mit den elastischen Körpern und wenden uns danach den Fluiden zu. Welche
mikroskopische Modellvorstellung steckt hinter diesen verschiedenen Arten von Körpern? Die
Unterschiede liegen darin, wie die Teilchen des Körpers, die Atome oder Moleküle, miteinander
verbunden sind und in welchem Abstand sie vorliegen. Die Kräfte, die zwischen den
Materieteilchen wirken, basieren immer auf der Coulomb-Kraft. Dennoch können sie stark
variieren, je nachdem, ob die Teilchen geladen oder neutral sind, ein Dipolmoment aufweisen oder
mehr oder weniger stark polarisierbar sind.
Beim starren Körper symbolisieren wir die Kraft
zwischen den Teilchen modellhaft durch starre
Stangen. Beim elastischen Körper symbolisieren wir
die Kraft zwischen den Teilchen dagegen modellhaft
durch Federn. Bei einem Fluid sind die Teilchen
nicht verbunden, sondern gegeneinander frei
beweglich. Sie beeinflussen sich gegenseitig nur Abb. 10.1: Mikroskopische Modellvorstellundurch Stöße. In einer Flüssigkeit sind sie dicht gen starrer, elastischer und fluider Körpers
gepackt und in einem Gas haben sie einen großen Abstand und berühren sich nur beim Stoß.
10.1 Elastische Körper
Wenn Objekte durch äußere Kräfte nicht nur beschleunigt, sondern auch verformt werden, sind es
ihre elastischen Eigenschaften, also die Eigenschaften der ihre Teilchen verbindenden Kräfte, die
das Ausmaß der Deformation bestimmen. Reale Deformationen können vielfältig und unübersichtlich sein, wie zum Beispiel die Verformung eines Autos beim Frontalzusammenstoß mit einer
Wand. Sie können dauerhaft (Beule im Auto) und reversibel (Dehnung eines Gummibandes) sein.
Wir beschränken uns auf einfache reversible Deformationen und führen auch hier einfache,
idealisierte Modelle ein: Jeden beliebig geformten Körper können wir uns aus (differentiell) kleinen
Teilen zusammengesetzt denken, z. B. kleinen Würfeln. Wenn wir die Deformation jedes Würfels
berechnen können und sie dann wieder zusammensetzen, haben wir die Deformation des gesamten
Körpers. Für die Verformung eines solchen Würfels aufgrund von äußeren Kräften führen wir die
einfachen Modelle Dehnung, Scherung und Kompression ein. Beliebig komplizierte reale
Verformungen können wir so - ala „Divide et Impera“ - zumindest näherungsweise beherrschen.
Seite 189
10.1.1
Verformung
Zuerst betrachten wir die Dehnung eines Köpers und ein einfaches Zugexperiment, bevor wir in die
Details gehen.
Zugexperiment Eine Feder der Länge L wird an einem Stativ aufgehängt und daran ein Gewicht
der Masse m gehängt. Die Auslenkung ΔL der Feder wird gemessen. Nun wird eine zweite
identische Feder daneben gehängt, und das Gewicht an beide Federn gehängt. Die Auslenkung
beider Federn ist nun nur noch ΔL/2. Schließlich werden beide Federn aneinandergehängt und die
untere Feder mit dem Gewicht belastet. Die gemeinsame Auslenkung beider Federn ist nun 2ΔL.
Das zeigt: Bei parallelen Federn verteilt sich die Kraft auf beide Federn. Bei aneinandergehängten
Federn wird die Kraft weitergeleitet.
Für die quantitative Berechnung der Dehnung nehmen
F
F A F
wir an, dass die Kräfte zwischen den Teilchen wie
2A
2F
Federn dem Hookeschen Gesetz folgen. Das bedeutet,
wenn wir die Kraft auf eine Feder verdoppeln, verdop2L
L
pelt sich die Auslenkung der Feder. Allerdings muss die
makroskopische Kraft nicht nur eine, sondern viele
–2F
–F
–F
–F
Federn simultan auslenken. Für die Dehnung ist deshalb
2ΔL
ΔL
1/2ΔL
ΔL
nicht allein die äußere Kraft ausschlaggebend, sondern
auch, wie viele Federn sie nebeneinander und hinter- Abb. 10.2: Einfluss von Fläche und
einander auslenken muss. Dazu betrachten wir als ein- Länge auf die Dehnung eines Körpers
faches Modell einen Würfel der Querschnittsfläche A und der Kantenlänge L, an dessen Stirnflächen
die Kraft F angreift. Die Anzahl der parallel ausgelenkten Federn ist abhängig von der Fläche A, an
der F angreift. Die Anzahl der hintereinander ausgelenken Federn ist eine Frage der Länge L.
Verdoppeln wir bei gleichbleibender Kraft F die Fläche A und damit die Anzahl der parallelen
Federn, dann wirkt auf jede Feder nur noch die halbe Kraft und die Auslenkung halbiert sich. Für
die Auslenkung gilt also Δ L ~ F / A . Verdoppeln wir die Länge des Würfels, dann wirkt die gleiche
Kraft auf doppelt so viele hintereinanderhängende Federn und die Auslenkung verdoppelt sich:
Δ L ~ L⋅F / A . Diese geometrischen Effekte können wir eliminieren, indem wir die relative
Längenänderung ΔL/L in abhängig von der Kraft pro Angriffsfläche F/A angeben: Δ L/ L ~ F / A ,
denn diese Größe hängt nicht mehr von der Geometrie ab. Der Quotient F/A ist also proportional
zur relativen Dehnung und die Proportionalitätskonstante nennt man Elastizitätsmodul E. E ist eine
Materialkonstante. Analog nennt man die Konstanten der übrigen Verformungen Module. Alle
haben die Einheit N/m2. Entsprechend den drei Verformungen definieren wir das Elastizitätsmodul
E, das Schermodul G und das Kompressionsmodul K. Wir unterscheiden folgende Verformungen:
Bei einer Dehnung greifen Zugkräfte entA
F
Δx
ΔV F
lang einer Achse an und verursachen eine
F
Längenänderung ΔL entlang dieser Achse.
F
F
L
L+ΔL
Bei Druck- statt Zugkräften erfolg eine
F
ΔL
F
Stauchung: =E
(10.1).
F
A
L
F
a)
b)
c)
F
Bei einer Scherung greifen die Kräfte
parallel zu gegenüberliegenden Flächen Abb. 10.3: a) Dehnung, b) Scherung, c) Kompression
F
Δx
an und verzerren den Würfel um Δx: =G
(10.2).
A
L
Bei einer Kompression wirken allseitig Druckkräfte und bewirken eine Volumenänderung um ΔV.
ΔV
Bei allseitigen Zugkräften erfolgt eine Expansion: p=−K
(10.3).
V
Seite 190
10.1.2
Mechanische Spannung und Spannungstensor
Wir haben erkannt, dass für die mechanische Verformungen die Kraft pro Fläche ausschlaggebend
ist. Wir führen deshalb diesen Quotient als neue Größe ein und nennen sie
F
die mechanische Spannung s=
(10.4), [s] = Pa =N/m2
A
bzw. kurz Spannung, wenn eine Verwechslung mit der elektrischen Spannung ausgeschlossen ist.
Sie hat die selbe Einheit wie der Druck (Pascal), ist aber nicht mit ihm identisch. Die mechanische
Spannung s ist ebenso wie der Druck p kein Vektor!
Tatsächlich ist sie ein Tensor, (dargestellt durch eine Matrix) und
(10.4) definiert eine Komponente dieser Matrix. Der Druck p ist
ein Spezialfall der mechanischen Spannung s. Eine Spannung
wird auch erzeugt, wenn eine Kraft parallel zu einer Fläche
angreift, ein Druck dagegen nicht. Der Begriff Spannung kommt
aus der Kontinuumsmechanik. Darin beschreibt man die innerhalb
eines Körpers wirkenden Kräfte mit Hilfe des mechanischen
σ xx τ xy τ xz
Spannungstensors ̂s = τ yx σ yy τ yz
(10.5).
τ zx τ zy σ zz
(
A
)
z
σz
τzx
τxz
F
τzy τ
yz
τyx
τxy
σx
σy
y
Wenn man einen kleinen würfelförmigen Ausschnitt eines Körpers x
betrachtet, dann übt die übrige Materie auf die Würfelflächen Abb. 10.4: Die Komponenten
Kräfte aus. Für jede Fläche kann man die auf sie wirkende Kraft in des mechanischen Spannungseine Normalkomponente σ (senkrecht zur Fläche) und zwei tensors
Parallelkomponenten τ zerlegen, wie in Abb. 10.4 an der oberen Fläche exemplarisch gezeigt. Die
Normalkomponenten σ erzeugen die Zug- oder Druckspannungen, zu denen sich der bereits
bekannte Druck p addieren kann. Die Tangentialkomponenten τ erzeugen dagegen Scherspannungen. Da wir reine Verformungen betrachten und der Würfel im Köper ruht, muss die Summe aller
Kräfte und Drehmomente auf ihn verschwinden. Diese Forderung führt (ohne das wir es hier
beweisen) zu einer bemerkenswerten Eigenschaft des Spannungstensors: Er ist symmetrisch
bezüglich der Diagonalen, d. h. es gilt τ xy =τ yx , τ xz =τ zx , τ yz =τ zy . Wir benötigen nur sechs Zahlen
(drei Druck- und drei Scherspannungen nach (10.4)), um die Matrix komplett aufzustellen.
⃗ , bekommt man aus
Die Kraft auf eine beliebigen Fläche, ausgedrückt durch ihren Flächenvektor A
dem Spannungstensor nach den Rechenregeln für Matrixmultiplikation („Zeile mal Spalte“) durch
σ xx A x +τ xy A y + τ xz Az
σ xx τ xy τ xz Ax
⃗
⃗
F
=̂
s
⋅
A
=
=
τ yx σ yy τ yz A y
τ yx A x +σ yy A y +τ yz A z (10.6) .
Kraft aus Spannungstensor
τ zx τ zy σ zz A
τ zx Ax +τ zy A y +σ zz Az
z
)(
(
)(
)
Beispiel: Wir erhalten die Kraft auf die obere Würfelfläche (Flächeninhalt A), deren Flächenvektor
τ xz A
τ zx A
σ xx τ xy τ xz 0
⃗
F
=
=
=
⃗
τ yx σ yy τ yz 0
τ yz A
τ zy A .
A= A ⃗e z ist, aus dem Spannungstensor durch
τ zx τ zy σ zz A
σ zz A
σ zz A
(
)( ) (
)( )
Wir werden die „hochspannende“, jedoch schwierige Anwendung des Spannungstensors nicht
weiter vertiefen. Er wurde hier vorgestellt, um den Unterschied zwischen einem Vektor und der
Spannung s nach (10.4) deutlich zu machen. In übersichtlichen Fällen können wir eine Komponente
s der Matrix ̂s , z. B. die Druckspannung in z-Richtung (σzz) durch (10.4) bestimmen.
Seite 191
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
10.1) Eine Feder der Länge L0, der Querschnittsfläche A0 und der Federkonstante D wird so
zusammengedrückt, dass sich ihre Länge halbiert. Mit welcher Kraft wird die Feder
zusammengedrückt? Wie groß ist die Druckspannung entlang der Feder? Wie lautet ihr
Spannungstensor, wenn die Feder in z-Richtung orientiert ist?
10.2) Je ein gleichgroßer Würfel aus Stahl (E = 210 kN/m2), Kautschuk (E = 0,01 kN/m2) und
Beton (E = 30 kN/m2) werden den gleichen Zug- und Druckkräften ausgesetzt. In welchem Würfel
sind die Spannungen am größten? Welcher Würfel wird am stärksten deformiert?
10.3) Ein Seil mit dem Durchmesser d = 6 mm ist horiL
zontal über eine Länge L = 10 m gespannt. Ein Seils
tänzer der Masse m = 75 kg balanciert auf dem Seil.
Wenn er die Mitte des Seils erreicht, ist dieses dort um s = 0,7 m gegen die Befestigungspunkte
eingeknickt. Wie groß ist dann die Zugkraft, die Zugspannung und das Elastizitätsmodul des Seils?
Seite 192
10.2 Fluide
Jetzt beschäftigen wir uns mit der Klasse von Körpern, die wir Fluide nennen. Der Begriff Fluid
umfasst Flüssigkeiten und Gase.
Beispiele: Ozeane, unsere Atmosphäre, unser Blut, Honig, der Wasserdampf eine Wolke, Magma
Welche Eigenschafte hat ein Fluid und was unterscheidet Fluide von anderen Körpern?
Ein Fluid ist eine Substanz, die strömen kann und sich an Begrenzungen anpasst. Formal ist es eine
Substanz, die ihre Atome und Moleküle nicht in einer starren Struktur
anordnet und die keine Scherspannung aushalten kann. Der Spannungstensor in einem ruhenden Fluid enthält keine Diagonalkomponenten. Kräfte stehen immer senkrecht auf ruhenden Fluidoberflächen.
Fluide sind ausgedehnte nichtlokalisierte Objekte, deshalb sind die
Größen Masse und Kraft ungeeignet, um ihre Bewegungen zu
beschreiben. Denn welche Masse sollte man nehmen oder wo sollte
eine Kraft angreifen und wie wird sie in einem Fluid „weitergereicht“?
Darum ersetzen wird die Masse durch die (Massen)Dichte ρ und die Abb. 10.5: Für Fluide sind
Kraft durch den Druck p, denn beide Größen können wir für aus- Masse und Kraft unhandgedehnete Objekte lokal als Eigenschaft eines Punktes angeben und lich.
sie können lokal verschiedenen sein.
Der Druck p ist der Betrag der senkrecht auf einer Fläche stehenden Kraft F pro Flächeninhalt A:
F
p= (10.7), [p] = Pa = N/m2. Er ist ein Skalar und wirkt in alle Richtungen gleich.
A
Die Einheit des Druckes nennen wir Pascal. Der Druck der Luft auf der Erdoberfläche beträgt rund
105 Pa. Veraltete Nicht-SI-Einheiten, die man jedoch immer noch häufig antrifft, sind die
Atmosphäre (atm.), das Bar (bar), das Torr und der Schweredruck einer Quecksilbersäule
bestimmter Höhe (1 atm. ≙ 1,013 mbar ≙ 760 Torr ≙ 760 mmHg ≙ 1,013 ∙ 105 Pa). Der Druck
wirkt allseitig gleich. Das unterscheidet ihn von der Druck- oder Zugspannung, die in verschiedene
−p 0
0
Richtungen verschieden sein kann. Der Spannungstensor eines Fluids ist ̂s Fluid = 0 − p 0 .
0
0 −p
Darin kann p jedoch ortsabhängig p(r) sein. In unserer mikroskopischen Modellvorstellung entsteht
der Druck in Fluiden durch den Impulsübertrag der Atome oder Moleküle bei Kontakt miteinander
oder mit der Wand des Behälters in Form von elastischen Stößen. Bei konstanter Dichte nimmt der
Druck zu, wenn die Teilchen schneller werden. Wenn die Dichte größer wird, nimmt der Druck zu,
weil die Masse der Teilchen oder die Anzahl der Stöße zunimmt.
(
)
Das gilt alles für Flüssigkeiten und Gase. Die beiden unterscheiden sich darin, ob wir das Fluid als
inkompressibel (nicht zusammendrückbar, K = 0) oder kompressibel (zusammendrückbar, K > 0)
annehmen. Inkompressible Fluide sind Flüssigkeiten, kompressible Fluide sind Gase. In einigen
Fällen können wir auch Gase als inkompressibel nähern. Inkompressible Fluide haben den großen
Vorteil, dass sich ihr Volumen V nicht ändert und wie eine Erhaltungsgröße bilanziert werden kann:
Flüssigkeiten:
Gase:
inkompressibel
kompressibel
→ V ist bilanzierbar
→ V ist nicht bilanzierbar
Bei ruhenden Fluiden stehen andere Phänomene im Vordergrund als bei bewegten Fluiden. Wir
beginnen deshalb mit den ruhenden Fluiden und wenden uns dann den strömenden Fluiden zu.
Seite 193
10.2.1
Ruhende Fluide
10.2.1.1 Schweredruck und statischer Druck
Ein Beispiel für ein ruhendes Fluid ist die oft stickige Luft im Hörsaal. Wie viel Luft ist das
eigentlich und was wiegt sie? Welchen Druck übt sie auf uns aus?
Rechenbeispiel: Was wiegt die Luft im Hörsaal?
Das Volumen des Hörsaal ist etwa V ≈ 10,0 m × 20,0 m × 5,00 m = 1000 m³. Die Dichte der Luft ist
am Erdboden ρ = 1,21 kg/m3. Daher enthält der Hörsaal m = ρ ∙ V =1210 kg = 1,21 t Luft. Ihre
Gewichtskraft bewirkt einen Druck auf Boden von p = F/A = mg/A ≈ 1,2 ∙ 103 N/200 m² = 60 Pa.
Der tatsächliche Druck ist um vier Größenordnungen größer (p = 105 Pa). Woran liegt das?
Rechenbeispiel: Höhe der Atmosphäre
Um einen Druck von 105 Pa zu erzeugen, muss mehr Masse über dem Boden des Hörsaals sein, die
Luftsäule also höher sein. Unter der Annahmen einer konstanter Dichte erhalten wir ihre Höhe h
durch p = F /A= ρ A h g/A = ρ h g zu h = p/(ρg) = 105 Pa / (1,2 kg/m3 ∙ 10 m/s2) ≈ 8000 m.
Das Beispiel zeigt: Ruhende Fluide erzeugen durch ihre Gewichtskraft einen Druck. Dieser Druck
ist ortsabhängig und wir nennen ihn Schweredruck. Er nimmt mit zunehmendem Abstand h von der
Oberfläche des Fluids, also mit zunehmender Tiefe zu. Bei konstanter Dichte, also bei inkompressiblen Fluiden, ergibt er sich durch p=ρ g h (10.8). Darin ist h die Höhe der Fluidsäule oberhalb
des Ortes von p. Bei inkompressiblen Fluiden bewirkt ein zusätzlicher Druck p0 auf die Oberfläche
keine Volumenänderung, sondern wird von Teilchen zu Teilchen in das gesamte Fluid übertragen.
Der Gesamtdruck in einem inkompressiblen Fluid in der Tiefe h ist die Summe beider Drücke:
Druck in einem inkompressiblen Fluid konstanter Dichte p (h)= p0+ρ g h (10.9)
Wir können ihn auch statischen Druck nennen. Die Gleichung zeigt uns: Auf gleicher Höhe
herrscht gleicher Druck! Die Form des Behälters ist dafür egal. Der Schweredruck nimmt von oben
nach unten zu und wird allseitig, also auch horizontal übertragen.
Beispiel: Bei gleichem Außendruck p0 ist der Druck in
p0
p0
p0
p0
allen Gefäßen bei gleicher Tiefe h gleich, also auf jeder
h1
horizontalen Linie derselbe.
p1
h2
p2
Diese Erkenntnis wendet man bei Instrumenten zur Messung des Druckes
dV A
= A pds
an, man nennt sie Manometer. Ein einfaches Beispiel ist das U-Rohr0
Manometer. Damit bestimmt man einen unbekannten Druck px aus dem
Höhenunterschied h des Fluids in beiden Schenkeln: In gleicher Höhe ist
h
der Druck gleich, also ist der unbekannte Druck px = p0 + ρgh. So können
px
p
wir einen absoluten Druck messen, wenn p0 = 0 ist, der rechte Schenkel
also im Vakuum endet. Wenn p0 = pLuft ist, der rechte Schenkel also in der
Luft endet, müssen wir entweder pLuft kennen, oder wir bestimmen den
Differenzdruck Δp = px − p0 = ρgh. Wenn px > p0 ist, nennen wir ihn
Überdruck, wenn px < p0 ist, nennen wir ihn Unterdruck. Manometer
sind oft unübersichtlicher geformt, das Messprinzip ist jedoch immer so, Abb. 10.6: Einfaches Uwie hier beschrieben.
Rohr-Manometer
Der Atmosphärendruck (Luftdruck) benimmt sich anders, weil Luft kompressibel ist und die Dichte
Seite 194
der Atmosphäre mit zunehmender Höhe abnimmt. Für Luft können wir (10.8) nur in einer kleinen
Schicht dh annehmen und wenn wir um dh nach oben gehen, ändert sich der Druck um dp=ρ g dh .
Um das weiter auswerten zu können, müssen wir einen Zusammenhang zwischen ρ und p
annehmen. Als Näherung machen wir einen Vorgriff und verwenden das Boyle-Mariottsche Gesetz
p
für den Fall konstanter Temperatur eines idealen Gases. Damit erhalten wir ρp = ρ 0 =konst. , mit
0
ρ0
Druck (p0) und Dichte (ρ0) am Erdboden. Wir ersetzen ρ entsprechend dp=− p g dh und
p0
p
h
ρ
ρ
1
p
dp '=−∫ 0 g dh ' ⇒ ln =− 0 g h . Beidseitiintegrieren durch Trennung der Variablen ∫
p'
p0
p0
p0
p
0
ges Exponenzieren ergibt
0
−
die barometrische Höhenformel p (h)= p0 e
ρ0 g
h
p0
(10.10)
In diesem Modell nimmt der Druck exponentiell mit der Höhe ab. Die Atmosphäre reicht deutlich
weiter als 8 km und hat keine scharfe Grenze mehr. Tatsächlich ist die Temperatur nicht konstant,
sondern nimmt im allgemeinen mit zunehmender Höhe ab. Feinere Modelle lernen Sie in der
Meteorologie.
10.2.1.2 Hydraulik und Druckarbeit
Zusammenhang (10.9) ist auch die physikalische Grundlage der Hydraulik. Hier ist jedoch der
Schweredruck unbedeutend und nur der Außendruck p0 relevant, weil er in der Regel viel größer ist
als der Schweredruck (p0 ≫ ρgh ≈ 0). Erzeugt man p0, indem man mit einer kleinen Kraft F0 auf
eine kleine Fläche A0 drückt, dann bewirkt das eine große Kraft Fa auf
F0
F0 F a
einer großen Fläche Aa, denn der Druck p 0= =
ist im gesamten
A0
Fa
A0 Aa
Fluid gleich. Auf diese Art lassen sich mit einer kleinen Kraft sehr
p0
Aa
schwere Lasten durch Fa heben. Hebebühnen in Autowerkstätten
s0 sa
arbeiten z. B. nach diesem Prinzip.
p0
Wenn man einen Stempel der Fläche A mit der äußeren Kraft F um die
Strecke s gegen die Druckkraft pA verschiebt, verrichtet man die Arbeit
W =∫ F ds=−∫ pA ds=−∫ p dV . Weil dV = A ds ist, muss man bei
p0
der kleinen Fläche entsprechend der goldenen Regel der Mechanik
einen größeren Weg zurücklegen als bei der großen Fläche: Die ein- Abb. 10.7: Hydraulik
gesparte Kraft muss man an Weg zusetzen. Wenn man die Arbeit mit
Hilfe des Druckes p formuliert, nennt man sie Druckarbeit. Differenziell ausgedrückt ist die
Druckarbeit dW =− p dV (10.11)
Dieser wichtige Zusammenhang wird uns öfter begegnen und in der Themodynamik eine zentrale
Rolle einnehmen. Das negative Vorzeichen beinhaltet, dass wir Energie in das System hineinstecken, wenn wir das Volumen verkleinern, also wenn dV negativ ist.
Seite 195
10.2.1.3 Auftrieb: Schwimmen, Schweben, Sinken
Auf ein ruhendes Wasservolumen V wirkt keine resultierende
Kraft, sonst würde es ja nicht ruhen, sondern beschleunigt. Der
allseitig wirkende Druck erzeugt Kräfte auf die Wand des
Fp V
Fp
Volumens. Deren Horizontalkomponenten heben sich gegenseitig auf. Da der Druck jedoch von oben nach unten zunimmt,
Fg
trifft das auf die Vertikalkomponenten nicht zu, hier verbleibt
eine aufwärts gerichtete Kraft FA. Damit das Volumen im Abb. 10.8: Zur Ursache des AufGleichgewicht ist, muss FA durch die Gewichtskraft Fg = ρFlVg triebs
des Fluids im Volumen V kompensiert werden. Wird das Fluid
innerhalb V entfernt, fehlt seine Gewichtskraft. Das Volumen wird dann
durch FA angehoben. Diese Kraft nennt man
statische Auftriebskraft F A =ρ Fl g V (10.12) , ρFl Dichte des Fluids, V
fehlendes Fluidvolumen.
Schwimmen
Der Betrag der Auftriebskraft ist gleich der Gewichtskraft des fehlenden
Fluids. Wenn Objekte in ein Fluid ganz oder teilweise eintauchen, verdrängen sie eine bestimmte Masse des Fluids und ersetzen es durch ihre
eigene Masse. Je nachdem, ob ihre Gewichtskraft kleiner, gleich oder
größer als die des verdrängten Fluids ist, schwimmen, schweben oder
sinken sie ab. In einem Fluid wird die Gewichtskraft eines Körpers also
durch den Auftrieb verringert oder ganz kompensiert. Für ihn ist seine
scheinbare Gewichtskraft = Gewichtskraft − Auftriebskraft.
Rechenbeispiel: Wie groß ist der Unterwasseranteil eines Eisbergs?
Wasser und Eis haben die Dichten ρW = 103 kg/m3 und ρEis = 9 ∙ 102 kg/m3.
Im Gleichgewicht gilt FA = FgEis , also ρWVWg = ρEisVEisg. Das ergibt
VW/VEis= ρEis/ρW = 0,9 = 90%. Unter Wasser ist VW = 0,9VEis , also 90%
des Eisbergs.
Fg = FA
Steigen
Fg < FA
Schweben
Fg = FA
Sinken
Fg > FA
Abb. 10.9: Schwimmen,
Wir fassen zusammen: Auf jeden Körper, der in ein Fluid ganz oder
Schweben, Sinken
teilweise eintaucht, wirkt eine Auftriebskraft. Ist seine Dichte kleiner als
die des Fluids, schwimmt oder steigt er, bei gleicher Dichte schwebt er, bei größerer sinkt er.
10.2.1.4 Spannende Oberflächen: Seifenblasen und Kapillaren
Um eine Seifenblase zu erzeugen, tunkt man einen kleinen Draht- oder Plastikring in Seifenlauge.
Wenn man ihn wieder herauszieht, ist eine ebene Seifenlamelle über den Ring gespannt. Um daraus
eine Seifenblase zu formen, muss man vorsichtig gegen die Lamelle blasen, die sich dann immer
mehr wölbt und schließlich abreißt. Unmittelbar beim Abriss schließt sie sich zu einer perfekten
Kugel: der Seifenblase. Warum ist das so? Warum gibt es keine Seifenblasen „mit Loch“? Warum
sind Seifenblasen immer kugelig? Warum kann man keine „Seifenscheiben“ durch die Luft blasen?
Diesen Fragen wollen wir jetzt nachgehen.
Wir betrachten jetzt nur Flüssigkeiten. Kleine Teile einer Flüssigkeit - wie Tropfen oder Schaumblasen - werden durch Kräfte der Oberfläche beherrscht. Kräfte innerhalb der Flüssigkeit, also
zwischen den Flüssigkeitsteilchen nennen wir Kohäsionskräfte. Kräfte zwischen Flüssigkeitsteilchen und anderen Stoffen nennen wir Adhäsionskräfte. An der Oberfläche einer Flüssigkeit wirken
tangentiale Kohäsionskräfte, die die Oberfläche wie eine Folie spannen. Sie erzeugen die
Oberflächenspannung. Man kann sie unmittelbar erkennen, wenn man eine Büroklammer auf eine
Wasseroberfläche legt: Sie schwimmt, anstatt zu versinken, so als ob sie auf einer Folie aufliegt.
Seite 196
Und das, obwohl ihre Dichte größer ist als die von Wasser. Wie kann man sich diese „Folieneigenschaft“ einer Flüssigkeitsoberfläche erklären?
Um das zu verstehen schauen wir uns die Flüssigkeit und ihre Oberfläche auf Teilchenebene an. Die
Kräfte zwischen den Teilchen sind von ihrem Abstand abhängig. Sehr weit entfernte Teilchen (viele
Teilchenlagen) üben quasi keine Kräfte aufeinander aus. Wenn sie sich näher kommen (einige Teilchenlagen), werden die Kräfte anziehen. Dabei handelt es sich in der Regel um Van-der-WaalsKräfte. Das sind relativ schwache elektrostatische Kräfte, die durch permanente oder kurzzeitige
elektrische Dipole der Teilchen entstehen. Wenn sich die Teilchen weiter nähern, stoßen sich ihre
Elektronenhüllen ab und die Kräfte werden somit abstoßend. In einer Flüssigkeiten schwanken die
Teilchenabstände permanent durch die thermische Bewegung, entsprechend wechseln die Kräfte
ständig zwischen anziehend und abstoßend. Tief in der Flüssigkeit heben sich alle Kräfte im
zeitlichen und räumlichen Mittel auf. Anziehende und abstoßende Kräfte kompensieren sich.
Potenzielle Energie
Man kann diesen Kräften auch eine potenzielle Energie zuordnen: Das
Abstoßung
zugehörige Potenzial nennt man Lennard-Jones-Potenzial, seine Form
Abstand
zeigt Abb.10.10. Der mittlere Teilchenabstand im Inneren der FlüssigThermische
keit liegt im Minimum des Potenzials. Wenn wir uns aus der FlüssigSchwankung
keit heraus von unten nach oben vertikal der Oberfläche nähern, nimmt
F
die Dichte der Flüssigkeit innerhalb weniger Teilchenlagen ab
Anziehung
(Abb.10.11). Dadurch nehmen die abstoßenden Kräfte stärker ab als die
anziehenden Kräfte, die Anziehung überwiegt nun. Doch weil sich Abb. 10.10: Form eines
immer noch die horizontalen Anziehungskräfte entgegengesetzter Rich- Lennard-Jones-Potenzials
tungen kompensieren, herrscht horizontal Kräftegleichgewicht. Da in
vertikaler Richtung oberhalb der Oberfläche Teilchen fehlen, scheint
gasförmig
Grenze
eine vertikale nach unten gerichtete Anziehungskraft zu verbleiben.
flüssig
Wenn das so wäre, dann könnte nie ein Teilchen an der Oberfläche ver47
bleiben, sondern würde unweigerlich nach innen gezogen . Da jedoch
Kräftegleichgewicht herrschen muss, müssen die abstoßenden Kräfte
eine Kompensation in vertikale Richtung bewirken.
In diesem Modell verbleiben horizontale Anziehungskräfte parallel zur
Oberfläche, die nicht von abstoßenden Kräften kompensiert werden Abb. 10.11: Kraft auf ein
[9]. Das entspricht anschaulich den Kräften innerhalb einer nach allen Oberflächenteilchen
Seiten auseinandergezogenen Trampolinfolie. Die Oberfläche ist analog gespannt und hat die Tendenz, sich zu verkleinern. Deswegen
spannt sich ein Flüssigkeitsfilm straff über einen Draht oder
Plastikring, wenn man ihn in eine Seifenblasenlösung eintaucht. Der
Film wird dabei durch Adhäsionskräfte am Ring festgehalten, die wie
die Seilspannung der Trampolinfolie wirken. Allerdings gibt es einen
wesentlichen Unterschied: Die Zugkräfte der Trampolinfolie genügen
dem Hookeschen Gesetz. Bei der Zugkraft durch die Oberflächenspannung ist das nicht der Fall. Diese Kraft ist konstant und hängt
nicht von irgendeiner geometrischen Form des Fluids, sondern nur von
Abb. 10.12: Modellvorstelden Anziehungskräften zwischen den Fluidteilchen ab. Die Zugkraft in
lung zur Oberflächenspander Oberfläche einer Flüssigkeit ist also nur eine Eigenschaft der vernung
wendeten Flüssigkeit.
47
Tatsächlich findet man diese vereinfachte Darstellung in vielen Lehrbüchern, ohne dass auf diese offensichtliche Diskrepanz eingegangen wird. Dadurch wird die Fehlvorstellung suggeriert, die Oberflächenspannung sei eine senkrecht
nach innen wirkende Kraft. Die Zugkraft wirkt jedoch tangential zur Oberfläche.
Seite 197
Jetzt wollen wir diese Kräfte quantifizieren, die Oberflächenspannung präzise definieren und eine
Messmethode kennenlernen, nämlich die sogenannte Bügelmethode:
Wir verwenden dazu einen zweidimensionalen Flüssigkeitsfilm,
b
der der Einfachheit halber durch eine rechteckige Drahtschlaufe
der Breite b mit einem beweglichen Bügel gleicher Länge
aufgespannt wird. Wenn wir die Fläche des Films um ΔAF = b Δs
vergrößern wollen, müssen wir mit einer äußeren Kraft Fa an
Δs
dem Bügel ziehen, die die nach innen gerichtete konstante
Vorderseite
Rückseite
Zugkraft F durch die Oberflächenspannung kompensiert. WähFa
rend wir den Bügel um Δs verschieben, verrichten wir die
Arbeit Δ W =F⋅Δ s und stecken dadurch Energie in den Fluid- Abb. 10.13: Messung der Oberfilm. Da der Film zwei Oberflächen (Vorder- und Rückseite) flächenspannung mit der Bügelhat, vergrößern wir seine Oberfläche dabei um ΔA = 2b Δs. methode
Δ W F⋅Δ s F
=
=
Wenn wir ΔW durch ΔA teilen,
und bedenken, dass wir aufgrund der beiden
Δ A 2b Δ s 2b
Oberflächen die doppelte Kantenlänge L = 2b haben, erhalten wir die mechanische Definition der
F
Oberflächenspannung γ als Zugkraft F pro Kantenlänge L: γ=
(10.13).
L
Diese Definition ist anschaulich, aber nur für offene Flächen mit Rändern praktisch. Vorsicht: Die
Oberflächenspannung ist als Kraft pro Länge definiert und somit etwas anderes als die mechanische
Spannung, die ja Kraft pro Fläche ist. Die Herleitung zeigt, dass wir ebenso gleichberechtigt und
widerspruchsfrei die
ΔW
Oberflächenspannung γ als Energiezuwachs ΔW pro Flächenzuwachs ΔA: γ=
(10.14)
ΔA
auffassen können. Das ist die thermodynamische und weniger anschauliche Definition der Oberflächenspannung. Ihr Vorteil ist ihre universelle Anwendbarkeit, insbesondere auch für geschlossene
Oberflächen ohne Ränder wie die einer Seifenblase. Teilchen an der Oberfläche besitzen danach
eine höhere Energie als Teilchen im Inneren der Flüssigkeit. Ihre potenzielle Energie ist größer, da
sie einen größeren Abstand haben, wie uns das Lennard-Jones-Potenzial (Abb.10.10) zeigt. Die hineingesteckte Arbeit bewirkt eine Energieerhöhung, indem mehr Teilchen an die Oberfläche gehoben
werden. Mit dieser Modellvorstellung und der Interpretation einer potenziellen Energie als „Spannung“ eines Systems, wird auch die thermodynamische Definition und der Begriff Oberflächenspannung verständlich. Zur Messung der Oberflächenspannung verwendet man z.B. eine Anordnung
wie in Abb. 10.13 mit bekanntem b und misst die Kraft Fa mit einem empfindlichen Kraftmesser.
Jetzt können wir verstehen, warum wir keine „Scheiben“ aus einem Metallring wie in Abb. 10.12
Herausblasen können. Nehmen wir in einem Gedankenexperiment einmal an, das ginge, indem wir
den Ring in Luft auflösen könnten. Dann würde die Scheibe aufgrund der Oberflächenspannung
schrumpfen, weil nun die Adhäsionskräfte des Ringes fehlen. Sie würde solange schrumpfen, bis die
tangentialen Anziehungskräfte durch die Abstoßungskräfte kompensiert werden. Hat sie dann einen
stabilen Zustand erreicht? Sicher nicht, denn die Teilchen an den Kanten wären nun sehr ungleichen
Kräften ausgesetzt, weil sie sogar zu zwei Seiten keine Nachbarn hätten, und hätten eine sehr hohe
potenzielle Energie. Der stabile Zustand ist derjenige, mit der geringsten potenziellen Gesamtenergie. Und das ist der Zustand mit der kleinsten Oberfläche bei einem gegebenen Volumen. Das
ist die Kugel. Aus diesem Grund formt sich schnell aus der Scheibe ein kugelförmige Tropfen.
Rechenbeispiel Welches Volumen V und welche Oberfläche A hat eine Scheibe mit dem Radius
R = 2,00 cm und der Dicke d = 200 µm? Welche Oberfläche AK hat eine Kugel mit dem gleichen
Volumen? Das Volumen der Scheibe ist V = πR2d = 0,251 cm³. Daraus ergibt sich ein Kugelradius
Seite 198
r = (¾ V/π)1/3 = 0,391 cm. Die Oberfläche der Scheibe ist A = 2·πR2 + 2πRd = 25,4 cm². Die Oberfläche der Kugel ist AK = 4πr2 = 1,92 cm². Die Oberfläche der Scheibe ist rund A/AK = 13 mal größer
als die der Kugel.
Die Seifenblase
Seifenblasen können entstehen, wenn man die Oberflächenspannung durch Zugabe von Seife
herabsetzt. In reinem Wasser ist die Oberflächenspannung viel zu groß. Durch das Hineinblasen
formt man durch Überdruck eine Kugeloberfläche, die sich beim Ablösen zur Minimalfläche, also
zur Kugel schließt. Der Überdruck im Inneren verhindert das Zusammenfallen zum Tropfen. Die
Hülle der Seifenblase besteht innen und außen aus einer Seifenschicht, zwischen die eine
Wasserschicht eingeschlossen ist. Wenn sich eine kleine und eine große Seifenblase berühren,
verschwindet die Kleine und die Große wächst. Offensichtlich bläst die Kleine die Große auf, in ihr
muss also ein größerer Druck herrschen. Wie kommt das zustande?
Wir können das verstehen, wenn wir die tangentialen Zugkräfte dFt
dFt
dFt dA
dA
an einem gleich großen Oberflächenstück dA beider Blasen vergleichen. Diese Zugkräfte dFt sind in beiden Fällen gleich, denn sie
dFi
dFi
hängen nur von der Flüssigkeit und nicht von der Form der Oberfläche ab. Allerdings ist der Winkel zwischen den Kräften bei einer
Abb. 10.14: Zugkraft an
kleineren Seifenblase kleiner als bei einer großen. Dadurch erzeugen
gekrümmten Oberflächen
die Zugkräfte bei einer kleinen Blase eine größere Komponente dFi
nach innen. Der Druck durch die Oberfläche ist dann pA = dFi/dA. Zu pA addiert sich noch der
äußere Luftdruck p0. Im Inneren der Blase muss deshalb der Druck pI = pA + p0 herrschen, also ein
Überdruck verglichen mit dem Luftdruck, sonst würde die Blase schrumpfen. Das gilt gleichermaßen für Wassertropfen. Je stärker die Oberfläche gekrümmt ist, umso größer wird der Oberflächendruck pA. Aus diesem Grund haben wir in einer kleineren Seifenblase einen höheren Druck
und sie kann eine größere aufblasen. Ebenso fließt ein kleiner Wassertropfen in einen großen. Wir
können das Ergebnis sogar noch weiter verallgemeinern: In jeder einfachen, nach außen gewölbten
(konkaven) Flüssigkeitsoberfläche herrscht ein Überdruck. Genauso so, wie sich der Deckel eines
Joghurtbechers nach außen wölbt, wenn er verdirbt, weil bei diesem Prozess Gase entstehen. Analog
herrscht bei konvexen (nach innen gewölbten) Flächen ein Unterdruck. Aus diesem Grund können
wir auch keine Seifenblasen „mit Loch“ erzeugen. Denn mit Loch ist der Druck auf beiden Seiten
der Blasenhaut gleich. Gleicher Druck verlangt aber ein Verschwinden der Krümmung, also eine
ebene Fläche.
Quantitativ erhalten wir den Druck einer Kugeloberfläche mit dem Radius r durch das sogenannte
2γ
Laplacesche Gesetz p A=
(10.15).
dA
r
dx dy
Zur Herleitung betrachtet man ein quadratisches Flächenstück dA einer
Kugeloberfläche mit den Kanten dx und dy. Seine Kanten überspannen den
dx
Winkel dφ = dx/r = dy/r. Die an den beiden dy-Kanten ziehenden Kräfte
dF
dFp
dF = γ dy haben ebenfalls den Winkel dφ zueinander und erzeugen eine
dx
dA
r
nach innen zeigende Kraft dFp der Stärke dF p =dF d φ=γ dy =γ
.
r
r
dφ
Die an den dx-Kanten ziehenden Kräfte bewirken die gleiche Kraft nach Abb. 10.15: Herleitung
dA
innen, so das die gesamte Druckkraft dF p =2 γ
ist. Division durch dA des Laplaceschen Ger
setzes
liefert den Druck und das Laplacesche Gesetz.
Seite 199
Kapillaren
Wie saugen Pflanzen Wasser aus dem Boden? Wieso saugt sich ein Schwamm mit Wasser voll?
Warum ist eine Flüssigkeitsoberfläche in einem engen Rohr nie plan? Warum steigt Wasser in engen
Röhrchen hoch? Antworten auf diese Fragen verbergen sich hinter dem Stichwort Kapillareffekte.
Kapillareffekte werden durch die Kräfte zwischen Flüssigkeitsteilchen und festen Oberflächen
bestimmt, also durch Adhäsionskräfte. Der Unterschied der Stärke der Adhäsionskräfte verglichen
mit den Kohäsionskräften bestimmt, ob eine Flüssigkeit eine Oberfläche benetzt. Als Unterscheidungskriterium wählt man den Randwinkel θ, den eine
Flüssigkeitskante mit einem Festkörper bildet. Der Randθ
θ
winkel θ läuft von der Tangente an die FlüssigkeitsNicht benetzend
benetzend
oberfläche im Rand der Flüssigkeit bis zur Festkörperfläche. Er geht immer durch die Flüssigkeit. Wenn θ < 90° Abb. 10.16: Der Randwinkel θ
ist, sprechen wir von Benetzung, andernfalls wird der Festkörper nicht benetzt. Im Volksmund
sagen wir dazu: „Die Flüssigkeit perlt ab“. Zuerst wollen wir untersuchen, wodurch der Randwinkel
zustande kommt. Danach beschäftigen wir uns mit Kapillaren, also Flüssigkeit in kleinen Röhrchen.
Um den Randwinkel zu verstehen, müssen wir uns drei
Fco θ/2
Sachverhalte klarmachen: Erstens, dass auf eine ruhende
θ/2
Flüssigkeitsoberfläche keine Scherkraft wirken kann. Wenn
F
Fco
die Oberfläche ruht, muss eine resultierende Kraft - wenn es
sie gibt - senkrecht auf der Oberfläche stehen. Diese Kraft
Fad
Fad
F
wird dann durch die inneren Abstoßungskräfte kompensiert.
Die Form einer ruhenden Flüssigkeitsoberfläche wird des- Abb. 10.17: Die Summe F von Kohähalb durch die Richtung der auf sie wirkenden resultieren- sionskraft Fco und Adhäsionskraft Fad
den Kräfte F bestimmt. Zweitens, dass an einer Kante einer bestimmt den Randwinkel θ.
Flüssigkeit die Zugkräfte von den beiden Flächen wirken, die die Kante bilden. Da die Zugkräfte in
⃗ co stets auf der
beiden Flächen gleich sind, liegt ihre Summe, die resultierende Kohäsionskraft F
⃗ ad einer homoWinkelhalbierenden zwischen beiden Flächen. Drittens, dass die Adhäsionskraft F
genen Festkörperfläche aus Symmetriegründen immer senkrecht auf ihr steht. Diese drei Annahmen
erlauben es uns, das Benetzungsverhalten und die Tropfenform zu verstehen, indem wir beide
⃗ =F
⃗ co+ F
⃗ ad : Wenn F
⃗ ad > F
⃗ co , sprich die Adhäsion größer
Kräfte für ein Kantenteilchen addieren F
⃗ ad < F
⃗ co ist,
⃗ von der Flüssigkeit weg und es wird θ < 90°. Wenn F
als die Kohäsion ist, zeigt F
⃗ in die Flüssigkeit hinein und es wird θ > 90°. Bei Kräftegleichheit
zeigt die resultierende Kraft F
⃗ parallel zur Oberfläche, der Tropfen bildet eine Halbkugel und es ist θ = 90°.
liegt F
Das gleiche passiert auch an der Wand eines Rohrs mit dem Radius r, das mit
p0
Flüssigkeit gefüllt ist. Wenn die Flüssigkeit die Wand benetzt, ist die Oberfläche
konvex gekrümmt. Erinnern Sie sich an den Joghurtbecher? Eine konvexe θ R
r
Krümmung mit dem Radius R zeigt nach dem Laplaceschen Gesetz einen Unter<p0
2γ
druck Δ p=
in der Flüssigkeit relativ zum Luftdruck p0 an. Wenn das Rohr in
R
ein Flüssigkeitsreservoir mit einer ebenen Oberfläche taucht, herrscht im Reserp0
voir der gleiche Druck p0 wie in der Luft. Unten ist also der Druck größer als am
p0 p0
Meniskus. Die Druckdifferenz nennt man Kapillardruck. Sie bewirkt eine Druck2γ 2
Reservoir
π r , die Flüssigkeit in die Röhre hineindrückt und den
kraft F p=Δ p A=
R
Abb. 10.18:
Flüssigkeitsspiegel ansteigen läßt. Nähert man den Meniskus als Kreis, hängt sein Modell der
Radius vom Randwinkel θ ab und lässt sich durch den Rohrradius ausdrücken: Kapillare
Seite 200
R=r /cos (θ) . Damit wird die Druckkraft zu F p=2 π r γ cos (θ) [10]. Der Anstieg der Flüssigkeit
2
stoppt erst, wenn die Druckkraft durch die Gewichtskraft F G =ρV g =ρ π r h g der angehobenen
Flüssigkeitssäule kompensiert wird: F P =F G ⇒ 2 π r γ cos (θ)=ρ π r 2 h g . Daraus folgt die
2 γ cos(θ)
Steighöhe h in einer Kapillare mit dem Radius r: h=
(10.16).
ρr g
Für den Fall einer vollständigen Benetzung wird θ = 0 und cos(θ) =1 und (10.16) vereinfacht sich
2γ
zur bekannten Formel h=
. Den Anstieg nennt man Kapillaraszension, den gegenteiligen
ρr g
Effekt Kapillardepression: Die Flüssigkeitssäule sinkt ab. Das tritt bei nicht benetzenden Flüssigkeiten auf.
Rechenbeispiel: Wie hoch steigt Wasser in einer Glaskapillare mit dem Radius r = 0,1mm? Die
benötigten Daten von Wasser bei 20 °C sind: γH2O = 0,0728 J/m², θH2O-Glas = 0,35 rad, ρ = 1000 kg/m³,
g = 9,8 m/s². Einsetzen in ergibt h = 0,14 m = 14 cm.
Kapillarität tritt bei vielen Alltagssituationen auf. Immer, wenn Flüssigkeit, vor allem Wasser, mit
porösem Material oder feinen Rissen in Berührung kommt. Mauerwerk saugt sich dadurch ebenso
voll, wie ein Schwamm. Das muss man durch Wassersperren verhindern, denn feuchtes Mauerwerk
kann nicht nur Frostschäden erleiden, sondern hat vor allem eine deutlich schlechtere Wärmedämmung. Wenn man die Folie eines Gartenteiches am Rand mit Erde oder Vlies bedeckt, führt das
zu einem starken Wasserverlust. Pflanzen ziehen das Wasser durch Osmose aus dem Boden in die
Wurzeln. Für den Aufstieg in oberirdische Planzenteile sorgt dann der Kapillardruck in Kombination mit dem Verdunstungssog durch die Spaltöffnungen.
Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
10.4) Seemannsgarn? Ist es wahr, dass untergegangene Schiffe in einer gewissen Tiefe schweben
bleiben, weil das Wasser in der Tiefe viel dichter ist? Begründen Sie.
10.5) Ein Taucher taucht im Meer und spürt in seiner Tiefe den Wasserdruck p. Erhöht sich der
Wasserdruck am Taucher, wenn ein Schiff oberhalb des Tauchers schwimmt? Begründen Sie.
10.6) Ein Glas Wasser steht auf einer Waage. Wie ändert sich die Anzeige der Waage, wenn man
einen Finger ohne das Glas zu berühren in das Wasser taucht? Begründen Sie.
10.7) Warum ist das Aufblasen eines Luftballons am Anfang am schwersten?
10.8) Warum zerfällt ein Wasserstrahl bald nach dem Austritt in Tropfen?
10.9) Magdeburger Halbkugeln, Otto von Guericke ließ zwei mit Flanschen versehene, durch einen
Lederriemen abgedichtete hohle Halbkugeln aus Kupfer mit 42 cm Durchmesser herstellen und mit
der von ihm erfundenen Luftpumpe evakuieren. Welche Kraft war zur Trennung nötig?
10.10) Welchen Radius R muss ein kugelförmiger Helium-Ballon (ρHe = 0,179 kg/m3) haben, damit
er in der Luft (ρL = 1,21 kg/m3) schwebt? Seine Hülle besteht aus einem Plastikfilm der Dicke
d = 0,5 mm mit der Dichte ρP = 1,2 ∙ 103 kg/m3. Wie groß muss der Radius mindestens sein, damit
der Ballon vier Menschen und einen Fahrkorb (ca. 350 kg) anheben kann?
Seite 201
10.11) Ein runder Luftballon hat über Wasser den Radius R = 15 cm. Welchen Radius R'
wird er haben, wenn man ihn in einem Schwimmbecken in eine Tiefe von h = 1 m unter
die Wasseroberfläche drückt (KLuft = 1,0 × 105 Pa)? Mit welcher Kraft muss man den
Ballon in dieser Tiefe unter Wasser festhalten? Hängt die Kraft von der Tiefe ab? Wenn ja,
in welcher Tiefe würde der Ballon schweben?
10.12) Ein länglicher Luftballon wird wie rechts gezeigt teilweise aufgeblasen. An der
dicken Stelle ist sein Durchmesser D, an der dünnen Stelle d. Wo ist die Zugkraft in der
Ballonfolie größer, im dünnen oder im dicken Bereich? Begründen Sie mathematisch.
D
d
Seite 202
10.2.2
Bewegte Fluide: Strömungen
10.2.2.1 Nicht überflüssig: Ideale Fluide und Strömungen
Jetzt dehnen wir unsere Überlegungen auf bewegte Fluide aus. Fluide in Bewegung nennt man
Strömung. Auch hierbei werden wir mit einem einfachen, stark idealisierten Modell beginnen, und
sie werden erstaunt sein, wie weit man damit kommt! Zur Beschreibung von Strömungen betrachten
wir als Modellvorstellung ein ideales Fluid in stationärer und laminarer Strömung:
Ein Fluid ist ein ideales Fluid, wenn es
• inkompressibel ist, d.h. seine Dichte ist überall gleich,
• keine innere Reibung enthält, d.h. unterschiedlich schnelle Schichten der Strömung gleiten
reibungsfrei aneinander vorbei.
Eine Strömung ist eine stationäre Strömung, wenn
• die Geschwindigkeit überall zeitlich konstant ist. Räumlich darf sie an verschiedenen Orten
unterschiedlich sein.
Eine Strömung ist eine laminare Strömung, wenn
• unterschiedlich schnelle Schichten der Strömung aneinander vorbei gleiten und sich dabei
nicht vermischen,
• und keine Turbulenzen auftreten.
Später werden wir das Modell erweitern und innere Reibung sowie Turbulenzen hinzunehmen.
Zur zeichnerische Darstellung von Strömungen verStromlinie
wendet man Stromlinien. Stromlinien sind eine t1
grafische Darstellung der Bahnen (Trajektorien) der
v
Teilchen in einer stationären Strömung. Wie jede
Bahn (siehe Kap. 4.2) zeigen sie die Richtung der
Geschwindigkeit an: Die Geschwindigkeitsvektoren
⃗v der Teilchen liegen tangential an den Stromlinien. t
2
Deshalb können Stromlinien keine Knicke haben und
sich auch nicht schneiden, denn an Knicken und
Schnittpunkten ist die Richtung der Geschwindigkeit
nicht eindeutig definiert. Dort, wo Stromlinien eng
beieinander liegen, ist die Strömungsgeschwindigkeit Abb. 10.19: Eine stationäre laminare Ströhoch, dort, wo sie weit auseinander liegen, ist sie mung zu zwei verschiedenen Zeitpunkten
klein. Die Stromlinien einer homogenen Strömung sind parallel. Abrupt endende Stromlinien zeigen
einen Staupunkt an, also eine Stelle, an der v = 0 wird. Stromlinien kann man sichtbar machen,
indem man kleine Tropfen Tinte in strömendes Wasser gibt, oder wie in Abb. 10.19 Nebel aus einer
Nebelmaschine in eine Luftströmung einbläst.
10.2.2.2 Grundgesetze in Strömungen: Die Kontinuitätsgleichung und die BernoulliGleichung
Zu Beginn machen wir ein einfaches Experiment, das die unerwarteten Eigenschaften von
Strömungen zeigt. Die Phänomene werden wir dann erklären, indem wir sie auf die Grundgesetze
der Strömungslehre zurückführen: Die Kontinuitätsgleichung und die Bernoulli-Gleichung. Die
Herleitung beider Gleichungen ist eine Fingerübung zum Bilanzieren. Die Kontinuitätsgleichung
Seite 203
drückt die Massenerhaltung aus, die Bernoulli-Gleichung drückt die Energieerhaltung in einer
Strömung aus.
Experiment Hydrodynamische Paradoxon Ein handelsüblicher Schraubendreher wird mit einer Druckluftpistole
seitlich nach oben geneigt angeblasen. Mit etwas Übung
fällt er nicht herunter, sondern schwebt in der Luft. Ebenso
schwebt ein Styroporball in der Luft, wenn er schräg mit
einem Gebläse angeblasen wird. Das zeigt: Objekte werden in eine Strömung hineingezogen anstatt
von ihr weggepustet zu werden.
Zauberrohr Ein Rohr mit einer Verengung und drei offenen Steigrohren vor, in und nach der
Verengung wird links und rechts verschlossen und mit Wasser gefüllt. Der Wasserstand in allen
Steigrohren ist gleich hoch. Dann wird das a)
b)
c)
Rohr links mit einem Wasserhahn verbunden,
rechts geöffnet und das Wasser aufgedreht.
Sobald der Durchfluss startet, verändert sich der Wasserstand in allen Steigrohren: Er ist am
niedrigsten an der Verengung und am höchsten vor der Verengung. Wenn man die Flussrichtung
umkehrt, kehren sich auch die Wasserstände um. Das zeigt: In einem ruhenden Fluid ist der Druck
überall gleich. In einem strömenden Fluid nimmt der Druck in Strömungsrichtung entlang der
Strömung ab. An einer Verengung nimmt er zusätzlich ab.
Diese Phänomene wollen wir jetzt auf der Basis
z
unserer Naturgesetze verstehen. Wenn Objekte in
eine Strömung hineingezogen werden, dann
y dz
müssen entgegen unserer Intuition Kräfte gegen
∂p
F xR =−( p+
dx) dy dz
die gerichtete Teilchenbewegung der Strömung F xL= p dy dz
∂x
dy
wirken. Wie kann das sein? Bevor wir das an
dx
x
einem bewegten Fluid klären, machen wir uns
am besten erst einmal den statischen Fall klar: Abb. 10.20: Ein Druckgradient bewirkt eine
Beim Auftrieb haben wir bereits gelernt, dass auf Druckkraft.
Körper eine Kraft wirkt, wenn der Druck auf zwei Seiten des Körpers nicht gleich ist. Die
Auftriebskraft entsteht, weil der Schweredruck oberhalb des Körpers kleiner ist als unterhalb. Das
können wir verallgemeinern und zwar nicht nur für Körper in einem Fluid, sondern auch für ein
Volumen des Fluids selbt! Wir betrachten wieder ein kleines würfelförmiges Volumen dV in einem
Bereich des Fluids, in dem der Druck z. B. in x-Richtung zunimmt wie in Abb. 10.20. Dort liegt ein
dp
>0 vor. Die Summe der Kräfte auf die rechte und linke Seite des Volumens ist
Druckgradient
dx
∂p
∂p
dF x =dF xR +dF xL=−
dx dy dz=−
dV . Es wirkt also eine resultierende Kraft in negative x∂x
∂x
Richtung auf das Volumen und somit wird es in Richtung des kleineren Drucks beschleunigt. Da
eine Druckgradient prinzipiell in jede Richtung auftreten kann, erhalten wir als allgemeinen
Ausdruck für die dreidimensionale
Druckkraft durch einen Druckgradienten ∇ p : d F⃗ p=−∇ p⋅dV (10.17).
Erinnert Sie dieser Ausdruck an etwas? Überlegen sie kurz. Wenn Ihnen nichts einfällt, schauen Sie nach (5.16).
Tatsächlich kann man p∙dV auch als potenzielle Energie auffassen. Die zugehörige Arbeit ist die Druckarbeit.
in Richtung des kleineren Drucks. Mikroskopisch betrachtet liegt das daran, dass auf der Seite des
höheren Drucks die Teilchen entweder schneller sind (bei konstanter Dichte) und deshalb mehr
Impuls übertragen oder einfach mehr Teilchen vorhanden sind (bei größerer Dichte) und deshalb
Seite 204
mehr Impuls übertragen. Die gleichen Argumente müssen in einer Strömung zu treffen. In einer
Strömung kommt jedoch zur statistischen ungeordneten Teilchenbewegung, die den statischen
Druck erzeugt, eine grichtete Teilchenbewegung hinzu, die die Strömung bewirkt. Ihren Einfluss auf
den statischen Druck untersuchen wir jetzt und formulieren das in Form zweier berühmter
Gleichungen: Der Kontinuitätsgleichung und der Bernoulli-Gleichung.
Herleitung der Kontinuitätsgleichung
Die Massenerhaltung in Abb.10.21 können wir etwas leger so for- A1
A2
mulieren: „Masse pro Zeit links rein = Masse pro Zeit rechts raus“
v2
v1
ρ
Δ
V
Δm
=
=konst. (10.18) ausund mathematisch durch
Δx2
Δt
Δt
Δx1
drücken. Da das Fluid inkompressibel ist, gilt das analog für das
Volumen: „Volumen pro Zeit links rein = Volumen pro Zeit rechts Abb. 10.21: Zur Kontinuitätsraus“. Wenn das Fluid mit v durch den Querschnitt A strömt, tritt in gleichung
ΔV AΔ x
=
= A v durch die Fläche A. Bezogen auf Abb.10.21 ergibt das
der Zeit Δt das Volumen
Δt
Δt
A1 v 1=A2 v 2 =konst. und mit (10.18) ρ A1 v 1=ρ A2 v 2=konst. . Allgemein formuliert ist das
die Kontinuitätsgleichung ρ A v=konst. (10.19)
Sie drückt die Erhaltung des Fluids (seiner Masse ρ ∙ V) aus. Die gleiche Masse, die im Zeitintervall
Δt in ein Rohr hineinströmt, muss am Ende herauströmen. Ihre Kernaussage ist: Wenn der
Querschnittsfläche einer Strömung abnimmt, muss die Geschwindigkeit in der Strömung im
gleichen Maß zunehmen.
Wenn die Geschwindigkeit zunimmt, müssen die Fluidmoleküle beschleunigt werden. Dazu ist eine
Kraft erforderlich, die an den Fluidteilchen Arbeit verrichtet. Die Kraft kann nur die Druckkraft
sein, also ist es Druckarbeit, die die kinetische Energie erhöht. Das schauen wir uns jetzt an.
Herleitung der Bernoulli-Gleichung
Das in Abb. 10.22 gezeigte System ist offen, denn links A1
h1
h2
strömt Masse m = ρΔV zum Zeitpunkt t1 hinein, die rechts
v1
zur Zeit t2 wieder herausströmt. Der offene Energiesatz
t2
E kin (t 2 )+E pot (t 2)−(E kin (t 1 )+E pot (t 1))=W wird hier zu
A2
Δx1
1
1
ρ Δ V v 22 +ρ Δ V g y 2 − ρΔ V v 21−ρ Δ V g y 1=W (10.20).
v2
t1 y 1
y2
2
2
Δx2
Die Arbeit W ist Druckarbeit W = p ΔV. Links wird Masse
und Energie zugeführt ( W ein = p 1 A1 Δ x1 = p1 Δ V ), rechts Abb. 10.22: Zur Bernoulli-Gleichung
entnommen ( W aus= p2 A2 Δ x 2= p2 Δ V ). Die Nettoarbeit ist somit W =W ein−W aus =( p1− p 2)Δ V .
Einsetzen von W in (10.20), Teilen durch ΔV und Umsortieren der Terme ergibt
1
1
p 2+ ρ v 22+ρ g y 2= p 1+ ρ v 21+ρ g y 1=konst. , was allgemein ausgedrückt die
2
2
1 2
Bernoulli-Gleichung p+ ρ v +ρ g y=konst. (10.21)
2
genannt wird. Die Gleichung drückt die Erhaltung der Gesamtenergie Eges in einem bewegten
Volumen eines strömenden Fluids aus. Darin steht p für den statischen Druck p = p0 + ρgh, der in
alle Richtungen wirkt. Den Summanden ½ρv2 nennt man Staudruck. Ist die Strömung schnell, wird
der Staudruck groß und p wird kleiner. Der Summand ρgy wird manchmal geodätischer Anteil
genannt. Liegt eine Stromlinie räumlich hoch, wird der geodätische Anteil ρgy groß und p wird
Seite 205
kleiner. Am einfachsten versteht man die Gleichung, wenn man den Druck als eine Form innerer
Energie pro Volumen betrachtet, als Druckenergie pro Volumen. Die Einheit des Drucks kann auch
als Energiedichte J/m3 geschrieben werden. Dann bedeutet die Bernoulli-Gleichung: Die Summe
aus innerer (p), kinetischer (½ρv2) und potenzieller (ρgy) Energie pro Volumen ist konstant. Nimmt
die kinetische oder potenzielle Energie eines Volumens zu, muss die innere Energie, also der Druck,
darin abnehmen. Wenn die Teilchen schneller werden, verrichtet der Druck Beschleunigungsarbeit
und nimmt dadurch ab. Wenn die Teilchen angehoben werden, verrichtet der Druck Hubarbeit und
nimmt dadurch ab. Sehe häufig wird die Bernoulli-Gleichung nur für horizontale Strömungen
angegeben. Dann verschwindet der geodätische Anteil und sie lauetet
1 2
Bernoulli-Gleichung der horizontalen Strömung p+ ρ v =konst. (10.22)
2
Behalten Sie im Hinterkopf: Die Bernoulli-Gleichung gilt in dieser Form für nur für ein ideales
(reibungsfreies und inkompressibles) Fluid.
Beispiel Staudruck Den Staudruck kann man mit einem Prandltschen
Staurohr messen. Es hat zwei Öffnungen, eine parallel und eine senk- pges
p
recht zur Strömung. Im parallelen Rohr wird das Fluid gestaut. Hier wirkt
1 2
Δh
der Gesamtdruck p ges = p+ ρ v . Am senkrechten Rohr strömt das
2
Fluid vorbei. Hier wirkt wie bei einem Steigrohr den statischen Druck p. Die Druckdifferenz wird z.
1 2
1 2
B. mit einem U-Rohr-Manometer angezeigt und entspricht dem Staudruck ( p+ ρ v )− p= ρ v .
2
2
Mit Prandltschen Staurohren misst man z. B.die Geschwindigkeit von Flugzeugen oder Winden.
10.2.2.3 Fluide mit Reibung
Wenn wir die Bernoulli-Gleichung als Energiebilanz akzeptieren, fällt es uns sehr leicht, den
Einfluss der Reibung in der Strömung eines realen Fluids zu erkennen. Betrachten wir gedanklich
die Strömung eines inkompressiblen Fluids durch ein gerades horizontales Rohr mit konstanter
Querschnittsfläche. Die Wände des Rohres üben auf das Fluid Reibungskräfte aus und
unterschiedlich schnelle Fluidschichten üben ebenfalls Reibungskräfte aufeinander aus. Was werden
diese Reibungskräfte bewirken? Auch hier würde man intuitiv sagen: „Das Fluid wird
verlangsamt!“, doch Vorsicht: Das ist durch die Kontinuitätsgleichung ausgeschlossen! Würde das
Fluid entlang des Rohres langsamer, müsste es sich verdichten, was bei inkompressiblen Fluiden
ausgeschlossen ist. Als einzige Möglichkeit bleibt die Abnahme der Druckenergie und tatsächlich
bewirkt die Reibung eine Druckabnahme entlang des Rohres. Das ist die Erklärung für das Ergebnis
unseres Eingangsversuches „Zauberrohr“: Weil der Druck entlang des Rohres durch Reibung
abnimmt, ist die Höhe der Wassersäule im dritten Steigrohr geringer als im ersten. Die Energie wird
dabei disspiert: Wie üblich bewirkt die Reibung eine Erwärmung, und zwar von Fluid und Rohr.
Wie berechnet man die Reibungskraft in einem Fluid? Hier zu gibt es wieder
FR
dv
F
eine vereinfachte Modellvorstellung, die die Realität jedoch sehr gut
Platte
beschreibt. Auf einem festen Boden sei eine Fluidschicht und darauf liege eine
dx
Platte. Nun verschieben wir die Platte parallel zum Boden mit der GeschwinFluid
digkeit dv. Dabei nehmen wir als Kernpunkt des Modells an, dass eine dünne
Boden
Fluidschicht an Boden und Platte haftet, d. h. die oberste Fluidschicht bewegt
sich mit dv und die unterste ruht. Es findet also keine Reibung zwischen Fluid Abb. 10.23: Modell
und Platte oder Fluid und Boden statt. Von Boden zur Platte muss jedoch die zur Viskosität
Seite 206
Geschwindigkeit innerhalb des Fluids ansteigen. Und genau dabei enstehen Reibungskräfte,
nämlich zwischen unterschiedlich schnellen Fluidschichten. Die Kraft F, die wir zum Verschieben
der Platte aufwenden müssen, muss die innerhalb des Fluids wirkenden Reibungskräfte FR
kompensieren. Sie wächst mit dem Geschwindigkeitsunterschied dv, mit der Plattenfläche A und mit
der dynamischen Viskosität η des Fluids. Sie sinkt mit zunehmender Dicke der Fluidschicht dx.
Daraus erhalten wir
dv
die Reibungskraft auf eine Fläche einer Fluidschicht F R =η A
(10.23)
dx
Die dynamische Viskosität η ist eine Materialkonstante. Sie hat die Einheit [η]=Pa⋅s und hängt
stark von der Temperatur ab. Sie beinhaltet, wie stark sich die Fluidmoleküle „verhaken“. Wasser
hat z. B. bei 20° eine Viskosität von ηH2O = 1 × 10-3 Pa∙s, Glycerin von ηGly =1,48 Pa∙s und Luft von
ηLuft = 17,1 × 10-6 Pa∙s. Die Reibungekraft bewirkt die
FR
dv
die viskose Scherspannung einer Fluidschicht τ= =η
(10.24)
A
dx
Fluide, die sich nach diesem Modell verhalten, nennt man Newtonsche Fluide. In ihnen ist die
Viskosität unabhängig von äußeren Kräften oder dem Geschwindigkeitsgradienten im Fluid. Bei
sogenannten Nicht-newtonschen Fluiden sieht das ganz anders aus. Hier wird die Viskosität
abhängig von den auftretenden Schubspannungen. Suspensionen sind Fluide, in denen sich feste
Schwebeteilchen befinden. Sie sind häufig Nicht-newtonsche Fluide. Denn die auftretenden Kräfte
können die Schwebeteilchen verformen oder das Fluid zwischen ihnen verdrängen, wodurch sich
die Viskosität ändert.
Beispiele für Nicht-newtonsche Fluide: Blut ist ein Nichtnewtonsches Fluid. Seine Viskosität ändert sich stark, je nachdem,
durch welche Art von Blutgefäß es fließt. In normalen Blutgefäßen
schwimmen die Blutkörperchen einzeln mit ihrer entspannten Form
(runde Scheibchen) im Blutplasma. In sehr großen Blutgefäßen bilden
sie größere Aggregate, wodurch die Viskosität steigt. In Kapillaren
werden sie länglich verformt, wodurch die Viskosität ebenfalls steigt. Quelle: http://www.agvisualisierung.de
Die Viskosität schwankt dabei zwischen 3-25 mPa∙s.
Eine Suspension von Maisstärke in Wasser ist ein besonders
bekanntes Beispiel. Es benimmt sich dilatant, was bedeutet, das die
Viskosität mit zunehmender Scherspannung zunimmt, weil das
Wasser zwischen den Stärketeilchen verdrängt wird. Eine MaisstärkeWasser-Suspension in einem Glas erscheint flüssig wie Wasser, wenn
man den Finger langsam hineintaucht und langsam darin rührt.
Versucht man jedoch den Finger schnell hineinzutunken, kann man
die Suspension kaum eindrücken.
Wenn ein Fluid strömt, wirken auf jede Schicht
∂x
z
∂v
des Fluid Reibungskräfte durch die beiden
dz
Nachbarschichten. Wenn die Nachbarschichten
v
y
unterschiedlich schnell strömen, unterscheiden
∂v
∂v
dF r =η
dy dz
dy dz
sich jedoch die Reibungskräfte auf beide Seiten dF l =η
∂x r
∂x l
dy
der Schicht. Die schnellere Nachbarschicht erdx
x
zeugt eine Kraft nach vorn, die langsamere
dagegen eine Kraft nach hinten. Die Gesamt- Abb. 10.24: Reibungskraft in einem strömenden
kraft auf die Schicht ist die Summe der beiden Fluid
Kräfte. Wir nehmen wir als Beispiel eine Strömung quer zur x-Richtung an und betrachten eine
∣
∣
Seite 207
Schicht der Dicke dx. Sowohl die Geschwindigkeit v(x) als auch der Geschwindigkeitsgradient
∂v/∂x können auf beiden Seiten verschieden sein. Wir schreiben deshalb auch die partielle Ableitung
∂v/∂x statt dv/dx. Die Gradienten auf beiden Seiten unterscheiden sich um ∂2v/∂x2∙ dx. Den
Gradienten auf der rechten Seite können wir nun durch den auf der linken Seite plus seiner
2
∂v
∂v
∂ v
=
+ 2 dx . Damit erhalten wir als
Änderung über die Schichtdicke dx ausdrücken:
∂ x r ∂x l ∂x
2
2
∂v
∂v
∂ v
∂ v
dy d z +η(
+ 2 dx )dy dz =η 2 dx dy dz . Mit
resultierende Kraft dF =dF l +dF r =−η
∂x l
∂x l ∂x
∂x
2
2
2
2
∂
∂
∂
dV = dx dy dz und dem Laplace-Operator Δ=∇ =( 2 + 2 + 2 ) ergibt sich
∂x ∂ y ∂ z
die Reibungskraft in einem strömenden Fluid dF R =ηΔ v dV (10.25).
∣
∣ ∣
∣
Druckkraft und Reibungskraft bilden die wesentlichen Kräfte in einem Fluid und bestimmen das
Aussehen der Strömung. Wenn wir noch die Gewichtskraft hinzunehmen und alle Kräfte auf ein
dF
dF
dF
dF
=( p + R + G )=−grad p+ηΔ v+ρ g . Die
Volumen beziehen, erhalten wir als Summe
dV
dV
dV
dV
Beschleunigung eines Fluidvolumens kann nun auf zwei Arten stattfinden: Entweder wird es dort,
wo es gerade ist, durch einwirkende Kräfte beschleunigt (a') oder es bewegt sich in einen Bereich
der Strömung, in dem die Geschwindigkeit anders ist (a). Damit erhalten wir die Bewegungsgleichung eines strömenden Fluids, die sogenannte
Navier-Stokes-Gleichung −grad p+ηΔ v+ρ g=ρ(a '+a) (10.26)
Studierende der Meteorologie lernen den Umgang mit dieser Gleichung und ihre Lösungen in
Spezialvorlesungen kennen. Wir werden das hier nicht weiter vertiefen. Für stationäre Strömungen
ist a' immer Null, für ideale Fluide verschwindet der Reibungsterm ηΔ v . Für die Berechnung von
Winden kommt noch die Corioliskraft pro Volumen hinzu.
10.2.2.4 Das hydrodynamische Paradoxon
Jetzt sind wir in der Lage, unsere Eingangs- Strömung
z
v=0
Fp
experimente zu verstehen: In einer Strömung
herrscht im Vergleich zum ruhenden Fluid ein
v
geringerer Druck und zwar umso geringer, je
Gebläse
schneller das Fluid strömt. Objekte werden
durch die Druckkraft in den Bereich des gerin- p
p
v=0
geren Drucks gezogen, weil ihnen auf ihrer
x
Unterdruckseite weniger Impuls übertragen
z
v
=
0
Fp
wird als auf der Überdruckseite. Trotzdem ist Strömung
noch unklar, warum die direkte Anströmung die
Fd
Objekte nicht wegtreibt. Schauen wir uns dazu
v
v=0
Gebläse
das typische Geschwindigkeitsprofil in einer
realen Strömumg (mit innerer Reibung) an. Die p
Geschwindigkeit nimmt von innen nach außen
p
v=0
x
und mit zunehmendem Abstand vom Gebläse
ab. Entsprechend nimmt der Druck von innen Abb. 10.25: Geschwindigkeit, Druck und Kräfte in
nach außen und mit zunehmendem Abstand zu. einer freien (oben) und einer durch eine Platte
Folglich wirken Druckkräfte durch den stati- gestörten Strömung (unten)
⃗ ⊥ ) und parallel zur Strömung auf
schen Druck von außen nach innen senkrecht zur Strömung ( F
⃗ d ) wirken dagegen vom Gebläse weg und
⃗ ∥ ). Dynamische Druckkräfte ( F
das Gebläse zu ( F
Seite 208
nehmen von innen nach außen ab. Die quer zur Strömung wirkenden Druckkräfte ziehen das Objekt
in die Strömung hinein und kompensieren sich erst, wenn das Objekt zentriert in der Strömung liegt.
Wenn das Objekt in der Strömung ist und sein Querschnitt größer als der Querschnitt der Strömung
ist, wird die Strömung umgelenkt und hinter dem Objekt ruht das Fluid näherungsweise. Dadurch
werden die anziehenden statischen Druckkräfte verstärkt und überwiegen die wegtreibenden dynamischen Kräfte. Wenn ein Objekt zu klein ist, wird die Strömung nicht ausreichend abgebremst und
das Objekt wird - wie intuitiv erwartet - weggeblasen.
10.2.2.5 Umströmung von Objekten
Im vorherigen Beispiel haben wir eine Platte betrachtet, die quer zur einer realen Strömung steht. Ist
„Querstehen“ überhaupt eine realistische Annahme? Wenn die Platte perfekt senkrecht exakt
zentriert in der Strömung steht, wird sie links und rechts von der Mitte gleich angeströmt. In diesem
Idealfall können wir uns gerade noch vorstellen, dass sie dann quer stehen bleibt. Was aber, wenn
wir diese idealen Annahmen aufgeben? Sollte sich die Platte dann nicht parallel zur Strömung
einstellen, weil sie doch dann - wieder intuitiv argumentiert - die Strömung am wenigsten stört?
Nehmen wir an, die Platte wird geringfügig von der Senkrechten ausgelenkt? Wirken dann nicht
Drehmomente, die sie ganz längs stellen?
Bevor wir dieser Frage nachgehen, wollen wir lernen, was mit einem Objekt in
einer Strömung passiert. Die Strömung übt Kräfte auf das Objekt aus. Die Oberfläche des Objektes können wir in viele kleine Teilflächen zerlegen. Auf jede Teilfläche wirkt eine senkrecht auf ihr stehende Druckkraft, die vom lokalen Über- oder
Unterdruck relativ zum mittleren Druck in der Strömung abhängt. Wenn wir all
F
⃗ . Das ist in
diese Druckkräfte addieren, erhalten wir die resultierende Druckkraft F
⃗ angreift, heißt Druckpunkt.
Abb. 10.26 verdeutlicht. Der Punkt P, an dem F
⃗ g und
⃗ und Druckpunkt P sind völlig analog zu Gewichtskraft F
Druckkraft F
Schwerpunkt S. Der Druckpunkt („center of pressure“) berechnet sich wie der
Fp
Schwerpunkt („center of mass“), man muss nur ρ gegen p austauschen48. Befestigt
man einen umströmten Körper im Druckpunkt, wirkt auf ihn kein Drehmoment
P
durch die Druckkraft. Ein Drehmoment um den Schwerpunkt entsteht, wenn der
⃗ und P auszurechnen, benötigt Abb. 10.26:
Druckpunkt P nicht im Schwerpunkt S liegt. Um F
man die genaue Druckverteilung p ( ⃗r ) in der Strömumg, die über die Bernoulli- Gesamtkraft F
Gleichung von der Geschwindigkeitsverteilung ⃗v ( ⃗r ) abhängt.
FA
Die Berechnung von ⃗v ( ⃗r ) übersteigt unseren Rahmen und ist
Gegenstand der Fluidmechanik. Doch für gegebene ⃗v ( ⃗r ) können
FW
AS
⃗ prinzipiell berechen. F
⃗ könwir jetzt p ( ⃗r ) und damit auch F
AP
⃗ ∥ in Strömungsrichtung und eine
nen wir in eine Komponente F
⃗ ⊥ senkrecht zur Strömungsrichtung zerlegen: Abb. 10.27: Dynamische AufKomponente F
⃗ ⊥=F
⃗ A dynamische Auftriebskraft triebs- und Luftwiderstandskraft
⃗ =F
⃗ ∥+ F
⃗ ⊥ . Wir nennen F
F
⃗ ∥= F
⃗ W Luftwiderstandskraft, wenn das Fluid Luft ist, ansonsten Newton-Reibung. Für viele
und F
⃗ =F
⃗ W +F
⃗ A näherungsweise mit Hilfe der
symmetrische und wichtige Körperformen kann man F
sogenannten Widerstandsbeiwerte cw und cA sowie der Anströmgeschwindigkeit v bestimmen:
1
Lufwiderstandskraft ∣F⃗W∣= ρv 2 c W A s (10.27) mit dem Widerstandsbeiwert cw.
2
1
2
Dynamische Auftriebskraft ∣F⃗ A∣= 2 ρ v c A A p (10.28) mit dem Auftriebsbeiwert cA.
48
Das ergibt ⃗r P=1/∫ p(⃗r ) d V⋅∫ ⃗r p(⃗r ) d V , worin K das Volumen oder die Oberfläche des Körpers ist.
K
K
Seite 209
Der Widerstands- bzw. Auftriebsbeiwert cw bzw. cA sind Konstanten, die von der Form des Körpers
und seiner Orientierung zur Strömung abhängen. Man kann sie Tabellen entnehmen. As bzw. Ap
sind die Querschnittsflächen des Körpers senkrecht bzw. parallel zur Strömung 49. Dass beide Kräfte
vom Staudruck ½ρv2 abhängen, ergibt sich unmittelbar aus der Bernoulli-Gleichung.
Mit geschärftem Blick betrachten wir jetzt in Abb. 10.28 die
F⊥ F
Umströmung einer Platte, die geneigt zur Strömungsrichtung steht. Durch die Neigung der Platte wird eine
Fǁ
Großteil des Fluids nach unten umgelenkt und der StauP S
punkt rutscht nach oben. Unterhalb der Platte wird die
Strömung gebremst, oberhalb beschleunigt. Oberhalb der
Platte haben wir deshalb Unterdruck, unterhalb der Platte
Überdruck. Weil der Druckpunkt nicht mit dem Schwerpunkt zusammenfällt, wirkt ein Drehmoment, das die Platte
quer zur Strömung stellt. Das Drehmoment verschwindet, Abb. 10.28: Strömung um eine Platte
sobald die Platte quer zur Strömung steht. Dies ist tatsächlich die stabile Gleichgewichtslage einer
Platte in einer Strömung! Überprüfen Sie das, indem Sie ein Blatt Papier fallen lassen. Das
Drehmoment verschwindet zwar auch, wenn die Platte parallel zur Strömung liegt, die Lage ist
jedoch labil, weil jeder noch so kleine Winkel ein querstellendes Drehmoment erzeugt.
In einem idealen Fluid ohne innere
Reibung ist die Widerstandskraft immer
F⃗W =0 . Das kann man am Beispiel einer
umströmten Kugel folgendermaßen einsehen: Wenn sich das Fluid vor der Kugel
von der Mittellinie nach außen bewegt,
wird es beschleunigt und Druckenergie in Abb. 10.29: Reibung erzeugt den Strömungswiderstand
kinetische Energie umgewandelt. Wenn es sich dahinter wieder zur Mittellinie bewegt, wird es
wieder gebremst und kinetische Energie in Druckenergie umgewandelt. Ohne Reibung ist dieser
Prozess verlustfrei. In diesem Fall kann das Fluid keine Energie an die Kugel übertragen und somit
keine Arbeit an ihr verrichten, und folglich keine Kraft auf sie ausüben. Die Fluidteilchen benehmen
sich analog zu einer Murmel, die reibungefrei durch eine Kuhle rollt: Beim Herabrollen wird sie
schneller, wenn sie bergauf rollt, wird sie wieder langsamer und am Ende ist sie so schnell wie
zuvor. Wenn sie jedoch nicht reibungsfrei rollt, wird sie entweder am Ende langsamer sein oder
sogar den Rand der Kuhle nicht mehr erreichen und umkehren. Analog benehmen sich Fluidteilchen. Wenn sich ein Fluidvolumen hinter der Kugel in einen Bereich mit höheren Druck bewegt,
entspricht das einem „Bergaufrollen“. Sobald eine Reibung zwischen den Fluidschichten auftritt,
wird kinetische Energie dissipiert und der Druck erreicht nicht mehr den Wert vor der Kugel. Nicht
nur seitlich, sondern auch hinter der Kugel entsteht Unterdruck. Dadurch wirkt eine resultierende
Kraft auf die Kugel, und es können Turbulenzen entstehen, weil das Fluid seine Bewegungsrichtung
umkehrt.
Wenn man diesen Zusammenhang einmal nachvollzogen hat, liegt es auf der Hand, wie man den
Strömungswiderstand verkleinern kann. Dazu muss man den Unterdruck hinter dem Körper verringern oder verhindern. Die einfachste Möglichkeit, das zu tun, ist es, den Unterdruckbereich einfach
mit dem Körper auszufüllen. Genau so entstehen stromlinienförmige Körper, die einen besonders
kleinen Strömungswiderstand haben und Turbulenzen hemmen.
49
Oft wird auch für beide Kräfte die gleiche Bezugsfläche gewählt.
Seite 210
10.2.2.6 Der Streit ums Fliegen: Warum fliegt ein Flugzeug?
Nun haben wir eigenlich alles beisammen, um tiefer zu verstehen, warum ein Flugzeug fliegt. Die
Druckkräfte um eine angeströmte Tragfläche addieren sich zur dynamischen Auftriebskraft, die das
Flugzeug in der Luft hält und zur Luftwiderstandskraft, die seiner Vorwärtsbewegung entgegenwirkt. Die Kraft wirkt nach oben, weil die Luft oberhalb der Tragfläche schneller strömt als
unterhalb und dadurch einen Unterdruck erzeugt. Soweit ist das klar. Häufig findet man jedoch
fehlerhafte Erklärungen, warum auf der Oberseite der Tragfläche die Luft schneller strömt als auf
der Unterseite. Unstrittig ist, dass sie schneller strömt. Reicht das als Erklärung? Wenn ja, warum
haben Tragflächen ein spezielles Profil? Und was ist der so gefährliche Strömungsabriss, durch den
Flugzeuge abstürzen können? Sie sehen, das Fliegen sollte man doch etwas genauer beleuchten.
Dazu betrachten wir noch einmal den Auftrieb
einer Platte: Wenn man ein Brett von der
FW
FW
horizontalen in die vertikale Position dreht, ist
●
●
P
P
seine Auftriebskraft am Anfang und am Ende null,
muss also für irgendeinen Winkel dazwischen
einen maximalen Wert haben. Gleichzeitig nimmt
FA
der Luftwiderstand kontinuierlich zu. Den Winkel
FA
der Platte zur Anströmrichtung nennt man Anstell●
FW
FW
P
●
winkel. Bei einer Platte können wir uns Auftrieb
P
also nur mit zunehmendem Luftwiderstand erkaufen. Wenn man dagegen ein asymmetrisches Tragflächenprofil nimmt, erhält man auch ohne Abb. 10.30: Verschiedene Orientierungen eines
Anstellwinkel - also bei sehr kleinem Luftwider- angeströmten Bretts
stand - einen Auftrieb. Tatsächlich kann man die Profile sogar so optimieren, dass der Luftwiderstand für einen Anstellwinkel verschwindet. Wir lernen daraus: Um Auftrieb zu erzeugen,
genügt eine Platte. Die spezielle Form von Tragflächenprofilen ist nicht erforderlich, um Auftrieb zu
erzeugen, sondern dient der Verringerung des Luftwiderstandes.
Eine oft geäußerte Fehlmeinung ist, die spezielle Form der Tragfläche sorgt für einen weiteren Weg der Luftteilchen oberhalb der
Tragfläche, wodurch sie schneller strömen müssten als unterhalb
und das bewirke den Auftrieb. Bei solch einer Argumentation wird
irrigerweise angenommen, dass Luftpakete, die am Anfang der
Tragfläche gleichzeitig starten, jedoch unterschiedliche Wege
laufen, am Ende gleichzeitig ankommen müssten. Experiment und
Rechnungen zeigen, dass dem nicht so ist. Sehr schöne Simulationen dazu findet man z. B. unter [11]. Es ist vielmehr so: Luft die
unterhalb des Profils bzw. der Platte strömt, wird gebremst und
nach unten umgelenkt. Sie strömt langsamer und hinkt der
Strömung oberhalb des Profils hinterher. Wenn die unten entlang
fließende Luft das Ende der Tragfläche erreicht, hat die oben
entlang fließende Luft die Tragfläche schon längst passiert.
Abb. 10.31: Berechnete Tragflächenströmung mit farblich
markierten Luftpaketen.
(Quelle:[11])
Die Natur dieser Strömung versteht man am besten, wenn man sie zerlegt. Dazu reist man in
Gedanken mit der mittleren Geschwindigkeit v0 der Luftteilchen mit ihnen mit. Wenn man mit v0
reist, sieht man die Luft oberhalb der Tragfläche mit δv vorwärts und unterhalb mit – δv rückwärts
strömen. Eine solche Strömung entspricht einem Wirbel. Ein Wirbel ist nicht nur dann vorhanden,
Seite 211
wenn eine Strömung deutlich erkennbar im Kreis strömt. In der Physik sind wir genauer und
sprechen von einem Wirbel, wenn ein Objekt durch eine Strömung in Rotation versetzt wird. Und
dazu genügt es, wenn zwei parallele Fluidschichten unterschiedlich schnell strömen.
Mathematischer Einschub: Zirkulation und Rotation
Wir betrachten eine Wasserströmung v ( z)=v 0+c ( z− z0 ) mit einer Konstante c, in
der die Geschwindigkeit in z-Richtung linear zunimmt. Darauf befindet sich eine
quadratische Holzplatte der Kantenlänge a. Durch die Strömung wird die Platte mit
v0 treiben und sich außerdem im Uhrzeigersinn drehen. Die Oberkante der Platte
befindet sich bei z= z 0+ 1/2 a . Sie bewegt sich relativ zum Mittelpunkt mit der
Geschwindigkeit v o=v ( z)−v 0=v 0+ c( z 0+ 1/2 a −z0 )−v 0=+ 1/2 ca und die Unterkante analog mit v u=− 1/2 ca . Die Winkelgeschwindigkeit der Platte ist somit
ω=
vo
1/2 a
=
vu
1/2 a
z
Weg
z0
a
v0
a
x
=c . Als Zirkulation Z bezeichnen wir das Integral Z = ∮ ⃗v⋅d ⃗s .
Weg
Für einen rechteckigen Weg entlang der Kante des Quadrats hat die Zirkulation in unserem Beispiel den Wert
2
Z = vu a −v o a =−1/ 2 ca⋅a −1/2 ca⋅a =−ca . Der zweite Summand ist negativ, weil Weg und Geschwindigkeit an
der Oberkante entgegengesetzt gerichtet sind. Von einem Wirbel sprechen wir, sobald Z nicht verschwindet. Der
Zahlenwert der Zirkulation entspricht der doppelten Winkelgeschwindigkeit ω der Drehung mal dem
Flächeninhalt A, der von dem Weg eingeschlossen wird: Z = 2ω A . Die Zirkulation ist somit von der Fläche des
Wirbels abhängig. Als Wirbelstärke ζ (sprich „zeta“) bezeichnet man die flächenunabhängige Größe
Z
ζ= =2ω , also die doppelte Winkelgeschwindigkeit. Die Winkelgeschwindigkeit ist ein Vektor 50 und auch ein
A
Wirbel hat Vektorcharakter. Die vektorielle Wirbelstärke nennt man Rotation: rot ⃗v =∇×⃗v . Die Zirkulation Z ist
eine skalare Flächengröße. Die Rotation ist dagegen eine lokale vektorielle Größe und ihr Betrag ist die
Wirbelstärke ζ eines Punktes. Das entspricht dem Grenzfall, dass man die Fläche der Zirkulation immer kleiner
werden läßt und auf einen Punkt zusammen zieht. Zirkulation und Rotation sind über den Satz von Stokes
⃗⋅d ⃗A . Die Zirkulation ist ein Maß dafür, ob Teilchen des
miteinander verbunden: Z = ∮ ⃗v⋅d ⃗s=∫ rot ⃗v⋅d ⃗A=∫ 2 ω
Weg
A
A
Fluids auf geschlossenen Bahnen laufen. Die Rotation ist ein Maß dafür, ob Teilchen des
Fluids um sich selbst rotieren. Fluidwirbel sind in der Regel sogenannte Potenzialwirbel. In
ihnen nimmt v mit dem Abstand r vom Mittelpunkt von innen nach außen mit v = c/r ab. Darin
ist c eine Konstante. Ihre Zirkulation ist für alle Bahnen um den Mittelpunkt
Z =⃗v⋅⃗s =c /r⋅2 π r=2 π c=konst. Ihre Rotation verschwindet jedoch für alle Punkte außer dem
Mittelpunkt, sie sind außerhalb des Mittelpunktes rotationsfrei. Wenn Sie eine Tasse Tee
umrühren, laufen die Teeblätter zwar auf Kreisbahnen, rotieren jedoch nicht um sich selbst.
Zirkulation
Rotation
Wir können also die Strömung um
v0
eine Tragfläche in eine wirbelfreie
v0 Strömung und eine Wirbelströmung
v
+
δv
0
zerlegen. Und jetzt kommt das Wesenv0 v
tliche: Der Auftrieb steckt in der Wir- 0 +
=
belströmung, denn der Wirbel erzeugt
v0 – δv
+ δv
die unterschiedliche Geschwindigkeit
oberhalb und unterhalb der Tragfläche
– δv
und damit die Druckdifferenz nach
Bernoulli. Man kann also den Auftrieb
entweder aus der Stärke der Wirbel- Abb. 10.32: Zerlegung einer Tragflächenströmung in eine
strömung – der Zirkulation – oder aus wirbelfreie Strömung und einen Wirbel.
der Druckdifferenz bestimmen. Wenn diese Wirbelströmung zum erliegen kommt, spricht man von
einem Strömungsabriss. Das kann bei zu steilen Anstellwinkeln geschehen, weil dann oberhalb der
Tragfläche Turbulenzen entstehen. Der Auftrieb verschwindet schlagartig und das Flugzeug geht in
den Sturzflug über.
50
Genauer: ein Pseudovektor oder axialer Vektor.
Seite 212
Wenn eine Anströmung eines Fluids der Dichte ρ mit der
Geschwindigkeit v0 eine Zirkulation Z erzeugt, dann erhält man den
zugehörigen Auftrieb pro Länge L der Tragfläche durch die
∣F⃗ A∣
Kutta-Joukowski-Formel
=ρ v 0 Z (10.29).
L
Ihre Herleitung übersteigt unseren Rahmen.
Schließlich kann man auch die Gesamtströmung und die damit
verbundene Luftumlenkung nach unten betrachten, und erhält dann Abb. 10.33: Strömungsabden Auftrieb aus Actio = Reactio. Denn wenn die Tragfläche die Luft riss an einer Tragfläche
nach unten umlenkt, muss sie eine Kraft auf die Luft nach unten
ausüben. Nach Actio = Reactio muss die Luft eine Kraft auf die Tragfläche nach oben ausüben. Dies
besonders einfache Erklärung ist beim Hubschrauber offensichtlich. Er fliegt, weil er Luft nach
unten bläst. Vor allem bei Start und Landung sieht man die heftigen Luftbewegungen unmittelbar.
Beim Flugzeug ist diese Erklärung ebenfalls richtig, nur nicht so offensichtlich, weil der vertikalen
Abwärtsströmung eine starke wirbelfreie horizontale Strömung überlagert ist, die für den Auftrieb
jedoch bedeutungslos ist.
Im Zusammenhang mit dem Fliegen haben wir also drei gleichberechtigte Erklärungsansätze:
• Die Bernoulli-Fraktion sagt: Ein Flugzeug fliegt, weil oberhalb der Tragfläche durch die
höhere Strömungsgeschwindigkeit Unterdruck herrscht.
• Die Wirbel-Fraktion sagt: Ein Flugzeug fliegt, weil um die Trägfläche herum eine
Zirkulation entsteht.
• Die Newton-Fraktion sagt: Ein Flugzeug fliegt, weil die Tragfläche Luft nach unten umlenkt
und die Luft die entsprechende Gegenkraft auf die Tragfläche ausübt.
Alle Erklärungen beinhalten einen Teilaspekt der Physik. Wählen Sie sich den Ansatz aus, der Ihnen
am meisten liegt. Für die Schule mag der Newton-Ansatz am geeignetsten sein, denn Wirbelstärke
und Zirkulation erfordern Mathematik, die über das Schulniveau hinausgeht. Der Bernoulli-Ansatz
wird am häufigsten verwendet. Er wird jedoch leider oft mit einer fehlerhaften Erklärungen zur
Ursache der Druckdifferenz verbunden und verankert dadurch Fehlvorstellungen. Das sollen Sie
vermeiden. Die Ursache der Druckdifferenz lässt sich nicht einfach erklären, sondern erfordert einen
tiefen Einstieg in die Fluidmechanik. Eine schöne Übersicht dazu findet man in [12].
10.2.2.7 Ab in die Tiefe: Magnus-Effekt und Potenzialströmungen
Das Konzept, eine Strömung zu zerlegen,
wollen wir abschließend noch etwas vertiefen.
Dazu betrachten wir ein einfaches System,
v0 +ω r
nämlich einen Zylinder mit dem Radius R und
der Länge L, der von einem realen Fluid mit v0
v0
der mittleren Anströmgeschwindigkeit v0 umv0 – ω r
strömt wird. Sein Stromlinienbild sieht genauso aus, wie das einer umströmten Kugel. Jetzt
lassen wir den Zylinder mit der Winkelgeschwindigkeit ω rotieren. Unmittelbar am Abb. 10.34: Links: ruhender Zylinder und Wirbel,
Zylinder haftet das Fluid an ihm, sehr weit rechts: Strömung um einen rotierenden Zylinder.
weg hat es die Geschwindigkeit v0. Das erzeugt einen Wirbel mit der Geschwindigkeit
v=ω R=c / R an seiner Oberfläche. Daraus erhalten wir c=ω R2 und v=ω R 2 /r für die Ge-
Seite 213
schwindigkeit im größeren Abstand. Die Strömung um einen rotierenden Zylinder erhalten wir,
indem wir einen solchen Wirbel zur Strömung des nicht rotierende Zylinders addieren. Die
Zirkulation der Strömung ist Z=(ω R)2 π R=2 π ω R2 . Für die Querkraft (den Auftrieb) des
strömenden Zylinder erhalten wir mit der Kutta-Joukowski-Formel F A =ρ v 0 2 π ω R2 L . Das Auftreten dieser Querkraft nennt man Magnus-Effekt und er ist z. B. von großer Relevanz im Sport.
Beispiel: Bananenkurve und angeschnittener Tischtennisball Im Sport kann man oft beobachten, dass Bälle eine Kurve fliegen, die deutlich von der Bahnkurve der Wurfparabel abweicht. Das
geschieht, wenn die Sportler die Bälle „anschneiden“, d. h. ihnen eine Rotation mitgeben. Durch die
Drehimpulserhaltung bleibt die Rotationsachse fest und es wirkt eine Querkraft durch den MagnusEffekt. Die Bälle werden dadurch seitlich abgelenkt und fliegen eine sogenannte „Bananenkurve“,
die für den Gegener kaum vorhersehbar ist.
Experiment zum Magnuseffekt Man läßt eine Kugel mit Hilfe eines Brettes
schräg in das Wasser eines Aquariums rollen. Entgegen der Erwartung fällt
die Kugel im Wasser auf einer stark gekrümmten Bahn. Wenn man die Kugel
statt dessen unter dem gleichen Winkel in das Wasser wirft, fällt sie auch im
Wasser auf der üblichen Parabelbahn. Das zeigt: Durch die Rotation wird
eine Querkraft auf die Kugel erzeugt.
v
F
In der Theorie der Potenzialströmungen geht man von
solchen einfachen Strömungsproblemen aus, die man analytisch lösen kann. Der Trick ist nun, dass man aus solchen
einfachen Strömungen die Strömungen um andere Körper
durch eine sogenannte konforme Abbildung (siehe z. B.
[13]) gewinnen kann. Eine konforme Abbildung ist eine
mathematische Methode der Funktionalanalysis, mit der
man ein Bild in ein anderes Bild überführen kann und
dabei die Winkel erhält. Eine gerade Linie kann krumm
werden, aber ein rechter Winkel bleibt ein rechter Winkel.
Mit einer konformen Abbildung, die einen Kreis in ein
Tragflächenprofil überführt, gewinnt man aus der Zylinderumströmung die Umströmung eines Tragflächenprofils.
Genauso geht man in der Strömungsmechanik vor. Damit
v =0 Abb. 10.35: Eine konforme Abbildung
man so vorgehen kann, muss für die Strömungen rot ⃗
gelten, denn dann existiert ein skalares Geschwindigkeits- (Quelle:[13])
potenzial ϕ mit ⃗v =∇ ϕ . Die zugehörigen skalaren Basispotenziale für parallele Strömunen,
Quellen und Senken, Dipole, Wirbel etc. kennt man bereits aus der Elektro- oder Magnetostatik.
Um eine einfache Strömung abzubilden, addiert man die passenden Potenziale, bildet den
Gradienten und hat das Geschwindigkeitsfeld der Strömung. Daraus bekommt man die Druckverteilung, die Kräfte usw. Um die Ergebnisse auf andere Körper zu übertragen, macht man eine
konforme Abbildung. Die Strömungsmechanik ist ein Paradebeispiel für den modularen Charakter
der Physik: Mit der gleichen Methode, mit der man die Kraft aus der potenziellen Energie gewinnt,
erhält man elektrische Felder aus dem elektrischen Potenzial oder Geschwindigkeitsfelder von
Strömungen aus dem Geschwindigkeitspotenzial. Die mathematischen Probleme muss man nur
einmal lösen und kann sie dann in allen Gebieten anwenden. Die zugehörigen Bilder der Potenziale
und Vektorfelder sind in allen Gebieten gleich.
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Sortieren Sie den Stoff dieses Kapitels in Fakten und Methoden. Lernen Sie die Fakten jetzt.
Trainieren Sie die Methoden anhand der Übungen. Wiederholen Sie die Fakten vorheriger Kapitel.
Übungen
10.13) Wie schnell fällt der Regen? Studieren Sie das Fallen von Tröpfchen verschiedener Größe
r1 = 0,1 mm, r2 = 5 mm, r3 = 1 cm sowohl für Stokes-Reibung als auch für Newton-Reibung.
Welche Endgeschwindigkeiten erreichen die Tropfen in ruhender Luft? Wie große Tropfen kann ein
Aufwind mit v = 10 m/s noch hochtragen? Welche Reibung muss dann wirksam sein?
10.14) In Kap. 10.2.2.4 wurde angenommen, dass die
v (r)
Geschwindigkeit in einer zylindrischen Strömung eines viskosen p1
p2
r
Fluids quadratisch mit dem Abstand r von der Mittellinie abnimmt.
Analog ist das Geschwindigkeitsprofil einer stationären laminaren R
v0
p 1− p 2 2
r gegeben. Darin ist v0 die
Rohrströmung durch v (r )=v 0−
4ηL
maximale Geschwindigkeit, Δp = p1 – p2 ist die Druckdifferenz an den Rohrenden, η ist die
Viskosität, L die Rohrlänge.
a) Leiten Sie den Ausdruck für v(r) her.
b) Berechnen Sie aus v(r) den Volumenstrom dV/dt für ein Rohr mit dem Radius R.
c) Wie hängen v0 und dV/dt von R und L ab? Was müssen Sie tun, um bei gegebener Rohrlänge und
Druckdifferenz den Volumenstrom zu vervierfachen?
1
1
10.15) Die Transformation w (z )= (z + ) stellt eine konforme Abbildung dar, die eine komplexe
2
z
Zahl z auf eine komplexe Zahl w abbildet. Berechnen Sie für mindestens 10 aussagekräftige Punkte
zi eines Einheitskreises, der im Punkt z0 = –0,1+ i 0,1 in der komplexen z-Ebene liegt, die
Bildpunkte wi. Stellen Sie die wi in der komplexen Zahlenebene grafisch dar. Wie sieht das Bild
aus? Beschreiben Sie es mit Worten. Wo findet man es im Alltag? Welche Berufsgruppe benutzt
diese Abbildung täglich?
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11 Anhang
A.1 Ebene Polarkoordinaten
In ebenen Polarkoordinaten beschreiben wir einen Ortsvektor
⃗r = x = r cos (φ) durch die zwei Koordinaten r und φ. Der
y
r sin (φ)
Polarwinkel φ ist der Winkel zur x-Achse. Er nimmt gegen den
cos( φ)
Uhrzeigersinn zu. Die Einheitsvektoren sind ⃗e r =
und
sin(φ)
⃗e ϕ= −sin(φ) . Die Einheitsvektoren sind nicht ortsfest, sondern
cos (φ)
ändern ihre Lage mit dem Polarwinkel φ.
()(
)
(
(
y
dφ
)
dA
dr
ds
eφ
φ
r
er
x
)
Ein radiales Wegelement ist dr . Ein Kreisbogen-Wegelement ist
d s=r d φ . Ein Flächenelement ist d A=r dr d φ . Der Normalenvektor zur Kreisfläche ist
n =⃗e r ×⃗
e ϕ . Ein vektorielles Flächenelement ist d ⃗
⃗
A=dA⋅⃗
n . Ein vektorielles radiales Wegelement
d
r
=dr
e
s =ds ⃗e ϕ .
⃗
⃗
ist
r . Ein vektorielles Kreisbogenwegelement ist d ⃗
A.2 Zylinderkoordinaten
In
Zylinderkoordinaten beschreiben wir einen Ortsvektor
r ⊥ cos (φ)
x
⃗r = y = r ⊥ sin (φ) durch die drei Koordinaten r⊥, φ, z mit 0 ≤ r ⊥
⃗e z
z
z
z
≤ ∞, 0 ≤ φ ≤ 2π, –∞ ≤ z ≤ ∞. r ⊥ ist der senkrechte Abstand zur zr
Achse, φ ist der Polarwinkel von r ⊥ . Die Einheitsvektoren sind
⃗e φ
cos( φ)
−sin (φ)
0
⃗e r φ
⃗e r = sin(φ) , ⃗e φ= cos( φ) und ⃗e z = 0 . Die Einheitsvektoren
r⊥
x
1
0
0
y
sind nicht ortsfest, sondern ändern ihre Lage mit dem Polarwinkel φ.
Ein Volumenelement ist dV =r ⊥ dr ⊥ d φ dz . Ein Zylinderschalenvolumenelement der Höhe dz ist
dV =2 π r ⊥ dr ⊥ dz . Ein Oberflächenelement bei konstantem r ⊥ ist d A=r ⊥ d φ dz . Der Normalenvektor zur Kugeloberfläche ist n⃗ =⃗e r . Ein vektorielles Oberflächenelement ist d ⃗
A=dA⋅⃗
n.
()(
)
( ) ( ) ()
A.3 Kugelkoordinaten
In
Kugelkoordinaten beschreiben wir einen Ortsvektor
x
r sin(ϑ)cos(φ)
⃗r = y = r sin(ϑ)sin(φ) durch die drei Koordinaten r, ϑ und φ
z
r cos( ϑ)
mit 0 ≤ r ≤ ∞, –π ≤ ϑ ≤ π, 0 ≤ φ ≤ 2π. Die Einheitsvektoren sind
sin (ϑ)cos(φ)
cos (ϑ)cos (φ)
−sin (φ)
⃗e r = sin(ϑ)sin (φ) , ⃗e ϑ= cos(ϑ)sin (φ) und ⃗e φ= cos(φ) .
cos(ϑ)
−sin (ϑ)
0
Die Einheitsvektoren sind nicht ortsfest, sondern ändern ihre Lage
mit dem Polarwinkel φ und dem Azimutalwinkel ϑ.
()(
)
( ) (
)
( )
z
⃗e r
ϑ r
φ
x
⃗e φ
⃗e ϑ
y
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Ein allgemeines Volumenelement ist dV =r 2 dr sin(ϑ) d ϑ d φ . Ein Volumenelement in Form einer
Kugelschale ist dV =4 π r 2 dr . Ein Flächenelement der Kugeloberfläche bei konstantem r ist
2
n =⃗e r . Ein vektorielles
d A=r sin( ϑ)d ϑ d φ . Der Normalenvektor zur Kugeloberfläche ist ⃗
Flächenelement der Kugeloberfläche ist d ⃗
A=dA⋅⃗
n.
[1] H.J. Eichler, H.-D. Kronfeldt, J. Sahm, Das Neue Physikalische Grundpraktikum, 2. Auflage, Springer-Verlag Berlin
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[2] https://www.tu-chemnitz.de/physik/OSMP/cvb_ph1/ph1_tut_sk_01.pdf
[3] Wolfgang Demtröder, Experimentalphysik 1, Mechanik und Wärme, 5. Auflage, Springer-Verlag Berlin (2008)
[4] Rainer Müller, Klassische Mechanik, Vom Weitsprung zum Marsflug,Walter de Gruyter Berlin (2009)
[5] Wolfgang Steiner, Martin Schagerl, Raumflugmechanik, Dynamik und Steuerung von Raumfahrzeugen, Springer
Verlag, Berlin, Heidelberg (2004)
[6] Martin Erdmann, Physik Denken, Experimentalphysik 1: Kraft, Energie, Bewegung, Springer-Verlag Berlin (2011)
[7] Friedhelm Kuypers, Klassische Mechanik, 9. erweiterte Auflage, Wiley-VCH, Weinheim (2010)
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Enviromental Engineering (2014)
[12]Rita Wodzinski,Wie erklärt man das Fliegen in der Schule? Versuch einer Analyse verschiedener Erklärungsmuster,
Plus Lucis 2/99, Verein zur Förderung des Physikalischen und Chemischen Unterrichts (VFPC), Österreichische
Physikalische Gesellschaft (ÖPG) (1999)
[13] Hans Walser, Konforme Abbildungen, ETH Zürich, http://e-collection.library.ethz.ch/eserv/eth:25629/eth-2562908.pdf, (2014)
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