Sprachsystem und Sprachgebrauch Teil 5a Komponenten von Sprache (1) Willkommen zu dieser Vorlesung! Menschliche Äußerungen sind auf verschiedenen Ebenen zu untersuchen: (1) Texte (< lat. texere: weben/flechten) Sprachwiss.: Text = die sprachliche Form einer kommunikativen Handlung. Texte werden bestimmt (a) einerseits durch pragmatische (also situationsbezogene, „textexterne“) Merkmale, (b) andererseits durch sprachliche, „textinterne“ Merkmale. • Weiter gefasste Textbegriffe: auch Illustrationen o. Elemente d. nonverbalen Komm. (etwa Mimik u. Gestik); sogar eine reine Bildsequenz = Text, wenn damit erkennbar eine kommunikative Funktion erfüllt wird. • „Diskontinuierlicher“ Text: Texte, die nicht fortlaufend geschrieben sind und sich teilweise nicht-sprachlicher Mittel bedienen wie Formulare, Tabellen u. Listen, Grafiken u. Diagramme. Eigenschaft des „Text-Seins“ = Textualität, • sprachwiss. Untersuchung von Texten = Textlinguistik, sie stellt verschiedene Textualitätskriterien zur Verfügung. Diese Kriterien: (a) bezogen einerseits auf die Merkmale des Textes selbst - Kohäsion (formaler Zusammenhalt) - Kohärenz (logischer Zusammenhalt), (b) andererseits auf die Merkmale einer Kommunikationssituation - Intentionalität, - Akzeptabilität, - Situationalität, - Informativität). Intertextualität Eigenschaft eines Textes, mit anderen Texten in Verbindung zu stehen und auf sie Bezug zu nehmen. (In literar. Texten oft durch bewusste Verweise u. Zitate.) Zum Verstehen eines Wortes/Satzes: ganzen Text kennen: Ferdinand Raimunds Verse aus „Der Diamant des Geisterkönigs“ (Zweiter Aufzug, 19. Szene) Ich bin dein Vater Zephises Und habe dir nichts zu sagen als dieses. dieses: hier − spielerisch − rückverweisend (anaphorisch) und nicht vorverweisend (kataphorisch). Textlinguistik → Gesprächs- bzw. Diskurslinguistik (2) Sätze Satz: gedankliche Einheit, wird beim Sprechen (im Deutschen) durch sinkenden − bei Fragen durch steigenden − Ton, in schriftlicher Form durch Satzzeichen abgeschlossen. Satz = eine aus einem Wort oder mehreren Wörtern bestehende in sich geschlossene sprachliche Einheit, mit der eine Sprechhandlung vollzogen wird. (a) Satz als Subjekt- und Prädikateinheit Satz = sprachliche Einheit, die aus Subjekt und Prädikat besteht. (Seit Aristoteles; 384 v.Chr.– 322 v.Chr.) → traditionelle Gramm.: Satz = bestehend aus Satzaussage (Prädikat) + Satzergänzung (Objekt) + Satzgegenstand (Subjekt). (b) Satz als Rede- oder Textelement Satz = Grundeinheit, aus der eine Rede o. ein Text besteht. → Zwar traditionelle Gramm.: Satz = bestehend aus Satzaussage (Prädikat), Satzergänzung (Objekt) u. Satzgegenstand (Subjekt) ↕ Satz = bestehend aus d. Benennung eines Objekts (Subjekt) u. der Verbindung des benannten Objekts mit einer Eigenschaft im weiteren Sinne (Prädikat). (c) Satz als kommunikative Einheit Satz = jede selbständige, abgeschlossene sprachliche Äußerung, die in einem kommunikativen Handlungszusammen-hang geäußert wird (und prinzipiell verstanden werden kann). Der deutsche Satz: drei zentrale Eigenschaften • Zweigliedrigkeit (zwei Haupt-Satzglieder). • Nominativischer Charakter (als Subjekt dient in der Regel ein Nomen: ein Substantiv oder ein Pronomen im Nominativ). • Verbaler Charakter (das Prädikat enthält in der Regel ein finites Verb). Satzklassifikation • In kommunikativer Hinsicht (nach Satzarten) (insbes.): Deklarativsatz, Fragesatz u. Aufforderungssatz. • Nach der Verbstellung des finiten Verbs: Stirnsatz, Kernsatz und Spannsatz. • Nach der Anzahl und Beziehung finiter Verben: einfacher u. zusammengesetzter Satz. • Nach dem Bau: Hauptsatz u. Nebensatz; • Im Hinblick auf syntaktische Unvollständigkeit (Anakoluth, Ellipse, Fragment, Nominalsatz). Nach d. Stellung d. finit. Verbs (topol. Modell): • Stirnsatz (Verb-Erst-Stellung/Verberstsatz) An 1. Stelle: das finite Verb (Entscheidungsfragen, Aufforderungssätze): Kommst du? Geh jetzt! • Kernsatz (Verb-Zweit-Stellung/Verbzweitsatz) An 2. Stelle: das Verb in Hauptsätzen, die Deklarativsätze sind: Ich schreibe diesen Satz. • Spannsatz (Verb-Letzt-Stellung/Verbletztsatz) Die Endstellung hat das finite Verb (in eingeleiteten Nebensätzen): Nachdem ich dieses Beispiel erklärt habe, höre ich auf. Nach dem Bau: Einfache vs. zusammengesetzte Sätze Einfacher Satz (auch: Einzelsatz) = Satz, der nur ein konjugiertes Verb enthält, • darüber hinaus noch weitere Satzglieder: (a) entweder als notwendige Ergänzung (z.B. Subjekt) o. (b) als Angabe (z.B. Attribute o. adverbiale Bestimmungen): Der Wolf heulte in der Nacht den Mond an. • zu den einfachen Sätzen: auch elliptische Sätze u. Kurzformen: Komm! Zusammengesetzter/komplexer Satz = Satz, in dem mehr als ein finites Verb vorkommt bzw. der aus mehreren einfachen Sätzen (Teilsätzen/TS) besteht. Der zusammengesetzte Satz kann in zwei Formen auftreten: (A) S a t z v e r b i n d u n g : Hauptsatz /HS) + HS (= Koordination/Parataxe/Nebenordnung) (B) S a t z g e f ü g e : HS + Nebensatz (NS) (Subordination/Unterordnung). Zu (A): Übergeordnete Kategorie: Satzreihe a) Satzverbindung (= ausschließliche Verknüpfung von Hauptsätzen/Nebenordnung von Hauptsätzen), z.B. Emil bastelte, Erika strickte und Erich las ein Buch. b ) G l i e d s a t z r e ih e (= Koordination v. Nebensätzen → ausschließliche Verknüpfung von Gliedsätzen): (Ich würde gerne wissen), wann der Tod eingetreten ist, welche Personen zur Zeit der Tat im Hause waren, wer die Polizei verständigt hat, wer einen Schlüssel besitzt und wer das Haus zuletzt verlassen hat. Alternative zur Satzverknüpfung: • z u s a m m e n g e z o g e n e r S a t z = Reihungen, bei denen gemeinsame Teile eingespart werden, z.B. Wir hoffen, dass Sie mit unseren Leistungen zufrieden sind und unsere Firma auch in Zukunft berücksichtigen. (→ Erweiterungsprobe: Wir hoffen, dass Sie mit unseren Leistungen zufrieden sind und dass Sie unsere Firma auch in Zukunft berücksichtigen.) Zu (B): Satzgefüge • Teilsätze = nicht gleichrangig: Über- u. Unterordnung → Hypotaxe • HS/Matrixsätze und NS/ Konstituentensätze: NS = einem anderen inhaltlich untergeordneter TS, der die Aussagen eines anderen TS-es näher bestimmt. ↕ TS, der keinen and. TS näher beschreibt = HS, z.B. Obwohl sie ihn nicht mochte, grüßte sie ihn, weil er ihr Professor war. (NS + HS + NS) Nebensätze nach ihrer Form: • E i n g e l e i t e t e r N e b e n s a tz : Er sagt, dass er sofort kommt. • U n e in g e l e it e t e r N e b e n s a t z : Er sagt, er komme sofort. • I n f i n i t i v k o n s t r u k t i o n : Ich bitte dich, sofort zu kommen. • P a r t i z i p i a l k o n s t r u k t i o n : In Berlin angekommen, fuhren wir zum Hotel. Nebensätze nach ihrer Funktion: • S u b j e k t s a t z : Dass ihr hier seid, freut uns sehr. • O b j e k ts a tz : Ich weiß nicht, ob du Recht hast. • A d v e r b i a l s a t z : Wir fahren weg, wenn es hell wird. • A t t r i b u t s a tz : Hunde, die bellen, beißen nicht. • P r ä d i k a t i v s a t z : Alles bleibt, wie es ist. • W e i t e r fü h r e n d e r N e b e n s a t z : Es geht ihr gut, worüber wir uns freuen. • Von einem NS kann ein weiterer NS abhängen, z.B. Ich ging spazieren (HS), da die Sonne scheinen sollte (NS 1), die jedoch ausblieb (NS 2). • Komplexer Satz mit Satzreihen u. Satzgefügen = Satzperiode. • Sätze/Konstruktionen können mit Konjunktionen (= syndetisch) oder ohne Konjunktionen (= asyndetisch) miteinander verbunden werden, z.B. Ich kam und sah und siegte vs. Ich kam, sah und siegte. Anakoluth (Satzbruch): Bruch des Satzbaus oder Abbruch bei einem einmal begonnenen Satz • Ausstieg (Aposiopese): Also ich weiß nicht… • Retraktion: Er hat ihr einiges … alles zu verdanken. • Umstieg von einer begonnenen Satzkonstruktion auf eine andere: Wenn jemand Geburtstag hat, dann manchmal schenkt man ihm ein Buch. Ellipse Auslassung von Satzgliedern, die je nach Situation zum Verständnis entbehrlich sind; etwa elliptischer Satz. Hier können im vollständigen Satz notwendige Glieder (wie Subjekt o. Prädikat) fehlen, z.B. - Rauchen verboten (< Rauchen ist hier verboten) - Keine Zeit! (< Ich habe keine Zeit.) Frau Hofer fragt den Beamten am Schalter: – „Muss ich für die Kinder auch bezahlen?“ Beamter: – „Unter sechs nicht.“ – „Fein, ich habe nur drei.“ Nominalsatz (a) Satz, dessen Prädikat aus d. Hilfsverb sein (Kopula) und einem Prädikatsnomen besteht (Kopulasatz), z.B. Udo ist Arzt: Arzt = Prädikatsnomen. (b) Satz, der kein Verb als Prädikat enthält: Substantivsätze (Tor!), Adjektivsätze (Schön.), Adverbsätze (Hierher.), Partikelsätze (Ach.; Ja.) Ein- u. mehrgliedrige Nominalsätze: „Im Westen nichts Neues“, Kleine Kinder – kleine Sorgen, große Kinder – große Sorgen. Syntax System von (Wort-)Verknüpfungsregeln, die die Strukturen von Sätzen festlegen; Analyse u. Beschreibung d. Beziehungen sprachl. Zeichen im Satz, ihres ‒ in Satzbauplänen darstellbaren ‒ Gefüges, ihrer Funktionen im Satz; Erklärung verschiedener Satzmuster, Satztypen und ihres Zustandekommens; Fixierung der Satzgrenzen in sprachl. Äußerungen (3) Wörter = eine gewisse betonungs- und bedetungsmäßige Einheit, in den meisten Sprachen aus dem Satz heraushebbar und ersetzbar. Lemmata in herkömmlichen Wörterbüchern = Wörter. Wort 1. Eine Folge von Lauten o. Buchstaben (in der Computerlinguistik: ‚Token‘). 2. Ein syntaktisches Wort ist eine spezifische grammatische Ausprägung eines Lexems – d. Ausdruck dieser grammatischen Ausprägung ist eine ‚Wortform‘. 3. Als Einheit des Lexikons: ‚Lexem‘ (oder ‚paradigmatisches/lexikalisches Wort). Lexem (= lexikalisches/paradigmatisches Wort) • kleinstes selbstständig auftretendes Zeichen; abstrakte Einheit → tritt als solche nicht in Texten auf. Repräsentiert wird es dort von einer Menge von Wortformen. Diese Menge = ‚Paradigma‘. Lexem o. ‚Lemma‘: im Lexikon nicht durch das Paradigma, sondern durch eine ‚Grundform‘ o. ‚Zitierform‘ repräsentiert. Archilexem: spr. Einheit, die dem Inhalt eines ganzen Wortfeldes entspricht, z.B. Pferd ( → Hengst, Stute, Wallach, Fohlen, Schimmel…) Lexem SINGEN Das Paradigma d. Verbs singen enthält (wenn man von den Personalpronomen absieht), (ich) singe, (du) singst, (er) singt, (wir) singen, (ihr) singt, (sie) singen 4 verschiedene Wortformen, 6 syntaktische Wörter und 1 Lexem (= semant. Wort/Vokabel). Lexem Wortlexem (Wort) Wortgruppenlexem (Phraseologismus) einfaches Wort komplexes Wort Lexikon: Inventar des auf die Lexeme entfallenen Anteils an Laut-Bedeutungs-Zuordnung einer Sprache in Form von phonet.-phonolog., morphosyntakt. u. semantischer Information. Das Lexikon einer S. besteht aus allen zu einem best. Zeitpunkt der Entwicklung dieser Sprache von d. Sprachgemeinschaft bekannten lexikalischen Einheiten. Lexikon: stellt das Material/die Wörter bereit ↔ Grammatik: bietet das Programm für die Bearbeitung u. Verknüpfung der Wörter. Lexematik, Lexikologie, Semantik (4) Morpheme • kleinste bedeutungstragende Einheit d. Sprache u. damit kleinstes sprachl. Zeichen Baudouin de Courtenay 1845-1929 Leonard Bloomfield 1887-1949 - Wörter wie Baum - Wortbestandteile wie das Verbalpräfix zer(in zerreißen, zerbomben) mit d. Bed. 'auseinander, in Teile' • freies M.: kann isoliert auftreten, z.B. /tür/, /angst/, /froh/; lexikalische Morpheme • gebundenes M.: nur in einer Konstruktion zus. mit anderen M., z.B. /lich/ in fröhlich • Grundmorphem: freies M. einer Morphemkonstruktion; gibt mit seinen Inhaltskomponenten die Bedeutung des Gesamtwortes, die Grundrichtung an, z.B. /alt/ in uralt • wortbildendes Morphem: frei oder gebunden, z.B. ängst-lich • grammatisches/formbildendes Morphem: bezeichnet syntakt. Beziehungen zwischen lexikalischen M. im Satz + einige inhaltliche Beziehungen, • dabei: inhaltsarm/inhaltsleer, z.B. Flexionsendungen wie Pluralmorpheme, z.B. Studenten • zahlenmäßig beschränkt. • unikales M.: M., das (in dieser Gestalt) nur in einer einzigen Morphemkonstruktion in einer Sprache erscheint u. ohne sprachgeschichtl. Untersuchung nicht mehr zur semantischen Motivation des Wortes beiträgt, z.B. /wer/ (= Mensch) in Werwolf • Nullmorphem: M., das nicht lautlich oder schriftlich realisiert ist; nicht besetzte Stelle am Ende eines Grundmorphems, z.B. /steig/ + ø im Imperativ Sing. steig ↔ steige, steigst, steigt, steigen • diskontinuierliches M.: eine Folge voneinander getrennter Morphe bildet zusammen ein Morphem: in der Ableitung u. Flexion; feste Verbindung aus Präfix u. Suffix, z.B. /ge…t/ in ge-lach-t Morphologie, Wortbildung Literaturempfehlungen zum Thema • ADAMZIK, Kirsten: Sprache: Wege zum Verstehen. 3., überarb. Aufl. Tübingen/Basel: A. Francke 2010 (UTB: 2172). • AUER, Peter (Hrsg.): Sprachwissenschaft. Grammatik − Interaktion − Kognition. Stuttgart/Weimar: Metzler 2013. • BUßMANN, Hadumod: Lexikon der Sprachwissenschaft. 4., durchges. Aufl. Stuttgart: Kröner 2008. • HERINGER, Hans Jürgen: Deutsche Grammatik und Wortbildung in 125 Fragen und Antworten. Tübingen: Francke 2014 (UTB; 4227). • KOCSÁNY, Piroska: Grundkurs Linguistik. Ein Arbeitsbuch für Anfänger. Paderborn: W. Fink 2010 (UTB; 8434). • KÜRSCHNER, Wilfried: Grammatisches Kompendium. Systematisches Verzeichnis grammatischer Grundbegriffe. 6., akt. Aufl. Tübingen/Basel: A. Francke 2010 (UTB; 1526). • LÜDELING, Anke: Grundkurs Sprachwissenschaft. Stuttgart: Klett 2009 (Uni-Wissen: Germanistik). • SCHLOBINSKI, Peter: Grundfragen Sprachwissenschaft. Eine Einführung in die Welt der Sprache(n). Göttingen/Bristol: Vandenhoeck & Ruprecht 2014 (UTB; 4125). • ULRICH, Winfried: Wörterbuch. Linguistische Grundbegriffe. 5., völlig neu bearb. Aufl. Berlin/Stuttgart: Borntraeger 2002 (Hirts Stichwortbücher).