Nr. 22 - Juli 2010

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med tropole
Nr. 22 Juli 2010
WIRBELSÄULENCHIRURGIE:
Idiopathische Skoliose – operative Behandlung
RHEUMATOLOGIE:
Primäre systemische Vaskulitiden
HÄMOSTASEOLOGIE:
Das erworbene von Willebrand-Syndrom
Aktuelles aus der Klinik
für einweisende Ärzte
Editorial
Impressum
Liebe Leserinnen und Leser,
Redaktion
Jens Oliver Bonnet
(verantw.)
Prof. Dr. Dr. Stephan Ahrens
Prof. Dr. Christian Arning
PD Dr. Oliver Detsch
Dr. Birger Dulz
PD Dr. Siegbert Faiss
Dr. Christian Frerker
Dr. Annette Hager
Dr. Susanne Huggett
Prof. Dr. Friedrich Kallinowski
Prof. Dr. Uwe Kehler
Dr. Jürgen Madert
Dr. Kilian Rödder
Prof. Dr. Jörg Schwarz
Prof. Dr. Gerd Witte
Cornelia Wolf
Herausgeber
Asklepios Kliniken
Hamburg GmbH
Unternehmenskommunikation
Rudi Schmidt V. i. S. d. P.
Rübenkamp 226
22307 Hamburg
Tel. (0 40) 18 18-82 66 36
Fax (0 40) 18 18-82 66 39
E-Mail:
[email protected]
Auflage: 15.000
Erscheinungsweise:
4 x jährlich
ISSN 1863-8341
Titel:
pANCA bei Kleingefäßvaskulitiden wie mikroskopische
Polyangiitis oder Churg-StraussSyndrom (siehe Seite 811 – 814)
die Fußball-WM-Euphorie hat sich gelegt, die Deutsche Mannschaft schneidet,
durchaus zufriedenstellend, mit einer ehrbaren Bronzemedaille ab und gleichzeitig, fast unbemerkt, hat unsere Regierung kurz vor der Sommerpause eine
sogenannte Gesundheitsreform verabschiedet, die sich offensichtlich das Etikett
„Reform“ noch verdienen muss und sicherlich zu mancherlei Kopfzerbrechen in
den Krankenhäusern, aber auch bei unseren niedergelassenen Kollegen führen
wird.
Nicht erkennbar touchiert wurde durch die jetzige Gesundheitsreform das 2003 verabschiedete
Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG), das seit dem 1. Januar
2004 neben Vertragsärzten und ermächtigten Ärzten auch medizinischen Versorgungszentren die
Teilnahme an der ambulanten Versorgung erlaubt.
Herr Dr. Stubbe, Geschäftsführer der MVZ Nord GmbH der AKHH, zeigt die Entwicklung der
Asklepios MVZ und die Zielsetzung unseres Unternehmens für dieses Geschäftsfeld in diesem
Heft detailliert auf. Medizinische Versorgungszentren werden immer noch von vielen Kollegen
kritisch beäugt; jedoch ist es durchaus möglich, diese ambulanten Behandlungszentren gerade in
strukturschwachen Gegenden Hamburgs und im Umland sinnvoll zu etablieren und dabei durch
eine behutsame Vorgehensweise nicht nur Patienten, sondern auch die in den MVZ arbeitenden
Kollegen offensichtlich zufriedenzustellen. Immerhin beschäftigt die Asklepios MVZ Nord GmbH
61 Ärzte und Psychologen in Voll- und Teilzeit, wobei ein weiteres Wachstum zu erhoffen ist, ohne
dass, wie Herr Stubbe formuliert, die Interessen der niedergelassenen Ärzte oder anderer Krankenhäuser verletzt werden. Dies scheint mir in der Tat der richtige Weg für die Umsetzung des 2003
beschlossenen Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung zu sein.
Natürlich enthält diese Ausgabe der medtropole auch wieder interessante Arbeiten aus völlig
unterschiedlichen Fachgebieten, die einmal mehr den breiten medizinischen Fächer der Hamburger
Asklepios Kliniken zeigen.
Abschließend hoffe ich, wieder Ihr Interesse für die Lektüre dieser medtropole geweckt zu haben.
Ich möchte es an dieser Stelle nicht versäumen, den Redaktionsmitgliedern der medtropole für die
geleistete Arbeit zu danken, insbesondere Herrn Bonnet von der Pressestelle der Asklepios Kliniken
Hamburg, der unermüdlich recherchiert, die Redaktionssitzungen zur Zufriedenheit aller leitet
und letztlich auch Motor und „guter Geist“ dieser Zeitschrift ist.
Herzlichst
Ihr
Priv.-Doz. Dr. Meyer-Moldenhauer
Ärztlicher Direktor der Asklepios Klinik Harburg
Chefarzt des Urologischen Zentrums Hamburg
Inhalt
804 | WIRBELSÄULENCHIRURGIE
Operative Behandlung der idiopathischen Skoliose
S. 804
808 | UROLOGIE
Therapie der Harninkontinenz
nach radikaler Prostatektomie mit dem artifiziellen Sphinkter
811 | RHEUMATOLOGIE
Primäre systemische Vaskulitiden
815 | PSYCHOSOMATIK
Essstörungen
Stationäre oder tagesklinische Behandlung?
817 | PSYCHIATRIE UND PSYCHOTHERAPIE
Können psychisch Gesunde süchtig werden?
Oder ist Sucht immer ein Symptom einer anderen psychischen Störung?
820| PERSONALIA
822 | NEUROCHIRURGIE
Akutmaßnahmen beim Schädel-Hirntrauma
826 | HÄMOSTASEOLOGIE
Das erworbene von Willebrand-Syndrom
S. 826
830 | MEDIZINISCHE VERSORGUNGSZENTREN
Die MVZ Nord GmbH der Asklepios Kliniken Hamburg
832 | GESCHICHTE DER MEDIZIN
Vom guten Eiter bis zum Schnellverband:
Die Geschichte der Wundversorgung
S. 832
Medtropole | Ausgabe 22 | Juli 2010
Operative Behandlung
der idiopathischen Skoliose
PD Dr. Thomas Niemeyer, Dr. Kay Steffan
Im Griechischen bedeutet „scolios“ krumm und im heutigen medizinischen
Kontext versteht man unter Skoliose eine Formanomalie der Wirbelsäule,
eine sogenannte 3D-Deformität, die durch Abweichung in der FrontalSagittalebene und in der Rotation gekennzeichnet ist.
Die mit Abstand häufigste Form der nicht
sekundär bedingten Wirbelsäulendeformitäten ist die idiopathische Skoliose, die sich
definitionsgemäß nicht auf andere mögliche
Ursachen wie Missbildungen, neurologische Erkrankungen, Syndrome und Bindegewebserkrankungen sowie Degeneration
zurückführen lässt. Kennzeichen sind eine
strukturelle Seitverbiegung der Wirbelsäule
mit Fehlrotationskomponente der Wirbel,
die zum Scheitelpunkt hin zunimmt und
für die Ausbildung von Rippenbuckel
und/oder Lendenwulst verantwortlich ist,
sowie die Torsion (Verwringung) der einzelnen Wirbel in sich – einige Autoren [6]
sprechen auch von einer Abweichung in
der 4. Ebene (intravertebrale Deformierung,
Abb. 3). Häufig liegt zusätzlich eine Deformierung in der Sagittalebene mit krankhafter Begleitlordose oder Begleitkyphose vor,
wobei dann von einer Lordoskoliose beziehungsweise Kyphoskoliose gesprochen wird.
Diagnostik
Auffällig wird die Skoliose klinisch durch
zunehmende Deformierung des Rumpfes
mit oder ohne Lotabweichung und mit,
je nach Lage der Deformität, Ausbildung
eines Rippenbuckels und/oder Lendenwulstes, Asymmetrie der Taillendreiecke
und gegebenenfalls Schulterschiefstand
(Abb. 4). Die typischen Veränderungen
treten häufig während des Wachstumsschubes der Pubertät auf und betreffen
Mädchen vier Mal häufiger als Jungen.
Radiologisch können die Haupt- und Nebenkrümmungen nach der COBB-Methode
auf der Ganzwirbelsäulenaufnahme ausgemessen und der Schweregrad der Skoliose
bestimmt werden. Auf sogenannten röntgenologischen Bending-(Umkrümmungs-)
aufnahmen lässt sich die Flexibilität von
Haupt- und Nebenkrümmung bestimmen,
um so prognostische Hinweise auf den
Erfolg einer konservativen Korsettbehandlung oder das mögliche Ausmaß einer operativen Korrektur und die zu empfehlende
Operationstechnik zu bekommen.
Abb. 1: Intravertebrale
Deformität mit konkavseitig kleinem Pedikel
804
Das biologische Alter bei der Entstehung
einer Skoliose ist prognostisch bedeutsam.
Das Skelettalter lässt sich in der Wachstumsphase anhand des Verknöcherungsstadiums der Beckenkammapophyse nach
RISSER und durch eine a-p-Röntgenaufnahme der linken Hand bestimmen.
Nach der Lokalisation des Krümmungsscheitels werden bei der idiopathischen
Skoliose vier Typen unterschieden: Bei der
bevorzugt linkskonvexen Lumbalskoliose
liegt der Scheitelpunkt unterhalb des 1.
Lendenwirbels, bei der Thorakolumbalskoliose in Höhe von Th12 oder L1. Idiopathische Thorakalskoliosen sind rechtskonvex
mit einem Scheitelpunkt meist zwischen
Th7 und Th11. Bei der doppelbogigen Skoliose liegen zwei Hauptkrümmungen vor,
wobei die thorakale rechtskonvex und die
lumbale linkskonvex ausgerichtet sind. Die
letzte Form ist kosmetisch am wenigsten
auffällig und wird meist spät erkannt, da
sich die Krümmungen meist ausbalancieren. Seit ihrer Veröffentlichung 1998 ist die
nach LENKE benannte Klassifikation die
am weitesten verbreitete, eine zweidimensionale Klassifikation mit sechs Typen. Ziel
dieser Klassifikation war es, jede mögliche
adoleszente idiopathische Skolioseform
klassifizieren zu können und dabei gleichzeitig Therapierichtlinien festzulegen.[5,8,9]
Wirbelsäulenchirurgie
Abb. 2: Ventrale Derotationsspondylodese Th9-L2: 16-jähriges Mädchen mit rechtskonvexer Thorakolumbalskoliose, Lenke Typ 5CN
Therapie
Eine exakte Diagnose auf Grundlage einer
genauen Anamnese, der körperlichen und
neurologischen Untersuchung sowie der
Röntgen-, Kernspin- oder CT-Aufnahmen
ergibt die Basis für eine Beratung, in der
der Patient und gegebenenfalls die Eltern
über die Diagnose Skoliose, deren Verlauf,
eventuell bestehende Risiken und Behandlungsstrategien mit konservativem oder
operativem Vorgehen aufgeklärt werden.[4]
(Kosmetik) und Leidensdruck fließen
zusätzlich in diesen Entscheidungsprozess
ein. Aufgrund der chirurgischen Ergebnisse bei idiopathischer Skoliose gilt eine
operative Therapie ab Krümmungswinkeln
von mehr als 40 Grad lumbal und thorakolumbal sowie mehr als 50 G rad thorakal
derzeit national wie international als indiziert, da jenseits dieser Krümmungswinkel
auch nach Wachstumsabschluss in aller
Regel eine Progredienz auftritt (AWMFLeitlinie).
Indikation und Verlauf
Dabei stehen drei Ziele im Vordergrund:
Die Indikation zur operativen Therapie
einer idiopathischen Skoliose wird durch
verschiedene Faktoren beeinflusst:
■ maximale 3D-Korrektur unter Erhalt
der Funktion und mit dem bestmöglichen kosmetischen Ergebnis
■ hohe Sicherheit durch Primärstabilität
der Instrumentation: vollständige korsettfreie Nachbehandlung
■ Reduzierung von Schmerzen, wobei
Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen mit idiopathischer Skoliose nicht
im Vordergrund stehen
■ Zunahme der Skoliosekrümmung
(Progression)
■ Vermeidung sekundärer Komplikationen (Herz-Kreislauf-System und Lunge)
■ Schmerzen infolge einer frühen Degeneration der Wirbelsäule, hervorgerufen durch die zunehmende Verkrümmung
Weitere Faktoren wie Patientenalter, CobbWinkel, individuelle Beeinträchtigung
Operationsverfahren
Die operativen Korrekturverfahren einer
Skoliose gehören zu den maximalchirurgischen großen Eingriffen an der Wirbelsäule. Möglich sind diese Verfahren letztlich
nur durch die heutigen Narkoseverfahren
und das anästhesiologische perioperative
Management, die unabhängig von Alter
und Komorbidität fast jede notwendige
Korrektur ermöglichen. Die Historie der
operativen Skoliosetherapie begann vor
rund 200 Jahren mit Muskeldurchtrennungen (Guerin, 1839: Myotomie Muskulatur),
gefolgt von dem bis heute gültigen Prinzip
der Spondylodese zur Verhinderung der
Zunahme der Skoliose (Hibbs, 1911: erste
Wirbelsäulenfusion) bis zur ersten instrumentierten Skoliose (Harrington, 1962 Korrektur/Stabilisierung). Diese Pionierleistung ermöglichte in der Regel Korrekturen
um 50 – 60 Prozent, aber mit einem durchschnittlichen Korrekturverlust bis 25 Prozent und einer Pseudarthroserate in bis zu
20 Prozent aufgrund fehlender Primärstabilität. Erschwerend kam hinzu, dass keine
Beeinflussung des sagittalen Profils gelang
und auf die Operation eine mehrwöchige
Bettruhe und anschließend ein Jahr im
(Gips-)Korsett folgten. Mit den heutigen
805
Medtropole | Ausgabe 22 | Juli 2010
Abb. 3: 18-jährige Patientin mit doppelbogiger Skoliose Lenke Typ 3CN vor und nach Korrektur über den dorsalen Zugang von Th6-L4
primärstabilen Implantaten lassen sich
Skoliosen operativ viel effektiver aufrichten und stabilisieren. Durch die Korrektur
der Skoliose werden nicht fusionierte
Nebenkrümmungsbereiche mit den Bandscheiben und Wirbelgelenken distal der
Fusionsstrecke im Lumbal- oder Lumbosakralbereich entlastet. Die Langzeitergebnisse operierter Patienten mit
idiopathischer Skoliose nach HarringtonInstrumentations-Spondylodese sind im
Großen und Ganzen gut.[11] Da mit den
modernen primärstabilen Verfahren bessere Korrekturergebnisse bei geringerer
806
Komplikationsrate und kürzerer Rehabilitationsphase erzielt werden, sollte die
Langzeitprognose noch besser sein.[1–4,10]
Verfahren zur Korrektur und Stabilisierung
der Verkrümmung und Verdrehung der
skoliotischen Deformität:
■ dorsale Verfahren über einen Zugangsweg von hinten
■ ventrale Verfahren über einen vorderen
Zugang
■ kombinierte dorsale und ventrale
Operationsverfahren
Dabei werden intraoperativ Korrekturmanöver mit Distraktion, Kompression, Translation und Rotation angewendet. Die Korrektur der frontalen und sagittalen Ebene
beträgt je nach Studie, verwendeten Implantaten und Flexibilität der Skoliosen
zwischen 40 und 70 Prozent.[2,3,4,11] Nennenswerte Korrekturverluste treten im
Implantationsbereich bei Verwendung von
Pedikelschrauben oder ventralen Doppelstabsystemen nicht mehr auf. Häufig gelingt
eine signifikante, kosmetisch vorteilhafte
Abflachung von Rippenbuckel und/oder
Lendenwulst. Bei sehr rigiden Skoliosen
Wirbelsäulenchirurgie
Kontakt
PD Dr. Thomas Niemeyer
Interdisziplinäres Wirbelsäulen Zentrum
Hamburg
Abteilung für Wirbelsäulen- und
Skoliosechirurgie
Asklepios Klinik St. Georg
Lohmühlenstraße 5, 20099 Hamburg
Tel. (0 40) 18 18-85 21 11
Fax (0 40) 18 18-85 30 79
E-Mail: [email protected]
Abb. 4: 13-jähriges Mädchen mit 96° nach Cobb
Thorakalskoliose Lenke Typ 1CN mit typischen
Zeichen; prä- und postoperative Röntgenbilder einer
dorsalen Korrektur von Th3-Th12
Dr. Kay Steffan
Asklepios Katharina-Schroth-Klinik
Orthopädisches Rehabiliationszentrum
für die konservative
Skoliose-Intensiv-Rehabilitation (SIR)
Korczakstraße 2, 55566 Bad Sobernheim
Tel. (0 67 51) 874-151
Fax (0 67 51) 874-167
E-Mail: [email protected]
sind mitunter kombinierte dorsale und
ventrale Operationsverfahren notwendig.[1]
Zusätzliche Sicherheit bei allen korrigierenden Eingriffen wird durch ein intraoperatives Neuromonitoring mit Ableitung von
SEPs und MEPs erreicht. Damit lässt sich
das Querschnittsrisiko weiter minimieren.
Der durchschnittliche Blutverlust und die
OP-Zeit korrelieren mit dem Schweregrad
der Skoliose. Die heutigen OP-Verfahren
erlauben die zügige Wiedereingliederung
in den Alltag. Der stationäre Aufenthalt
beträgt in aller Regel bei komplikationslosem Verlauf 10 – 14 Tage und nach abgeschlossener Wundheilung dürfen die
Patienten Schwimmen [7] gehen, leichte
Krankengymnastik durchführen und
öffentliche Verkehrsmittel benutzen.
Fazit
Die operative Therapie der idiopathischen
Skoliose mit Korrektur des Achsenorgans
in drei Ebenen gehört zu den maximalchirurgischen Eingriffen mit guten Langzeitergebnissen. Diese rekonstruktive Chirurgie
der Wirbelsäule beim Kind, Jugendlichen,
Erwachsenen und alten Menschen ist technisch anspruchsvoll, erfordert ein aufwendiges perioperatives Management und
muss in Zentren versorgt werden, die derartige Krankheitsbilder regelmäßig diagnostizieren, operieren und das Management der Komplikationen beherrschen. Die
Lebensqualität der Patienten mit Skoliose
ist dank der heutigen OP-Verfahren und
der damit verbundenen hohen Sicherheit
nach einem solchen Eingriff gut und
bedeutet fast immer eine vollständige
Wiedereingliederung in den privaten und
beruflichen Alltag.
[5] Lenke LG, Betz RR, Harms J, Bridwell KH, Clements
DH, Lowe TG, Blanke K. Adolescent idiopathic scoliosis: a
new classification to determine extent of spinal arthrodesis.
J Bone Joint Surg Am. 2001; 83-A(8): 1169-81.
[6] Liljenqvist U, Hackenberg L. Morphometric analysis of
thoracic and lumbar vertebrae in idiopathic scoliosis. Stud
Health Technol Inform. 2002; 88: 382-6.
[7] Liljenqvist U, Witt KA, Bullmann V, Steinbeck J, Völker
K. Empfehlungen zur Sportausübung bei Patienten mit
idiopathischer Skoliose. Sportverletz. Sportschaden. 2006;
20(1): 36-42.
[8] Liljenqvist U, Lerner T, Bullmann V. Selektive Fusions-
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möglichkeiten der idiopathischen Skoliose unter kritischer
[1] Bullmann V, Halm HF, Schulte T, Lerner T, Weber TP,
Würdigung der Lenke-Klassifikation. Orthopäde. 2009;
Liljenqvist UR. Combined anterior and posterior instru-
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mentation in severe and rigid idiopathic scoliosis. Eur
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T. Interobserver and intraobserver agreement of Lenke and
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Liljenqvist U. Dual-rod correction and instrumentation of
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2006; 31(18): 2103-7; discussion 2108.
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2- bis 4-Jahres-Ergebnisse dorsaler Doppelstabinstrumen-
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Ihre Grenzgeb. 1999; 137(5): 430-6.
Technik und Vergleich mit dorsalen Verfahren. Orthopäde.
2009; 38(2): 131-4, 136-40, 142-5.
807
Medtropole | Ausgabe 22 | Juli 2010
Therapie der Harninkontinenz
nach radikaler Prostatektomie mit dem artifiziellen Sphinkter
Dr. Jochen Kilian, Dr. Alexander von Bargen, PD Dr. Wolf-Hartmut Meyer-Moldenhauer
Das Prostatakarzinom ist die häufigste maligne Erkrankung des Mannes. In einem lokal begrenzten Stadium ist
die radikale operative Entfernung der Prostata (RPx) eine standardisierte Behandlungsmethode. Als häufigste
Komplikation ist die postoperative Inkontinenz ein individuelles, gesellschaftliches und gesundheitsökonomisches
Problem.[1] Führen konservative oder wenig invasive Therapien nicht zum Erfolg, bleibt die urologische Prothetik
mit Implantation eines artifiziellen Sphinkters als bewährtes Verfahren zur Beseitigung einer postoperativen
Inkontinenz.
Nach erfolgreicher Tumortherapie wird die
postoperative Belastungsinkontinenz nach
radikaler Prostatektomie mit 1 bis 48 Prozent angegeben.[2] Allen Patienten wird
nach der radikalen Prostatektomie zur
postoperativen Rehabilitation geraten, in
deren Zentrum die Anleitung zur selbstständigen und regelmäßigen Beckenbodengymnastik steht, um möglichst frühzeitig
eine postoperative Kontinenz zu erreichen.
Bei steigenden Operationszahlen wächst
auch die Zahl der Patienten mit trotz Rehabilitation anhaltender Harninkontinenz,
die einer erfolgreichen Therapie bedürfen.
Die persistierende Inkontinenz erfordert
nach Differenzierung zwischen reiner
Belastungs- und Drang-/Mischinkontinenz
eine gezielte Weiterbehandlung. Während
die Dranginkontinenz in der Regel gut mit
einer anticholinergen Therapie zu behandeln ist, sollten Patienten mit ausgeprägter
Stressinkontinenz und über sechs bis maximal zwölf Monate frustranen konservativen Therapieversuchen operativ behandelt
werden.[3]
808
Operative Therapie der anhaltenden
Stressinkontinenz
Die submuköse, paraurethrale Injektion
von „bulking agents“ (Teflon, Kollagen,
Silikon [Makroplastique®]) ist eine einfach
durchzuführende Maßnahme, die aber
bereits im Anfangsstadium mit einer hohen
Versagerrate belastet ist, die im Verlauf
weiter ansteigt.[2] Wir halten daher den Einsatz von „bulking agents“ nicht mehr für
gerechtfertigt, zumal dadurch andere, effizientere Therapieoptionen beeinträchtigt
werden.
Die anfangs hohen Erwartungen an die
Stammzelltherapie zur Behandlung der
Stressinkontinenz haben sich nicht erfüllt.
Sie ist daher ebenfalls nicht zu empfehlen.[2]
Als weiteres minimal-invasives Therapieverfahren stehen adjustierbare Ballonsysteme (ProACT®) zur Verfügung, die durch
Kompression der Harnröhre mit Hilfe
zweier nachfüllbarer, paraurethral platzierter Ballons die Kontinenz wiederherstellen
sollen. Auf diese Weise lassen sich Kontinenzraten von bis zu 60 Prozent erreichen.[4]
Mathis et al. zitieren in ihrer systematischen Übersichtsarbeit Studien, in denen
Blasenperforationen (6,4 – 9 %), Dranginkontinenz (6 – 8 %), rupturierte Ballons
(20,7 %[5]), Migrationen von Ballons (7 %[5])
sowie Erosionen (6,4 %[5]), die eine Ballonentfernung nötig machten, auftraten.[6]
In der eigenen Klinik haben wir bei auswärtig operierten Patienten schwere Komplikationen wie urethrale Erosionen bis hin
zum längerstreckigen Harnröhrenverlust
und Infektionen beobachtet, die die komplette Explantation des Systems erforderten. Trotz der relativ hohen Kontinenzrate
sind diese Systeme deshalb unseres Erachtens auch nicht zu empfehlen.
Sehr erfolgreich sind bei moderat ausgeprägter Belastungsinkontinenz nach radikaler Prostatektomie spannungsfrei und
nicht-obstruktiv wirkende Schlingensysteme. In der eigenen Klinik hat sich bei
geringgradiger Stressinkontinenz die
Implantation der retro-urethralen transobturatorischen Schlinge (AdVance®) bewährt.
Alle bisher aufgeführten Verfahren beeinträchtigen im Falle ihres Versagens die spätere Implantation eines artifiziellen Sphinkters im Bereich der proximal bulbären
Urethra, da wegen der eingetretenen Vernarbung an dieser Lokalisation keine Man-
Urologie
Abb. 1: Artifizieller Sphinkter (AMS 800 ®)
Abb. 2: Der proximal bulbäre Cuff nach RPx
Abb. 3: Der distale Doppelcuff nach RPx
schettenpositionierung des artifiziellen
Sphinktersystems mehr möglich ist. Deshalb bedarf es einer kritischen Indikationsstellung. Das erste eingesetzte Operationsverfahren muss das Beste sein, weshalb bei
ausgeprägter Belastungsinkontinenz schon
frühzeitig die Implantation eines artifiziellen Sphinkters, nach wie vor der Goldstandard in der Therapie der Post-Prostatektomie-Inkontinenz, in Erwägung gezogen
werden sollte.
Nach radikaler Prostatektomie kommen
zwei Positionen für die Implantation der
Harnröhrenmanschette in Betracht:
Präoperative Diagnostik
und Behandlungsablauf
Der artifizielle Sphinkter (Abb.1) wurde
von Bradley und Scott entwickelt und erstmals 1972 implantiert. Das heute verwendete Modell AMS 800® wurde bereits 1983
eingeführt und ist ein hydraulisches, auch
mit Antibiotikabeschichtung erhältliches
System, das aus drei Komponenten
besteht: einer Manschette (Cuff), die um
die Harnröhre gelegt wird, einem druckregulierenden Ballon, der retropubisch oder
besser intraperitoneal platziert wird, und
einer Kontrollpumpe, die im Skrotalfach
untergebracht wird. Der im System herrschende Druck aus dem Ballon wird über
die Pumpe auf die Manschette fortgeleitet
und komprimiert die Harnröhre. Bei Miktion betätigt der Patient die skrotal gelegene Pumpe, wodurch der Cuff entleert und
die Harnröhre freigegeben wird. Zeitverzögert verschließt sich die Manschette selbsttätig kurz nach der letzten Pumpenbetätigung.
1. Proximal-bulbäre Cuffposition mit
knapp distal der Harnröhren-BlasenAnastomosenregion gelegener Verschlussmanschette (Abb. 2)
2. Der distale Doppelcuff liegt weiter distal an der bulbären Harnröhre und wird
von uns bei allen voroperierten (bulking
agents, Stammzelltherapie, Ballonsysteme,
Schlingenoperation) oder bestrahlten
Patienten verwendet (Abb. 3). An der proximal-bulbären Harnröhre muss durch Vernarbungen beziehungsweise postaktinische
Durchblutungsbeeinträchtigung mit einer
hohen Harnröhrenarrosionsrate gerechnet
werden, weshalb in diesen Fällen ein distal-bulbärer Doppel-Cuff implantiert wird.
Während die proximal-bulbäre Manschette
außerhalb der Sitzdruckzone liegt, wird die
Kontinenz bei einem distal-bulbär in der
Sitzdruckzone platzierten Cuff kompromittiert. Zur Vergrößerung der urethralen
Druckübertragungsfläche werden deshalb
zwei nebeneinander liegende Cuffs
implantiert.
Eine sorgfältige präoperative Abklärung
zur Identifizierung der für die Sphinkterimplantation geeigneten Kandidaten
sichert gute Behandlungsergebnisse.
Anamnese mit Erfragung / Prüfung
mentaler und manueller Fähigkeiten
Miktions-Inkontinenzprotokoll
Pad-Test [7]
Körperliche Untersuchung
Labor inklusive Urinsediment und Urinkultur
Sonographie des Harntraktes
Retrogrades Urethrogramm / MCU
Urethrocystoskopie mit Stresstest im Liegen
und Stehen
Uroflowmetrie
Urodynamik
Tab. 1 Ambulante präoperative Diagnostik vor
Implantation eines artifiziellen Sphinkters
Ausmaß und Grad der Inkontinenz werden mit Inkontinenzprotokoll, Pad- und
Stress-Tests erfasst. Die urodynamische
Untersuchung wird zum Ausschluss kombinierter Harninkontinenzformen durchgeführt, die gegebenenfalls eine Vorbeziehungsweise Begleitbehandlung mit
Anticholinergika erfordern. Der Patient
wird zur antibiotischen Vorbehandlung am
präoperativen Tag aufgenommen und
unter einem fünftägigen perioperativen
Antibiotikaregime operiert. Die Entlassung
809
Die Kontinenzrate (0 bis max. 2 Vorlagen
pro Tag) bei den untersuchten Patienten
betrug nach Sphinkterimplantation nahezu
86 Prozent. Im auswertbaren Patientenkollektiv lag der Anteil von Revisionen bei
17,3 Prozent. Trotz der hoch erscheinenden
Revisionsrate lag die Zufriedenheit nach
Implantation eines artifiziellen Sphinkters
bei insgesamt 94,7 Prozent (Abb. 5)! Die
Lebensqualität hatte sich nach Implantation
eines artifiziellen Sphinkters bei 169 von
180 Patienten (93,8 %) verbessert (Abb. 6)!
Patienten, die einmal nach Aktivierung des
artifiziellen Sphinktersystems kontinent
waren, empfanden eine derartige Verbesserung ihrer Lebensqualität, dass sie bei
einem auftretenden Systemdefekt
schnellstmöglich revidiert werden wollten,
um bald wieder in die gute Ausgangslage
versetzt zu werden.
en
:3
iat
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3
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60
Tr
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ma
:1
90
30
0
Prozent
Abb. 4: Ursachen der Belastungsinkontinenz (n=180)[8]
Patientenzufriedenheit
60
50
40
30
20
10
sehr zufrieden:
50,3 %
zufrieden:
44,4 %
wenig zufrieden:
3,5 %
gar nicht
zufrieden: 1,8 %
0
Abb. 5: Zufriedenheit nach Implantation eines artifiziellen Sphinkters im UZH [8]
Anzahl der Patienten
Die von Juni 2001 bis Dezember 2007 an
der Asklepios Klinik Harburg operierten
269 Patienten mit Implantation eines artifiziellen Schließmuskels AMS 800® wurden
im Rahmen einer Dissertation[8] mit standardisierten Fragebögen [ICIQ-SF 2004]
und Pad-Test nach Klarskov und Hald [7]
untersucht. 180 dieser Patienten konnten in
die Auswertung einbezogen werden.
Zwischenzeitlich wurden hier bis zum Mai
2010 weitere 121 AMS 800 ®-Implantationen
durchgeführt. Die Ursachen der Belastungsinkontinenz sind der Abbildung 4 zu
entnehmen, der größte Anteil bezieht sich
auf die Post-Prostatektomie-Inkontinenz.
120
Ra
dia
tio
:1
Ergebnisse
Ursachen
150
RP
x:
14
7
TU
RP:
21
off
PA
En
:1
TU
RA:
2
erfolgt mit zunächst deaktiviertem Sphinktersystem. Nach einer sechswöchigen Einheilungszeit wird das System in einem
kurzzeitstationären zweiten Aufenthalt
mit einer Übernachtung aktiviert und die
Bedienung eingeübt.
Anzahl der Patienten
Medtropole | Ausgabe 22 | Juli 2010
Lebensqualität
200
150
100
50
verbessert:
169
unverändert:
4
verschlechtert:
2
keine Angabe:
5
0
Abb. 6: Lebensqualität der Patienten nach AMS 800 ®-Implantation [8]
Literatur
matische Übersicht. Urologe. 2009; 48: 1330-8.
[1] Dombo O, Otto U. Stressinkontinenz beim Mann:
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Fazit
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Die Implantation eines artifiziellen Sphinkters ist bei ausgeprägter Postprostatektomie-Inkontinenz ein äußerst erfolgreiches
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810
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Dr. Jochen Kilian
Urologisches Zentrum Hamburg
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Rheumatologie
Primäre systemische Vaskulitiden
Dr. Keihan Ahmadi-Simab
Vaskulitiden sind chronisch entzündliche Erkrankungen der Blutgefäße. Man unterscheidet primäre systemische
Vaskulitiden unklarer Ätiologie und sekundäre Vaskulitiden, die in Assoziation mit anderen chronisch entzündlichen und autoimmunen Erkrankungen auftreten. Der Begriff primäre systemische Vaskulitis (PSV) umfasst
klinisch, morphologisch und immunpathogenetisch unterschiedliche Immunvaskulitiden.
Die Einteilung der PSV erfolgt gemäß der
Nomenklatur der Chapel Hill Consensus
Conference (CHC) [1] nach dem prädominanten Befallmuster der Gefäße (Gefäßtyp)
und unter Berücksichtigung pathophysiologischer Aspekte, das heißt ANCA-Assoziation beziehungsweise ImmunkomplexGenese (Tab. 1).
Pathogenese
Pathogenetisch lassen sich die Vaskulitiden
in drei Gruppen unterteilen:
1. Granulomatöse Vaskulitis
2. Immunkomplexvaskulitis
3. ANCA-assoziierte Vaskulitis
(Pauci-immune Vaskulitis)
Granulomatöse Vaskulitis
Die Riesenzellarteriitiden (Arteriitis temporalis, M. Horton) und die Takayasu-Arteriitis betreffen die großen Gefäße und zählen
zu den Granulomatösen Vaskulitiden. Sie
gehen mit einer granulomatösen Entzündung in der Gefäßwand einher, wobei sich
peripher weder Immunkomplexe noch
Autoantikörper finden. Zu den frühesten
Krankheitsprozessen in der Pathogenese
der Riesenzellarteriitis gehört die Aktivierung dendritischer Zellen in der Adventitia
großer Gefäße, in deren Folge es zu einer
Chemokin- und Th1-Typ-Zytokinsekretion
kommt. T-Zellen migrieren in der Folge
über die Vasa vasorum der Adventitia in
die gesamte Gefäßwand. In diesem Rahmen werden Makrophagen aktiviert und
fusionieren zu Riesenzellen.
Immunkomplexvaskulitis
Polyarteriitis nodosa, kutane leukozytoklastische Vaskulitis, essentielle kryoglobulinämische Vaskulitis und Schönlein-HenochPurpura sind Immunkomplexvaskulitiden.
Die Ablagerung zirkulierender Immunkomplexe induziert endothelseitig beziehungsweise in den Gefäßwänden eine Entzündung. Abgelagerte Immunkomplexe werden
von neutrophilen Granulozyten über ihre
Fc-γ-Rezeptoren erkannt, was zu einer vorzeitigen, endothelnahen Degranulierung
mit konsekutiver Endothelschädigung
führt. Abgelagerte Immunkomplexe und
C1q induzieren zudem eine Verlangsamung des Rollens von Leukozyten über
dem Endothel, was offenbar ebenfalls Entzündung und Endothelschädigung Vorschub leistet. Immunhistochemisch sind
dementsprechend Immunkomplexe und
Komplementfaktoren in der Gefäßwand
nachzuweisen. Immunkomplexvaskulitiden sind durch einen Komplementverbrauch gekennzeichnet.
dem Nachweis anti-neutrophiler zytoplasmatischer Autoantikörper (ANCA) assoziiert: Bei generalisierter WG PR3-ANCA
(≥ 95 %), bei MPA MPO-ANCA (40 – 80 %)
und bei CSS meist MPO-ANCA, seltener
PR3-ANCA (10 – 70 %). Neben ihrer diagnostischen Bedeutung kommt den ANCA
in der Pathogenese der Vaskulitis eine
bedeutende Rolle zu. Nach derzeitiger Vorstellung kommt es unter dem Einfluss von
Zytokinen zur Translokation der primär
intrazellulären Zielantigene (zum Beispiel
PR3) auf die Oberflächenmembran neutrophiler Granulozyten. Möglicherweise spielt
auch eine genetische Prädisposition in der
Oberflächenexpression der Zielantigene
eine Rolle. Durch die Interaktion von
ANCA mit den Zielantigenen auf der Zelloberfläche werden die Neutrophilen aktiviert. Es kommt zur vorzeitigen, endothelnahen Degranulation mit Freisetzung
toxischer Sauerstoffradikale und lysosomaler Enzyme mit konsekutiver Schädigung
des Endothels und somit Initiierung der
Vaskulitis.
ANCA-assoziierte Vaskulitis
Symptome
Zu den ANCA-assoziierten Vaskulitiden
zählen die Wegenersche Granulomatose
(WG), das Churg-Strauss-Syndrom (CSS)
und die Mikroskopische Polyangiitis
(MPA). Alle drei Vaskulitiden betreffen
hauptsächlich kleine Gefäße, also kleine
Arterien, Arteriolen, Kapillaren und Venolen. Da Ablagerungen von Immunkomplexen nur in geringem Maße oder gar nicht
in den entzündlichen Arealen nachzuweisen sind, werden diese Vaskulitiden als
„pauci-immun“ bezeichnet. Diese Vaskulitis-Gruppe ist charakteristischerweise mit
Die ersten Symptome der Vaskulitiden
sind häufig uncharakteristisch (Tab. 2).
Klinisch
Allgemeinsymptome („constitutional symptoms“)
Adynamie, Fieber, Nachtschweiß, Gewichtsverlust
Rheumatische Beschwerdekomplex
Polymyalgie, -arthralgie, -myositis, -arthritis
(auch: mono- oder oligoarthritische Bilder)
Labor
Akutphasenproteinerhöhung
(BSG-, CRP-Erhöhung etc.)
Leuko- und Thrombozytose, Anämie
Tab. 2: Indirekte Hinweise für PSV („Alarmsymptome“)
811
Medtropole | Ausgabe 22 | Juli 2010
Erkrankung
CHC Definition
Typische klinische Symptome und Befunde
Vaskulitis großer Gefäße
Riesenzellarteriitis (RZA)
Granulomatöse Arteriitis der Aorta und ihrer größeren Äste mit
Plötzlicher Krankheitsbeginn, Fieber, B-Symptomatik, Gewichtsverlust, bitemPrädilektion für die extrakraniellen Äste der A. carotis; Tempoporale Cephalgien, tastbar verhärtete und schmerzhafte Temporalarterie,
ralarterie häufig betroffen; üblicherweise Patienten jenseits des
Oberarmmyalgie, Depression
40. Lebensjahres; häufig assoziiert mit Polymyalgia rheumatica
Takayasu-Arteriitis
Granulomatöse Entzündung der Aorta und ihrer Hauptäste;
üblicherweise Patienten vor dem 40. Lebensjahr
Polyarteritis nodosa
(PAN)
Nekrotisierende Entzündung der mittelgroßen oder kleinen
B-Symptomatik, Arthralgien, Myalgien, art. Hypertonie, Polyneuropathie,
Arterien ohne Glomerulonephritis und ohne Vaskulitis der Arte- Livedo reticularis, Angina abdominalis, Niereninfarkte, Angina pectoris, cereriolen, Kapillaren und Venolen
brale Ischämie
Kawasaki-Syndrom
Arteriitis der großen, mittelgroßen und kleinen Arterien; häufig
assoziiert mit dem mukokutanen Lymphknotensyndrom; Koro- Palmar- und Plantarerythem, polymorphes Erythem am Körperstamm, Fieber,
nararterien häufig, Aorta und Venen z. T. betroffen; üblicherKonjunktivitis, Lymphadenopathie, Erdbeerzunge, Myokardinfarkt
weise im Kindesalter
B-Symptomatik, Thorakalsymptome (Angina pectoris), Claudicatio,
Blutdruckdifferenz, Schwindel
Vaskulitis mittelgroßer Gefäße
Vaskulitis kleiner Gefäße
Initialphase (lokalisierte WG): lokoregionale Symptomatik im oberen Respirationstrakt: verstopfte Nase, blutige Rhinitis, Epistaxis, Sinusitis, Otitis
Granulomatöse Entzündung des Respirationstraktes und nekro- Generalisationsphase: B-Symptomatik, Arthralgien, Arthritiden, Episkleritis,
Hauteffloreszenzen, Hämoptysen, Perforation des Nasenseptums, Sattelnase,
Wegenersche Granuloma- tisierende Vaskulitis kleiner bis mittelgroßer Gefäße (d. h.
Kapillaren, Venolen, Arteriolen und Arterien). Eine nekrotisie- blutig-borkige Rhinitis
tose (WG)
Trias: systemische nekrotisierende Angiitis, nekrotisierende Entzündung im
rende Glomerulonephritis ist häufig.
Respirationstrakt, nekrotisierende Glomerulonephritis (Pulmo-renales Syndrom), ANCA-Assoziation (PR3-ANCA)
Mikroskopische
Polyangiitis (MPA)
Nekrotisierende Vaskulitis kleiner Gefäße (d. h. Kapillaren,
Venolen oder Arteriolen) mit wenigen oder keinen ImmunkomPulmo-renales Syndrom
plex-Ablagerungen. Eine nekrotisierende Arteriitis kleiner bis
ANCA-Assoziation (MPO-ANCA)
mittelgroßer Gefäße kann auftreten. Eine nekrotisierende Glomerulonephritis ist häufig, ebenso eine pulmonale Kapillariitis.
Churg-Strauss-Syndrom
(CSS)
Eosinophile und granulomatöse Entzündung des Respirationstraktes und nekrotisierende Vaskulitis kleiner bis mittelgroßer
Gefäße. Mit Asthma und einer Eosinophilie assoziiert.
Nichtvaskulitische Prodromalphase: Asthma Bronchiale, allergische Rhinitis,
Pollinosis nasi, Hypereosinophiles Syndrom
Vaskulitische Phase: Arthralgien, Myalgien, B-Symptomatik, pulmonale Infiltrate, Eosinophilie, Polyneuropathie, kardiale Beteiligung
ANCA-Assoziation (meist MPO-ANCA)
Purpura SchönleinHenoch
Vaskultis der kleinen Gefäße mit überwiegend IgA-haltigen
Immundepots in situ; betroffen sind typischerweise Haut,
Gastrointestinaltrakt und Glomeruli; Arthralgien und oder
Arthritiden
Makulopapulöses Exanthem, Fieber, Arthritiden, kolikartige abdominelle
Schmerzen, Glomerulonephritis
Vaskulitis der kleinen Gefäße (Kapillaren, Venolen oder ArterioEssentielle kryoglobulin- len) mit Kryoglobulinablagerungen in situ. Assoziiert mit Kryoglobulinen im Serum. Haut und Glomerula sind häufig betrofämische Vaskulitis
fen.
Purpura, Polyneuropathie, Neuropathia multiplex, Glomerulonephritis, gastrointestinale Vaskulitis, Komplementverbrauch, Kryoglobulinämie; 80 – 90 %
der ursprünglich als „essentiell“ bezeichneten kryoglobulinämischen Vaskulitiden können heute einer chronischen HCV-Infektion zugeordnet werden.
Kutane leukozyto-klastische Angiitis
Palpable Purpura
Isolierte leukozytoklastische Angiitis der Haut ohne systemische Vaskulitis oder Glomerulonephritis
Tab. 1: Die Vaskulitiseinteilung und Definitionen gemäß der Chapel Hill Consensus Conference (CHC) sowie häufige klinische Manifestationen
Im Verlauf kommen rheumatische Beschwerden hinzu, die an eine entzündliche
Systemerkrankung denken lassen. Bei
sorgfältiger körperlicher Untersuchung finden sich auch meist die direkten Zeichen
der Vaskulitis (Tab. 3), die als direkte Folge
der Gefäßläsion anzusehen sind. Zur klinischen Diagnose führt die Synopse aus
Klinik (Schlüssel- und Leitsymptome),
Immunserologie und histologischem Befund. Die wichtigsten Leitsymptome der
PSV sind in Tabelle 1 zusammengefasst.
Labordiagnostik
Laborchemisch gibt es keinen Marker, der
allein eine Vaskulitis beweist. So werden
prinzipiell diagnoseassoziierte, aktivitäts-
812
assoziierte und/oder organbezogene
Laborparameter bestimmt (Tab. 4 – 5).[2,3]
Diagnostik
Abhängig vom Organbefall sind weitere
diagnostische Untersuchungen zur Diagnosesicherung und Erfassung der Organschädigungen erforderlich, wie zum
Beispiel EKG und Langzeit-EKG (Herzrhythmusstörungen bei kardialer Beteiligung?), Echokardiographie (Perikarderguss? Kontraktilitätsstörungen bei
Coronariitis und Myokarditis?), Herzkatheteruntersuchungen (Aneurysmen und
Stenosen der Coronargefäße?), Myokardbiopsie (Sicherung einer Kapillaritis), Gastro- und Coloskopie (Hinweise auf gastro-
intestinale Vaskulitis?), Bronchoskopie
mit bronchoalveolärer Lavage und transbronchialer Biopsie (neutrophile oder lymphozytäre Alveolitis? interstitielle Pneumonitis, Kapillaritis?), Angiographie
(Aneurysmen und Stenosen großer und
mittelgroßer Gefäße?), Rö-Thorax (Rundherde, Infiltrate?), HRCT (Milchglasinfiltrate?
Rundherde? [Abb. 1]), MagnetresonanzTomographie (Abb. 2) sowie AngiographieCT und PET-CT (Aortitis? Arteriitis?). Die
histologische Sicherung der Vaskulitis ist
aus diagnostischen und prognostischen
Gründen anzustreben, wobei die Biopsien
aus betroffenen Organen wie Haut oder
Niere zu entnehmen sind.
Rheumatologie
Gefäßtyp
Klinisches Problem
Episkleritis („rotes Auge“), Hörsturz, Vertigo, Hämoptysen (alveoläre Hämorrhagie), Mikrohämaturie
(Glomerulonephritis), (Mono-, Poly-) Neuritis, Herdencephalitis, palpable Purpura, NagelfalznekroKlein
sen, Angina pectoris (Perimyocarditis), Purpura abdominalis (blutige Stühle) etc.
Infarkte: Hirn, Herz, Niere (Makrohämaturie!), Darm (Meläna!), Extremität etc. Blutung bei
Mittelgroß
Ruptur von Mikroaneurysmen
Stenosen: z. B. „subclavian steal syndrome“ oder Aortenbogensyndrom,
Groß
Aneurysma dissecans (Riesenzellarteriitis), Venen: z. B. Trombosen
Cave:
Therapie ANCA-assoziierter Vaskulitiden
Überlappungen der Gefäßtypen eher häufig!
Tab. 3: Direkte Hinweise für PSV (Leitsymptome)
Bluteosinophilie (>10%)
Hepatitis Bs-Antigen
Hepatitis C-Antigen/HCV/RNA
cANCA (PR3-ANCA)
pANCA (MPO-ANCA)
Kryoglobuline
Endothelzellantikörper
Churg-Strauss-Syndrom
Panarteriitis nodosa
Kryoglobulinämische Vaskulitis
Wegenersche Granulomatose
Mikroskopische Polyangiitis
Kryoglobulinämische Vaskulitis
Kawasaki-Syndrom
Tab. 4: Diagnoseassoziierte Laborparameter
Komplementspiegel
ANCA-Titer
Leuko- und Thrombozytose
BSG- und CRP-Erhöhung
Immunkomplexvaskulitiden
Pauci-immune-Vaskulitiden
Entzündungsaktivität
Entzündungsaktivität
Tab. 5: Aktivitätsassoziierte Laborparameter
Therapie
Therapie der Immunkomplexvaskulitiden
Das therapeutische Procedere richtet sich
nach Ausdehnung, Organmanifestation
und Aktivität der Erkrankung sowie der
Prognose. PSV werden immunsuppressiv
behandelt. Dies erfordert eine engmaschige
ärztliche Überwachung. Eine Patientenschulung trägt zur Minimierung therapiebedingter Komplikationen bei. Man unterscheidet drei Therapiestadien:
Kryoglobulinämische Vaskulitis (CV)
Bei der HCV-assoziierten CV wird bei
nicht lebensbedrohlichen Organmanifestationen der Versuch einer HCV-Elimination
durch kombinierte Gabe von Interferon-α
und Ribavirin über 18 – 24 Monate empfohlen.[4] Bei lebensbedrohlichen Verläufen,
etwa bei zunehmender Niereninsuffizienz,
progredienter Polyneuropathie oder ZNSVaskulitis, ist eine immunsuppressive Therapie mit Cyclophosphamid (CYC) und
Glucocorticoiden erforderlich, bei Therapierefraktärität ergänzt durch additive
Plasmaseparationen über circa zwei Wochen.
Mit dem monoklonalen Anti-CD20-Antikörper Rituximab steht eine neue Therapieoption der CV zur Verfügung.
■ Induktionstherapie: Diese erfolgt in
der Regel mit Cyclophosphamid (Boli
oder oral) nur über 3 – 6 Monate (Tab. 6).
■ Erhaltungstherapie: Nach erzielter
Remission werden weniger toxische
immunsuppressive Substanzen zur
Remissionserhaltung (in der Regel mindestens zwei Jahre) eingesetzt (Tab. 6).
■ Eskalationstherapie: Bei therapierefraktärem Verlauf (etwa 5 – 10 Prozent
der Patienten mit ANCA-assoziierten
Vaskulitiden) ist eine Eskalation der
konventionellen immunsuppressiven
Therapie durch additive Maßnahmen
(z. B. Plasmapherese) und/oder neue
biologische Immunmodulatoren erforderlich (Tab. 7).
sive Therapie mit CYC oder AZA erforderlich werden. Bei entsprechender Überwachung können auch eine GC-Monotherapie
oder eine hochdosierte intravenöse Immunglobulin (IVIG)-Therapie ausreichen.
Polyarteriitis nodosa (PAN)
Kontrollierte Studien zur Therapie der
PAN finden sich kaum. Eine aktuellere Studie zeigt, dass Patienten mit vermutlich
schlechter Prognose nach Gabe von zwölf
Zyklen CYC eine geringere Rezidivhäufigkeit aufweisen als nach Gabe von sechs
Zyklen.[5]
Schönlein-Henoch-Purpura
Die Prognose ist im Allgemeinen gut. Bei
schweren Verlaufsformen (rapid-progressive Glomerulonephritis, Darmbeteiligung
mit Blutungen) kann eine immunsuppres-
Die Therapie erfolgt abhängig von Erkrankungsstadium und -aktivität. Die lokalisierte WG kann mit Trimethoprim-Sulfamethoxazol (Cotrimoxazol) behandelt
werden, wenn eine engmaschige Kontrolle
gewährleistet ist.[6] Bei generalisierter,
schwer verlaufender ANCA-assoziierter
Vaskulitis mit organ- und/oder lebensbedrohlichen Manifestationen erfolgt die
remissionsinduzierende Therapie mit
Cyclophosphamid entweder nach dem
„Fauci-Schema“ (2 mg/kg/Tag per os für
3 – 6 Monate) oder Austin-Schema (Boli)
und Prednisolon.[7] Nach Erzielen einer
Remission erfolgt eine Umstellung auf eine
remissionserhaltende Therapie (mit zum
Beispiel MTX, Azathioprin, MykophenolatMofetil, Leflunomid).
Therapie der granulomatösen
Vaskulitiden
Riesenzellarteriitis (RZA)
Die RZA spricht häufig auf eine GC-Monotherapie innerhalb weniger Tage gut an.
Eine Startdosis von 40 bis 60 mg Prednisolonäquivalent sollte innerhalb von etwa
sechs Monaten auf 5 – 7,5 mg/Tag reduziert
werden. Bei Visusstörungen sollte die Therapie unverzüglich und hochdosiert (intravenös Methylprednisolon, 250 – 1.000 mg
täglich über drei Tage) begonnen werden.
Bei therapieresistentem Verlauf und anhaltend hohem Steroidbedarf ist die Einleitung einer immunsuppressiven, steroideinsparenden Therapie mit zum Beispiel
Methotrexat (MTX) (0,3 mg/kg/Woche s. c.)
oder alternativ Azathioprin angezeigt.[8]
Takayasu-Arteriitis
Randomisierte, placebo-kontrollierte Studien zur Behandlung der Takayasu-Arteriitis liegen bislang nicht vor. Als Standard
zur Behandlung unkomplizierter Verläufe
gilt allgemein eine Glukokortikoidmonotherapie, jedoch sind etwa ein Viertel der
Patienten zunächst therapierefraktär und
in bis zu 50 Prozent der Fälle kommt es zu
Rezidiven. Daher sollte frühzeitig eine
813
Medtropole | Ausgabe 22 | Juli 2010
Behandlung mit Immunsuppressiva (z. B.
MTX) begonnen werden.[9] Bei besonders
aggressivem Verlauf ist CYC (als Bolusoder orale Gabe) einzusetzen. Ergebnisse
einer retrospektiven Analyse von 106 gefäßchirurgisch behandelten Patienten mit
Takayasu-Arteriitis zeigen, dass operative
Therapieverfahren additiv zur immunsuppressiven Therapie die Prognose von
Patienten mit Komplikationen und refraktärem Verlauf (zum Beispiel bei großen
Aneurysmen) verbessern.
Literatur
Klinik
ference. Arthritis Rheum. 1994; 37(2): 187-92.
[2] Gross WL. Primäre systemische Vaskulitiden. Teil III.
Dosis/Applikation
Cotrimoxazol
„Initialphase“
T/S
2 x 960 mg/die p. o.
Methrotrexat
blande
MTX
0,3 mg/kg/Wo. i. v. oder s. c.
„Fauci-Schema“
NIH-Standard
intensiviert
aktiv
progressiv/foudroyant
CYC
CYC
2 mg/kg die p. o.
3 – 4 mg/kg/ die p. o.
„Austin-Schema“
mäßig-aktiv bzw. überwiegend
renale Vaskulitis
CYC
15 – 20 mg/kg i. v.
Plasmapherese
foudroyant mit Nierenversagen
Cotrimoxazol
Voll-/Teilremission
T/S
2 x 960 mg/die p. o.
Methrotexat
Teilremission
MTX
0,3 mg/kg/Wo i. v.
Azathioprin
Teilremission
AZA
2 – 3 mg/kg/die p. o.
Cyclosporin A
nach Organtransplantation
CsA
3 – 5 mg/kg/die p. o.
40 – 60 ml/kg (4 – 7x)
Erhaltungstherapie
Behandlung refraktärer Verläufe
[1] Jennette JC, Falk RJ, et al. Nomenclature of systemic
vasculitides. Proposal of an international consensus con-
Substanz
Induktionstherapie
i. v. Immunglobuline
refraktär
IVIG
Monoklonale AK
refraktär
anti CD4 plus
anti CD52
sequentielle Gabe i.v.
Antithymozytenglobulin refraktär
ATG
400 mg/kg i. v. an 5 Tagen
i. v. 10 Tage
Pathogenese und Therapie. Der Internist. 1999; 40(11):
1194-215.
[3] Gross WL. Primär systemische Vaskulitiden Teil I:
Tab. 6: Aktivitäts- und ausdehnungsadaptierte Behandlung ANCA-assoziierter Vaskulitiden
Name nach der
Chapel-Hill Conference 1992
Intensiviertes Protokoll
bei „therapieresistenten“ PSV
„therapierefraktären“ PSV
Riesenzellarteriitis
GC plus AZA oder MTX
GC puls CYC
(FAUCI- oder AustinSchema)
Takayasu-Arteriitis
GC plus MTX
GC plus CYC
(FAUCI- oder Austin-Schema)
Polyarteriitis nodosa (PAN)
GC & CYC-Bolus plus Plasmapherese GC plus CYC (FAUCI-Schema)
Hepatitis B-Virus-assoz. PAN
IFNα & Lamivudin plus
Plasmapherese
GC plus CYC (FAUCI-Schema)
Wegener’sche Granulomatose
GC & CYC (FAUCI-Schema) plus
IVIG
AK: a-CD4/CD52*
Churg-Strauss-Syndrom
GC plus CYC (FAUCI-Schema)
α-Interferon (bis 3 x 106/Woche)
Mikroskopische Polyangiitis
GC & CYC plus IVIG
α-Thymozytenglobulin
Monoklonale AK: a-CD4/CD52
39(12): 2052-61.
Henoch-Schönlein-Purpura
GC plus IVIG (evtl. CYC)
GC plus CYC (AUSTIN-Schema)
[7] Fauci AS, Haynes BF, et al. Wegener’s granulomatosis:
Kutane leukozytoklastische Angiitis GC plus AZA (MTX)
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Plasmapherese
AUSTIN-Schema plus
Plasmapherese
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Erläuterungen
arteritis/polymyalgia rheumatica: a double-blind study.
GC = Glucocorticoid
CYC = Cyclophospamid
AZA = Azathioprin
GC & CP = FAUCI-Schema
Ann Rheum Dis. 1986; 45(2): 136-8.
* humanisiertes anti-CD4, anti-CAMPATH 1H
„low-dose” MTX = Methotrexat
CP = Cyclophosphamid-bolus = AUSTIN-Schema
[9] Shikawa K, Maetani S. Long-term outcome for 120
Japanese patients with Takayasu’s disease. Clinical and sta-
Tab. 7: Behandlung der therapieresistenten bzw. -refraktären PSV-intensivierte Therapiemöglichkeiten bei Progression
tistical analyses of related prognostic factors. Circulation.
1994; 90(4): 1855-60.
Kontakt
Dr. Keihan Ahmadi-Simab
Klinik für Rheumatologie,
klinische Immunologie, Nephrologie
Asklepios Klinik Altona
Paul-Ehrlich-Straße 1, 22763 Hamburg
Tel. (0 40) 18 18-81 11 24
Fax (0 40) 18 18-81 48 00
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Abb. 1: HRCT-Thorax, Lungengranulom bei M. Wegener
814
Abb. 2: MRT-Kopf, M. Wegener, Mastoiditis
Psychosomatik
Essstörungen
Stationäre oder tagesklinische Behandlung?
Dr. Helge Fehrs
Essstörungen mit Krankheitswert sind vor allem die Anorexia nervosa (Magersucht, ICD10 F50.0), die Bulimia
nervosa (Ess-/Brechsucht, ICD10 F50.2) sowie die Binge-Eating-Störung (Essattacken ohne Erbrechen, ICD10
F50.9). In der Therapie dieser Erkrankungen ist, wegen ihrer Chronifizierungstendenz und hoher Rückfallgefahr,
eine Gesamtbehandlungsplanung von großer Bedeutung.
Der Anteil chronischer Verläufe beträgt bei
der Anorexie etwa 50 Prozent,[2,7] bei der
Bulimia nervosa rund 30 Prozent.[1] Daher
ist es sinnvoll, eher in Behandlungsabschnitten zu denken als der Vorstellung zu
erliegen, eine Maßnahme wie zum Beispiel
eine achtwöchige stationäre Behandlung
würde die Erkrankung „heilen“. Während
bis vor wenigen Jahren ambulante und stationäre Behandlungsmöglichkeiten als einzige Alternativen zur Verfügung standen,
gibt es inzwischen mehrere Zentren in
Deutschland, die wie das Asklepios Westklinikum Hamburg auch tagesklinische
Angebote vorhalten. Dabei sind verschiedene Tagesklinikmodelle zu unterscheiden,
die entweder alternativ zur stationären
Behandlung (fünf Tage pro Woche) arbeiten oder aber ein Übergangssetting vom
stationären zum ambulanten Bereich anbieten (zum Beispiel zwei Tage pro Woche).
Stehen unterschiedliche Behandlungsoptionen zur Verfügung, sollten bei der
Entscheidung über die Therapieform im
Ambulanzgespräch insbesondere die
Behandlungsmotivation und die Zielsetzung geklärt werden. Dabei ist der Austausch mit Vorbehandlern in der Regel
hilfreich. Bei der Entlassung aus einem
Behandlungsabschnitt, also an der Schnittstelle zu einem möglichen nächsten Baustein der Behandlungskette, sind die noch
vorhandene Erkrankungsschwere, das
Rückfallrisiko und die psychosozialen Res-
sourcen zu beachten. In jedem Fall kommt
einer gezielten Vorbereitung auf die Zeit
nach der Klinik große Bedeutung zu. Für
die meisten Patienten ist ein Stufenplan
der Behandlung optimal (z. B. stationärnachstationär-tagesklinisch-ambulant).
Ziele stationärer und tagesklinischer
Therapie bei Essstörungen [3]
■ körperliche Stabilisierung (Anorexie:
ausreichende Gewichtszunahme; Bulimie: Reduktion des selbstinduzierten
Erbrechens, des Laxantienabusus und
des exzessiven Sporttreibens)
■ Normalisierung des Essverhaltens
(Mahlzeitenzusammensetzung,
Essensstruktur)
■ Erarbeitung einer ausreichenden
Behandlungs- und Änderungsmotivation
■ Herausarbeiten zentraler psychischer
Problembereiche (z. B. Reifungsängste,
Probleme mit der Regulation eigener
Gefühle)
■ Verbesserung der psychischen Begleitsymptomatik (z. B. Depressivität,
Ängste, selbstverletzendes Verhalten)
■ Arbeit an zentralen dysfunktionalen
Beziehungsmustern (z. B. Abhängigkeitskonflikt)
■ Unterstützung bei Problemen im
sozialen Umfeld
Multimodale Therapieprogramme
Sowohl in stationärer als auch in tagesklinischer Behandlung finden multimodale
Therapieprogramme ihre Anwendung. Sie
bestehen aus psychodynamisch oder verhaltenstherapeutisch ausgerichteten Gruppen- und Einzelpsychotherapien, erlebnisorientierten Therapieverfahren, die
schwerpunktmäßig in Gruppen angeboten
werden (konzentrative Bewegungstherapie, Kunst- und Gestaltungstherapie oder
Musiktherapie), Ernährungsberatung,
angeleitetem Kochen, Familiengesprächen
sowie medizinischer Diagnostik und
Behandlung. Hinzu kommen strukturierte
symptomorientierte Komponenten, die sich
speziell auf die Essstörung der Patientinnen beziehen. Sie halten Vorgaben zum
Verzicht auf das pathologische Essverhalten, zur Gewichtsentwicklung und zur
Nahrungsaufnahme vor, die häufig über
Belohnungsverfahren positiv verstärkt
werden. Zudem wird mit Esstagebüchern
gearbeitet, die Mahlzeiten werden begleitet, es gibt Ruhephasen für Anorektikerinnen und Bulimikerinnen nach dem Essen
sowie Sport- und Bewegungsangebote für
übergewichtige Patienten. Dabei sind
Regeln und Vorgaben im stationären
Bereich enger gefasst als im tagesklinischen Bereich – auch, weil dort den Patienten mehr Verantwortung übertragen wird.
815
Medtropole | Ausgabe 22 | Juli 2010
Indikationsstellung
Stationäre Behandlung
Im Krankenhaus ist durch die ständige
ärztliche und pflegerische Präsenz eine
kontinuierliche körperliche Überwachung
und Ansprechbarkeit gegeben. Die Tagesund Mahlzeitenstruktur ist vorgegeben, die
Distanz zum belastenden Beziehungsumfeld oder Alltagsgeschehen durch die stationäre Aufnahme hergestellt. Abzuwägen
ist, ob die „käseglockenartige“ Abschirmung durch das stationäre, regressionsfördende Milieu hilfreich ist, da es den Übergang in den Alltag erschwert. Für die meist
jungen Patienten bedeutet ein Klinikaufenthalt in der Regel eine längere Unterbrechung von Schule, Ausbildung oder gerade
begonnener Berufsausbildung, die wiederum destabilisierend wirken kann.
Bei der Anorexie ist eine Klinikbehandlung
indiziert bei raschem oder anhaltendem
Gewichtsverlust (mehr als 20 Prozent über
sechs Monate), gravierendem Untergewicht (BMI < 15 kg/m²) oder bei seit drei
Monaten trotz ambulanter oder tagesklinischer Therapie stagnierendem erheblichem
Untergewicht. Auch wenn soziale oder
familiäre Einflussfaktoren den Gesundungsprozess stark behindern, ambulante
oder tagesklinische Behandlungsmöglichkeiten unzureichend sind oder eine geringe
Krankheitseinsicht besteht, ist an eine stationäre Behandlung zu denken. Medizinische Komplikationen wie schwere Infekte,
körperliche Schwäche oder Herzrhythmusstörungen machen einen Krankenhausaufenthalt unabdingbar. Bei der Bulimia nervosa sollte einer stationären Behandlung
der Vorzug gegeben werden, wenn die
Symptomatik so stark ausgeprägt ist, dass
der Alltag nicht mehr bewältigt werden
kann oder wenn Impulsdurchbrüche in
verschiedener Gestalt vorliegen (zum Beispiel Ess/Brechanfälle, selbstverletzendes
Verhalten, Wutausbrüche, Suizidgedanken). Stärkere körperliche Beeinträchtigungen indizieren ebenfalls eine stationäre
Therapie.
Teilstationäre Behandlung
Ein großer Vorteil der Tagesklinik ist die
intensive Übungssituation: Täglich können
Aspekte aus der Therapie zu Hause ausprobiert werden und im Alltag auftretende
Schwierigkeiten (zum Beispiel mit dem
816
Essen oder in zwischenmenschlichen
Beziehungen) fließen unmittelbar in die
Behandlung ein. Das Selbstwirksamkeitserleben der Patienten wird gestärkt („Ich
habe etwas verändert“), Nähe und Distanz
lassen sich leichter regulieren.
Nachteilig kann sich auswirken, dass sich
die Patienten nicht so umfassend von ihren
Alltagsaufgaben zurückziehen oder sich
nicht aus destruktiven Beziehungen lösen
können. Pathologische Verhaltensweisen
können leichter unbemerkt (heimlich) aufrecht erhalten werden. Für Magersuchterkrankte sind insbesondere tagesklinische
Modelle sinnvoll, die einen abgestuften
Übergang in ein ambulantes Setting anbieten. Optimal sind Angebote, bei denen die
Behandler der Station die Therapie auch in
der Tagesklinik weiterführen (Behandlerkontinuität, Rückkehr an den vertrauten
Ort). Für viele Patienten mit Bulimie ist
die Tagesklinik der stationären Behandlung
überlegen, vor allem, wenn die Symptomatik zwar noch regelmäßig vorhanden ist,
aber nicht mehr so destruktiv umfassend
auftritt. Bulimikerinnen profitieren sehr
vom Übungscharakter der tagesklinischen
Behandlungsform.[4,5,6]
langfristigen Störungen bereits zu massiver
Gewichtszunahme mit Adipositas und entsprechenden Folgeerkrankungen psychischer und körperlicher Art gekommen.
Stationäre und teilstationäre Programme
für essgestörte Patientinnen sollten sowohl
strukturierte symptomorientierte Angebote
enthalten, als auch Angebote, in welchen
die psychischen Schwierigkeiten der
Patienten aufgegriffen werden.
Literatur
[1] Fichter MM, Quadflieg N. Twelve-year course and outcome of bulimia nervosa. Psychol Med. 2004; 34: 1395-406.
[2] Steinhausen HC. The outcome of anorexia nervosa in
the 20th century. Am J Psychiatry. 2002; 159: 1284-93.
[3] Zeeck A. in: Herpertz S, de Zwaan M, Zipfel S (Hrsg.)
Handbuch Essstörungen und Adipositas, Springer 2008:
214.
[4] Zeeck A, Hartmann A. Stationäre und teilstationäre
Therapie bei Anorexie und Bulimie. Ärztl Psychother
Psychosomat. 2008; Med 1: 17-24.
[5] Zeeck A, Sandholz A, Hipp W, Schmidt A. Stationäre
und teilstationäre Bulimietherapie – das Freiburger Konzept. Psychotherapeut. 2005; 50(1): 43-51.
[6] Zeeck A, Weber S, Sandholz A, Wetzler-Burmeister E,
Wirsching M, Hartmann A. Inpatient versus day clinic treatment for Bulimia nervosa: A randomized controlled trial.
Psychother Psychosom. 2009; 78(3): 152-60.
[7] Zipfel S, Lowe B, Reas DL, Deter HC, Herzog W. Long-
Bei Patienten mit Binge-Eating-Störung ist
eine komplexe Therapie, stationär oder
tagesklinisch, insbesondere dann indiziert,
wenn bereits eine Adipositas mit Folgeerkrankungen entstanden ist.
term prognosis in anorexia nervosa: lessons from a 21-year
follow-up study. Lancet. 2000; 355: 721-2.
Fazit
Essgestörte Patientinnen benötigen differenzierte Behandlungsangebote: ambulant,
tagesklinisch als Alternative zur stationären Behandlung oder als Vor- und Nachbehandlung, sowie vollstationäre Behandlungsplätze, auch zur Krisenintervention
ohne längere Wartezeit. Während für
Patientinnen mit Anorexia nervosa stationäre mit anschließenden nachstationären
tagesklinischen Behandlungen oft die
geeignetste Form darstellen, profitieren
Bulimikerinnen mit mittelschweren Symptomausprägungen nach neueren Erkenntnissen sogar eher von intensiven tagesklinischen Behandlungsangeboten als von
vollstationären Settings. Patientinnen und
Patienten mit Binge-Eating-Störung können häufig ambulant ausreichend versorgt
werden – es sei denn, es ist bei chronischen
Kontakt
Dr. Helge Fehrs
Abteilung für Psychosomatische Medizin
und Psychotherapie
Asklepios Westklinikum Hamburg
Suurheid 20, 22559 Hamburg
Tel. (0 40) 81 91-25 01
Fax (0 40) 81 91-25 99
E-Mail: [email protected]
Psychiatrie und Psychotherapie
Können psychisch Gesunde süchtig
werden?
Oder ist Sucht immer ein Symptom einer anderen psychischen Störung?
Dr. Klaus Behrendt, Dr. Erich Trüg
Bei Menschen, die zum Beispiel eine Schizophrenie haben, würde kein Mediziner und vermutlich auch kein
anderer vernünftiger Mensch auf die Idee kommen, die Krankheit sei eigentlich immer ein Symptom einer
anderen psychischen Störung. Dabei entwickelt auch sie sich oft schleichend wie die Suchterkrankung. Auch hier
gibt es das geflügelte Wort „sind wir nicht alle ein bisschen schizophren?“. Doch das Verhalten, das nur bei wenigen
letztendlich süchtig entgleist, kann sehr lange als normales, vielleicht lange auch als schädliches Verhalten bestehen,
über das der Mensch aber noch die Kontrolle hat. Entsprechend hielt Joël, ein Suchtexperte, von dem wir auch
heute noch viel lernen können, bereits 1928 fest: „Der Unterschied zwischen dem Süchtigen und dem so genannten Normalen ist kein wesentlicher, sondern ein gradmäßiger, wenn auch oft von gewaltigem Ausmaß.“[3]
Die Hintergründe, vor denen aus Konsum
oder schädlichem Konsum plötzlich eine
Suchterkrankung wird, sind individuell
und vielfältig. Die erhebliche Stigmatisierung durch die Zuschreibung einer Suchterkrankung [2] erklärt den Versuch, zur
Entlastung den Hintergrund oder Auslöser
als eigentliches psychisches Drama anzuführen, auf das sich die Sucht nur aufgepropft habe. Und diese Fälle gibt es auch
tatsächlich.[6]
Aber nicht jedem, der im Zwiespalt zwischen Wollen und Können zu einer stimulierenden oder sedierenden Substanz
gegriffen oder versucht hat, innere Disharmonie mit Glücksspiel, Kaufen oder
anderem befriedigendem Verhalten zu
kompensieren, ist deshalb gleich eine
krankheitswertige psychische Störung
zuzuordnen. Wir kennen viele auch schwer
gestörte Patienten, bei denen sich nur die
Entwicklung der Suchterkrankung über
viele Jahre zurückverfolgen lässt, andere
gravierende psychische Störungen hingegen nicht. Die süchtige Entwicklung geht
allerdings mit einer – grundsätzlich reversiblen – Verhaltensauffälligkeit einher, die
der ungestörten Beschaffung des Suchtmittels sowie der Verdeckung und Verleugnung der Krankheit dient. Sie kann so
krass und ausgeprägt sein, dass über Jahre
ernsthaft die inzwischen widerlegte Hypothese von einer vorbestehenden Suchtpersönlichkeit diskutiert wurde. Im Verlauf
einer schweren Suchterkrankung können
sich nicht nur somatische Begleit- und Folgeerkrankungen, sondern auch andere –
quasi reaktive – psychische Störungen von
Krankheitswert ausbilden.
Entstehungsmöglichkeiten
Es besteht weithin eine wissenschaftliche
Übereinstimmung in der Auffassung, dass
bei Süchten verschiedene Bedingungskomplexe – auf der sozialen, personalen und
biologischen Ebene – beteiligt sind. Diese
Ebenen sind weder aufeinander zu reduzieren noch jeweils gleich wichtig. In
unterschiedlichen Phasen dominieren verschiedene Aspekte.[1]
Das „magische Dreieck“ von Droge, Umwelt und Person, in dem sich das süchtige
Verhalten abspielt,[4] illustriert lediglich ein
gegenseitiges Bedingungsgefüge. Dabei
bleibt noch völlig offen, mit welchen Anteilen die jeweiligen Faktoren für verschiedene
Gruppen von Menschen oder im Verlauf
einer individuellen Karriere bestimmend
sind – also welche Bedeutung etwa der
Drogenwirkung im Verhältnis zur sozialen
Situation oder psychischen Verfassung
zukommt und wie die Rückkopplungsprozesse aussehen und im weiteren Verlauf zu
gewichten sind. Suchtmittelkonsum kann
besonders lustvoll beziehungsweise angenehm und positiv verstärkend erlebt werden, wenn nüchtern keine oder nur unzureichende positiven Erfahrungen gemacht
wurden (Erfahrungsdefizit) oder in
817
Medtropole | Ausgabe 22 | Juli 2010
bestimmten Konstellationen keine anderen
Bewältigungsmöglichkeiten zur Verfügung
stehen.
Suchtverhalten baut auf dem normalen alltäglichen Konsumverhalten auf und folgt
der Logik „Gutes noch besser, Schlechtes
gar nicht so schlimm“. Dieser Verstärkungsmechanismus kann zur Suchtentwicklung entgleisen, wenn zum Beispiel
bei regelmäßigem Alkoholkonsum in einer
Krise jedweder Genese schleichend mehr
konsumiert wird (Missbrauch) bis hin zu
einem krankheitswertigen Ausmaß (Kontrollverlust). Dass „der erste Schuss süchtig
macht“ ist ein seltenes Phänomen und hat
auch mit dem Suchtpotential der konsumierten Droge und ihrer Applikation zu
tun. In der Regel führen nicht die Drogen,
sondern deren unsachgemäße Anwendung
zur Abhängigkeit. Sehr häufig ist Suchtmittelkonsum mit einer weiteren psychischen
Erkrankung verknüpft, seien es Persönlichkeitsstörungen, Belastungsstörungen,
Depressionen oder andere psychiatrische
Erkrankungen (Komorbidität). Suchtmittel
werden in diesem Zusammenhang zur
Befindens- beziehungsweise Affektregulation eingesetzt. Sie sind also willkommene
Substanzen, um in eine annäherungsweise
psychisch ausgeglichene Balance zu kommen.
818
Hypothesen
Vorauszuschicken ist, dass jede Behandlung von Krankheiten und insbesondere
auch die psychischer Erkrankungen in
einem historischen Kontext zu sehen ist
und viel mit den persönlichen Einstellungen und Annahmen der Behandelnden zu
tun hat. Sie stützt sich also letztlich nicht
nur auf wissenschaftliche Erkenntnisse,
sondern oft auch auf persönliche Einstellungen und Auffassungen, den Einfluss
„alter Lehrer“ oder des Behandlungsteams,
der Klinikleitung und ähnlichem. Dabei
lassen sich mehrere Grundannahmen oder
Hypothesen unterscheiden, von denen aus
Behandlungskonzepte entwickelt wurden
und werden:
■ „Entscheidend ist, die Suchterkrankung durchgreifend mit dem Ziel dauerhafter Abstinenz zu behandeln. Dann
erledigen sich die ansonsten auftretenden psychischen Probleme und Störungen von selbst.“ Dieser früheste Einsatz
professioneller Suchtbehandlung stützte sich insbesondere auf die Vorstellungen und Erfahrungen abstinenter
Abhängigkeitskranker, die sich in
Selbsthilfegruppen organisiert hatten.
■ Nicht selten trifft man auch auf die
Auffassung, dass es ausreiche, eine auffällige psychische Störung konsequent
medikamentös, psychotherapeutisch
und soziotherapeutisch zu behandeln.
Dann erledige sich die Sucht sozusagen
von selbst.[5]
■ Nach der Hypothese der Wechselwirkung zwischen Sucht und weiterer psychischer Störung muss dagegen beides
immer gleichzeitig beachtet und behandelt werden, um ein positives Behandlungsergebnis zu erreichen.
Dem ist im Übrigen bescheiden entgegenzuhalten, dass der häufigste erfolgreiche
Weg aus der Sucht der der Selbstheilung
ohne professionelle Hilfe ist. So haben in
den vergangenen drei Jahren zum Beispiel
zwei Millionen Menschen in Deutschland
das Rauchen aufgegeben. Es ist völlig
ungeklärt, wie vielen abhängigkeitskranken Menschen es gelingt, ohne jede Unterstützung durch Ärzte oder suchtspezifische Beratungs- und Behandlungsangebote
abstinent zu werden. Diese Menschen sind
positiv zu verstärken. Therapeutische
Hilfe, die sie offenbar nicht brauchen und
oft auch gar nicht wollen, ist hier nicht
indiziert.
Professionelle Hilfe ist nur geboten, wenn
die Störung so stark ausgeprägt ist oder
die persönlichen Ressourcen so schwach
sind, dass ein Ausstieg nicht allein gelingt.
Und bei dieser Gruppe von Abhängigen ist
im Verlauf zu klären, ob Abstinenz überhaupt erreicht werden kann und für die
Patienten ein erstrebenswertes Ziel ist.
Psychiatrie und Psychotherapie
Unser Behandlungsansatz
Unsere Basis ist der in der Suchttherapie
geltende Grundsatz, die Verantwortung
(für Konsum oder Nicht-Konsum) beim
Patienten zu belassen. Dementsprechend
ist die Herangehensweise ganz pragmatisch individuell an den Patienten angepasst. Dabei gilt es herauszufinden, was
für den Patienten wirklich „passend“ ist,
was er selbst will und nicht will, wozu er
motiviert ist, was er anstrebt und welche
Möglichkeiten ihm zur Verfügung stehen.
Wir nehmen die Rolle des „Steigbügelhalters“ ein. Das heißt, wir stellen unsere
Möglichkeiten in den Dienst einer Zielhierarchie, die das Überleben sichert, Schaden minimiert und ein möglichst gesundes
Leben, also Lebenskompetenzen („Lebensmittel“) vermittelt – bis dahin, die Abstinenz zu ermöglichen.
Das Ideal „Abstinenz“ erreichen nur sehr
wenige der chronisch Abhängigen. Hier
ist Suchtbegleitung indiziert, zum Beispiel
die Substitution mit Ersatzstoffen, die es
ermöglichen, frei von Beschaffungskriminalität und -druck ein soziales, möglichst
gesundes und selbstbestimmtes Leben zu
führen.
Die biologische Komponente der Sucht
weist uns darauf hin, dass Sucht nicht nur
eine Beeinträchtigung des Willens ist. Notwendig sind daher auch medikamentöse
Behandlungsstrategien wie Substitution,
Rückfallmedikationsprophylaxe, eine aus-
schleichende Entzugsbehandlung sowie
gegebenenfalls medikamentöse Unterstützung zur Stressreduktion und eine auch
medikamentöse Behandlung von Komorbidität.
Literatur
[1] Behrendt K, Degwitz P, Trüg E (Hrsg.). Schnittstelle
Drogenentzug. Freiburg/B. Lambertus 1995 (S 12ff).
[2] Erlenmeyer A: Die Morphiumsucht und ihre Behandlung, 3. Auflage. Berlin, Leipzig, Neuwied: Heuser’s Verlag
1887 (S87-88).
Fazit
[3] Joël E. Die Behandlung der Giftsuchten, Alkoholismus,
Morphinismus, Kokainismus usw. Leipzig: Georg Thieme
Die Substitution verhält sich zur Abstinenz
wie der Mieter im Mietshaus zum Eigenheimbesitzer. Viele streben Letzteres an,
nicht alle schaffen es und nicht zuletzt:
nicht alle wollen es. Ermöglichen wir doch
jedem das Seine, solange damit der individuelle Lebenswert abgesichert und erhalten werden kann.
Verlag 1928 (S 11).
[4] Feuerlein W (Hrsg.). Theorie der Sucht. Berlin: Springer
1986 (S 104 ff).
[5] Kellermann B. Süchtiges Verhalten und Gemeinwohl.
HÄB 2010; 64(4): 28-30.
[6] Ringelhahn S. Persönlichkeitsstörungen und Sucht.
Medtropole 2010; 20: 751-4.
Weiterführende Literatur
Bei medikamentösen Behandlungsstrategien sollte es, wenn möglich, aber nicht
bleiben. Therapeutische beziehungsweise
psychoedukative Angebote und Maßnahmen begleitend zu medikamentösen Strategien erhöhen erfahrungsgemäß die Erfolgsrate.
[7] Wienberg G, Driessen M (Hrsg.) Auf dem Weg zur
vergessenen Mehrheit. Innovative Konzepte für die
Versorgung von Menschen mit Alkoholproblemen.
Bonn: Psychiatrie-Verlag 2001.
Kontakt
Dr. Klaus Behrendt
IV. Fachabteilung Psychiatrie und
Psychotherapie
Abhängigkeitserkrankungen
Asklepios Klinik Nord – Ochsenzoll
Langenhorner Chaussee 560
22419 Hamburg
Tel. (0 40) 18 18-87 27 39
Fax (0 40) 18 18-87 17 03
E-Mail: [email protected]
819
Medtropole | Ausgabe 19 | Oktober 2009
K O N T A K T
Prof. Dr. Karl-Heinz Frosch
Unfall- und Wiederherstellungschirurgie
Chirurgisch-Traumatologisches Zentrum
Asklepios Klinik St. Georg
Lohmühlenstraße 5, 20099 Hamburg
Tel. (0 40) 18 18-85 22 87
Fax (0 40) 18 18-85 37 70
E-Mail: [email protected]
Prof. Dr. Karl-Heinz Frosch
K O N T A K T
Prof. Dr. Joachim Röther
Abteilung für Neurologie
Asklepios Klinik Altona
Paul-Ehrlich-Straße 1
22763 Hamburg
Tel. (0 40) 18 18-81 14 00
Fax (0 40) 18 18-81 49 06
E-Mail: [email protected]
Prof. Dr. Joachim Röther
Asklepios Klinik St. Georg:
Neuer Leiter des ChirurgischTraumatologischen Zentrums
Am 1. Juli übernahm Prof. Dr. Karl-Heinz
Frosch als Nachfolger von Prof. Dr. Christoph Eggers die Leitung der Abteilung für
Unfall- und Wiederherstellungschirurgie
sowie des Chirurgisch-Traumatologischen
Zentrums in der Asklepios Klinik St. Georg.
Prof. Frosch wurde 1968 in Bischofsgrün
geboren, besuchte unter anderem das Skigymnasium Christophorusschule in Berchtesgaden, nahm 1989 bis 1990 als Mitglied
der deutschen Skinationalmannschaft
„Nordische Kombination“ mehrfach am
Weltcup teil, absolvierte sein Medizinstudium an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und promovierte
am dortigen Institut für klinische Immunologie und Rheumatologie. Eine Famulatur
„Orthopaedic Trauma“ führte ihn ans
Howard Head Medical Center in Vail,
Colorado, das Praktische Jahr an die DUKE
University, North Carolina. Seine Weiterbildung zum Facharzt für Chirurgie absolvierte Prof. Frosch am Klinikum Bamberg
und in der Abteilung für Unfallchirurgie,
Plastische und Wiederherstellungschirurgie
des Universitätsklinikums Göttingen, wo
er seither als Oberarzt tätig war.
2004 erwarb Prof. Frosch die Schwerpunktsbezeichung Unfallchirurgie, 2007
die Zusatzbezeichnung „Spezielle Unfallchirurgie“ sowie die Facharztanerkennung
„Orthopädie und Unfallchirurgie“. Im
gleichen Jahr habilitierte er sich im Fach
Unfallchirurgie mit dem Thema „Entwicklung stammzellbesiedelter Titan-Miniprothesen für den Oberflächenteilersatz am
Kniegelenk“ und erhielt den Preis für die
beste Habilitation der Fakultät im Wintersemester 2006/2007. 2010 wurde er zum
Außerplanmäßigen Professor der Univer-
820
Asklepios Klinik Altona:
Neue Leitung der Neurologie
sität Göttingen berufen. Seit 2008 war Prof.
Frosch ständiger D-Arzt-Vertreter und
geschäftsführender Oberarzt der Klinik für
Unfallchirurgie, Plastische und Wiederherstellungschirurgie sowie stellvertretender
Leiter der AG Arthroskopische Chirurgie
der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie. Er ist Mitglied des Nichtständigen
Beirats der Deutschen Gesellschaft für
Unfallchirurgie und der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie.
Prof. Frosch ist unfallchirurgisch breit ausgebildet und erfahren in der Polytraumaund Schwerverletztenversorgung. Sein klinischer Schwerpunkt ist die Behandlung
von Kniekomplextraumen, schwersten
Kniegelenksverletzungen, fehlverheilten
Frakturen im Kniegelenksbereich mit intraund extraartikulären Korrekturosteotomien
sowie der arthroskopischen Chirurgie inkl.
der hinteren Kreuzbandchirurgie. Neben
den bereits bestehenden Schwerpunkten
wie der Wirbelsäulenchirurgie, Neurochirurgie, Plastischer und Handchirurgie
sowie der Schwerverletztenversorgung soll
insbesondere die Arthroskopische Chirurgie und die Sporttraumatologie an der
Asklepios Klinik St. Georg weiter ausgebaut und etabliert werden.
Am 1. Juli übernahm Prof. Dr. Joachim
Röther als Nachfolger von Prof. Dr. Axel
Müller-Jensen die Leitung der Neurologischen Klinik in der Asklepios Klinik Altona. Nach dem Medizinstudium und der
Promotion in Marburg begann Röther eine
neurochirurgische (RWTH Aachen) und
neurologische Ausbildung (Universitätsklinikum Heidelberg/Mannheim). An der
Stanford University, USA, forschte er von
1994 bis 1996 als Stipendiat der Deutschen
Forschungsgemeinschaft über physiologische Hintergründe der Diffusions- und
Perfusions-MR-Bildgebung. Für diese
Arbeiten wurde er mit dem Hugo-SpatzPreis der Deutschen Neurologischen
Gesellschaft ausgezeichnet.
Von 1996 bis 2005 war er als leitender
Oberarzt und C3-Professor an den Neurologischen Universitätskliniken Jena und
dem UKE Hamburg Eppendorf tätig. Von
2000 bis 2005 leitete er als Chefarzt die
Neurologische und ab 2008 als Ko-Chefarzt zusätzlich die Geriatrische Klinik des
Johannes Wesling Klinikums Minden.
Prof. Röther ist Präsident der Deutschen
Schlaganfall-Gesellschaft und hat sich in
mehr als 200 wissenschaftlichen Arbeiten
mit der Behandlung des Schlaganfalls
befasst. Er ist als Experte in nationalen und
internationalen Gremien und Studien in
führenden Positionen vertreten, unter
anderem als Gründungsmitglied der European Stroke Organisation, Mitglied des
Editorial Board der Zeitschriften Journal of
Neuroimaging und Cerebrovascular Disease und Mitglied des Scientific Board der
European Stroke Conference. Prof. Röther
ist Sprecher der Arbeitsgemeinschaft
„Herz & Hirn“ der Deutschen Schlag-
Personalia
K O N T A K T
Prof. Dr. Günter Seidel
Abteilung für Neurologie
Asklepios Klinik Nord
Tangstedter Landstraße 400
22417 Hamburg
Tel. (0 40) 18 18-87 30 76
Fax (0 40) 18 18-87 30 69
E-Mail: [email protected]
Prof. Dr. Günter Seidel
Asklepios Klinik Nord:
Neue Leitung der Neurologie
anfall-Gesellschaft und der Deutschen
Gesellschaft für Kardiologie.
Neben der Schlaganfallbehandlung und
der neurologischen Intensivmedizin liegen
weitere klinische Schwerpunkte von Prof.
Röther in der Behandlung der Multiplen
Sklerose, der Parkinsonerkrankung, der
Demenz und der Hirntumoren. Diese
Schwerpunkte möchte er in der Asklepios
Klinik Altona weiter ausbauen.
Am 1. Juli 2010 übernahm Prof. Dr. Günter
Seidel als Nachfolger von Prof. Dr. Jürgen
Köhler die Leitung der neurologischen
Abteilung in der Asklepios Klinik Nord.
Der bisherige Oberarzt in der Klinik für
Neurologie im Universitätsklinikum
Schleswig-Holstein, Campus Lübeck
wurde 1963 in Dillenburg geboren und studierte an der Justus-Liebig-Universität in
Gießen. Seidel promovierte im Pharmakologischen Institut bei Prof. Dreyer zum
Thema „Membranströme in normalen und
Rous-Sarkom-Virus infizierten embryonalen Hühnerfibroblasten“. Er begann seine
Ausbildung zum Neurologen in der Neurologischen Uniklinik Gießen unter Prof.
Dorndorf und wechselte nach vier Jahren
an das Universitätsklinikum SchleswigHolstein, wo er die Facharztausbildung
abschloss. Seidel absolvierte die Weiterbildungen „Spezielle neurologische Intensivmedizin“ und „Klinische Geriatrie“. 2000
folgten die Habilitation mit dem Thema
„Die Sonographie des Gehirns zur Erfassung der zerebralen Makro- und Mikrozirkulation unter besonderer Berücksichtigung von Ultraschallkontrastmitteln“ und
die Erteilung der Venia legendi für das
Fach Neurologie.
Vaskulitis), der Neurosonologie (extraund intrakranielle Farbduplexsonographie,
Hirnparenchym- und Muskel-Nerv-Sonographie) und der Intensivneurologie.
Seidel ist Mitglied mehrerer nationaler
und internationaler Fachgesellschaften
und Autor zahlreicher wissenschaftlicher
Artikel und Buchbeiträge. Daneben ist er
Regionalbeauftragter der Stiftung Deutsche
Schlaganfall-Hilfe.
In der Asklepios Klinik Nord möchte Prof.
Seidel das medizinische Angebot weiter
ausbauen (Schlaganfall, Multiple Sklerose,
Epilepsie, Neuroonkologie) und um die
Schwerpunkte Früh-Rehabilitation und
Bewegungsstörungen erweitern.
Prof. Dr. Günter Seidel
Abteilung für Neurologie
Asklepios Klinik Nord
Tangstedter Landstrasse 400, 22417 Hamburg
Tel. (0 40) 18 18-87 30 76
Fax (0 40) 18 18-87 30 69
E-Mail: [email protected]
2004 wurde er zum Außerplanmäßigen
Professor der Medizinischen Fakultät der
Universität zu Lübeck berufen. Seidels wissenschaftliche Schwerpunkte umfassen
unter anderen die neurovaskuläre Medizin,
Bewegungsstörungen und Demenzerkrankungen. Er beherrscht das gesamte Spektrum der klinischen Neurologie. Seine klinischen Schwerpunkte liegen in der
Schlaganfallbehandlung (Stroke Unit, Primär- und Sekundärprävention, zerebrale
821
Medtropole | Ausgabe 22 | Juli 2010
Akutmaßnahmen
beim Schädel-Hirntrauma
Dr. Marcus Lücke, Prof. Dr. Uwe Kehler
Das Schädel-Hirntrauma (SHT) ist definiert als durch äußere Gewalteinwirkung bewirkte Schädigung des
Gehirns, die mit einer mehr oder minder schweren Verletzung des Schädels und der Kopfweichteile einhergehen
kann. Als offenes SHT bezeichnet man dabei eine mit einer Verletzung des Schädels und der Weichteile einhergehende Duraverletzung. Unter der primären Hirnschädigung sind die Verletzungen zum Zeitpunkt des Traumas
zu verstehen, die durch eine Abfolge sekundärer Hirnschäden zu einer weiteren Verschlechterung des Verlaufs und
des Endergebnisses führen können. Die sekundären Hirnschäden sind therapeutischer Ansatzpunkt.
Knapp 250.000 Schädel-Hirntraumata werden in Deutschland pro Jahr registriert.
Davon sind etwa fünf Prozent als schwer
einzuschätzen.
Präklinische Versorgung
Das Schädel-Hirntrauma lässt sich in drei
Grade einteilen (I: leicht, II: mittelschwer,
III: schwer). Die 1953 publizierte Einteilung
von Tönnis beruht auf der Dauer der
Bewusstseinsminderung und ist nur retrospektiv anwendbar. International üblicher
ist die im Wesentlichen am Bewusstseinsgrad nach der Glascow Coma Scale (GCS,
Tab. 1) orientierte Einteilung.[1]
Wesentlich für die Erstbeurteilung und
Versorgung sind:
1. genaue Beurteilung der Bewusstseinslage nach der GCS, dabei insbesondere
auch die Dokumentation des exakten
zeitlichen Verlaufs;
822
2. Bestimmung des neurologischen Status
am Unfallort, dabei mindestens die
konsequente Untersuchung auf fokale
motorische und sensible Defizite der
Pupillenweite, der Lichtreaktion, beim
komatösen Patienten zudem des Cornealreflexes und die Überprüfung
pathologischer Reflexe;
3. genaue Erhebung und Dokumentation
der Vitalparameter, insbesondere der
Sauerstoffsättigung und des Blutdrucks;
4. andere Verletzungen und Begleitumstände wie Intoxikation und
Unterkühlung.
Mit eindeutiger Evidenz sollte der Patient
bei einer GCS unter 9 zum Transport intubiert werden, da die Aufrechterhaltung
einer suffizienten Oxygenierung und Aspirationsschutz wichtiger sind als die exakte
Beurteilung der Bewusstseinslage bei Eintreffen in der Klinik.[2] Dabei sollten jedoch
in jedem Fall die Bewusstseinslage nach
der GCS und der neurologische Status zum
Zeitpunkt der Intubation erhoben und
dokumentiert werden, um in der Klinik
eine Prioritätenhierarchie für Diagnostik
und Erstmaßnahmen sowie eine Prognoseeinschätzung zu ermöglichen.
Für die medikamentöse Therapie am
Unfallort zur Hirnprotektion besteht keine
evidenzbasierte Empfehlung, mit der Ausnahme, dass Glukokortikoide aufgrund
eines statistisch schlechteren Ergebnisses
nicht appliziert werden sollten. Die Gabe
von Mannitol zur kurzfristigen Hirndrucksenkung kann bei schlechtem Status
(Pupillenerweiterung, tiefes Koma) sinnvoll sein.[3]
Neurochirurgie
Abb. 1: Akutes epidurales Hämatom mit deutlich
Abb. 2: SHT mit diffusen Kontusionen ohne aktuellen größeren raumfordernden Effekt und erhaltenen basalen
raumforderndem Effekt → Indikation zur sofortigen
Cisternen → intensivmedinische Überwachung, Kontroll-CCT nach 4-8 Stunden. Im Falle der prolongierten Beatmung
operativen Entlastung
ggf. Einlage einer Hirndrucksonde
Klinische Versorgung
CCT großzügig gestellt werden, insbesondere wenn die operative Versorgung anderer Verletzungen ansteht. Nicht zu unterschätzen ist das sekundäre Auftreten von
Gerinnungsstörungen bei größerem Blutumsatz. Auch bei unauffälligem primärem
CCT sollte in so einem Fall eine CCT-Verlaufskontrolle erfolgen, wenn der Patient
nicht zeitnah angemessen neurologisch
(Extubation) untersucht werden kann.
Bei Vorliegen eines unauffälligen CCT
genügt beim bewusstseinsklaren Patienten
die stationäre Überwachung über 24 Stunden. Ist der Patient intubiert und sediert,
sollte er schnellstmöglich wach und extubiert werden, um eine klinische Überwachung zu ermöglichen.
Nach Sicherung der Vitalparameter stehen
die neurologische Befunderhebung und
Diagnostik ganz oben auf der Prioritätenliste. Die Indikation zum CCT nach Schädel-Hirntrauma besteht bei
■ Bewusstseinsminderung
■ neurologischen Defiziten, die auf eine
Hirnbeteiligung hindeuten
■ Krampfanfall
■ Erbrechen
■ stärkeren mnestischen Störungen
■ Hinweisen auf eine Schädelverletzung
■ Hinweisen auf eine Liquorrhoe
■ Hinweisen auf eine Gerinnungsstörung
(Marcumar!)
Auch wenn der Patient am Unfallort
bewusstseinsklar war und aus anderer
Indikation, etwa zur Schmerztherapie,
intubiert wurde, sollte die Indikation zum
Zeigt ein auffälliges CCT eine epidurale,
subdurale, intracerebrale oder subarachnoidale Blutung, ein Hirnödem, einen Hydrocephalus oder eine andere potentiell lebensbedrohliche Raumforderung, sollte der
Fall immer einem Neurochirurgen demonstriert werden. Dieser kann gegebenenfalls
die Indikation zur sofortigen operativen
Intervention stellen oder eine Risikoeinschätzung und Empfehlung zu weiterem
Monitoring, Therapiemaßnahmen und zur
Prognose abgeben.
Operative Intervention
Bei einer intrakraniellen Raumforderung
(v. a. bei subduralem, epiduralem oder
intracerebralem Hämatom) und unmittelbar lebensbedrohlichem Status ist eine
sofortige neurochirurgische Entlastung
notwendig. Wenige Minuten können in
solchen Situationen über Leben, Tod oder
die Ausprägung einer irreversiblen Behinderung entscheiden!
Die Operationsindikation stellt der Neurochirurg anhand der Gesamtschau aus neurologischem und allgemein klinischem
823
Medtropole | Ausgabe 22 | Juli 2010
Punkte
Augen öffnen
beste sprachliche Äußerung
beste motorische Antwort
6
–
–
gezielt auf Aufforderung
5
–
orientiert
gezielt auf Schmerzreiz
4
spontan
verwirrt
ungezielt auf Schmerzreiz
3
auf Ansprache
unangemessen
Beugen auf Schmerzreiz
2
auf Schmerzreiz
unverständliche Laute
Strecken auf Schmerzreiz
1
nicht
keine
keine
Tab. 1: Die Glascow Coma Scale zur international gebräuchlichen Einteilung der Bewusstseinslage.
Die Addition der Punkte aus drei Qualitäten ergibt einen Punktwert von 3 – 15.
Kraniotomie mit Ausräumung einer umschriebenen
raumfordernden Blutung epidural, subdural oder
intracerebral
Kraniektomie, insbesondere bei Hirnödem oder diffusen Kontusionen, ggf. auch in Kombination mit
der Ausräumung einer umschriebenen Raumforderung, vor allem einer subduralen oder intracerebralen Blutung. Dabei evtl. Kryokonservierung eines
großen Knochendeckels zur späteren Re-Implantation.
Dura- und Schädeldachplastik, insbesondere bei
offenem Schädel-Hirntrauma oder Impressionsfraktur. Bei persistierender Rhinoliquorrhoe und seltener Otoliquorrhoe evtl. sekundäre Deckung des
Schädelbasisdefekts im Intervall.
Anlage einer intraventrikulären Drainage zur Hirndruckmessung und ggf. -senkung, insbesondere bei
Vorliegen eines Hydrocephalus.
Anlage einer Hirndruckmesssonde zum Monitoring
einer konservativen Hirndrucktherapie, ggf. zum
Feststellen des richtigen Zeitpunktes für eine
neuerliche CCT-Kontrolle oder operative Therapie.
Abb. 3: SHT mit Hirnkontusionen und Hirnödem,
Oberkörperhochlagerung um 30° zur Verbesserung
des venösen Abflusses
kurzfristige Hyperventilation
(CO2 nicht unter 30 – 35 mmHg)
Mannitol oder andere Osmodiuretika
TRIS-Puffer
Senkung der Körperkerntemperatur
antiepileptische Medikation
Tab. 2: Neurochirurgische Interventionen
Tab. 3: Konservative Maßnahmen auf der Intensivstation
Konservative Maßnahmen auf der
Intensivstation
gen, Operationen) ist ein Hirndruckmonitoring zu erwägen, wenn prolongierte
Sedierung und Beatmung erforderlich
sind.[4]
zusätzlich Nachweis freier intrakranieller Luft als
Beweis eines offenen SHT → Anlage einer Hirndrucksonde, Kontroll-CCT nach 4 – 8 Stunden, bei Nachweis
einer persistierenden Liquorfistel ggf. spätere Deckung
Status, allgemeiner und akuter Anamnese
sowie aktueller Bildgebung und eventuell
auch des Hirndrucks. Gerade bei Grenzfällen erfordert diese Entscheidung viel
Erfahrung, da, abgesehen von bestimmten
Hirndruckwerten, für die Indikationsstellung wenig in Zahlen oder Messwerten
sinnvoll abgebildet werden kann.
824
In erster Linie ist die Homöostase für
Kreislauf, Ventilation, Körpertemperatur,
Gerinnung und Metabolismus zu wahren.
Operative Maßnahmen ohne notfallmäßige
Indikation sollten zurückgestellt werden,
insbesondere wenn ein größerer Blutumsatz und damit verbundene mögliche
Gerinnungsstörungen zu erwarten sind.
Die Schäden, die dadurch im Gehirn entstehen können, werden niemals wieder
ausheilen! Ist keine eindeutige neurologische Beurteilung möglich, sollte bei
pathologischem CCT oder adäquatem
Trauma nach 4 – 8 Stunden ein VerlaufsCCT erfolgen. Insbesondere bei grenzwertig raumfordernden Befunden mit noch zu
erwartender Dynamik oder weiteren Risikofaktoren (schwere zusätzliche Verletzun-
Die verschiedenen medikamentösen und
physikalischen Maßnahmen der Hirndrucktherapie (Tab. 3) dienen der Aufrechterhaltung des Metabolismus des Hirngewebes. Allerdings ist für keine über die
Analgosedierung und Aufrechterhaltung
der Homöostase hinausgehende medikamentöse Therapie ein gesicherter Nutzen
belegt, der evidenzbasiert eine generelle
Empfehlung rechtfertigt. Auf die lange
propagierte Anwendung von Glukokortikoiden sollte aufgrund einer signifikanten
Steigerung der 14-Tages-Letalität verzichtet
werden.[5]
Neurochirurgie
GCS > 9
SHT,
Vitalparameter stabilisiert
GCS < 9
GCS = 15,
unauffŠllige weitere
Parameter
GCS < 15
oder auffŠllige weitere
Parameter
CCT
Evaluation
des neurologischen Status
und Intubation
stationŠre †berwachung
unauffŠllige CCT,
Patient wach und nicht
intensivpflichtig
auffŠllige CCT
q im Intervall,
initial nach 4 Ð 8 Stunden
q bei ICP-Anstieg
neurochirurgische
Evaluation
q Intensivstation Ð ggf. ICP
q Drucksonde
Ð ggf. Sedierung
neurochirurgische
Operation
Abb. 4: BU
Prognose und Nachbehandlung
Literatur
[1] Bullock R, Chesnut RM, Clifton G, et al. Guidelines for
Generell liegt die Letalität beim schweren
SHT bei etwa 25 Prozent.[6] Entscheidend
für die Prognose des weiteren Lebens eines
polytraumatisierten Patienten ist meist das
Ausmaß der persistierenden Ausfälle und
kognitiven Einschränkungen als Folge der
ZNS-Schädigung. In der Akutphase ist,
wenn nicht eindeutige Grenzparameter
überschritten sind, eine Prognoseeinschätzung oft sehr schwierig, die Verläufe sind
auch sehr unterschiedlich. Beim schweren
SHT treten die entscheidenden funktionellen Besserungen innerhalb der ersten drei
Monate ein, das Endstadium ist erst nach
einem Jahr und später zu erwarten. Um
die Neuroplastizität maximal auszuschöpfen, ist dabei auch die statusangepasste
stufenweise früh einsetzende Rehabilitationsbehandlung wesentlich.
the management of severe head injury. Brain Trauma Foundation. Eur J Emerg Med. 1996 Jun; 3(2): 109-27.
Kontakt
Prof. Dr. Uwe Kehler
Dr. Marcus Lücke
[2] Gabriel EJ, Ghajar J, Jagoda A, et al. Guidelines for prehospital management of traumatic brain injury. J Neurotrauma. 2002 Jan; 19(1): 111-74.
[3] Roberts I, Schierhout G, Wakai A. Mannitol for acute
traumatic brain injury. The Cochrane Database of Systematic Reviews 2003, Issue 2. Art. No.: CD001049
[4] Balestreri M, Czosnyka M, Hutchinson P, et al. Impact
of intracranial pressure and cerebral perfusion pressure on
severe disability and mortality after head injury. Neurocrit
Neurochirurgie
Neurozentrum und Wirbelsäulenzentrum
Asklepios Klinik Altona
Paul-Ehrlich-Straße 1
22763 Hamburg
Tel. (0 40) 18 18-81 16 71
Fax (0 40) 18 18-81 49 11
E-Mail: [email protected]
Care. 2006; 4(1): 8-13.
[5] CRASH Trial Collaborators. Effect of intravenous corticosteroids on death within 14 days in 10008 adults with
clinically significant head injury (MRC CRASH trial):
randomised placebo-controlled trial. Lancet (2004) 364:
1321-28.
Guidelines
[6] Penrod: Prognosis. In Marion (ed) Traumatic Brain inju-
http://www.aans.org/education/clinical%20_guidelines.asp
ry. Thieme: 135-40.
http://www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/008-001.htm
825
Medtropole | Ausgabe 22 | Juli 2010
Das erworbene
von Willebrand-Syndrom
Prof. Dr. Ulrich Budde, Dr. Sonja Schneppenheim, Dr. Hala El Abd-Müller, Dr. Rita Dittmer
Das 1926 erstmals durch Erik von Willebrand beschriebene von Willebrand-Syndrom (VWS) ist die häufigste
vererbbare Bluterkrankheit, die Männer und Frauen aller Ethnien gleichermaßen betrifft. Das erworbene VWS
gilt als sehr viel seltener und wurde daher deutlich später erstmals beschrieben. Es ist davon auszugehen, dass es
häufig übersehen wird, vor allem wenn Erfahrungen mit diesen Patienten fehlen. Grundsätzlich können alle
Disziplinen mit diesen Patienten in Kontakt kommen und bei vielen wird die Diagnose noch nicht gestellt sein.
Daher ist es wichtig, die Aufmerksamkeit auf diese Hämostasestörung zu wecken und diagnostische Wege
aufzuzeigen. Vor allem ist es wichtig zu wissen, dass Blutungen nicht nur durch erniedrigte Gerinnungseiweiße
ausgelöst werden können, sondern auch bei nicht selten exzessiv erhöhten Faktoren, wenn diese Faktoren
dysfunktionell sind.
Synthese und Funktion des
von Willebrand-Faktors (VWF)
Syntheseorte für den VWF sind ausschließlich Endothelzellen und Megakariozyten.
Die Synthesewege sind komplex (Abb. 1)
und es entstehen Multimere gleicher
Zusammensetzung, jedoch, abhängig von
der Anzahl der Monomere, unterschiedlicher Größe zwischen 500 – 20000 KD.
Die Größe der Multimere wird durch die
Metalloprotease (ADAMTS13) reguliert.
Der im Blut zirkulierende VWF ist das Produkt aus Synthese, Speicherung, Sekretion
und Modifikation im Kreislauf. Der VWF
bewirkt gemeinsam mit dem subendothelialen Collagen und Thrombozyten den primären Wundverschluss.
826
Pathomechanismus und häufigste
Grundkrankheiten des erworbenen von
Willebrand-Syndroms (eVWS)
Bei den meisten Patienten mit eVWS wird
der VWF in normaler, nicht selten sogar
erhöhter Konzentration synthetisiert und
ins Plasma sekretiert. Die quantitativen
und/oder qualitativen Veränderungen des
VWF entstehen erst nach der Synthese
durch unterschiedliche Pathomechanismen, die typisch für die jeweiligen Erkrankungen sind, jedoch nicht selten in Kombination auftreten (Tab. 1).
Durch (1) pathologisch erhöhten Scherstress wird der VWF aktiviert und bindet
vermehrt an seine Rezeptoren. Der gebundene VWF unterliegt anschließend einer
Proteolyse durch ADAMTS13, die zu
einem Verlust der großen Multimere und
gesteigerter Bildung proteolytischer Fragmente führt. Das eVWS bei angeborenen
Herzfehlern wurde bereits 1986 beschrieben.[4]
Im Erwachsenenalter fallen vor allem
Patienten mit Aortenstenosen [10] durch eine
hämorrhagische Diathese auf. Die Koinzidenz von Aortenstenose und gastrointestinalen Blutungen ist als Heyde Syndrom
(1958) bekannt. Aktuelle Publikationen [9]
berichten vor allem bei Herzunterstützungssystemen (sog. künstlichen Herzen)
über gravierende, sogar tödliche Blutungskomplikationen (Abb. 2). Ein weiterer
Mechanismus für ein eVWS im höheren
Alter ist die durch arteriosklerotische Prozesse induzierte zunehmende Einengung
des Gefäßlumens im arteriellen Gefäßsystem. Erreicht hierdurch der Scherstress
pathologische Werte, kommt es zum Verlust großer Multimere.
Bei krankhaft erhöhten Thrombozytenzahlen sind die (2) Rezeptoren auf der Thrombozytenoberfläche expandiert. Die an sich
physiologische Adhäsion in Gebieten mit
hohem Scherstress entfernt dadurch
vermehrt die besonders aktiven großen
Multimere aus dem Plasma. Auch hier
werden sie nach erfolgter Bindung durch
ADAMTS13 proteolysiert, so endgültig aus
Hämostaseologie
durch Plasmin induzierte verstärkte Proteolyse wurde für die primäre und sekundäre Hyperfibrinolyse, aber auch für die
Lysetherapie beschrieben.
Eine (5) verminderte Synthese des VWF
induziert ein eVWS Typ 1 (Hypothyreose).
Bei einer Reihe von mit einem eVWS einhergehenden Erkrankungen wie einem
eVWS nach Behandlung mit Valproinsäure,
Viruserkrankungen (z. B. chronische Hepatitis C) oder Hepatopathien, Amyloidose,
Glykogenspeicherkrankheit Typ 1 und Turner Syndrom ist bisher kein Pathomechanismus bekannt.
Abb. 1: Biosynthese des VWF in der Endothelzelle; ER = endoplasmatisches retikulum; WP = Weibel-Palade-Körperchen
dem Plasma entfernt und es lassen sich die
vermehrten proteolytischen Fragmente
nachweisen. Dabei nimmt die proteolytische Spaltung exponentiell mit steigender
Thrombozytenzahl zu.[7]
Zu den häufigen Komplikationen myeloproliferativer Erkrankungen zählen
Thrombose und Blutungen, die nicht selten
gleichzeitig auftreten. Während unterhalb
einer Thrombozytenzahl von 1.000 x 109/l
Thromboembolien führend sind, herrschen
bei Zahlen über 2.000 x 109/l Blutungen
vor. Zwischen 1.000 und 2.000 x 109/l können beide Komplikationen, nicht selten
sogar gleichzeitig, auftreten.[1]
Das eVWS bei lymphoproliferativen
Erkrankungen geht meist mit einer deutlichen Verminderung des VWF und einem
Verlust der großen Multimere einher.
Angeschuldigt werden (3) spezifische oder
unspezifische Autoantikörper, die zur
Immunkomplexbildung und verstärkter
Elimination des VWF führen. Allerdings
entgehen diese Antikörper meist dem
Nachweis. Da in vielen Fällen der VWF
stark vermindert ist, wird der F VIII nicht
ausreichend stabilisiert mit der Folge einer
kombinierten Störung der primären und
sekundären Hämostase. Daher haben diese
Patienten gravierende Blutungskomplikationen, die sich vor allem in Form großflächiger Hautblutungen oder gastrointestinaler Blutungen darstellen. Bei monoklonaler
Gammopathie unklarer Signifikanz (MGUS)
oder Myelom vom Typ IgG ist der VWF fast
immer dysfunktionell (erworbener Typ 2
[Abb. 3]). Dagegen haben Patienten mit
einer monoklonalen Gammopathie vom
Typ IgM meist einen erworbenen Typ 1
(Abb. 4).
Nicht selten führt eine (4) verstärkte Proteolyse durch ADAMTS13 (spezifisch für
den VWF) oder andere Proteasen wie Plasmin oder Calpain (nicht spezifisch) zum
Verlust großer Multimere. Die durch
ADAMTS13 hervorgerufene verstärkte
Proteolyse wurde bereits für kardiovaskuläre und myeloproliferative Erkrankungen
beschrieben. Sie tritt jedoch auch bei der
terminalen Niereninsuffizienz und bei
Behandlung mit Ciprofloxacin auf. Eine
Um den Blick für das erworbene VWS zu
schärfen, hat die ISTH eine Website eingerichtet, auf der Patienten mit erworbenem
VWS diskutiert werden können und die
aktualisierte Literatur sowie Adressen von
Ärzten mit besonderer Erfahrung auf
diesem Gebiet zu finden sind
(IntREaVWS.com / intreavws.com).
Epidemiologie
Das eVWS tritt wesentlich seltener auf als
das angeborene VWS, dürfte jedoch auch
unterschätzt werden. Die von Thiede et
al.[9] beschriebenen 35 Patienten aus einem
Zentrum waren wie folgt verteilt: kardiovaskulär 46 Prozent, lymphoproliferativ
31 Prozent, myeloproliferativ 3 Prozent.
Die Patienten mit kardiovaskulären
Erkrankungen hatten eine extrem hohe
Mortalität innerhalb von zwei Jahren
(50 %), jedoch war in keinem Fall das
eVWS ursächlich. Die Patienten mit den
schwersten Blutungssymptomen (lymphoproliferative Erkrankungen) hatten alle
überlebt. Bei den übrigen Patienten waren
zwölf Prozent verstorben. Die Blutungsfrequenz war mit 19 Prozent pro Jahr hoch,
mit 34 Prozent noch höher war die Notwendigkeit für einen operativen Eingriff in
den nächsten zwei Jahren. Dies zeigt, dass
eine exakte Abklärung eine sehr hohe Priorität hat.
827
Medtropole | Ausgabe 22 | Juli 2010
Spezifische oder unspezifische Autoantikörper, die
zur Immunkomplexbildung und verstärkter Elimination
des VWF führen
■ Lymphoproliferative Erkrankungen
■ Neoplasien
■ Immunologische Erkrankungen
Adsorption des VWF an maligne Zellklone oder andere
Zelloberflächen
■
■
■
■
Abb. 2: VWF Multimere bei einem Patienten mit „Kunstherz“ (2) und im normalen Plasma (1). Bei A handelt es sich
um ein Gel mittlerer Auflösungsfähigkeit (gute Auftrennung der individuellen Oligomere in Triplets), bei B um ein
Gel niedriger Auflösungsfähigkeit (bessere Darstellung des Verlustes großer Multimere). C stellt das Gel niedriger
Auflösungsfähigkeit densitometrisch dar. Der Verlust der großen Multimere (Pfeil auf der Grenze zwischen großen
und mittelgroßen Multimeren) ist eindeutig erkennbar.
Lymphoproliferative Erkrankungen
Neoplasien
Myeloproliferative Erkrankungen
pathologischer Scherstress
Verstärkte Proteolyse des VWF
spezifisch
■
■
■
■
Myeloproliferative Erkrankungen
pathologischer Scherstress
Urämie
Ciprofloxacin
unspezifisch (Plasmin)
■ primäre Hyperfibrinolyse
■ sekundäre Hyperfibrinolyse
■ Lysetherapie
Pathologischer Scherstress
■
■
■
■
■
kongenitale Herzerkrankungen
Aortenstenose
Herzunterstützungssysteme
Endokarditis
Gefäßmalformationen
(M. Osler, Kasabach-Merritt-Syndrom)
■ schwere Arteriosklerose
Verminderte Synthese
■ Unterfunktion der Schilddrüse
Unbekannt
Abb. 3: Vergleich der VWF Multimere eines Patienten mit MGUS vom Typ IgG (4) und im normalen Mischplasma (3).
Bei D handelt es sich um ein Gel mittlerer Auflösungsfähigkeit (gute Auftrennung der individuellen Oligomere in
Triplets), bei E um ein Gel niedriger Auflösungsfähigkeit (bessere Darstellung des Verlustes großer Multimere). Eine
Triplet-Struktur ist praktisch nicht vorhanden. Es handelt sich also um nicht-prozessierten VWF (zu kurze Verweil-
■
■
■
■
■
Valproinsäure
Viruserkrankungen
Hepatopathien
Amyloidose
Glykogenspeicherkrankheit Typ 1
Viruserkrankungen
■ Turner-Syndrom
dauer im Plasma). C stellt das Gel niedriger Auflösungsfähigkeit densitometrisch dar. Der Verlust der großen Multimere (Pfeil auf der Grenze zwischen großen und mittelgroßen Multimeren) ist eindeutig erkennbar.
Tab. 1: Pathogenetische Mechanismen bei verschiedenen
Erkrankungen[6]
Klinische Symptome
Leitsymptom des klassischen VWS ist die
verlängerte Schleimhautblutung: Blutungen nach Zahnextraktion, Epistaxis, Blutungen aus dem Magen-/Darmtrakt und
dem Urogenitalsystem sowie Blutungen
nach arteriellen Punktionen und Blutungen
nach Einnahme von Aggregationshemmern oder Coumarinen.
Diagnostik
Zur Bestätigung eines erworbenen von
Willebrand-Syndroms müssen zunächst die
auch bei dem angeborenen VWS notwendigen Tests eingesetzt werden (Tab. 2 und 3).
Der Verdacht auf eine erworbene Form erfordert eine sorgfältige Erhebung der Eigenund Familienanamnese. Bei Verdacht auf
ein erworbenes VWS, das durch Antikörper gegen den VWF ausgelöst ist, kommt
die Suche nach diesen Antikörpern hinzu.[3]
A) Global- und Suchteste
Eigen- und Familienanamnese
(Blutungszeit)
PFA-100 oder vergleichbare Instrumente
aPTT
Blutbild
F VIII-Aktivität
B) Spezifische Teste
VWF-Antigen (VWF:Ag)
Ristocetin cofactor Aktivität (VWF:RCo)
Collagen Bindungskapazität (VWF:CB)
C) Teste spezialisierter Laboratorien
VWF Multimere
VWF-Propeptid (VWF:AgII)
Antikörper gegen den VWF
Tab. 2: Teste zur Diagnostik des eVWS
828
Hämostaseologie
Abb. 4: Vergleich der VWF Multimere eines Patienten
mit MGUS vom Typ IgG (1) mit Multimeren von normalem Mischplasma (2,5), Multimeren eines Patienten
mit angeborenem Typ 2A (3) und Multimeren eines
Patienten mit MGUS vom Typ IgM (4). Ohne Kenntnis
der Anamnese ist die Unterscheidung zwischen einem
angeborenen und erworbenen VWS Typ 2A kaum möglich. In allen drei Patientenproben sind die großen Multimere zwar vorhanden, jedoch in ihrer Konzentration
deutlich herabgesetzt. Beim Typ IgM sind alle Multimere
vorhanden (erworbener Typ 1). Es fällt jedoch die stark
verzerrte Bandenstruktur auf, die für ein IgM-Paraprotein typisch ist.
assoziierte Erkrankung
n (%)
kardiovaskulär
45 (32 %)
lymphoproliferativ
26 (19 %)
myeloproliferativ
57 (41 %)
Sonstige
11 (8 %)
VWF: Ag (median)
Bereich
167 %
52 – 602
15,5 %
6 – 50
107,5 %
39 – 243
337,5 %
52 – 627
VWF: CB (median)
Bereich
137 %
36 – 478
6%
< 1 – 18
71%
10 – 204
282 %
32 – 524
Ratio VWF: Ag / VWF: CB
(median) Bereich
0,77
0,3 – 1,02
0,40
0,06 – 0,83
0,74
0,26 – 1,0
0,78
0,62 – 0,84
Tab. 3: Laborbefunde bei den von uns im Jahr 2009 diagnostizierten Patienten mit erworbenem VWS
Therapie
Literatur
[1] Budde U, Schäfer G, Müller N, et al. Acquired von
Die Behandlung der Grundkrankheit hat in
vielen Fällen die besten Erfolgsaussichten.
Wie bei dem angeborenen VWS stehen
auch hier mit dem Desmopressin und den
zugelassenen F VIII/VWF-Konzentraten
zwei Hauptprinzipien der Behandlung zur
Verfügung. Dabei sind aber die Besonderheiten des eVWS zu beachten. Sowohl
FVIII/VWF-Konzentrate als auch Desmospressin wirken initial blutstillend bei myeloproliferativen Erkrankungen. Die Korrektur ist jedoch von deutlich kürzerer Dauer
als bei dem angeborenen VWS. Außerdem
kann die Normalisierung des VWF thromboembolische Komplikationen zur Folge
haben. Gut belegt sind der schlechte
Anstieg und die erheblich verkürzte Halbwertzeit nach Infusion von FVIII/VWFKonzentraten und Desmopressin bei
Patienten mit lymphoproliferativen
Erkrankungen und monoklonaler Gammopathie.[5] Bei Nachweis von monoklonalem
IgG ist die Anwendung von HDIgG meist
erfolgreich, allerdings nur passager. Beim
Typ IgM einer monoklonalen Gammopathie ist HDIgG wirkungslos. Hier bleibt
lediglich die symptomatische Behandlung,
zum Beispiel mit rekombinantem F VIIa.
Willebrand’s disease in the myeloproliferative syndrome.
Kontakt
Prof. Dr. Ulrich Budde
Blood 1984; 64: 981-85.
[2] Coppes MJ, Zandvoort SWH, Sparling CR, Poon AO,
Weitzman S, Blanchette VS. Acquired von Willebrand dis-
Hämostaseologie
Medilys Laborgesellschaft mbH
Paul-Ehrlich-Straße 1, 22763 Hamburg
ease in Wilm’s tumor patients. J Clin Oncol 1992; 10: 422-7.
[3] Federici AB, Rand JH, Bucciarelli P, et al. Acquired von
Willebrand syndrome: Data from an international registry.
Thromb Haemost 2000; 84: 345-9.
Tel. (0 40) 18 18-81 59 75
Fax (0 40) 18 18-81 49 48
E-Mail: [email protected]
[4] Gill JC, Wilson AD, Endres-Brooks J, Montgomery RR.
Loss of the largest von Willebrand factor multimers from
plasma of patients with congenital cardiac defects. Blood
[9] Thiede A, Priesack J, Werwitzke S, et al. Diagnostic
1986; 67: 758-61.
workup of patients with acquired von Willebrand syndro-
[5] Michiels JJ, Budde U, van Genderen PJJ, et al. Acquired
me: a retrospective single-centre cohort study. J Thromb
von Willebrand Syndromes: Clinical features, etiology,
Haemost 2008; 6: 569-76.
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[6] Schneppenheim R, Budde U. von Willebrand-Syndrom
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und von Willebrand-Faktor. UNI-MED Verlag AG BremenLondon Boston 2. Aufl. 2006.
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Platelet-VWF complexes are preferred substrates of
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Willebrand’s syndrome in systemic lupus erythematodes.
Blood 1968; 31: 806-11.
829
Medtropole | Ausgabe 22 | Juli 2010
Medizinische Versorgung im Zentrum
Die MVZ Nord GmbH
der Asklepios Kliniken Hamburg
Dr. Hans-Martin Stubbe
Das Gesetz zur Modernisierung der
gesetzlichen Krankenversicherung
(GMG) vom 14. November 2003
MVZ NORD
erlaubt seit dem 1. Januar 2004
neben Vertragsärzten und Ermächtigten Ärzten auch Medizinischen
Versorgungszentren die Teilnahme
an der ambulanten Versorgung
MVZ Heidberg-Ochsenzoll
Pädiatrie, Radiologie,
Neurochirurgie,
Psychiatrie, Psychologie,
Innere Medizin
Dr. Theobald Hormann
Fr. Wolf
PD Dr. Veelken
Dipl.-med. Wagner
Prof. Dr. Kremer et al.
Hr. Jungfer
Dipl.-Psych. Ziertmann
Dipl.-Psych. Heumann
Dr. Nagel
gesetzlich Krankenversicherter.
Die Asklepios MVZ Nord GmbH wurde
am 27. Juni 2007 im Rahmen einer außerordentlichen Sitzung des Zulassungsausschusses der KV Hamburg zugelassen und
nahm am 1. September 2007 ihre Tätigkeit
auf. Unternehmensziel ist die Komplettierung des medizinischen Angebotes im
niedergelassenen Bereich. Hier deckt sich
das Ziel des Gesetzgebers, Ärztinnen und
Ärzten eine weitere Möglichkeit der
niedergelassenen Tätigkeit zu eröffnen, mit
unserer Intention. Weder ist beabsichtigt,
Arztpraxen in „lukrative“ Stadtteile zu
verlegen, noch für Einweisungen in die
eigenen Krankenhäuser zu sorgen. Um
dies zu dokumentieren, gab die Asklepios
MVZ Nord GmbH bereits am 18. Juni 2008
eine freiwillige, öffentliche Selbstverpflichtungserklärung gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg ab, die dies
ausschließt. Zu keinem Zeitpunkt wurde
seither gegen diese Selbstverpflichtung
verstoßen.
Die Standorte unserer Gesundheitszentren
befinden sich durchweg in eher strukturschwachen Gegenden Hamburgs und im
Umland. Diese Strategie wird weiter verfolgt. Somit ist für uns der Westen Hamburgs nicht Blankenese sondern Osdorf.
Mit der Errichtung der Asklepios MVZ
830
MVZ Mitte
Kardiologie, Psychiatrie,
Physiotherapie, Chirurgie
Dr. Hinrichs
Dr. Peschel
Hr. Gensch
PD Dr. Niemeyer
Dr. Flügel
MVZ Labor Altona
Labormedizin
Dr. Otte
Dr. Dittmer
Dr. El Abd-Müller
MVZ Harburg
Gynäkologie, Psychiatrie,
Orthopädie, Allg. Med.,
Chirurgie, Kinderchirurgie,
Gefäßchirurgie, Psychologie
Dr. Unger
Dr. Ude
Dr. Bosse
Dr. Bonitz-Swoboda MVZ Seevetal
Dr. Hütter
Gynäkologie, Orthopädie
Dr. Halsner
Dr. Gheorgiu
Prof. Dr. Kallinowski Dr. Reichle
Dr. Daum
Hr. Maack
Dr. Richter
Hr. Kleinschmidt
Dr. Zebidi
Dipl.-Psych. Fränzi Martens
Dipl.-Psych. Ziegler
Dr. Johnsen (AKB)
Nord GmbH haben die Asklepios Kliniken
Hamburg Vertragsärzten die Möglichkeit
gegeben, auch nach Übergabe der Praxis
ohne wirtschaftliche Zwänge weiter ärztlich tätig zu sein. Auf diese Weise können
sie dem wachsenden Problem, geeignete
MVZ Bergedorf
Innere Medizin,
Orthopädie, Gynäkologie,
Psychiatrie
MVZ Geesthacht
Dr. Sliwiok
Allg. Med., Orthopädie
Dr. Weidenfeld
Dr. Hadaschick
Dr. Friedrichs
Dr. Logmani
Fr. Ballnus
Dr. Pietschmann
Dr. Godat
Dr. Stammer (AKW) Fr. Radzko
Fr. Kossin
Praxisnachfolger zu finden, aus dem Wege
gehen. Vielmehr haben sie nun sogar die
Möglichkeit, ihre Erfahrung und ihr Wissen über einen selbst gewählten Zeitraum
auf die Nachfolgerin oder den Nachfolger
zu übertragen. Wie regelmäßige, wissen-
Medizinische Versorgungszentren
„In einer gesundheitspolitisch unsicheren Zeit gibt
uns der Anschluss an den Asklepios-Konzern mehr
finanzielle Sicherheit. Unsere Arbeitsplätze und die
unserer Mitarbeiterinnen sind gesichert und es
besteht die Möglichkeit, einer Teilzeittätigkeit nachzugehen. Im Umfeld des Konzerns ist die Urlaubsvertretung möglich somit ist die Kontinuität der
Patientenbetreuung gesichert. Der interdisziplinäre
Austausch wird gefördert und der Kontakt zu den
Kliniken wird enger.“
Dr. Edmund Hütter
Dr. Peter Halsner
MVZ Harburg
schaftliche Untersuchungen im Unternehmen zeigen, erwächst aus diesem sanften
Übergang auch für unsere Patienten mehr
Sicherheit und Zufriedenheit.
Die Medizinischen Versorgungszentren
können aber auch für jüngere Kollegen
eine interessante Option sein: Hier haben
sie die Chance, ohne finanzielle Risiken
eigenständig ambulant zu arbeiten. Sie
nutzen sowohl die Sicherheit eines großen
Unternehmens als auch die häufig besseren
Arbeitsbedingungen in einer Praxis. Die
bisherigen Erfahrungen zeigen, dass auch
der Wegfall von Nacht- und Wochenenddiensten durchaus ein Argument bei der
Entscheidung für diesen ärztlichen Tätigkeitsbereich ist.
Gemäß der Selbstverpflichtung, die im
September 2009 noch einmal in Form einer
eidesstattlichen Erklärung des Geschäftsführers bekräftigt wurde, gibt es auch
keine Anweisungen an die Mitarbeiter, bei
Klinikeinweisungen bestimmte Kliniken zu
bevorzugen.
Eine oft über Jahrzehnte gewachsene oder
durch die räumliche Nähe geprägte
Zusammenarbeit mit Krankenhäusern
anderer Träger wird auch unter dem Dach
der Asklepios MVZ Nord GmbH gepflegt
und im besten Fall sogar weiter ausgebaut.
Denn der aufgeklärte Patient mit seiner
Entscheidungssouveränität steht auch hier
im Vordergrund.
einmal ein anderer Eindruck entstehen,
sind wir für Hinweise dankbar und zu
jeder Zeit gesprächsbereit.
Kontakt
Unter diesen Vorgaben hat sich die Asklepios MVZ Nord GmbH sehr positiv entwickelt, derzeit sind hier 61 Ärzte und
Psychologen mit Voll- oder Teilzeitverträgen angestellt. Auch künftig wird das
Unternehmen innerhalb der selbst gesetzten und der vom Gesetzgeber vorgegebenen Regeln weiter wachsen – ohne die
Interessen niedergelassener Ärzte oder
anderer Krankenhäuser zu verletzen. Sollte
Dr. Hans-Martin Stubbe
Geschäftsführer
Asklepios MVZ Nord GmbH
Lohmühlenstraße 5, Haus W
20099 Hamburg
Tel. (0 40) 18 18-85 26 50
Fax (0 40) 18 18-85 26 59
E-Mail: [email protected]
831
ISSN 1863-8341
Geschichte der Medizin
Vom guten Eiter bis zum Schnellverband:
Die Geschichte der Wundversorgung
Jens Oliver Bonnet
Die Wundversorgung mit Verbandsmaterialien aus Blättern, Harzen oder Rinden
ist vermutlich so alt wie die Menschheit
selbst, auch wenn Aufzeichnungen darüber nicht einmal 5.000 Jahre zurück reichen: Papyrusrollen aus dem alten Ägypten beschreiben Verletzungen, die mit in
Öl und Honig getränktem feinen Leinen
verbunden wurden.
Bereits Hippokrates (460 – 375 v. Chr.) unterschied Schnittwunden ohne Verunreinigung von komplizierten Verletzungen mit
abgestorbenem Gewebe. Schnittwunden
reinigte er mit Wein oder abgekochtem
Regenwasser, vernähte sie und ließ sie unter
mit starkem Rotwein getränkten Leinenkompressen primär heilen. Verschmutzte
oder entzündete Wunden mussten dagegen schnell durch den Vorgang der Eiterung gebracht werden, offen bleiben und
sekundär heilen. Nach der Vier-Säfte-Lehre
interpretierte Hippokrates die Entzündung
als Säftestau, der durch Eiterung aufgelöst
werden kann. Obwohl die Ärzte der Antike weder weiße Blutkörperchen noch
Bakterien kannten, ahnten sie bereits die
Bedeutung der verschiedenen Eiterformen:
Weißer Eiter galt als günstig (Pus bonum et
laudabile), dünnflüssiger oder stinkender
Eiter dagegen als prognostisch ungünstig.[1]
In speziellen Fällen riefen die Ärzte gezielt
eine Eiterung hervor, wenn die Wunde
nicht primär verheilen konnte. Bei Entzündungszeichen in primär heilbaren Wunden
trugen sie dagegen entzündungshemmende Mineralstoffe und Kräuter auf. Um die
Wundeiterung in zerklüfteten und verschmutzten Wunden zu stimulieren, brachte Hippokrates in Wein abgekochte Schafswolle in die Wunde ein – dabei achtete er
auf größtmögliche Reinlichkeit. Aulus
Cornelius Celsus (ca. 25 v. Chr. – 50 n. Chr.)
erwähnt in seinen Schriften Techniken der
Blutstillung und der Kauterisation durch
www.medtropole.de
Hilfe zur Selbsthilfe: der erste Pflasterschnellverband
Ausbrennen der Wunde mit einem heißen
Eisen,[1] Claudius Galen (129 – 216 n. Chr.)
beschreibt bereits 108 verschiedene Verbände, darunter die bis heute gebräuchlichen
Schildkröten- und den Kornährenverbände.
Im kirchlich geprägten Mittelalter gab es
nur wenige Ärzte in Diensten der Adligen
und Reichen, während die medizinische
Versorgung der Bevölkerung vor allem
durch Bader, Barbiere, Scherer und „weise
Frauen“ geleistet wurde.[2] Das im Mittelalter verbreitete Einbringen von Schmutz
in primär heilbare Wunden beruhte vermutlich auf einer Fehlinterpretation des
Hippokratischen Konzeptes des lobenswerten Eiters. Eine bahnbrechende Entdeckung machte der französische Barbier
Ambroise Paré (1510 – 1590), der als Militärchirurg die bis dahin mit kochendem
Holunderöl kauterisierten Schusswunden
mit einem Digestivum aus Eigelb, Rosenöl
und Terpentin bestrich, weil ihm während
eines Gefechts das Öl ausging: Den so
Behandelten erging es erheblich besser als
ihren kauterisierten Kameraden.[3]
1865 entdeckte Louis Pasteur, dass Gärung
und Fäulnis durch mikroskopisch kleine
Lebewesen verursacht werden. Joseph Lister erkannte, dass diese Keime für Wundinfektionen verantwortlich waren und
führte 1867 den mit Karbolsäure getränkten Wundverband ein, der die Todesraten
in den Kliniken deutlich senkte.[4] Einen
weiteren Meilenstein legte der Tübinger
Chirurg Viktor von Bruns 1870 mit der
Erfindung der hydrophilen Verbandwatte,
indem er Baumwolle bleichte und entfettete. 1874 beschrieb Lister ein Verfahren zur
Herstellung eines keimabtötenden Wundverbands, der Listerschen Carbolgaze.
1922 brachte die Hamburger Firma Beiersdorf mit dem Hansaplast Schnellverband
mit Mullkissen den ersten Pflasterverband
auf den Markt, der eine eigenständige Versorgung kleiner Verletzungen durch den
Patienten ermöglichte. Bis dahin erforderten selbst Bagatellverletzung professionelle
Hilfe. 1962 legte Georg Winter den Grundstein für die moderne feuchte Wundbehandlung sekundär heilender Wunden.[5]
Literatur
[1] Majno G. The Healing Hand – Man and Wound in the
Ancient World, Harvard University Press, Cambridge 1975.
[2] Ackerknecht EH. Geschichte der Medizin, 5. Auflage,
Stuttgart 1986: 75.
[3] Forrest, R. D.: Development of wound therapy from the
dark ages to the present, Journal of the Royal Society of
Medicine 1982, Bd. 75: 268-73.
[4] Lister J. On a new method of treating compound
fracture, abscess, etc., The Lancet. 1867; 45: 326-29.
[5] Winter GD. Formation of the scab and the rate of epithelization of superficial wounds in the skin of the young
domestic pig. Nature. 1962; 193: 293-4.
BUCHTIPP
W. Sellmer, A. Bültemann, W. Tigges
Wundfibel: Wunden versorgen, behandeln, heilen
193 S.; MWV 2010; € 24,95
ISBN: 978-3-941468-14-6
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