SMF – FMS Schweizerisches Medizin-Forum – Forum Médical Suisse – Forum Medico Svizzero – Forum Medical Svizzer Swiss Medical Forum 35 31. 8. 2016 702 M. P. Arnold, T. Rychen Knieprothetik nach Mass aus dem 3D-Drucker 716 E. Holsboer-Trachsler, J. Hättenschwiler, J. Beck, et al. Die Akutbehandlung depressiver Episoden 725 S. Güntert, M. Brutsche, R. Rodriguez, D. Güntert Wenn doch alles «unter einen Hut zu bringen» ist With extended abstracts from “Swiss Medical Weekly” 707 S. Maitre, J. Jaafar, G. Gastaldi, J. Philippe Hypoglykämie bei Patienten mit Diabetes Offizielles Fortbildungsorgan der FMH Organe officiel de la FMH pour la formation continue Bollettino ufficiale per la formazione della FMH Organ da perfecziunament uffizial da la FMH www.medicalforum.ch 699 INHALTSVERZEICHNIS Redaktion Beratende Redaktoren Prof. Dr. Nicolas Rodondi, Bern (Chefredaktor); Prof. Dr. Stefano Bassetti, Prof. Dr. Reto Krapf, Luzern; Dr. Pierre Périat, Basel; Basel; Dr. Ana M. Cettuzzi-Grozaj, Basel (Managing editor); Prof. Dr. Rolf A. Streuli, Langenthal Prof. Dr. Martin Krause, Münsterlingen; Prof. Dr. Klaus Neftel, Bern; Prof. Dr. Antoine de Torrenté, La Chaux-de-Fonds; Prof. Dr. Gérard Waeber, Lausanne; PD Dr. Maria Monika Wertli, Bern Advisory Board Dr. Sebastian Carballo, Genève; Dr. Daniel Franzen, Zürich; Dr. Francine Glassey Perrenoud, La Chaux-de-Fonds; Dr. Markus Gnädinger, Steinach; Dr. Matteo Monti, Lausanne; Dr. Sven Streit, Bern Und anderswo …? A. de Torrenté 701 Frischobst und kardiovaskuläre Erkrankungen: wirksame Prävention? Aktuell M. P. Arnold, T. Rychen Knieprothetik nach Mass aus dem 3D-Drucker 702 Bei fortgeschrittener Osteoarthritis ist die Prothetik ein bewährtes Konzept. Sie birgt jedoch einige Probleme. Um diese Probleme anzugehen, hat sich in der Kniechirurgie ein Prinzip sehr gut bewährt: Rekonstruiere die Anatomie so genau wie möglich. Übersichtsartikel S. Maitre, J. Jaafar, G. Gastaldi, J. Philippe Hypoglykämie bei Patienten mit Diabetes 707 Die Hypoglykämie ist eine unvermeidliche Nebenwirkung der Insulintherapie und bestimmter oraler Antidiabetika. Die Morbidität und die damit verbundenen Kosten sind erheblich. Von zentraler Bedeutung für die Behandlung des Diabetes ist es, die Anzeichen und Ursachen zu erkennen und dementsprechend zu handeln. Richtlinien E. Holsboer-Trachsler, J. Hättenschwiler, J. Beck, S. Brand, U. M. Hemmeter, M. Ekkehard Keck, S. Rennhard, M. Hatzinger, M. Merlo, G. Bondolfi, M. Preisig, A. Gehret, D. Bielinski, E. Seifritz 716 Die Akutbehandlung depressiver Episoden Diese Behandlungsempfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression und der Schweizerischen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie wurden in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie auf der Grundlage von Leitlinien der «World Federation of Societies of Biological Psychiatry» und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde erstellt. Rösli Näf – Porträt einer Unbeugsamen Franziska Greising ¡ AM LEBEN Roman 2016. Geb., 500 Seiten CHF 38.– / EUR 36,– ISBN 978-3-7296-0913-6 Zytglogge Verlag Der Süden Frankreichs 1940: Die dreissigjährige Rose aus Glarus übernimmt die Leitung eines Heims für jüdische Kinder aus Deutschland und Österreich. Sie bietet den Kindern in der noch unbesetzten Zone Schutz und Geborgenheit. Nachdem Nazideutschland auch Frankreichs Süden besetzt, nimmt die Bedrohung dramatisch zu. Eines Morgens werden die älteren Jugendlichen in ein Lager verschleppt. Die offizielle Schweiz und das Rote Kreuz kommen nicht zu Hilfe. Rose trifft eine Entscheidung. Zytglogge Verlag | Steinentorstrasse 11 | CH-4010 Basel Tel. +41 (0)61 278 95 77 | Fax +41 55 418 89 19 | [email protected] 700 INHALTSVERZEICHNIS Fallberichte S. Güntert, M. Brutsche, R. Rodriguez, D. Güntert 725 Wenn doch alles «unter einen Hut zu bringen» ist Die Zuweisung des Patienten erfolgte zur weiteren Abklärung, als diverse Befunde wie Anämie, Thrombozytose und Transaminasenerhöhung im klinischen Kontext mit anhaltendem Nachtschweiss, vorübergehendem Gewichtsverlust und trockenem Husten nach einer antibiotisch behandelten Sinusitis und Otitis media drei Monate zuvor nicht «unter einen Hut zu bringen» waren. Extended abstracts from SMW New articles from the online journal “Swiss Medical Weekly” are presented after page 728. Bleiben, wie ich bin Peter Schneider ¡ IDENTITÄT UND SOLCHE SACHEN Kolumnen Klappenbroschur, 13 × 21 cm, ca. 220 Seiten Coverfoto: Claudia Herzog CHF / EUR 29.– ISBN 978-3-7296-0919-8 Zytglogge Verlag In seinen Kolumnen beantwortet Peter Schneider regelmässig Leserfragen. Deren Bandbreite reicht von vermeintlich banalen Alltagsfragen, hinter denen sich plötzlich Abgründe aus vorgefassten Meinungen und allzu bequemen Denkmustern auftun, bis zu den grossen und ganz grossen Fragen unseres Seins. Scharfsinnig und zuweilen scharfzüngig geht der Autor diesen Fragen nach, bis er deren eigentlichen Kern freigelegt hat. Seine Antworten sind ernsthaft, auch wenn sie mit Sprachwitz daherkommen, treffsicher, überraschend und anregend. Zytglogge Verlag | Steinentorstrasse 11 | CH-4010 Basel Tel. +41 (0)61 278 95 77 | Fax +41 55 418 89 19 | [email protected] Impressum Swiss Medical Forum – Schweizerisches Medizin-Forum Offizielles Fortbildungsorgan der FMH und der Schweizerischen Gesellschaft für Innere Medizin Marketing EMH / Inserate: Dr. phil. II Karin Würz, Leiterin Marketing und Kommunikation, Tel. +41 (0)61 467 85 49, Fax +41 (0)61 467 85 56, [email protected] Redaktionsadresse: Ruth Schindler, Redaktionsassistentin SMF, EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 58, Fax +41 (0)61 467 85 56, [email protected], www.medicalforum.ch Abonnemente FMH-Mitglieder: FMH Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte, Elfenstrasse 18, 3000 Bern 15, Tel. +41 (0)31 359 11 11, Fax +41 (0)31 359 11 12, [email protected] Andere Abonnemente: EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Abonnemente, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 75, Fax +41 (0)61 467 85 76, [email protected] Abonnementspreise: zusammen mit der Schweizerischen Ärztezeitung 1 Jahr CHF 395.– / Studenten CHF 198.– zzgl. Porto; ohne Schweizerische Ärzte zeitung 1 Jahr CHF 175.– / Studenten CHF 88.– zzgl. Porto (kürzere Abonnementsdauern: siehe www.medicalforum.ch) Manuskripteinreichung online: http://www.edmgr.com/smf Verlag: EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 55, Fax +41 (0)61 467 85 56, www.emh.ch ISSN: Printversion: 1424-3784 / elektronische Ausgabe: 1424-4020 Erscheint jeden Mittwoch © EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG (EMH), 2016. Das Swiss Medical Forum ist eine Open-Access-Publikation von EMH. Entsprechend gewährt EMH allen Nutzern auf der Basis der CreativeCommons-Lizenz «Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International» das zeitlich unbeschränkte Recht, das Werk zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen unter den Bedingungen, dass (1) der Name des Autors genannt wird, (2) das Werk nicht für kommerzielle Zwecke verwendet wird und (3) das Werk in keiner Weise bearbeitet oder in anderer Weise verändert wird. Die kommerzielle Nutzung ist nur mit ausdrücklicher vorgängiger Erlaubnis von EMH und auf der Basis einer schriftlichen Vereinbarung zulässig. Hinweis: Alle in dieser Zeitschrift publizierten Angaben wurden mit der grössten Sorgfalt überprüft. Die mit Verfassernamen gezeichneten Veröffentlichungen geben in erster Linie die Auffassung der Autoren und nicht zwangsläufig die Meinung der SMFRedaktion wieder. Die angegebenen Dosierungen, Indikationen und Applikationsformen, vor allem von Neuzulassungen, sollten in jedem Fall mit den Fachinformationen der verwendeten Medikamente verglichen werden. Herstellung: Schwabe AG, Muttenz, www.schwabe.ch Titelbild: © Sergey Lavrentev | Dreamstime.com 701 UND ANDERSWO …? Und anderswo …? Antoine de Torrenté Frischobst und kardiovaskuläre Erkrankungen: wirksame Prävention? Fragestellung Kardiovaskuläre (cv) Erkrankungen sind die Hauptursache für vorzeitigen Tod und Invalidität. Die meisten cv Ereignisse treten in Schwellenländern wie China auf. Ein geringer Frischobstverzehr ist ein wichtiger Risikofaktor, vor allem im Westen, aber das sind oft nur Schätzungen. Der Frischobstverzehr in China ist, im Gegensatz zum quasi täglichen Gemüsekonsum, sehr gering. Ischämische und hämorrhagische Schlaganfälle sowie koronare Herzerkrankungen sind sehr häufig. Die nachfolgend zusammengefasste Studie soll die Frage beantworten, ob Frischobstverzehr einen Einfluss auf das Auftreten cv Ereignisse hat. Methode Die analysierten Personen kamen aus 10 chinesischen Regionen, 5 städtischen und 5 ländlichen. Ihre Daten stammten aus einer riesigen Datenbank, der «China Kadoorie Biobank Study». Die 35–74 Jahre alten Einwohner der Regionen wurden von 2004–2008 eingeladen, an der Studie teilzunehmen. Ca. 500 000 stimmten zu. Sie wurden in lokalen Einrich- Pioglitazon nach ischämischem Schlaganfall oder TIA: Nutzen? Insulinresistenz ist ein wichtiger Faktor für das Auftreten eines Schlaganfalls oder Myokardinfarkts. Pioglitazon (P) verbessert die Insulinsensitivität. Fast 4000 Patienten mit kürzlich aufgetretenem Schlaganfall oder transitorischer ischämischer Attacke (TIA) erhielten entweder 45 mg Pioglitazon oder ein Plazebo. Nach 4,8-jährigem Follow-up hatten 9% der PPatienten einen Schlaganfall oder Myokardinfarkt erlitten, gegenüber 11,8% der Patienten unter Plazebo (Risk Ratio 0,76, p = 0,007). Die Gesamtsterblichkeit wurde nicht beeinflusst. Die Pioglitazon-Patienten nahmen häufiger an Gewicht zu und entwickelten im Vergleich zu Patienten unter Plazebo eher Ödeme und Frakturen. Diese Nebenwirkungen sind signifikant. Lohnt sich die Einnahme tatsächlich? Kenson WN, et al. New Engl J Med. 2016;374:1321–31. Magenschutz bei dualer Thrombozytenaggregationshemmung Laut COGENT-Studie hat Omeprazol bei Patienten, die eine duale Thrombozytenaggregationshemmung mit Clopidogrel und Aspirin® tungen von geschultem Personal zu ihren Ernährungsgewohnheiten bezüglich 12 Nahrungsmittelgruppen wie Reis, Weizen, Eiern … und Frischobst befragt. Dann wurde der Frischobstverzehr der letzten 12 Monate evaluiert und stratifiziert: täglich, 4–6×/Woche, 1–3×/Woche, monatlich, nie. Weiter wurden BMI, arterieller Blutdruck (BD) und NüchternBlutzucker (BZ) erfasst. Der Gesundheitsstatus wurde regelmässig durch die Verwaltung der Regionen und anhand von Versicherungsdaten geprüft. Die cv Ereignisse wurden gemäss ICD-10-Code klassifiziert. Resultate Die Studie umfasst 3,2 Mio. Patientenjahre mit ca. 450 000 Personen. In diesem Zeitraum traten ~5000 cv Todesfälle auf. 18% der Probanden assen täglich Obst. Der systolische BD dieser Personen war im Vergleich zu denjenigen, die nie Obst assen, um 4 mm Hg und der BZ um 0,5 mmol/l niedriger. Ihre adjustierte Hazard Ratio (HR) betrug im Vergleich zu Personen, die nie Obst assen, 0,6 für einen cv Tod und 0,64 für ischämische oder hämorrhagische Schlaganfälle. Es bestand ein starkes loglineares Verhältnis zwischen den cv Ereignissen und den 5 Obstverzehrkategorien von nie bis täglich. Alle Zahlen waren signifikant. (A) erhalten, im Vergleich zu Plazebo eine Schutzwirkung bezüglich gastrodudenaler Komplikationen (1 vs. 3%). Es bestehen keine Unterschiede bezüglich der verwendeten ADosis (<100 und >100 mg/Tag). Das Follow-up betrug 110 Tage. Selbst bei einer geringen ADosis scheint die Therapie demnach von Nutzen zu sein. Zur Erinnerung: Bei der Einnahme zusammen mit Ticagrelor wird eine geringe A-Dosis empfohlen … Vaduganathan M, et al. J Am Coll Cardiol. 2016;67(14):1661–71. Grippeimpfung während der Schwangerschaft: sinnvoll? Eine australische Studie verglich die Geburten von 5000 Frauen, die während der Schwangerschaft einen trivalenten Grippeimpfstoff erhalten hatten, mit denen von 50 000 ungeimpften Frauen. Bei den Geimpften traten weniger Totgeburten auf (3 vs. 5/100 000 Schwangerschaftstage). Anscheinend gab es keine Impfnebenwirkungen und somit keine Kontraindikation gegen die Impfung von Schwangeren. Gut zu wissen … Regan AK, et al. Clin Infect Dis. 2016;62:1221–7. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):701 Probleme Man weiss weder wie viel noch welche Arten Obst verzehrt wurden. Trotz statistischer Bereinigung war das sozioökonomische Milieu ein Störfaktor. Denn Personen im Quartil mit dem höchsten Einkommen assen doppelt so häufig täglich Obst als solche im Quartil mit dem niedrigsten Einkommen. Kommentar Ein Pluspunkt der Studie ist die Zahl der beobachteten Patientenjahre. Es wurde per Zufall eine kleine Unterstichprobe (5–6%) der Probanden ausgewählt, deren Daten zwei weitere Male erfasst wurden, um die Gesamtstichprobe zu validieren. Alles in allem waren die Personen mit täglichem Obstverzehr hauptsächlich gebildete Frauen aus den städtischen Regionen mit hohem Einkommen, die nicht rauchten, interessanterweise mehr Fleisch und Milchprodukte konsumierten sowie einen höheren BMI aufwiesen. Weiter ist anzumerken, dass die Resultate unabhängig vom arteriellen BD und BZ-Spiegel zu sein scheinen und in den 10 analysierten Regionen identisch waren. Hoffen wir, dass diese eindeutig positiven Resultate auch auf andere, darunter unsere, Populationen anwendbar sind. Denn die Verringerung der HR ist wirklich beeindruckend … Du H, et al. N Engl J Med. 2016;374:1332–43. Hormonsubstitution nach der Menopause: Arterioskleroseprogression? Nach den Resultaten der «Women’s Health Study», die einen ungünstigen Einfluss der Hormonsubstitution (H) auf das kardiovaskuläre (cv) Risiko gezeigt hatte, waren die Verordnungen von Präparaten zur H zurückgegangen. In der ELITE-Studie wurden zwei Frauengruppen verglichen: 1) Alter von ca. 55 und Menopause vor 3,5 Jahren, 2) Alter von ca. 63 und Menopause vor 14 Jahren. 643 Patientinnen wurden untersucht. In jeder Gruppe erhielten diese entweder 1 mg Estradiol (E)/Tag oder ein Plazebo. Bei den jüngeren Frauen verringerte E die anhand der Intima-Media-Dicke der A. carotis beurteilte Arteriosklerose progression. Bei den älteren Frauen bestand jedoch kein Unterschied zwischen E und Plazebo. Demnach scheint die Studie für eine H ohne erhöhtes cv Risiko bei Frauen kurz nach Beginn der Menopause zu sprechen. Hodis HN, et al. N Engl J Med. 2016;374:1221–31. Keaney JF Jr, Solomon CG. N Engl J Med. 2016;374:1279–80. 702 AK TUELL Neue Implantate, die bildbasiert individuell hergestellt werden Knieprothetik nach Mass aus dem 3D-Drucker Prof. Dr. med. Markus P. Arnold, Dr. med. Thomas Rychen LEONARDO – Ärzte für Orthopädie und Traumatologie, Kniezentrum Hirslanden Klinik Birshof, Münchenstein Bei fortgeschrittener Osteoarthritis ist die Prothetik ein bewährtes Konzept. Sie birgt jedoch einige Probleme. Um diese Probleme anzugehen, hat sich in der Kniechirurgie ein Prinzip sehr gut bewährt: Rekonstruiere die Anatomie so genau wie möglich. Orthopädische Chirurgen versuchen, die Lebensqua- mehrere Denkansätze verfolgt werden: Normaler- lität ihrer Patienten zu verbessern – zunächst im Rah- weise arbeiten wir mit einem bewährten Prothesen- men der gelenkerhaltenden Chirurgie, die sich immer system, das es in der tibialen Komponente in 10 und in weiter entwickelt [1]. Bei zu weit fortgeschrittener der femoralen in 16 verschiedenen Grössen gibt. Das Osteoarthritis bleibt aber dennoch die Prothetik ein passende Polyethylen ist in Millimeterschritten in den bewährtes Konzept. Die Kniechirurgie hat zum Ziel, notwendigen Dicken und Grössen erhältlich. Dennoch dem Patienten zu einem schmerzfreien, stabilen, frei müssen wir bei jeder Konfektions-Prothese grössere beweglichen Kniegelenk zu verhelfen, dessen er sich oder kleinere Kompromisse eingehen, sodass letztend- im Idealfall nicht einmal bewusst ist. Das künstliche lich das Knie an die Prothese angepasst wird – und Gelenk wird dann nicht mehr als Fremdkörper wahr- nicht umgekehrt. Dieser Umstand kann zu den in der genommen, wenn es unmerklich genauso funktioniert, Folge besprochenen Restproblemen führen. wie es soll. Restproblem 1 Restprobleme der klassischen Knieprothetik Beim Einbau einer klassischen Prothese bewegen wir uns auf dem schmalen Grat zwischen idealer Beweglichkeit und guter Stabilität des Kniegelenkes [2]. Wenn Die Knieprothetik will durch den Ersatz von arthro- der Operateur während der Operation maximale tisch veränderten Gelenkoberflächen mit Metall- und Gelenkstabilität mit etwas erhöhter Bandspannung Polyethylen-Implantaten erreichen, dass ein zuvor anstrebt, ist es möglich, dass der Patient es in der frü- jahrelang schmerzendes Gelenk wieder tadellos funk- hen postoperativen Phase nicht schafft, die kritische tioniert. Der Patient soll seinen Alltag beschwerdefrei Grenze von etwa 100° Flexion zu übertreffen, eine per- bestreiten können. Damit haben wir uns ein hohes Ziel sistierende Flexionseinschränkung wäre die Folge. gesteckt, das wir trotz differenzierter Möglichkeiten [2] Wird maximale Beweglichkeit angestrebt, könnte sich längst nicht immer erreichen [3–5]. Obschon sich die das Knie nach dem Abklingen der arthrofibrotischen Knieprothetik als eine erfolgreiche Routineoperation Phase, also nach etwa einem Jahr, für den Patienten etabliert hat, die wissenschaftlich gut untermauert ist, unstabil anfühlen. Dieser Umstand, der durch das müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass etwa 20% der unangenehme Phänomen der zusätzlichen Instabilität Patienten nach einer Knie-Totalprothese (Knie-TP) mit in mittleren Flexionsgraden, also zwischen etwa 50 dem Ergebnis unzufrieden sind [6–8]. Bei jüngeren und 80° noch verschärft werden kann [10, 11], wird Patienten ist dies sogar bei jedem Dritten der Fall [9]. bereits durch die neuesten Konfektionsprothesen ver- Junge Patienten und solche mit posttraumatischen bessert. Gonarthrosen sind bezüglich der Zufriedenheit nach Markus P. Arnold Knie-TP unsere anspruchsvollsten Patienten. Offenbar Restproblem 2 gelingt es uns zu oft nicht, deren Erwartungen zu er- Um eine möglichst stabile, kortikale Abstützung der füllen. Implantate zu erreichen, die besonders in osteoporo- Woran liegt es, dass so viele Knie-TP-Patienten nach tischen Knochen wichtig ist, muss eine komplette Ab- ihrer Operation unzufrieden sind? Hierzu können deckung der Sägefläche an Femur und Tibia erreicht SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):702–706 703 AK TUELL Abbildung 1 A–C: Drei anatomische Präparate rechter distaler Femora. Man beachte die individuell sehr unterschiedliche Morphologie. Quelle: Prof. em. Werner Müller, Anatomisches Institut der Universtität Basel. werden. Gleichzeitig sollte die Prothese nirgendwo stö- passt die ligamentäre Anatomie nicht mehr perfekt, rend überhängen, da sonst klinisch relevante, schmerz- die Kinematik wird verändert [15–17]. Das Kniegelenk hafte Weichteilirritationen resultieren können [12, 13]. mit seinen sechs Freiheitsgraden der Beweglichkeit ist aber stark abhängig von seiner aktiven und passiven Restproblem 3 Stabilisierung, der sogenannten sensomotorischen Jedes Kniegelenk hat seine Gelenklinie, sein indivi- Kontrolle. Bänder und Sehnen sind keine reinen Kabel. duelles Niveau, seine Ebene, auf der sich Flexions-, Ex- Sie sind mit Sensoren gespickte, aktive und passive Sta- tensions- und Rotationsbewegungen zwischen Femur bilisatoren der Kniebewegung [18, 19]. und Tibia abspielen. Nur wenn die Gelenklinie genau rekonstruiert wird, ist es möglich, die normale Kinematik wiederherzustellen. Besonders unangenehm für die Patienten sind asymmetrische Verschiebungen der Gelenklinie. Beispielsweise kommt es bei Valgus-Gon- Individueller Oberflächen-Ersatz – Nur ersetzen, was tatsächlich arthrotisch verändert ist arthrosen immer wieder dazu, dass nach Prothese im Neue Techniken wie das 3D-Druckverfahren eröffnen lateralen Kompartiment die originale Gelenklinie re- neue Möglichkeiten und verändern dadurch die Be- konstruiert wird, aber medial eine deutliche Senkung handlung unserer Prothesenpatienten: Erstmals ist es der Gelenklinie in Kauf genommen werden muss. jetzt möglich, die Prothese der Anatomie anzupassen. Alle drei genannten Restprobleme erzwingen regel- Die ConforMIS-Prothesen werden basierend auf CT- mässig Kompromisslösungen beim Einbau von Kon- Daten über eine virtuelle 3D-Rekonstruktion und dann fektionsprothesen, seien es Total- oder Teilprothesen. im 3D-Druckverfahren mit Hilfe der CAD/CAM (Computer Aided Design/Computer Aided Manufacturing)Technologie hergestellt. Gleichzeitig mit dem Implantat Individuelle Anatomie werden die individuellen, zur Ausrichtung und Im- Um diese genannten Probleme anzugehen, hat sich in plantation notwendigen Sägeblöcke hergestellt. Das der Kniechirurgie ein klassisches Prinzip sehr gut be- Portfolio umfasst mediale und laterale unikondyläre währt, das von unseren grossen Lehrmeistern in den Teilprothesen, mediale sowie laterale bikompartimen- 1980er Jahren stammt [14]: Rekonstruiere die Anato- telle Teilprothesen, bei denen sowohl ein femorotibiales mie so genau wie möglich. Dieses Prinzip funktioniert als auch das femoropatellare Kompartiment kombiniert bei ligamentären Rekonstruktionen, aber auch in der beschichtet wird, und die klassischere kreuzbander- Prothetik. haltende und kreuzbandsubstituierende Totalprothese. Dabei muss beachtet werden, dass vor allem die ossäre Teilprothesen haben den Vorteil, dass damit die Kreuz- Anatomie des distalen Femurs, aber auch jene der pro- bänder erhalten werden können. Lediglich das arthro- ximalen Tibia individuell sehr verschieden sind. Am tisch veränderte Kompartiment wird mit Metall neu eindrücklichsten zeigt sich dies am patellofemoralen beschichtet, sodass die gewohnte Kniekinematik er- Kompartiment (Abb. 1). Die ossäre Anatomie und die halten bleibt. Nur in etwa 30% der Arthrosen sind alle ligamentären Insertionspunkte bedingen sich gegen- drei Kompartimente (medial, lateral und patellofe- seitig. Jedes Knie hat seine individuellen anatomischen moral) betroffen. Häufiger sind nur zwei Kompar- Eigenheiten, Proportionen und damit seine persönli- timente relevant erkrankt. Klassisch ist die Kombi- che Kinematik. Wenn wir die Kondylenform verändern, nation medial und patellofemoral, oder lateral und SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):702–706 704 AK TUELL Abb. 2: Gonarthrose im medialen und patellofemoralen Kompartiment. Das laterale Kompartiment ist makroskopisch intakt. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von ConforMIS. Abb. 3: Bikompartimentelle individuelle Prothesenversorgung. Die Herstellung eines derartigen Implantates ist zuverlässig nur bildbasiert und individuell angepasst möglich. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von ConforMIS. patellofemoral (Abb. 2). Bisher waren wir gezwungen, Daten basierende, metallene Kleinimplantate an, die mit einer TP ein nicht erkranktes Kompartiment trotz- einen lokalen Defekt präzise anatomisch neu beschich- dem zu «opfern». Eine revolutionäre, neue Methode, ten können. Derartige, relativ kleine Metallknöpfe die durch die individuelle, anatomisch geformte Pro- existierten schon länger, erreichten bisher aber nur thesenherstellung aus dem 3-D-Drucker möglich ist, zum Teil gute Resultate, da sie sich nicht zuverlässig kann hier Abhilfe schaffen. Beispielsweise kann eine der individuellen femoralen Anatomie des Patienten Oberflächenbeschichtung des medialen Komparti- anpassen liessen. Zum Problem wurde daher häufig ments, verbunden mit dem patellofemoralen Kompar- ein relativ schnell auftretender Schaden auf der tibialen timent, in einem Stück passgenau hergestellt werden Gegenseite [21]. Mit einem neuartig hergestellten, auf (Abb. 3). Da zwei Kompartimente anatomisch neu be- MRI-Daten basierenden Kleinimplantat lassen sich schichtet werden, das dritte Kompartiment jedoch un- streng lokalisierte osteochondrale Schäden neuerdings berührt gelassen wird, findet keine oder nur eine mini- zuverlässig mit einem maximal 4–5 cm2 grossen Im- male Veränderung der gewohnten Kniekinematik plantat neu beschichten (Abb. 4 und 5). Das Implantat statt. Daher kann erwartet werden, dass sich ein derart wird ebenfalls der individuellen Anatomie, der Kurvatur prothetisch versorgtes Kniegelenk normaler bewegt von Femurcondylus oder Trochlea, angepasst herge- und anfühlt. stellt und mit einem individuell angefertigten Instru- Es gibt erste Hinweise darauf, dass die theoretisch er- mentarium anatomisch einsetzbar geliefert. warteten Verbesserungen auch tatsächlich eintreffen. Die CAD/CAM-Technologie hält also Einzug in den ortho- Patienten, die mit der bikompartimentalen Prothese pädischen Alltag. Die Technologie wird seit 2004 zur auf Mass versorgt wurden, zeigten postoperativ prak- Prothesenherstellung verwendet [22]. Klinische Erfah- tisch normale Bewegungsabläufe – anders, als wir dies rungen mit solchen Implantaten werden seit 2008 in bisher von den klassisch mit einer Konfektionspro- den USA gesammelt. Seit 2013 ist dies auch in Europa these versorgten Patienten gewohnt waren [20]. der Fall. Vor allem in Deutschland liessen sich einige Kollegen von dieser Technologie überzeugen, die unse- Spezieller Fall: auf MRI-Daten basierendes Kleinimplantat für den lokalisierten osteochondralen Defekt Ein spezieller Fall besteht, wenn ein lokalisierter osteo- rer Ansicht nach zukunftsweisend ist. Seit 2015 verwenden wir sie selbst. Erfahrungen in der Praxis chondraler Defekt vorliegt, der sich beispielsweise Die aufgeführten neuen Optionen sind eine ideale Er- wegen des Alters des Patienten biologisch nicht re- gänzung zu den bisherigen Implantaten. In unserer parieren lässt. Hier bieten sich individuelle, auf MRI- Praxis spielt sich in etwa eine 1:4-Verteilung zwischen SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):702–706 705 AK TUELL Abb. 4 A–C: Lokalisierter osteochondraler Schaden, ohne relevante Arthrose im Restgelenk. A: MRI-Bild, coronal, T2, Defekt auf dem lateralen Femurcondylus B: Arthroskopisches Bild des ausgebrochenen Stücks im ventralen Kniekompartiment C: Arthroskopisches Bild der Defektzone auf dem lateralen Femurcondylus CAD/CAM-Prothetik und klassischer Konfektionsprothetik ein, wodurch wir vergleichbare Erfahrungen machen wie ähnlich strukturierte Gruppen in Deutschland [23]. Bei der Aufklärung und Vorbereitung der Patienten weisen wir sehr bewusst darauf hin, dass, unabhängig vom Implantat, der Einbau einer Knieprothese ein relativ grosser Eingriff ist und dass sich der frühe postoperative Verlauf nach klassischer TP und Massprothese kaum unterscheidet. Erst nach etwa vier bis sechs Monaten entwickeln sich erfahrungsgemäss diskrete, aber spürbare Unterschiede. Individuell versorgte Patienten berichten nach unserer, bisher natürlich noch limitierten, Erfahrung früher und zu einem höheren Prozentsatz von einem natürlichen Kniegelenkgefühl. Weshalb die 1:4-Verteilung? Dafür gibt es mehrere Gründe: – Zwischen Bildgebung und garantierter Lieferung der ConforMIS-Prothese vergehen zwei Monate. – Der Algorithmus der Prothesen- und Sägeblock-Herstellung garantiert eine korrekte Beinachsierung nur innerhalb eines gewissen Fensters, mehr als 15° Fehlstellung ist deshalb eine Kontraindikation. Abb. 5: Massgefertigtes Metallimplantat zur individuellen Beschichtung des lokalisierten osteochondralen Schadens (Episealer®). SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):702–706 – Der Operateur muss sich planungstechnisch auf die Vorgaben eines Ingenieurs verlassen und hat intraoperativ nur limitierten Spielraum. 706 AK TUELL Korrespondenz: – Zählt man den Preis für die Bildgebung und den et- Prof. Dr. med. was höheren Preis für das massgefertigte Implantat Markus P. Arnold, PhD zusammen, dann sind die Kosten für das Gesamt- LEONARDO – Ärzte für Orthopädie und Traumatologie Kniezentrum Hirslanden Klinik Birshof 5 paket höher als bei einer Konfektionsknieprothese. – Es fehlen naturgemäss die Langzeiterfahrungen. Neuerdings haben wir also unabhängig von der Grösse CH-4142 Münchenstein einer osteochondralen Läsion – von der streng loka- Mparnold[at]leonardo- lisierten, orthobiologisch nicht mehr reparierbaren ortho.ch 4 Läsion, über die uni- und bikompartimentelle Arthrose bis hin zur Pangonarthrose – ein massgefertigtes prothetisches Implantat zur Verfügung. Die frühen klinischen Resultate sind vielversprechend. Allerdings 6 7 8 9 werden erst die Langzeitresultate zeigen, ob wir mithilfe dieser Implantate aus dem 3D-Drucker tatsächlich den Prozentsatz der zufriedenen Prothesenträger 10 erhöhen können. 11 Disclosure statement Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. 12 Literatur 1 2 3 Arnold MP. Differenzierte Möglichkeiten in der Kniechirurgie, Teil 1: Gelenkerhaltende Konzepte. Schweiz Med Forum. 2014,33:594–8. Arnold MP. Differenzierte Möglichkeiten in der Kniechirurgie, Teil 2: Gelenkersetzende Konzepte. Schweiz Med Forum. 2014; 34:608–12. Hopper GP, Leach WJ. Participation in sporting activities following knee replacement: total versus unicompartmental. Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc. 2008;10:973–9. 13 14 15 16 17 Das Wichtigste für die Praxis 18 • Knieprothetik kann sehr differenziert angewandt werden. • Bei etwa 70% der Patienten sind nicht alle drei Kompartimente gleicher- 19 massen arthrotisch verändert. In solchen Fällen bietet sich eine Teilprothese an. Neue Implantate, die individuell der persönlichen Anatomie des Patienten angepasst im 3D-Druckverfahren hergestellt werden, ermöglichen die jeweils anatomisch genaue Beschichtung der arthrotisch 20 veränderten Kompartimente. • Band- und Kondylenanatomie bedingen einander wechselseitig und definieren die Kniekinematik. Da die osteochondrale Anatomie durch das 21 individuell hergestellte Knieimplantat kopiert wird, verändert sich die dem Patienten gewohnte Kinematik seines Kniegelenkes kaum. 22 • Biomechanische und frühe klinische Resultate bestätigen die Richtigkeit des Konzepts. Nachteil des neuen Verfahrens ist einerseits, dass naturgemäss Langzeitresultate fehlen, andererseits sind die unmittelbaren Kosten höher, verursacht durch das etwas teurere Implantat sowie die notwendige zusätzliche Bildgebung als Basis zur Implantatherstellung. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):702–706 23 Laurencin CT, Zelicof SB, Scott RD, Ewald FC. Unicompartmental versus total knee arthroplasty in the same patient. A comparative study. Clin Orthop Relat Res. 1991;151–6. Robertsson O, Lidgren L. The short-term results of 3 common UKA implants during different periods in Sweden. J Arthroplasty. 2008;6:801–7. Bourne RB, Chesworth BM, Davis AM, Mahomed NN, Charron KD. Patient satisfaction after total knee arthroplasty: who is satisfied and who is not? Clin Orthop Relat Res. 2010;1:57–63. Noble PC, Conditt MA, Cook KF, Mathis KB. The John Insall Award: Patient expectations affect satisfaction with total knee arthroplasty. Clin Orthop Relat Res. 2006;35–43. Noble PC, Gordon MJ, Weiss JM, Reddix RN, Conditt MA, Mathis KB. Does total knee replacement restore normal knee function? Clin Orthop Relat Res. 2005;(431):157–65. Parvizi J, Nunley RM, Berend KR, Lombardi AV, Jr., Ruh EL, Clohisy JC, et al. (2014) High level of residual symptoms in young patients after total knee arthroplasty. Clin Orthop Relat Res. 472(1):133–7. Romero J, Duronio JF, Sohrabi A, Alexander N, MacWilliams BA, Jones LC, et al. Hungerford DS. Varus and valgus flexion laxity of total knee alignment methods in loaded cadaveric knees. Clin Orthop Relat Res. 2006;394:243–53. Romero J, Stahelin T, Binkert C, Pfirrmann C, Hodler J, Kessler O. The clinical consequences of flexion gap asymmetry in total knee arthroplasty. J Arthroplasty. 2007;2:235–40. Lemaire P, Pioletti DP, Meyer FM, Meuli R, Dorfl J, Leyvraz PF. Tibial component positioning in total knee arthroplasty: bone coverage and extensor apparatus alignment. Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc. 1997;4:251–7. Mahoney OM, Kinsey T. Overhang of the femoral component in total knee arthroplasty: risk factors and clinical consequences. J Bone Joint Surg Am. 2010;5:1115–21. Müller W. The knee. Form, Function and Ligament Reconstruction. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York;1982. Fuss FK. Biometrics of the four-bar link of the cruciate ligaments in projection on the flexion-extension plane of the human knee joint. Anat Anz. 1991;1:51–9. Menschik A. Mechanik des Kniegelenkes, Teil 1. Z Orthop. 1974;112:481–95. Müller M. The relationship between the rotation possibilities between femur and tibia and the lengths of the cruciate ligaments. J-Theor-Biol. 1993;2:199–220. Gokeler A, Benjaminse A, Hewett TE, Lephart SM, Engebretsen L, Ageberg E, et al. Proprioceptive deficits after ACL injury: are they clinically relevant? Br J Sports Med. 2012;3:180–92. Gokeler A, Benjaminse A, Hewett TE, Paterno MV, Ford KR, Otten E, et al. Feedback techniques to target functional deficits following anterior cruciate ligament reconstruction: implications for motor control and reduction of secondinjury risk. Sports Med. 2013;11:1065–74. Wang H, Franckensen N, Estes J, Rolston L. Differences in knee mechanics between customized, individually made BKR and off-the-shelf TKR patients. Paper presented at the British Association for Surgery of the Knee (BASK), 2015 Telford – UK. Custers RJ, Dhert WJ, Saris DB, Verbout AJ, van Rijen MH, Mastbergen SC, et al. Cartilage degeneration in the goat knee caused by treating localized cartilage defects with metal implants. Osteoarthritis Cartilage. 2010;3:377–88. Fitz W, Sodha S, Reichmann W, Minas. Does a modified gap-balancing technique result in medial-pivot knee kinematics in cruciate-retaining total knee arthroplasty? A pilot study. Clin Orthop Relat Res. 2012;1:91–8. Beckmann J, Steinert A, Zilkens C, Zeh A, Schnurr C, Schmitt-Sody M et al. Patientenspezifische Instrumente und Implantate beim Teilgelenkersatz des Kniegelenkes (ConforMIS iUni, iDuo). Orthopäde. 2016;4:322–30. 707 ÜBERSICHTSARTIKEL Unvermeidliche Folge der antidiabetischen Therapie Hypoglykämie bei Patienten mit Diabetes Dr. med. Sophie Maitre, Dr. med. Jaafar Jaafar, Dr. med. Giacomo Gastaldi, Prof. Dr. med. Jacques Philippe Service d’endocrinologie, diabétologie, hypertension et nutrition, Hôpitaux universitaires de Genève, Genève Die Hypoglykämie ist eine unvermeidliche Nebenwirkung der Insulintherapie und bestimmter oraler Antidiabetika. Die Morbidität und die damit verbundenen Kosten sind erheblich. Von zentraler Bedeutung für die Behandlung des Diabetes ist es, die Anzeichen und Ursachen zu erkennen und dementsprechend zu handeln. Einleitung Die Hypoglykämie ist eine gefürchtete, aber unvermeidliche Nebenwirkung der Diabetestherapie. In der Fachliteratur wird der Ausdruck iatrogene Hypoglykämie verwendet, um diese Form von der nicht diabetischen Hypoglykämie abzugrenzen. Die Behandlung einer Hypoglykämie muss rasch erfolgen, wirksam sein und eine Analyse der Begleitumstände umfassen. Die epidemiologischen Daten ermöglichen es, das Ausmass des Problems zu erfassen, und dienen als Grundlage für Überlegungen über die aus medizinischer Sicht akzeptable Häufigkeit einer Hypoglykämie. Bei der Auswertung der Daten ist indes grosse Sorgfalt geboten [1]. Die Inzidenz leichter bis mittelgradiger Hypoglykämien beträgt bei Patienten mit Typ-1-Diabetes etwa 30 Episoden pro Patient und Jahr (weniger als eine Episode pro Woche). Hinsichtlich schwerer Hypoglykämien beträgt sie 3,2 Episoden pro Patient und Jahr. Man schätzt, dass 2 bis 4% der Todesfälle bei Patienten mit Typ-1-Diabetes auf Hypoglykämien zurückzuführen sind. Bei Patien- Sophie Maitre Definitionen und Pathophysiologie ten mit Typ-2-Diabetes treten Hypoglykämien seltener Die biomedizinischen Auswirkungen der Hypoglykä- auf: Die Inzidenz mittelgradiger Hypoglykämien be- mie hängen von drei Faktoren ab: Schweregrad, Dauer trägt 2 bis 10 Episoden pro Patient und Jahr, diejenige und Häufigkeit. Es ist folglich zweckmässig, eine ein- schwerer Hypoglykämien 0,1 bis 0,7 Episoden pro Pa- heitliche Terminologie zu verwenden. Der Blutzucker- tient und Jahr. wert, ab dem Symptome auftreten, kann bei Patienten Aufgrund der Prävalenz von Typ-2-Diabetes und der mit Diabetes abhängig von der Blutzuckereinstellung Tatsache, dass in den westlichen Ländern mehr als ein variieren: Er ist geringer bei gut eingestellten Patien- Viertel dieser Patienten mit Insulin behandelt wird, ten und höher bei chronisch schlechter Einstellung. tritt der Grossteil der Hypoglykämieepisoden – auch Bei Diabetes versteht man unter einer Hypoglykämie der schweren – bei Patienten mit Typ-2-Diabetes auf. eine Blutglukosekonzentration von 3,9 mmol/l oder da- Die Hypoglykämie ist zudem der zweithäufigste Grund runter. Diese Definition beruht auf einem Experten- einer durch iatrogene Ursachen bedingten Hospitalisa- konsens und zielt darauf ab, potenzielle Schädigungen tion [2]. zu verhindern. Bei Gesunden sind die Anzeichen und SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):707–713 708 ÜBERSICHTSARTIKEL Tabelle 1: Anzeichen und Symptome einer Hypoglykämie. Die Elimination des zirkulierenden Insulins hängt bei Diabetespatienten von den pharmakokinetischen Eigen- Adrenerg Neuroglykopenisch schaften des Insulins oder des verabreichten Medika- Zittern Konzentrationsschwäche mentes ab. Überdies leiden Patienten mit Typ-1-Diabe- Palpitationen Verringerung der intellektuellen Schwitzen tes oder mit seit Langem bestehendem Typ-2-Diabetes Fähigkeiten Angst Reizbarkeit an einer endogenen Störung der Glukagonsekretion, Heisshunger Schwäche Übelkeit Kopfschmerzen Parästhesien Sprachstörungen Reaktion auf die Hypoglykämie («hypoglycemia-asso- Sehstörungen ciated autonomic failure [HAAF]»). Diese Störung wird Verwirrtheit durch wiederholte Hypoglykämien verstärkt. Bei Ver- Schwindel suchen mit gesunden Freiwilligen wurde gezeigt, dass Bewusstseinsstörungen Krämpfe Koma die auf dem Ungleichgewicht zwischen den α- und β-Zellen beruht, sowie an einer Störung der autonomen nach einer Exposition gegenüber zwei Episoden wiederholter Hypoglykämie (zwei respektive drei Episoden langanhaltender Hypoglykämie: zwei Stunden bei Tod 2,8 mmol/l im Laufe von 48 h) die adrenergen SympSymptome der Hypoglykämie (Tab. 1) ab einem etwas tome und die hormonelle Gegenregulation nach drei geringeren Grenzwert zu beobachten. Diese Definition Hypoglykämien schwächer ausfielen. HAAF-Syndrom bietet den Vorteil, dass sie einen Toleranzbereich umfasst und Unempfindlichkeit gegenüber Hypoglykämien und die mit der mangelnden Präzision der Blutzucker- sind zwei unterschiedliche Phänomene, auch wenn sie messgeräte verbundenen Schwierigkeiten berücksich- sich überschneiden. Die Definition der Hypoglykämie- tigt (tolerierte Fehlerspanne: 11% seit 2015, davor 16%). Unempfindlichkeit umfasst sowohl die Abschwächung Wenn der Blutzuckerspiegel absinkt, werden zwei Sys- und Veränderung der Symptome bei Patienten, die an ei- teme gleichzeitig aktiviert (Abb. 1): Auf endokriner ner autonomen Neuropathie oder an einem seit Langem Ebene wird die Insulinsekretion vollständig gehemmt bestehenden Diabetes leiden oder die mit Betablockern und die Sekretion von Glukagon, das die Glykogeno- behandelt werden, als auch das HAAF-Syndrom [1, 2]. lyse und die Glukoneogenese in der Leber fördert, akti- Ein HAAF-Syndrom ist bisweilen schwierig zu erfas- viert, bis das zirkulierende Insulin eliminiert ist. Gleich- sen, besonders wenn die Hypoglykämieepisoden in zeitig aktiviert das Zentralnervensystem (ZNS) das der Nacht auftreten. In diesem Falle führen die wieder- sympathische Nervensystem und die Hypothalamus- holten Hypoglykämien zu einer progressiven Verrin- Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (autonome Re- gerung des Grenzwertes für die Aktivierung der Ge- aktion auf die Hypoglykämie). Das sympathische Ner- genregulation und langfristig zum Verschwinden der vensystem stimuliert die Sekretion von Noradrenalin, klinischen Anzeichen. Die wahre Situation wird erst das für die adrenergen Symptome der Hypoglykämie offensichtlich, wenn eine unbemerkte Hypoglykämie verantwortlich ist, das heisst Schwitzen, Zittern, Palpi- am Tage ein plötzliches Koma auslöst. Die neurobiolo- tationen und Ruhelosigkeit. Heisshunger und Schwit- gischen Mechanismen des HAAF-Syndroms sind der- zen sind Symptome, die auf die Wirkung des von den zeit noch nicht vollständig geklärt, es unterscheidet präganglionären Neuronen freigesetzten Acetylcho- sich jedoch von der Hypoglykämie-Unempfindlichkeit lins zurückgehen. Die Stimulation der Hypothalamus- durch eine gewisse Reversibilität: Gelingt es, die Hypo- Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse wiederum löst glykämien zu verringern oder gänzlich zu verhindern, einen Anstieg der Blutkonzentration von Adrenalin kann sich die Reaktion auf Hypoglykämien bereits und Kortisol aus, welche die Sekretion von Glukagon nach drei Wochen normalisieren [3]. in der Bauchspeicheldrüse fördern, direkt auf die Leber wirken (gesteigerte Glykogenolyse und Glukoneo- Bedeutung der Hypoglykämieklassifikation genese), den Glukoseverbrauch durch die peripheren Aufgrund der Mechanismen zur Anpassung an eine Muskeln verringern und die renale Glykogenolyse Hypoglykämie und der Möglichkeit, dass die Symp- stimulieren. Darüber hinaus wirkt das Absinken des tome verändert sein können, ist es von grosser Wich- Blutzuckers als direkter Stimulus für die Sekretion des tigkeit, dass jede Episode auf Basis ihres Schweregrades Wachstumshormons, von Vasopressin und Oxytocin. klassifiziert wird (Tab. 2), denn davon hängt auch die Mithilfe der kombinierten Wirkung all dieser Regulati- Behandlung ab. Der Arzt muss in der klinischen Praxis onsmechanismen kann das ZNS wirksam gegen die mit ebenfalls sicherstellen, dass der Grenzwert nahe einer Hypoglykämie verbundenen Gefahren geschützt 4 mmol/l liegt. Der Patient sollte die Ursache der klini- werden. schen Symptome, den Zusammenhang zwischen dem SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):707–713 709 ÜBERSICHTSARTIKEL Schweregrad und der Art der Störung und vor allem der Gegenregulationsmechanismen bei höheren Blut- die Wichtigkeit einer systematischen Korrektur verste- zuckerwerten bedingt, besonders bei Patienten, bei de- hen, auch im Falle einer leichten Hypoglykämie. Die In- nen der Blutzucker dauerhaft und in beträchtlichem tensität der Symptome wird ausserdem durch folgende Ausmass schlecht eingestellt ist. Die Situation erfor- Faktoren beeinflusst: Geschwindigkeit der Senkung dert besonderes Augenmerk, vor allem bei Patienten, des Blutzuckerspiegels, Dauer des Diabetes, beglei- die den Blutzucker nur selten messen und aufgrund tende Therapien (Betablocker) und Art der Komplikati- der Diskrepanz zwischen den ermittelten Werten und onen (autonome Neuropathie). der gefühlten Unterzuckerung verunsichert sind. Jede Situation, in welcher der Blutzucker nur mit Unterstützung Dritter korrigiert werden kann, ist als schwere Hypoglykämie zu werten. Jede schwere Hypoglykämie (Tab. 2) muss mit dem Patienten ausführlich Erfassung des individuellen Risikos und der ätiologischen Faktoren analysiert und eine allfällige Hypoglykämie-Unemp- Bei therapiebedingten Hypoglykämien muss jeder findlichkeit erfasst werden. Der Einsatz eines Glukose- Patient über seine individuelle Situation informiert sensors und einer fachärztlichen Beurteilung sollten werden. Das grösste Risiko birgt die Insulintherapie systematisch sein. und insbesondere jene, bei denen mehrere Injektionen Es kann auch vorkommen, dass ein Patient über Anzei- kombiniert (langsam wirkendes Insulin und schnell chen von Hypoglykämie klagt, ohne dass diese durch wirkendes Insulin zum Essen) oder Mischinsuline ver- Labortests bestätigt wird. Liegen keine anderen Ursa- abreicht werden. Eine einzelne Injektion von Basalin- chen für eine Stimulierung der Hypothalamus-Hypo- sulin geht mit einem geringeren Risiko einher. Sulfo- physen-Nebennierenrinden-Achse vor (Panikattacke, nylharnstoffe können ebenfalls eine Hypoglykämie kurze Herzrhythmusstörung usw.), verwendet man in hervorrufen. In dieser Wirkstoffklasse unterscheidet diesem Fall den Begriff Pseudohypoglykämie. Dieses sich das Gliclazid von den älteren Vertretern (etwa Gefühl der Unterzuckerung ist durch die Aktivierung Glibenclamid und Glimepirid) durch ein geringeres Hypoglykämierisiko (bei ähnlich blutzuckersenkender Wirkung). Die übrigen Sulfonylharnstoffe sollten nicht mehr verschrieben werden. Die Glinide bergen Abfall des Blutzuckerspiegels (<3,9 mmol/l) zwar ein reelles Risiko einer Hypoglykämie, dieses ist allerdings aufgrund ihrer kurzen Wirkdauer zeitlich Bauchspeicheldrüse begrenzt. Gehirn Hingegen verursachen Metformin, Glitazone (Thiazolidindione), Inhibitoren der Dipeptidylpeptidase 4 Ì Insulin Ê Glukagon Ê Wachstumshormon Ê Kortisol Ê Sympathikus Ê Adrenalin (DPP4), Inkretinmimetika (Analoga des Glucagon-like peptide-1 [GLP-1]) und Hemmer des natriumabhängigen Glukosetransporters 2 (SGLT-2) keine signifikante Hypoglykämie, sofern keine entsprechende Begleiter- ÊGlykogenolyse in der Leber ÊGlukoneogenese (Leber und Nieren) Ì Glukoseverbrauch in der Peripherie (Muskeln) Ê Magenentleerung Ê Zerebrale Durchblutung krankung oder besondere Stoffwechselsituationen bestehen (längere Nüchternphase, übermässige körperliche Betätigung usw.). In manchen Fällen sind im Rahmen von Therapien, die als nicht blutzuckersenkend Abbildung 1: Gegenregulationsmechanismen. gelten, Blutzuckerwerte von unter 4 mmol/l zu beobach- Tabelle 2: Schweregrad einer Hypoglykämie bei Patienten mit Diabetes* (adaptiert nach [1]). ten. Dies basiert häufig auf einem technischen Problem oder ist durch die Fehlerspanne des Systems erklärbar. Sofern keine klinischen Auswirkungen festzustellen Leicht Blutzucker <3,9 mmol/l. Adrenerge Symptome. Der Patient kann den Blutzucker selbst korrigieren. sind, kann der Patient beruhigt werden. Im seltenen Mittelgradig Blutzucker <3,9 mmol/l. Adrenerge und neuroglykopenische Symptome. Der Patient kann den Blutzucker weiterhin selbst korrigieren. nicht blutzuckersenkenden Therapie muss jedoch Schwer Blutzucker <3,9, oftmals <2,8 mmol/l. Schwere neuroglykopenische Störungen (Verwirrtheit, Bewusstseinsstörungen). Der Patient braucht fremde Hilfe, um den Blutzucker zu korrigieren. Unbemerkte Blutzucker <3,9 mmol/l. Keine typischen Symptome. (Grenzwert für Hypoglykämie die Aktivierung der Gegenregulation verringert, Grenzwert für die (asymptomatisch) Sekretion der Katecholamine verringert). * Diese Definitionen gelten nur für Patienten unter blutzuckersenkender Therapie. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):707–713 Falle einer schweren Hypoglykämie im Rahmen einer sorgfältig nach einer allfälligen nicht diabetischen Hypoglykämie gesucht werden. Um das Risiko für einen Patienten zu bestimmen, müssen verschiedene Faktoren berücksichtigt werden. Besonderes Risiko bergen jene Phasen, in denen die Behandlung umgestellt wird, in denen sich der Aufent- 710 ÜBERSICHTSARTIKEL haltsort des Patienten (etwa Heimkehr nach einer stationären Behandlung) oder seine Gewohnheiten ändern Tabelle 3: Prädisponierende Faktoren (adaptiert nach [9]). (Zahl der Mahlzeiten, Aufnahme einer sportlichen Be- Alter (Kinder, ältere Menschen) tätigung usw.). Bestimmte Risikofaktoren für Hypogly- Chronische Niereninsuffizienz kämie sind intrinsisch mit dem Diabetes verbunden, Leberinsuffizienz etwa der endogene Insulinmangel, die Dauer des Dia- Hypoglykämie-Unempfindlichkeit betes, eine seit Langem verabreichte Insulintherapie und eine schwere Hypoglykämie in den 48 vorangegangenen Stunden (HAAF). Bei einer Hypoglykämie-Unempfindlichkeit ist das Risiko sechsmal höher, bei einer Dauer des Diabetes und der Insulintherapie Insulinmangel (Typ 1, pankreatopriv, langfristiger Typ-2Diabetes) Kognitive Störungen, Demenz Soziale Isolation mangelhaften autonomen Reaktion auf Hypoglykä- Multiple Begleiterkrankungen mien 25-fach erhöht. Es ist somit nicht überraschend, Krankheit wird nicht erkannt dass das Auftreten einer schweren Hypoglykämie der Technische Schwierigkeiten (Injektionen, Selbstmessung, Insulinpumpe, Lipodystrophie usw.) grösste Risikofaktor für ein Rezidiv innert eines Jahres ist. Weitere Risikofaktoren sind in Tabelle 3 aufgelistet. Nicht zuletzt gilt es auch den Faktor Mensch zu berücksichtigen. Oftmals werden dabei im Zusammenhang mit dem Auftreten einer Hypoglykämie folgende Akute Erkrankung Mangelernährung Hypoglykämien in der Vergangenheit Kürzliche Hospitalisation Punkte angeführt: technische Fähigkeiten (schlecht Polymedikation (>5 Medikamente) und komplexe Insulintherapie gelöstes Insulin: NPH), Erfahrungen mit der Krankheit Depression und mit Hypoglykämien (Unsicherheit bei Blutzucker- Herzinsuffizienz werten nahe einer Hypoglykämie), Fähigkeit zur Be- Alkoholkonsum rechnung der Kohlenhydratmenge, Umgang mit Polyneuropathie Korrekturinsulin, körperliche Betätigung, unvorhergesehene Ereignisse und nicht zuletzt der Umgang mit Die Gefährlichkeit einer leichten bis mittelgradigen der Hypoglykämie selbst (Tab. 4). Hypoglykämie hängt mit zwei Faktoren zusammen: Um die durch eine Hypoglykämie bedingte Situation einer risikoreichen Umgebung und dem Fehlen von zu meistern, muss der Arzt den körperlichen Allgemein- Korrekturmöglichkeiten, etwa im Falle eines erhöhten zustand und die mit dem Diabetes verbundenen Um- Sturzrisikos (Bauarbeiter, Kranführer usw.), beim Auto-, stände – etwa die Möglichkeit eines HAAF-Syndroms –, Motorrad- und Fahrradfahren, bei einer sportlichen den Kontext des Auftretens und den Faktor Mensch be- Betätigung (Klettern, Skitouren, Tauchen usw.) oder zu rücksichtigen. Damit das erneute Auftreten einer Hy- Beginn der Krankheit (mangels Erfahrung nicht er- poglykämie verhindert werden kann, ist es dagegen kannt). Diese Problemsituationen müssen vorherge- entscheidend, dass der Patient in der Lage ist, analoge sehen und systematisiert werden. Das Thema ist sensi- Situationen zu erkennen und den Umgang damit ent- bel, da die Situationen nicht ignoriert werden dürfen, sprechend zu ändern. das Gespräch darüber aber Ängste auslösen kann. Sie müssen aus rechtlichen Gründen im Patientendossier Kurz- und langfristige Folgen Die Folgen einer Hypoglykämie können nach dem Zeit- festgehalten werden, und es schadet nicht, zu Beginn jeder neuen Therapie erneut darauf hinzuweisen, besonders bei Patienten, die Auto fahren (http:// punkts des Auftretens der Symptome oder nach der Art sgedssed.ch/informationen-fuer-fachpersonen/ der Auswirkungen eingeteilt werden. In den allermeis- praxis-empfehlungen-fuer-allgemein-internisten/). In ten Fällen sind die Folgen negativ, wie auch in zahlrei- den Leitlinien aus dem Jahr 2015 wird das Hypoglykä- chen wissenschaftlichen Arbeiten dargelegt wird. mierisiko bei Patienten, die einmal täglich mit langsam Leichte bis mittelgradige und rasch identifizierte Hypo- wirkenden Insulinanaloga, mit Gliclazid oder einem glykämien sind kurzfristig und einfach zu korrigieren Glinid (Repaglinid oder Nateglinid) behandelt werden, und haben keine reellen somatischen Folgen, abgese- als gering eingeschätzt. hen von der unangenehmen Aktivierung des adrener- Bei länger andauernder, mittelgradiger Hypoglykämie gen Systems, die durchschnittlich 30 Minuten andau- und bei schwerer Hypoglykämie beeinträchtigen die ert. Demgegenüber ist oftmals zu beobachten, dass Symptome der Neuroglykopenie (Tab. 1), etwa Verstim- sowohl die Patienten als auch die Pflegenden die Fol- mung und Konzentrationsschwäche, die aktuelle Tätig- gen übermässig fürchten und sie fälschlicherweise als keit oder führen gar zu einem plötzlichen Koma. Das lebensbedrohend ansehen. Rezidivrisiko ist in den folgenden 48 Stunden erhöht SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):707–713 711 ÜBERSICHTSARTIKEL der Aktivierung des adrenergen Systems besteht auch Tabelle 4: Faktoren, die den Blutzuckerspiegel beeinflussen. Zubereitung des Insulins/ oralen Antidiabetikums Unterschiede aufgrund der Injektionsstelle Insulinresistenzfaktoren Dosis Injektionsstelle (intramuskulär oder subkutan) Adipositas (Gewichts- Berechnung der zunahme) und Ernäh- Kohlenhydratmenge rung (Fettsäuren) Faktor Mensch eine Neigung zur Hypokaliämie, die Herzrhythmusstörungen begünstigt. Ausserdem können bestehende arteriosklerotische Plaques durch die Tachykardie und den Blutdruckanstieg instabil werden. All dies legt eine enge Verbindung zwischen kardiovaskulären Ereignissen und isolierten, schweren Hypogly- Physikalisch-chemi- Injektionstiefe sche Eigenschaften (Suspension, löslich) Körperliche Betätigung Umfang der körperlichen Betätigung Konzentration Körperstelle Zirrhose, Niereninsuffizienz Behandlung der Hypoglykämie Allerdings sind Hypoglykämien beim Diabetespatien- Volumen Lipodystrophie Azidose Alkohol, unvorhergesehene Ereignisse die, bei der Glukosesensoren verwendet wurden, stellte Typ Veränderung der Tabak kutanen Durchblutung Einsatz von Korrekturinsulin Vormischung Massage Alter Unsicherheit standen als Hyperglykämiephasen. In der ACCORD- Temperatur Kognitive Probleme Studie («Action to Control Cardiovascular Risk in Dia- Injektionsmaterial Zusätzliche Krankheiten (Infektionen) kämien nahe. Wissenschaftliche Belege zum Nachweis eines direkten Zusammenhangs liegen noch nicht vor. ten an sich ein prädisponierender Faktor. In einer Stusich heraus, dass Hypoglykämieepisoden in einem stärkeren Zusammenhang mit kardialen Ischämien betes») war unter jenen Patienten, bei denen eine oder mehrere Episoden schwerer Hypoglykämie beobachtet (HAAF-Phänomen), und im Falle einer Wiederholung wurden, die Mortalität in beiden Studiengruppen (in- kommt es schliesslich zur gänzlichen Unterdrückung tensiv oder Standard) erhöht, auch wenn nur ein Drittel der Alarmzeichen. Dieses Problem ist seit der Veröf- der Todesfälle auf kardiovaskuläre Ursachen zurück- fentlichung des «Diabetes Control and Complications zuführen war. Die Hypoglykämieepisoden standen zu- Trial (DCCT)» bekannt und betraf beinahe ein Drittel dem im Zusammenhang mit einer erhöhten Herz- der Typ-1-Diabetiker unter Intensivbehandlung. Heute Kreislauf-Mortalität [4, 5]. ist es auch bei Patienten mit Typ-2-Diabetes, die seit Langem mit Insulin behandelt werden, sowie im Falle einer Insulinüberdosierung zu beobachten [3]. Hypoglykämien und kognitive Funktionen bei Patienten mit Typ-2-Diabetes Die Auswirkungen schwerer und wiederholter Hypo- Hypoglykämie und Letalität [2] glykämien auf die kognitiven Funktionen sind eben- Pflegenden und Patienten gemein ist die Angst vor der falls Gegenstand von Diskussionen. Die vorliegenden Letalität einer Hypoglykämie. Die wissenschaftliche Daten weisen auf einen Zusammenhang mit dem Le- Diskussion zu diesem Thema ist ziemlich ausgeprägt. bensalter hin. Für Kinder und ältere Menschen scheint Das Risiko darf jedenfalls nicht negiert, sollte jedoch ein höheres Risiko für ZNS-Störungen zu bestehen. In sorgfältig abgewogen werden. Schwere, länger andau- einer umfassenden, zwischen 1980 und 2002 durch- ernde Hypoglykämien (mehrere Stunden) können zum geführten Populationsstudie standen schwere Hypo- Hirntod führen. Die Todesursache im Zusammenhang glykämien, die zu einer Hospitalisation oder Notauf- mit einer Hypoglykämieepisode ist letztlich wohl eine nahme führten, im Zusammenhang mit einer doppelt Herzrhythmusstörung. Der Mechanismus, der dies- so hohen Inzidenz von Demenz nach 2003. Zu Beginn bezüglich postuliert wird, ist mit der Beobachtung ver- der Studie wurde allerdings der kognitive Zustand der bunden, dass die Sekretion der gegenregulierenden Patienten nicht bewertet [6]. In der Untergruppe AC- Hormone und die Aktivierung des Sympathikus zu CORD MIND («ACCORD Memory in Diabetes Sub Study») einer Steigerung der Herzfrequenz und des systolischen wurde die Kognition im gesamten Verlauf der Studie Blutdrucks führen. Daraus folgt eine Erhöhung des untersucht. Aus den Daten geht zwischen der Intensiv- Energie- und Sauerstoffbedarfs des Herzens und somit und der Standardgruppe kein Unterschied bei den kog- des koronaren Blutflusses. Bei Patienten mit Koronar- nitiven Funktionen hervor [1]. krankheit kann dies zu einer Rhythmusstörung, Ischämie oder gar zum Tode führen. Zu den Herzrhythmus- Hypoglykämie und Lebensqualität anomalien, die infolge einer Hypoglykämie beobachtet Zusätzlich zu den somatischen Folgen kommt es auch werden, zählen Tachykardien oder Sinusbradykardien, zu zahlreichen Auswirkungen auf emotionaler und aber auch supraventrikuläre und ventrikuläre Extra- sozialer Ebene. Sie bleiben oftmals unbeachtet, da sie systolen. Verlängerte QT-Intervalle und Erregungs- nur wenig erforscht sind (Tab. 5). In dieser Hinsicht ist rückbildungsstörungen wurden ebenfalls im Zusam- zu unterstreichen, dass die Angst vor einer Hypogly- menhang mit einer Hypoglykämie beobachtet. Infolge kämie die grösste Beeinträchtigung der Lebensqualität SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):707–713 712 ÜBERSICHTSARTIKEL Blutzuckertests selbst durchzuführen. Zudem wird emp- Tabelle 5: Kurz- und langfristige Folgen der Hypoglykämie. fohlen, Grundkenntnisse des Wirkmechanismus und Kurzfristig Langfristig der Pharmakodynamik der verordneten Medikamente Akutsymptome (autonom, Neuro glykopenie, allgemeines Unwohlsein) Verringerte Lebensqualität sowie ernährungswissenschaftliche Grundlagen (koh- Kognitionsstörungen Angst vor Hypoglykämien (→ Blutzuckerschwankungen) Verstimmung Gewichtszunahme werden, stets einen schnell resorbierbaren Zucker bei Verringerte Fähigkeit, Auto zu fahren und zu arbeiten Einschränkungen der Fahreignung und im Beruf sich zu tragen und darüber nachzudenken, wie sie im Beeinträchtigung der sozialen und sportlichen Aktivität Beeinträchtigung des Familien- und Gesellschaftslebens Einfache Mittel sollten bevorzugt und persönliche Vor- Hypothermie Verlust der Empfindlichkeit gegenüber Hypoglykämien Akute Morbidität: Unfälle, Verletzungen, Frakturen Erhöhte Inzidenz von Demenz (?) lenhydratreiche Lebensmittel) zu vermitteln. In der Praxis sollten Risikopatienten dazu gebracht Alltag einer Hypoglykämie entgegenwirken können. lieben beachtet werden (damit der Patient das Produkt immer bei sich hat und umständliche Verpackungen vermieden werden). Jeder Patient muss über die Risiken körperlicher Be- Epilepsieanfälle, Koma tätigung aufgeklärt werden. Folgende Faktoren be- Kardiovaskuläre Ereignisse (akutes Koronarsyndrom, Rhythmusstörung) günstigen Hypoglykämien: längere oder ungewohnte Zerebrovaskuläre Ereignisse (transitorische ischämische Attacke, Schlaganfall) Anstrengungen, im Verhältnis zum Insulinspiegel unzureichende Kohlenhydratzufuhr, keine Blutzuckerkontrolle vor oder während der Aktivität sowie Un- bei Patienten mit Diabetes darstellt, unabhängig von empfindlichkeit gegenüber Hypoglykämien. In den der Art des Diabetes. Häufig kommt es bei Patienten, Stunden nach der sportlichen Betätigung kommt es zu die wiederholt unter Hypoglykämien leiden, zu zwi- einem Abfall des Blutzuckerspiegels, der keineswegs schenmenschlichen Konflikten, die durch die Angst banal ist. Eine entsprechende Kontrolle ist deshalb vor Abhängigkeit und Kontrollverlust bedingt sind. nach der Aktivität ebenso wichtig wie davor und wäh- Nach einer schweren Hypoglykämie besteht überdies rend der Aktivität. ein reelles Risiko, stigmatisiert zu werden, insbeson- Wenn der Blutzuckerspiegel vor der körperlichen Betä- dere durch den Arbeitgeber oder von Rechts wegen tigung niedrig bis normal ist, wird empfohlen, eine (beispielsweise Beschränkung der Fahreignung) [7]. Kleinigkeit zu essen und während der Aktivität Koh- Die Datenlage zu den sozioprofessionellen Kosten von lenhydrate zur Verfügung zu haben. Ist absehbar, dass Hypoglykämien ist relativ gut, etwa im Hinblick auf die Aktivität länger als drei Stunden dauert, sollte die ausgefallene Arbeitstage, Produktivitätsverlust und Dosis langsam wirkenden Insulins möglichst angepasst gesundheitliches Risiko für Patienten und Angehörige werden. Damit der Patient diese Ziele erreichen kann, (Angst, Depression, Gefühl der Isolation usw.). So beein- wird empfohlen, ein Pflegeteam aus Diabetesexperten trächtigen nächtliche Hypoglykämien die Schlafquali- beizuziehen. tät und -quantität und wirken sich auf den folgenden Tag aus. Auch besteht infolge schwerer und wiederhol- Definition der Blutzuckerziele ter Hypoglykämie ein höheres Risiko für Affektstörun- Je strenger das Therapieziel, desto höher ist das Hypoglykämierisiko. Der HbA1c-Zielwert muss ebenso indi- gen (Depression oder Angst). viduell festgelegt werden wie jener des Blutzuckers. Es Behandlung der Hypoglykämie wird empfohlen, dabei den klinischen Kontext und die kardiovaskulären Risikofaktoren ebenso zu berücksich- Grundlage der Bekämpfung von Hypoglykämien ist tigen wie die Lebenserwartung und die Möglichkeiten die Prävention. Sie erfordert theoretische und prakti- des Patienten, sich an der Therapie zu beteiligen. Im sche Schulung und die Definition geeigneter Blutzucker- Rahmen blutzuckersenkender Therapien besteht ein ziele. erhöhtes Hypoglykämierisiko, wenn der HbA1c-Wert nahe bei oder unter 6,5% liegt. Aber auch wenn der Wie sollen die Patienten geschult werden? [8] Wert über dieser Schwelle liegt, lässt sich ein Risiko Ziel der Patientenschulung ist es, dass Betroffene in der nicht ausschliessen. Lage sind, eine Hypoglykämie zu erkennen (Tab. 1) und Bei Patienten, die mit Insulin behandelt werden oder sie mithilfe schnell resorbierbarer Kohlenhydrate bei denen bereits Hypoglykämien auftraten, ist es wirksam zu korrigieren (Tab. 6). Es ist folglich von ent- sinnvoll, eine Höchstzahl von Hypoglykämieepisoden scheidender Bedeutung, den mit Insulin oder Sulfo- pro Woche festzulegen; wird diese Zahl erreicht, so ist nylharnstoffen behandelten Patienten beizubringen, die Therapie zwingend anzupassen. Für Patienten, die SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):707–713 713 ÜBERSICHTSARTIKEL Tabelle 6: Korrektur von Hypoglykämien in Abhängigkeit vom Schweregrad. Wenn Hypoglykämie <4 mmol/l und Patient bei Bewusstsein: Korrektur mit 15 g Glukose 4 Stück Würfelzucker oder 2 Teelöffel Honig oder 2 Esslöffel Sirup oder 1,75 dl zuckerhaltiges Getränk (Fruchtsaft, Coca Cola* oder Limonade* usw.) Wenn Hypoglykämie <2,5 mmol/l und Patient bei Bewusstsein: Korrektur mit 30 g Glukose 8 Stück Würfelzucker oder 4 Teelöffel Honig oder 4 Esslöffel Sirup oder 3,5 dl zuckerhaltiges Getränk (Fruchtsaft, Coca Cola* oder Limonade* usw.) – – Erneuter Blutzuckertest 20 bis 30 Minuten nach Kohlenhydratzufuhr Wenn Blutzucker <4 mmol/l: erneute Korrektur mit 15 bis 30 g Glukose Bei Hypoglykämie und Veränderung des Bewusstseinszustands/Koma: intramuskuläre oder intravenöse Injektion von Glukagon 1 mg bei Erwachsenen und Korrektur mit >30 g Glukose, sobald der Patient das Bewusstsein wiedererlangt (Hilfe Dritter anfordern und einen Arzt beiziehen) schnittlich um 1 bis 2 mmol/l. Im Falle einer schweren Hypoglykämie sollte die doppelte Menge verwendet werden. Wenn es länger als eine Stunde vor der nächsten Mahlzeit zu einer Hypoglykämie kommt, ist es zudem sehr wichtig, dass der Patient zusätzlich zur Korrektur der Hypoglykämie einen langsam resorbierten Zucker einnimmt (Tab. 6). Die Angehörigen von Patienten, die werden. Nicht selten ist zu beobachten, dass Hypoglykämien sie besteht ein kleineres Risiko schwerer Hypoglykä- übertherapiert werden. Die Situation wird empfunden, mien, da das Gegenregulationssystem gut funktioniert. als ob Verbote nicht mehr gelten und nicht empfoh- Ausserdem werden – angesichts des heute verfügbaren lene Lebensmittel wie Schokolade und Kekse gegessen therapeutischen Arsenals – blutzuckersenkende Medi- werden können. Diese Verhaltensweise birgt die Ge- kamente nur selten als erstes Mittel eingesetzt. Mit der fahr, dass sich der Blutzucker langsamer erholt und die Entwicklung des Diabetes und im Falle einer Polymedi- Gewichtszunahme gefördert wird (Tab. 6). Hypoglykämien sollte bei jenen Patienten gesucht werden, deren HbA1c-Wert unter 6,5% liegt und besonKorrespondenz: ders bei Patienten mit Typ-2-Diabetes, deren Verzöge- Prof. Dr. med. rungsinsulindosis 1 IE/kg/Tag übersteigt (Patienten Service d’endocrinologie, mit Typ-1-Diabetes: >0,5 IE/kg/Tag). Dies kann etwa mit diabétologie, hypertension der Frage erreicht werden, ob der Patient allfällige Hy- Hôpitaux universitaires poglykämien jeweils spürt. Zudem sollte nicht verges- de Genève sen werden, das Problem der Hypoglykämie bei jeder jacques.philippe[at]hcuge.ch werden. Dadurch steigt der Blutzuckerspiegel durch- ist das Hypoglykämierisiko ein geringeres Problem: Für Nach einer verringerten Empfindlichkeit gegenüber CH-1211 Geneva dazu 15 g schnell resorbierbaren Zuckers eingenommen den, sollten in der Verwendung von Glukagon geschult wachsam zu sein. Rue Gabrielle-Perret-Gentil 4 fehlungen sollten in leichten bis mittelgradigen Fällen erst seit kürzerer Zeit an einem Typ-2-Diabetes leiden, kation ändert sich die Lage. Es ist also stets angebracht, et nutrition, Jede Hypoglykämie muss korrigiert werden. Laut Emp- mit verschiedenen Insulininjektionen behandelt wer- * Nicht light oder Zero. Jacques Philippe Korrektur von Hypoglykämien in der Praxis ärztlichen Konsultation zu erwähnen (Häufigkeit, Zeitpunkt, Ursachen, Symptome, Schweregrad). Anpassung der Medikation Wenn der Patient in der Lage ist, die Ursache oder die auslösenden Faktoren einer Hypoglykämie zu identifizieren (Auslassen einer Mahlzeit, unvorhergesehene körperliche Betätigung, Alkoholkonsum, Fehler bei der Insulindosierung usw.), ist das Rezidivrisiko im Allgemeinen begrenzt. Ist hingegen keine eindeutige und aussergewöhnliche Ursache feststellbar, muss die Therapie systematisch angepasst werden. Bei schweren Hypoglykämien muss die Dosis langsam wirkender Insuline unverzüglich um mindestens 20% verringert werden, zusätzlich wird empfohlen, die Einschätzung eines Spezialisten einzuholen. Um die risikoreichen Tages- und Nachtphasen zu identifizieren, ist es hilfreich, ein Blutzuckertagebuch zu Das Wichtigste für die Praxis führen. Wenn der Patient den Blutzucker nicht regel- • Die Hypoglykämie ist eine unvermeidliche Nebenwirkung der Insulintherapie und einiger insulinsekretionsfördernder Medikamente. Das Risiko ist bei Intensivtherapien und bestimmten Begleiterkrankungen höher. • Die Symptome können adrenerg oder neuroglykopenisch sein. Besteht der Diabetes (Typ 1 oder 2) seit vielen Jahren und wird schon längere Zeit Insulin verabreicht, können die Gegenregulationsmechanismen beeinträchtigt sein. • Nach wiederholten Hypoglykämien ist die Unempfindlichkeit gegenüber Hypoglykämien ausgeprägter und das Risiko schwerer Hypoglykämien beträchtlich. • Bei Risikopatienten muss aktiv nach Phasen der Hypoglykämie geforscht und deren wirksame Behandlung sichergestellt werden. • Die Prävention von Hypoglykämien erfordert die Festlegung individueller Therapieziele und strukturierte Patientenschulungen. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):707–713 mässig selbst testet, kann sich ein Glukosesensor als sinnvoll erweisen. Bei Patienten mit Typ-2-Diabetes muss stets zuerst die Möglichkeit bewertet werden, nicht blutzuckersenkende Therapien einzuleiten. Disclosure Statement JP hat von den Firmen Lilly, Novonordisk und Sanofi Honorare für Beratungen und Vorträge erhalten. Die übrigen Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert. Bildnachweis © Sergey Lavrentev | Dreamstime.com Literatur Die vollständige nummerierte Literaturliste finden Sie als Anhang des Online-Artikels unter www.medicalforum.ch. «Hypoglykämie bei Patienten ohne Diabetes» erschien in der vorangehenden SMF-Ausgabe. LITERATUR / RÉFÉRENCES Online-Appendix Literatur 1 2 3 4 5 6 SWISS MEDI CAL FO RUM Seaquist ER, Anderson J, Childs B, Cryer P, Dagogo-Jack S, Fish L, Heller SR, et al. Hypoglycemia and diabetes: a report of a workgroup of the American Diabetes Association and the Endocrine Society. Diabetes Care. 2013;36(5):1384–95. doi: 10.2337/dc12-2480. Frier BM. Hypoglycaemia in diabetes mellitus: epidemiology and clinical implications. Nat Rev Endocrinol. 2014;10(12):711–22. doi: 10.1038/nrendo.2014.170. Yeoh E, Choudhary P, Nwokolo M, Ayis S, Amiel SA. Interventions That Restore Awareness of Hypoglycemia in Adults With Type 1 Diabetes: A Systematic Review and Meta-analysis. Diabetes Care. 2015;38(8):1592–609. doi: 10.2337/dc15–0102. Lalic NM. The case for: hypoglycemia is of cardiovascular importance. Diabetes Care. 2013;36 Suppl 2:S264–6. doi: 10.2337/dcS13–2016. Goto A, Arah OA, Goto M, Terauchi Y, Noda M. Severe hypo­glycaemia and cardiovascular disease: systematic review and meta-analysis with bias analysis. BMJ. 2013;347:f4533. doi: 10.1136/bmj.f4533. Whitmer RA, Karter AJ, Yaffe K, Quesenberry CP Jr, Selby JV. Hypoglycemic episodes and risk of dementia in older patients with type 2 diabetes mellitus. JAMA. 2009;301(15):1565–72. doi: 10.1001/jama.2009.460. 7 International Hypoglycaemia Study Group. Minimizing Hypoglycemia in Diabetes. Diabetes Care. 2015;38(8):1583–91. doi: 10.2337/dc15–0279. 8 Unger J. Educating Patients About Hypoglycemia Prevention and Self-Management. Clinical Diabetes 2013 Oct; 31(4): 179–88. http://dx.doi.org/10.2337/diaclin.31.4.179 9 Abdelhafiz AH, Rodríguez-Mañas L, Morley JE, Sinclair AJ. Hypoglycemia in older people – a less well recognized risk factor for frailty. Aging Dis. 2015;6(2):156-67. doi: 10.14336/AD.2014.0330. eCollection 2015. 10 Lehmann R, Egli M, Fischer D, Iselin HU, Pavlicek V, Schinz R, Weng T, Seeger R. Directives concernant l’aptitude et la capacité à conduire lors de diabète sucré. Nov 2015. Société Suisse d'Endocrinologie et de Diabétologie. http://sgedssed.ch/fileadmin/files/6_empfehlungen_fachpersonen/ 61_richtlinien_fachaerzte/Neue-Auto-Richtlinien_SGED_15-1124_FR_DEFkorr.pdf 716 RICHTLINIEN Die somatische Behandlung der unipolaren depressiven Störungen: Update 2016, Teil 11 Die Akutbehandlung depressiver Episoden Prof. Dr. med. Edith Holsboer-Trachsler a , Dr. med. Josef Hättenschwiler a , PD Dr. med. Johannes Beck b , PD Dr. phil. Serge Brand b , PD Dr. med. et Dr. phil. Ulrich Michael Hemmeter a , Prof. Dr. med. Martin Ekkehard Keck a , Dr. med. Stefan Rennhard a , Prof. Dr. med. Martin Hatzinger b , Prof. Dr. med. Marco Merlo c , Prof. Dr. med. Guido Bondolfi a , Prof. Dr. med. Martin Preisig a , Dr. med. Anouk Gehret c , Dr. med. Daniel Bielinski c , Prof. Dr. med. Erich Seifritz a a c 1 Schweizerische Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD); b Schweizerische Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (SGBP); Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) Teil 2, «Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe», erscheint im Heft 36 des «Swiss Medical Forum». Diese Behandlungsempfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) und der Schweizerischen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (SGBP) wurden in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) auf der Grundlage der Leitlinien der «World Federation of Societies of Biological Psychiatry» (WFSBP) 2013 [1] sowie der S3-Leitlinie /Nationalen Versorgungsleitlinie «Unipolare Depression» der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) 2015 [3] erstellt. Der vorliegende Text ist ein Update der Version von 2010 [2]. Die Artikel in der Rubrik «Richtlinien» geben nicht unbedingt die Ansicht der SMF-Redaktion wieder. Die Inhalte unterstehen der redaktionellen Verantwortung der unterzeichnenden Fachgesellschaft bzw. Arbeitsgruppe. während der gesamten Behandlung angemessen eingesetzt werden, unter Berücksichtigung von klinischen Faktoren wie Symptomschwere, Erkrankungsverlauf und Patientenpräferenz. Der Behandlungsplan richtet sich in erster Linie nach dem Schweregrad der Depression (Abb. 1). Eine aktiv-abwartende Begleitung (watchful waiting) kann bei Patienten mit leichter depressiver Episode genügen. Jedoch sollte die Besserung der Symptomatik innerhalb der ersten beiden Wochen überprüft werden. Antidepressiva sollten nicht generell zur Erstbehandlung von leichten depressiven Episoden eingesetzt werden, sondern nur nach kritischer Abwägung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses. Das berücksichtigt u.a. den Wunsch des Patienten, positives Einleitung Ansprechen in der Vergangenheit, Fortbestehen von Symptomen nach anderen Interventionen sowie mit- Edith Holsboer-Trachsler Diese Behandlungsempfehlungen (Aktualisierung der telgradige oder schwere Depressionen in der Vorge- Version von 2010 [2]) orientieren sich an der internatio- schichte. Zur Behandlung von leichten bis mittel- nalen Leitlinie der «World Federation of Societies of schweren Biological Psychiatry» (WFSBP) [1] und der S3-Leitlinie / Psychotherapie angeboten werden. Der Einsatz von An- Nationalen Versorgungsleitlinie der Deutschen Gesell- tidepressiva ist insbesondere bei mittelgradigen und schaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheil- schweren depressiven Episoden indiziert. Ein wesent- kunde (DGPPN) [3]. Sie fassen die evidenzbasierten The- liches Behandlungsmoment ist die vertrauensvolle Be- rapiestrategien (bester Stand der wissenschaft lichen ziehung zwischen Patient und Behandler, weshalb jede Erkenntnisse nach den Kriterien der evidenzbasierten Pharmakotherapie in ein entsprechendes Gesprächs- Medizin) zur Akutbehandlung der depressiven Episoden angebot eingebettet gehört. Der Evidenzgrad der ein- nach den Kriterien der «International Classification of zelnen Therapien wird in Stufen (Level A–D) angegeben Disease» (ICD-10, WHO 1992) sowie des «Diagnostic and (Tab. 1). Methodische Kriterien bestimmen die Evidenz, Statistical Manual of Mental Disorders» (DSM-V) zu- d.h. die Bewertung der Wirksamkeit einer Intervention sammen. Die Behandlungsempfehlungen setzen eine basiert in der Regel auf randomisierten klinischen gründliche diagnostische Abklärung durch eine ärztli- Studien (RCT). Aus dem Fehlen von solchen Studien für che Fachperson voraus, wobei andere psychische sowie einzelne Behandlungen kann aber nicht geschlossen somatische Erkrankungen ausgeschlossen und depres- werden, dass diese Verfahren nicht wirksam sind. sionsauslösende Faktoren (z.B. Medikamente, Alkohol, Die psychiatrische Theorie und Praxis beruht in der Drogen, psychosoziale Stressfaktoren usw.) berück- Schweiz auf einem biopsychosozialen Ansatz in der sichtigt werden müssen. Die vier Grundelemente der Diagnostik und Behandlung psychischer Störungen psychiatrischen Behandlung (aktiv abwartende Beglei- (vgl. Weiterbildungsprogramm und Leitbild der SGPP). tung, medikamentöse und psychotherapeutische Entsprechend wurden ergänzend zu den vorliegenden Behandlungen sowie Kombinationstherapie) sollten evidenzbasierten somatischen Behandlungsempfeh- SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):716 –724 Depressionen soll eine angemessene 717 RICHTLINIEN Übersicht der Antidepressiva Leichte Depression? Mittelgradige / schwere Depression? Ja Ja Aufklärung/Psychoedukation Aufklärung/Psychoedukation Partizipative Entscheidung Partizipative Entscheidung Zur Pharmakotherapie von Depressionen steht eine Vielzahl von Substanzen zur Verfügung, die sich im Hinblick auf ihre depressionslösende Wirkung nicht wesentlich unterscheiden (Tab. 2). Unterschiede beste- Ja hen jedoch im neurochemischen Wirk- und Neben- Aktiv abwartende Begleitung (14 Tage) Ja Anhaltende/verschlechterte Symptomatik? siven Episode ist die vollständige Remission (Abb. 2). Ja Psychotherapie ODER Pharmakotherapie Monitoring (1×/W.) klinische Wirkungsprüfung n. 3–4 W. therapeutisches Drug-Monitoring und ABCB1-Gentest* n. 3–4 W. Besserung > 50% wirkungsprofil [5]. Behandlungsziel jeder akuten depres- Psychotherapie ODER / UND Pharmakotherapie über die zur Verfügung stehenden Behandlungsoptionen, Wirklatenz, unerwünschte Arzneimittelwirkungen und deren Linderung sind unverzichtbar. Besserung <50% Ja Die Information des Patienten und seiner Angehörigen Ja Fortsetzen der Therapie Therapieanpassung/Ergänzung (Augmentation) Monitoring alle 2–4 W. Ab dem 3. Mt. >4 W. Monitoring alle 1–2 W. Wirkungsprüfung n. 3–4 W. * Die ABCB1-Diagnostik ist nur einmal im Leben erforderlich und erlaubt es, die Behandlung mit Antidepressiva auf den individuellen ABCB1-Genotyp abzustimmen. Abbildung 1: Algorithmus zur Therapie depressiver Störungen. Diese TherapieplanEmpfehlung basiert auf folgenden Kriterien: Evidenz und Konsens; ethische Verpflichtung; klinische Relevanz; Anwendbarkeit; Patientenpräferenz und Umsetzbarkeit (nach [3]). Für die Akutbehandlung schwerer depressiver Störungen (Abb. 1) sind Antidepressiva neben der Elektrokrampftherapie die wirksamsten und am besten belegten Therapieverfahren. So zeigen Metaanalysen, dass die depressive Symptomatik durch eine medikamentöse antidepressive Behandlung innerhalb von 4–8 Wochen wirksamer reduziert wird als durch die Gabe von Plazebo (Level A). Neben den klassischen trizyklischen Antidepressiva (TZA) stehen heute Antidepressiva der 2. Generation (Mianserin, Maprotilin, Trazodon) und der 3. Generation zur Verfügung. Zu letzterer gehören Tabelle 1: Evidenzbasierte Klassifikation der Empfehlungen. Jede Behandlungsempfehlung wurde im Hinblick auf ihre Evidenzstärke für ihre Wirksamkeit, Sicherheit und Durchführbarkeit bewertet und in vier Evidenz-Level eingeteilt. Level A Level B Level C Level D Kein Evidenz-Level Gute studienbasierte Evidenz, um die Empfehlung zu belegen. Mindestens drei mittelgrosse randomisierte, kontrollierte (doppelblinde) Studien (randomized controlled trials RCT), die einen Vorteil der Intervention zeigten. Mindestens eine dieser drei Studien musste eine gut durchgeführte, plazebokontrollierte Studie sein. Mittelmässige studienbasierte Evidenz. Wirksamkeit in mindestens zwei mittelgrossen randomisierten, doppelblinden Studien (zwei oder mehr Vergleichsstudien gegen andere Substanzen oder eine Vergleichsstudie gegen eine andere Substanz und eine plazebo-kontrollierte Studie) oder in einer mittelgrossen randomisierten, doppelblinden Studie (plazebo-kontrolliert oder gegen eine andere Substanz) und in einer oder mehreren prospektiven, mittelgrossen (mit mindestens 50 Studienteilnehmern), offenen, naturalistischen Studien. Geringe studienbasierte Evidenz. Dieser Level wird erreicht, wenn eine randomisierte, doppelblinde Studie gegen eine andere Substanz und eine prospektive, offene Studie/Fallserie (mit mindestens 10 Studienteilnehmern) oder mindestens zwei prospektive, offene Studien/Fallserien (mit mindestens 10 Studienteilnehmern) eine Wirksamkeit zeigen. die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wie Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin und Sertralin sowie andere neuere Substanzen mit unterschiedlichen Wirkprinzipien: Mirtazapin als noradrenerges und spezifisch serotonerges Antidepressivum (NaSSA), Duloxetin und Venlafaxin als selektive Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI), Reboxetin als selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI), Moclobemid als reversibler Inhibitor der MAO-A (RIMA), Bupropion als selektiver Noradrenalin-/Dopamin-Wiederaufnahmehemmer (SNDRI) sowie Agomelatin, ein Melatonin-1und Melatonin-2-Rezeptoren-Agonist und 5-HT-2C-Antagonist (Tab. 2). Für die Behandlung von leichten bis mittelschweren, nicht aber schweren Depressionen steht in der Schweiz zudem Hypericum zur Verfügung. Neu ist in der Schweiz auch das multimodale Antidepressivum Vortioxetin zugelassen, es moduliert verschiedene Serotoninrezeptor-Subtypen (5-HT-1A, 5-HT- Auf Expertenmeinung basierend (Autoren und Mitglieder der WFSBP-Task Force für unipolare depressive Störungen), unterstützt von Evidenz aus mindestens einer prospektiven Studie/Fallserie (mit mindestens 10 Studienteilnehmern). 1B; 5-HT-7; 5-HT-1D sowie 5-HT-3) und inhibiert den Expertenmeinung zu allgemeinen Behandlungsverfahren und -prinzipien. Verträglichkeit und Wirksamkeit Serotonintransporter. Die Verträglichkeit der SSRI und neueren Antidepressiva ist meist besser als die der TZA, so dass die Behandlungs- lungen auch Empfehlungen für die Psychotherapie der abbruchraten unter SSRI-Therapie deutlich geringer sind Depressionen inklusive dem sozialen Blickwinkel (so- (Level A) [6]. SSRI haben auch gegenüber tri- und tetrazy- ziales Netz, Arbeitsfähigkeit usw.) mit der SGPP als He- klischen Substanzen ein günstigeres Sicherheitsprofil, rausgeberin erarbeitet und veröffentlicht [4]. indem sie weniger anticholinerge Nebenwirkungen und SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):716 –724 718 RICHTLINIEN Tabelle 2: Antidepressiva – Wirkmechanismus und Standarddosierungen. Generischera Handelsname Name (alphabetisch) CH Agomelatin Valdoxan® Amineptin (nicht zugelassen) Traditionelle strukturelle Klassifikationb MT-Agonist Amitriptylinf Saroten® Ret. TZA Amoxapin (nicht zugelassen) TetraZA Bupropiong Citalopram i Klassifikation gemäss neurochemischem Wirkungsmechanismus b Anfangsdosis c (mg/d) Standarddosis d (mg/d) 25 25–50 100 200–300 25–50 100–300 50 100–400 Wellbutrin XR® NDRI 150 150–450** Seropram® SSRI 20 20–40 (60) Plasmaspiegele (therapeutischer Bereich) [ng/ml] 80–200* Clomipraminh,i Anafranil® TZA 25–50 100–250 175–450* Desipramin (nicht zugelassen) TZA 25–50 100–300 100–300 Dibenzepin Noveril TR® TZA 120–180 240–720 Doslepin (nicht zugelassen) TZA 75 75–150 Dothiepin (nicht zugelassen) TZA 25–50 100–300 Doxepini Sinquan® TZA 25–50 100–300 Cymbalta® SNRI 30–60 60–120 Escitaloprami Cipralex ® SSRI 10 10–20 Fluoxetin Fluctine ® SSRI 20 20–60 Fluvoxamin Floxyfral® Imipramin Tofranil® Isocarboxazid (nicht zugelassen) Johanniskraut l Deprivita® Hyperiplant ® Rx Rebalance ® Rx Duloxetin j,k SSRI TZA (nicht zugelassen) TZA Maprotilin Ludiomil® a.H. TetraZA Mianserin Tolvon® TetraZA 100–300 100–300 20 20–60 Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung + präsynapt. Alpha2-Blockade 70 140–210 25–50 150–225 30 60–120 50–100 100–200 15 15–45 150 300–600 Milnacipran (nicht zugelassen) SNRI Mirtazapin Remeron® NASSA (Alpha2-Antagonist) Moclobemid Aurorix ® Nortriptylin Nortrilen® a.H. Paroxetinh, I, j Deroxat ® Phenelzini (nicht zugelassen) Protriptylin (nicht zugelassen) Reboxetin Edronax ® NARI 4–8 8–12 Zoloft ® SSRI 50 50–150 Sertralin h, I, j RIMA TZA SSRI MAOI TZA Setiptilin (nicht zugelassen) Tianeptin (nicht zugelassen) Serotonin-(5-HT-)Wiederaufnahmeverstärker MAOI Tranylcypromini (nicht zugelassen) Trazodon Trittico ® Trimipraminf, i Surmontil® Venlafaxinj Efexor ® Viloxazin (nicht zugelassen) Vortioxetin Brintellix ® TetraZA 25–50 75–200 20 20–40 (60) 15 30–90 10 20–60 3 3–6 12,5 25–37,5 10 20–60 50–100 200–600 TZA 25–50 100–300 SNRI 37,5–75 75–375 100 200–500 5 20 SSRI 175–300* 500–1000 Trockenextrakt Phytopharmakon Lofepramin 50 25–50 Agonist 5HT1A und 1B, Antagonist 5HT3/7/1D a 70–170 195–400* Erhältlichkeit auf dem Markt divergiert beträchtlich von Land zu Land. Abkürzungen: MAOI = irreversible Hemmer der Monoaminoxidase; MT-Agonist = Agonist der Melatonin-Rezeptoren (MT1 und MT2); NARI = Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer; NASSA = noradrenerg und spezifisch serotonerges Antidepressivum; NDRI = Noradrenalin- und Dopamin-Wiederaufnahmehemmer; RIMA = reversible Hemmer der Monoaminoxidase A; SNRI = selektive Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer; SSRI = selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer; TZA = trizyklische Antidepressiva; TetraZA = tetrazyklische Antidepressiva; a.H. = ausser Handel. c Bei älteren Menschen (> 60 Jahren) oder mit Patienten mit komorbiden körperlichen Erkrankungen (besonders kardiovaskuläre Erkrankungen; s. Text) können niedrigere Anfangsdosen nötig sein. d Standarddosierungen sind in Japan im Allgemeinen niedriger. e Nur für Antidepressiva mit gut etabliertem, therapeutischem Bereich angegeben. Andere Indikation als Depression (bewährt in einigen Ländern) oder häufige Anwendungsgebiete: f chronischer Schmerz; g Nikotinentwöhnung; h Zwangsstörungen (obsessive-compulsive disorder, OCD); i Angststörungen (Panikstörungen, PTSD [post-traumatic stress disorder], soziale Phobie); j generalisierte Angststörung; k diabetischer und peripherer neuropathischer Schmerz, Stressinkontinenz; l nur leichte bis mittelschwere depressive Episode. b * Der empfohlene therapeutische Bereich ist die Summe aus Arzneistoff und aktivem Metabolit. ** Nach europäischer Zulassung Tageshöchstdosis 300 mg. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):716 –724 719 RICHTLINIEN Patienten beurteilt werden. Wichtigste Risikofaktoren sind frühere Suizidversuche, suizidales Verhalten in der Familienanamnese, Substanzmissbrauch und fehlende soziale Unterstützung. Bei schwerer akuter Suizidalität ist oft eine stationäre Therapie indiziert, wobei auch eine Einweisung unter dem Titel einer fürsorgerischen Unterbringung (FU) gegen den Patientenwillen nötig sein kann. Patienten mit Risiko für Selbstintoxikation sollte ein Antidepressivum mit geringer Toxizität verschrieben und nur die Menge für eine Woche abgegeben werden (Tab. 3). In jedem Fall muss ein enges Monitoring des Patienten erfolgen. Je nach Schwere des Zustandsbildes sollten eine bis mehrere wöchentliche Konsultationen stattfinden, ausserdem sollte das BeAbbildung 2: Modell des typischen Verlaufes einer depressiven Störung und deren Behandlung nach Kupfer [19]. kaum kardiovaskuläre Toxizität aufweisen (Level A) [7]. Daher sind SSRI und andere «neuere» Antidepressiva bei handlungsteam niederschwellig erreichbar sein. Beurteilung der Wirksamkeit der Behandlung leichten bis mittelschweren Depressionen erste Wahl, Um die Wirksamkeit der Behandlung beurteilen zu kön- besonders bei Patienten mit kardiovaskulären Begleit- nen, sollte das Ansprechen auf die Therapie («response») erkrankungen. Dosisabhängig besteht bei Citalopram, klinisch und allenfalls unter Nutzung von spezifischen Escitalopram, Fluoxetin, Venlafaxin, Mianserin, Mirta- Beurteilungsskalen, z.B. des «Beck Depression Inven- zapin, Trazodon und Bupropion das Risiko für eine Ver- tory» (BDI), evaluiert werden [8]. Bei unzureichendem längerung der QTc-Zeit, so dass bei Dosierungen oberhalb Ansprechen nach einer 2- bis 4-wöchigen antidepressi- der Standarddosis EKG-Kontrollen unverzichtbar sind. ven Behandlung sollten Strategien zur Behandlungs- Zur Behandlung einer schweren Depression können optimierung zum Einsatz kommen (Abb. 1). TZA, SSRI und SNRI sowie – falls geeignet – eine Elektro- Vor einem Wechsel der Behandlungsstrategie muss die krampftherapie (EKT) empfohlen werden (Level B). Diagnose überprüft werden und allfällige pharmako- Die Nebenwirkungsrate variiert zwischen den Anti- kinetische Faktoren, die den Plasmaspiegel der Antide- depressiva-Klassen und auch zwischen einzelnen pressiva beeinflussen können, sind zu beachten. Solche Wirkstoffen (Tab. 3). Liegen somatische Begleiterkran- Faktoren sind u.a. der Metabolisierungstyp («rapid/ kungen vor, werden einige Wirkstoffe aufgrund ihres ultra-rapid metaboliser»), Enzym-induzierende Begleit- Nebenwirkungsprofils bevorzugt. Die häufigsten Ne- medikation oder Nahrungsbestandteile. benwirkungen von TZA und tetrazyklischen Antide- Therapeutisches Drug-Monitoring (TDM) dient der Er- pressiva sind anticholinerg/antimuskarinerg, kardio- mittlung der Plasmakonzentration eines Medika- vaskulär, antihistaminerg und neurologisch (Tab. 3). ments. Weiter können mittels TDM Hinweise hinsicht- Deshalb sollten TZA und tetrazyklische Antidepressiva lich der Compliance der Medikamenteneinnahme nicht bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankun- gewonnen werden. Da die Plasmakonzentration der gen, kognitiven Einschränkungen, Epilepsie und sol- Antidepressiva zwischen einzelnen Patienten erheblich chen im Delirium angewandt werden. Die häufigsten variieren kann, muss darauf geachtet werden, dass Pa- unerwünschten Wirkungen von SSRI sind Ruhelosig- tienten nicht fälschlicherweise der Non-Compliance keit, sexuelle Dysfunktion, gastrointestinale und neu- beschuldigt werden. Eine Optimierung der Behand- rologische Nebenwirkungen (Tab. 3). lung kann oft allein schon durch eine Dosiserhöhung Kontraindiziert ist die Anwendung von SSRI in Kombi- des Antidepressivums erreicht werden. nation mit irreversiblen MAO-Hemmern aufgrund des Ein wesentlicher Einflussfaktor für die Wirksamkeit Risikos eines Serotonin-Syndroms. Dies kann auch bei von Antidepressiva ist die Durchlässigkeit der Blut- der gleichzeitigen Einnahme mehrerer serotonerg Hirn-Schranke, die durch in den Blutgefässen loka- wirksamer Substanzen auftreten. lisierte P-Glykoproteine, sogenannte «Wächter- moleküle», bestimmt wird. Suizidalität Mit dem neuen, am Max-Planck-Institut für Psychiatrie Das Suizidrisiko muss nicht nur am Anfang, sondern in München entwickelten ABCB1-Gentest lassen sich auch regelmässig während der Behandlung depressiver die DNA-Sequenzvarianten im ABCB1-Gen messen, SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):716 –724 720 RICHTLINIEN Tabelle 3: Nebenwirkungsprofile der Antidepressivaa. Generischer Name (in alphabetischer Reihenfolge) Handelsname CH Agomelatin Valdoxan® – + – – – – – Kann Leberschädigung verursachen (selten) Gering Amineptin (nicht zugelassen) – + – ++ + + + Gefahr des Missbrauchs (Amphetamin-ähnliche Wirkung) Gering Amitriptylin Saroten®, Tryptizol® +++ – +++ – + +++ +++ EKG-Veränderungenc; kann die Krampfschwelle herabsetzen Hoch Amoxapin (nicht zugelassen) +++ – + ++ + + + Hyperprolaktinämie Hoch Bupropion Wellbutrin XR® + + – + – – – Kann die Krampfschwelle herabsetzen Gering Citalopram Seropram® – ++ – ++ ++ – – Clomipramin Anafranil® +++ + + + ++ ++ ++ EKG-Veränderungenc; kann die Krampfschwelle herabsetzen Mittel Desipramin (nicht zugelassen) + – – ++ + + + EKG-Veränderungenc; kann die Krampfschwelle herabsetzen Hoch Dibenzepin Noveril TR® + – + – + + + EKG-Veränderungenc; kann die Krampfschwelle herabsetzen Mittel Dosulepin (nicht zugelassen) ++ – ++ – + + + EKG-Veränderungenc; kann die Krampfschwelle herabsetzen Hoch Doxepin Sinquan® +++ – +++ – ++ +++ ++ EKG-Veränderungenc; kann die Krampfschwelle herabsetzen Hoch Duloxetin Cymbalta® – ++ – ++ + – – Escitalopram Cipralex ® – ++ – ++ ++ – – Fluoxetin Fluctine ® Fluvoxamin Floxyfral® Imipramin Tofranil® Isocarboxazid Anticholinergb Übelkeit/ gastrointestinal Sedierung Schlaflosigkeit/ Erregung ++ Sexuelle Dysfunktion Orthostatische Hypotension Gewichts- Spezifische zunahme unerwünschte Nebenwirkungen Gering Gering Gering + Gering + +++ + + ++ – + ++ + ++ ++ (nicht zugelassen) + + – ++ + ++ Johanniskraut Deprivita® Hyperiplant ® Rx Rebalance ® Rx – + + – – Lofepramin (nicht zugelassen) + – + ++ Maprotilin Ludiomil® a.H. Mianserin Tolvon® Milnacipran Mirtazapin ++ Letalität bei Überdosierung Gering EKG-Veränderungenc; kann die Krampfschwelle herabsetzen Hoch + Hypertensive Krise e; Gefahr eines SerotoninSyndroms f Hoch – – Allergische Reaktion; sehr selten phototoxisch; CYP3A4-Induktion + + + EKG-Veränderungenc; kann die Krampfschwelle herabsetzen Gering – ++ – + ++ ++ Erhöhtes Anfallrisiko Hoch + – ++ – – + + Blutdyskrasie (selten) Gering (nicht zugelassen) – ++ – ++ ++ – – Gering Remeron® – – ++ – – + ++ Gering Moclobemid Aurorix ® + + – + – – – Nortriptylin Nortrilen® a.H. + – + + + + + EKG-Veränderungenc; kann die Krampfschwelle herabsetzen Hoch Paroxetin Deroxat ® + ++ – ++ ++ – + Inhibitorische Wirkungen auf CYP2D6 d Gering Phenelzin (nicht zugelassen) + + + ++ ++ ++ + Hypertensive Krisee; Gefahr eines SerotoninSyndroms f Hoch Protriptylin (nicht zugelassen) +++ – + ++ + ++ + EKG-Veränderungenc; kann die Krampfschwelle herabsetzen Hoch Reboxetin Edronax ® – + – ++ + ++ – Gering Sertralin Zoloft ® – ++ – ++ ++ – – Gering SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):716 –724 Gering 721 RICHTLINIEN Tabelle 3: Nebenwirkungsprofile der Antidepressivaa (Fortsetzung). Setiptilin (nicht zugelassen) + – ++ – + + + Tianeptin (nicht zugelassen) + + – + – – – EKG-Veränderungenc; kann die Krampfschwelle herabsetzen Gering Tranylcypromin (nicht zugelassen) – + – ++ + ++ – Hypertensive Krise e; Gefahr eines SerotoninSyndroms f Hoch Priapismus (selten) Gering EKG-Veränderungenc; kann die Krampfschwelle herabsetzen Hoch Hypertension Gering Trazodon Trittico ® Trimipramin Surmontil® Venlafaxin Violoxazin Vortioxetin – + ++ – ++ + + ++ – +++ – + ++ ++ Efexor ® – ++ – ++ ++ – – (nicht zugelassen) – + – ++ – – – Brintellix ® – ++ – – + – – Mittel Gering Kategorien der Stärke der Nebenwirkungen: +++ hoch/stark, ++ mittel, + gering/schwach, – sehr gering/keine. Abkürzung: a.H. = ausser Handel. a Die Nebenwirkungsprofile der Antidepressiva sind nicht vollständig und nur für einen ersten Vergleich geeignet. Details zu den verwendeten Medikamenten, wichtige Warnhinweise und Wechselwirkungen sollten in einem Lehrbuch oder in Reviews, in der Originalliteratur, im Beipackzettel oder in der Roten Liste (D) oder im Arzneimittelkompendium der Schweiz nachgelesen werden. b Diese beziehen sich auf Symptome, die gewöhnlich durch muskarinerge Rezeptorblockade ausgelöst werden, einschliesslich Mundtrockenheit, Schwitzen, verschwommenes Sehen, Obstipation und Urinretention. c Reizleitungsstörungen d Es werden nur die inhibitorischen Wirkungen auf die hepatischen CYP450-Enzyme gezeigt, die klinisch relevant sind. e Erhöhtes Risiko in Kombination mit Nahrungsmitteln, die einen erhöhten Tyramingehalt haben, und mit Sympathomimetika f In Kombination mit serotonergen Medikamenten welches das P-Glykoprotein kodiert. Dadurch können nis [9]. Mit Hilfe dieser Messung (zurzeit im Labor Viol- Patienten identifiziert werden, bei denen aufgrund lier durchführbar) erhält der behandelnde Arzt Thera- von Polymorphismen viele der gängigen Antidepres- pieempfehlungen, die von der Bestätigung der Wahl siva die Blut-Hirn-Schranke weniger leicht passieren des verordneten Antidepressivums über Dosissteige- können und die deshalb ungenügend auf die Therapie rung, Augmentationsstrategien und den Wechsel des ansprechen. Antidepressivums reichen können (Abb. 3). Zahlreiche Studien belegen den Einfluss einiger leicht zu messender Polymorphismen auf das Therapieergeb- Teilweises oder kein Ansprechen auf eine 2- bis 4-wöchige Behandlung mit einer antidepressiven Medikation in adäquater Dosierung1 Behandlungsoptionen bei Teilund Non-Response Unabhängig von der anfänglichen Wahl des Antidepressivums zeigt sich bei mindestens 30% der Depressionen eine ungenügende Therapieantwort auf die Behandlung [10]. Es werden verschiedene Behandlungsstrategien für ABCB1-Gentest* Depressionen mit unzureichendem Ansprechen vorgeOptimierung der Behandlung (Dosiserhöhung) schlagen (Abb. 3). Die wichtigsten sind: (1.) Wechsel zu einem Antidepressivum einer anderen pharmakologi- Kombination zweier Antidepressiva verschiedener Klassen2,3 Augmentationsstrategien 1. Wahl: Lithium Andere: atypische Antipsychotika, Schilddrüsenhormon (T3) Wechsel zu einem neuen Antidepressivum einer anderen oder derselben pharmakologischen Klasse2,3 schen Klasse (z.B. von einem SSRI zu einem dual wirkenden Antidepressivum) oder Wechsel zu einem Antidepressivum innerhalb der gleichen Klasse. (2.) Kombination zweier Antidepressiva verschiedener Klas- Angemessene zusätzliche Psychotherapie zu jedem Zeitpunkt während der Behandlung Erwägen einer EKT4 zu jedem Zeitpunkt während der Behandlung Augmentation eines Antidepressivums mit einem anderen Wirkstoff (z.B. Lithium oder atypische Antipsy- Abbildung 3: Therapeutische Möglichkeiten bei teilweisem oder fehlendem Ansprechen auf die Behandlung mit einem Antidepressivum bei depressiver Episode (adaptiert nach [15]). 1 Teilweises Ansprechen (Partial Response): 26–49% Abnahme der Schwere der depressiven Grundsymptomatik; kein Ansprechen: ≤25% Abnahme der Schwere der depressiven Grundsymptomatik. 2 Siehe Tabelle 2. 3 Vorsicht bei der Kombination mit irreversiblen MAO-Hemmern (siehe Text). 4 Für Indikationen siehe Text. * Die ABCB1-Diagnostik ist nur einmal im Leben erforderlich und erlaubt es, die Behandlung mit Antidepressiva auf den individuellen ABCB1-Genotyp abzustimmen. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM sen (z.B. Kombination eines SSRI mit Mirtazapin). (3.) 2016;16(35):716 –724 chotika), um die antidepressive Wirkung zu erhöhen. (4.) Eine individuell angemessene Psychoedukation, psychotherapeutische Führung bzw. spezifische Psychotherapie gehören zu den Grundelementen jeder Behandlung. Sie ist ebenfalls zu überprüfen und ggf. zu adaptieren (siehe unten, Abschnitt «Psychotherapie»). Gegenwärtig gibt es keine einheitliche Meinung zur Strategie bei Non-Response, da noch keine randomisierten, doppelblinden klinischen Studien vorliegen, 722 RICHTLINIEN welche diese Fragestellung ausreichend beantworten. schwere Depression» zugelassen. Die anderen standar- Hingegen liegen zur Augmentation mit Lithium be- disierten Johanniskrautpräparate sind für unspezifische reits Plazebo-kontrollierte klinische Studien mit guten Verstimmungszustände (keine ICD- oder DSM-Diagno- Ergebnissen vor. sen) zugelassen. Strategie 1: Wechsel zu einem Antidepressivum einer Elektrokrampftherapie (EKT) anderen Klasse Es kann sowohl der Wechsel von einem SSRI zu einem dual wirkenden Antidepressivum als auch zu einem noradrenergen/ EKT ist indiziert bei schwerer depressiver Episode mit psychotischen Symptomen, echter behandlungsresis- dopaminergen Wirkstoff erfolgreich sein. tenter depressiver Episode oder besonderen Situatio- Beim Wechsel von oder zu einem irreversiblen MAO-Hemmer nen, z.B. schwere Suizidalität oder Schwangerschaft, soll eine zweiwöchige Auswaschperiode zwischen den Medika- welche eine rasche Besserung der Depression verlan- menten (beim Wechsel von Fluoxetin sogar eine fünfwöchige gen. Im Allgemeinen wird jedoch eine Erhaltungsthe- Auswaschperiode) eingehalten werden (Level B). Patienten, die auf einen ersten SSRI nicht ansprechen, haben eine 40–70-prozentige Chance, auf einen anderen anzusprechen (Level C). rapie in Form einer Psychopharmakotherapie oder EKT benötigt. Wenige Zentren in der Schweiz bieten EKT als ambulante Therapieoption an. Strategie 2: Kombination zweier Antidepressiva unterschiedlicher Klassen Lichttherapie Es gibt nur wenig kontrollierte Daten zugunsten des Nutzens dieser Strategie (z.B. Mirtazapin mit SSRI) (Level A). Die saisonale depressive Störung (seasonal affective Die Kombination von Antidepressiva mit einem irreversiblen MAO-Hemmer oder mit L-Tryptophan muss aufgrund potentiell schwerwiegender Komplikationen vermieden werden (Serotonin-Syndrom). disorder, SAD) stellt einen speziellen Subtyp der rezidivierenden depressiven Störung dar, die in einem saisonalen Muster auftritt. Die Winterdepression ist die häufigste Form einer SAD. Die Behandlung der ersten Wahl bei SAD ist die Lichttherapie (Phototherapie) Strategie 3: Augmentation eines Antidepressivums Unter Augmentationstherapie versteht man das Zufügen eines zweiten Wirkstoffs, mit dem Ziel, die Wirkung des ersten Wirkstoffs zu verstärken und damit die Behandlung zu optimieren. Die Augmentation mit Lithium ist die wichtigste und am besten dokumentierte Strategie und damit erste Wahl (Level A, Review [11]). Eine neuere Intervention ist die Augmentation mit atypischen Antipsychotika [12]. Positive Wirknachweise gibt es für Quetiapin, Aripiprazol, Olanzapin und Risperidon in niedrigeren Dosierungen als bei akuter Schizophrenie üblich. Die Wirksamkeit der Schilddrüsenhormone Trijodthyronin-T3 (Level B) sowie Tetrajodthyronin-T4 (Level D) zur Augmentation bei TZA konnte für T3 in einigen prospektiven Studien und für T4 in offenen Studien gezeigt werden. Wegen möglicher Nebenwirkungen sollten sie mit Vorsicht durch einen erfahrenen Psychiater oder in Zusammenarbeit mit einem Internisten oder Allgemeinpraktiker verabreicht werden. Pflanzliche Wirkstoffe (Level A). Falls eine Therapielampe nicht zur Verfügung steht, kann eine Behandlung mit natürlichem Licht in Form eines täglichen einstündigen Morgenspaziergangs durchgeführt werden. Patienten mit Risikofaktoren sollten vor der Behandlung einen Ophthalmologen aufsuchen. SSRI scheinen eine ähnlich gute Wirksamkeit wie die Lichttherapie zu haben. Zusätzliche Therapien Für die zusätzliche Behandlung depressiver Episoden wurden pharmakologische wie auch nicht-pharmakologische Zusatzbehandlungen untersucht. Dazu gehören Antipsychotika, Tranquilizer/Anxiolytika, Schlafentzug, körperliches Training, transkranielle Magnetstimulation, Vagus-Nerv-Stimulation, Ketamin. Antipsychotika Die depressive Episode kann mit Wahn und/oder Hallu- Evidenz für antidepressive Wirksamkeit aus kontrol- zinationen assoziiert sein. Patienten mit psychotischen lierten Studien besteht für Auszüge der Pflanze Hyperi- Symptomen im Rahmen einer depressiven Störung cum perforatum (Johanniskraut) für die Kurzzeit- zeigen deutlich höhere Ansprechraten bei Kombination behandlung mittelschweren eines Antidepressivums mit einem Antipsychotikum depressiven Störungen gegenüber Plazebo (Level A) von leichten als unter einer Monotherapie der einzelnen Substan- [13]. Potenzielle Nebenwirkungen mit einigen anderen zen (Level A). Die neueren atypischen Antipsychotika Arzneimitteln sind zu beachten. In der Schweiz sind sollten aufgrund ihres geringeren Risikos für extrapy- nur die Präparate Deprivita®, Hyperiplant® Rx und ramidalmotorische Symptome den klassischen Anti- Rebalance® Rx für die Diagnose «leichte bis mittel- psychotika vorgezogen werden. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM bis 2016;16(35):716 –724 723 RICHTLINIEN Psychotherapie Tranquilizer/Anxiolytika Der Nutzen einer Therapie mit Anxiolytika muss sorgfältig gegen das mögliche, jedoch in der Praxis geringe, Risiko einer Abhängigkeit und einer erhöhten Neigung zu Stürzen und Unfällen abgewogen werden. Die Kombination von Antidepressiva und Anxiolytika ist besonders bei Angst, Erregung und Schlaflosigkeit erfolgreich. Diese empfiehlt es sich auch in der Einleitungsphase einer antidepressiven Behandlung mit Antidepressiva. Die Dauer der Benzodiazepingabe bei depressiven Patienten sollte vier Wochen nicht überschreiten. Wichtig ist es, die Indikation der Benzodiazepin-Komedikation ständig zu überprüfen. Die Kombination von Antidepressivum mit Psychotherapie ist wirksamer als die alleinige Pharmakotherapie [18]. Psychotherapie sollte bei leichter bis mittelgradiger depressiver Episode erwogen werden. Darüber hinaus wird sie in Kombination mit Antidepressiva bei mittelschwerer bis schwerer Depression oder bei Teilresponse auf eine antidepressive Medikation empfohlen. Für die kurzen strukturierten Psychotherapien konnte gezeigt werden, dass sie in der Akutphase der Behandlung einer depressiven Episode wirksam sind und einem Rückfall während der Erhaltungsphase vorbeugen können. Die beste Evidenz besteht derzeit für die Schlafentzug (Wachtherapie) Partieller oder vollständiger Schlafentzug zeigt bei rund 60% der Patienten eine antidepressive Wirkung noch am gleichen Tag (Level A). Jedoch erleiden die meisten Patienten einen Rückfall nach nur einer Nacht normalen Schlafs. Die antidepressive Wirkung kann durch wiederholten Schlafentzug (Level B) oder durch eine Kombination aus Schlafentzug, Lichttherapie und/oder antidepressiver Pharmakotherapie stabilisiert werden. kognitive Verhaltenstherapie (KVT), die interpersonelle Therapie und das kognitive Verhaltensanalysesystem (CBASP, Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy). Die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie anerkennt folgende wissenschaftlich begründeten Psychotherapiemethoden: die psychoanalytisch orientierte Therapie, kognitive und Verhaltenstherapie sowie systemische Therapie (vgl. Weiterbildungsprogramm Kap. 3.1.2.3.). Alle drei Methoden tragen zur Behandlung von Depressionen in verschiedenarti- Körperliches Training Studien mit gesunden jungen Menschen haben gezeigt, dass körperliche Aktivität eine positive Wirkung auf die Stimmung haben kann. Cochrane-Analysen ger Weise bei. Ergänzende Behandlungsempfehlungen zur Psychotherapie bei depressiven Störungen werden in Zusammenarbeit mit der SGPP veröffentlicht [4]. zeigen, dass Sport zwar als Augmentationstherapie wirksam sein kann, jedoch eine antidepressive Behandlung nicht ersetzen kann [14]. Behandlung in speziellen Situationen In speziellen Situationen muss die Therapie einer de- Weitere Behandlungsmöglichkeiten pressiven Episode individuell angepasst werden. Zu Bei der repetitiven Transkraniellen Magnet-Stimulation diesen Situationen zählen Depressionen, die komorbid (rTMS) werden kortikale Neurone nicht-invasiv durch mit anderen psychiatrischen Erkrankungen auftreten magnetische Induktion stimuliert. Die akute Wirksam- (z.B. Angststörungen, Substanzmissbrauch), Depressio- keit der rTMS bei nicht-psychotischer unipolarer nen bei älteren Menschen, somatische Erkrankungen Depression ist belegt (Level A) [15]. Transkranielle Mag- als Depressionsursache sowie schwangere oder stil- net-Stimulation kann alleine oder mit antidepressiver lende Frauen. In diesen Fällen wird empfohlen, einen Begleitmedikation angewendet werden. Bei der Vielzahl Psychiater oder Spezialisten auf dem Gebiet hinzu- der möglichen Stimulationsparameter (z.B. Frequenz, zuziehen. Stimulationsstärke, Lokalisation, Dauer) wird jedoch empfohlen, dass die Therapie nur von einem mit rTMSerfahrenen Psychiater durchgeführt wird [16]. Depressionen und Komorbidität mit anderen psychiatrischen Erkrankungen Die Vagus-Nerv-Stimulation (VNS) ist eine Technologie zur indirekten Gehirnstimulation über den linken Va- Komorbide Angststörungen gusnerv. Die Studienlage zur Wirksamkeit ist jedoch Bis zu 30% der unipolar depressiven Patienten leiden sehr heterogen [17]. zusätzlich unter Angststörungen. SSRI und dual wirk- Ketamin wirkt am Glutamatsystem und zeigte nach in- same Antidepressiva, aber auch TZA und MAO-Hem- travenöser oder intranasaler Verabreichung eine rasche, mer, können ebenso wie KVT wirksam zur Behandlung hohe Wirksamkeit bei therapierefraktären Depressio- eingesetzt werden. Anxiolytika (Benzodiazepine) kön- nen. Wenige Zentren in der Schweiz bieten diese statio- nen über einen begrenzten Zeitraum zum Einsatz näre Behandlungsoption an. kommen, falls Angst ein relevantes Zielsymptom ist. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):716 –724 724 RICHTLINIEN Komorbider Substanzmissbrauch und Abhängigkeit mit Antidepressiva behandelt wurden, traten vorüber- Substanzmissbrauch tritt bei Depression mit einer gehende Absetzphänomene auf. Für die neueren Anti- hohen Prävalenz auf. Es ist dabei besonders wichtig, depressiva liegen aktuell nur wenige Daten vor. Irrever- beide Störungen adäquat zu behandeln. Eine auf den sible MAO-Hemmer sind während der Schwangerschaft Patienten zugeschnittene Psychotherapie hat sich als aufgrund möglicher hypertensiver Krisen kontraindi- wirksam erwiesen. ziert. Die Anwendung von Antidepressiva während der Schwangerschaft sollte unter sorgfältiger Risiko - Depressionsbehandlung bei älteren Patienten abwägung der pränatalen Exposition gegenüber einem Physiologische Veränderungen führen im Alter zu Ver- depressiven Rückfall der Mutter durchgeführt werden. änderungen in der Metabolisierung und Pharmakoki- Als Behandlungsalternativen sollten Psychotherapie, netik der Medikamente. Die Wirksamkeit und Verträg- Lichttherapie und EKT in Betracht gezogen werden. lichkeit der SSRI bei älteren Patienten wurde in einer Nach der Geburt haben viele Frauen ein erhöhtes Risiko Reihe von klinischen Studien mit Sertralin, Paroxetin für affektive Störungen. Das vorübergehende, 7–10 Tage und Fluoxetin untersucht (Level A). Für die Rezidiv- andauernde depressive Syndrom nach der Geburt, prophylaxe gibt es Evidenz, dass Antidepressiva, insbe- auch als «postpartum blues» bekannt, erfordert in der sondere Citalopram, sowie auch Lithium, das zusätz- Regel keine medikamentöse Intervention. Als «post- lich zu einem Antidepressivum gegeben wird, wirksam partale Depression» wird eine depressive Episode be- sind (Level B). Da ältere Patienten einerseits häufiger zu zeichnet, die innerhalb von vier Wochen nach der Ge- orthostatischer Hypotension neigen und andererseits burt auftritt. vulnerabler für andere kardiovaskuläre und anticho- Studien haben Antidepressiva identifiziert, die wäh- linerge Nebenwirkungen sind, werden SSRI und andere rend der Stillzeit angewandt werden können (Level C). neuere Antidepressiva den TZA vorgezogen (Level A). Die bei stillenden Müttern am besten untersuchten Substanzen sind Paroxetin, Sertralin, Fluoxetin, Clo- Therapieresistente Depression mipramin und Nortriptylin. Kinder von stillenden Es gibt keine allgemein akzeptierte Definition der The- Müttern, die Antidepressiva einnehmen, sollten durch rapieresistenz. Sie ist wahrscheinlich, wenn der Patient den Kinderarzt speziell überwacht werden. auf mindestens zwei Behandlungszyklen mit Medi- Laufend aktualisierte Behandlungsempfehlungen zur kamenten unterschiedlicher Antidepressivaklassen in Behandlung der Depression in der Schwangerschaft und adäquater Dosierung, genügender Dauer und guter während der Stillzeit finden sich auf www.mediq.ch. Compliance nicht anspricht. Bei Therapieresistenz wird die Überweisung an einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie empfohlen. Depressionsbehandlung während Schwangerschaft und Stillzeit Depressive Störungen während der Schwangerschaft stellen eine grosse therapeutische Herausforderung dar. Im Gegensatz zu den Stimmungsstabilisierern wie Lithium, Carbamazepin und Valproinsäure, die alle ein Teratogenitätsrisiko aufweisen, scheinen Antidepressiva (TZA, SSRI) kaum ein erhöhtes Risiko für eine Organfehlentwicklung zu haben. TZA und SSRI zeigen kein erhöhtes Risiko für intrauterinen Fruchttod oder grössere Geburtsschäden. Wegen eines geringfügig erKorrespondenz: höhten Risikos für Fehlbildungen sollten Paroxetin Dr. med. Josef Hätten- und Fluoxetin nicht als Antidepressiva der ersten Wahl schwiler in der Schwangerschaft neu verordnet werden. Die Ent- Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung wicklung von Kindern, deren Mütter während der Zürich ZADZ Schwangerschaft TZA oder Fluoxetin einnahmen, un- Riesbachstrasse 61 CH-8008 Zürich jhaettenschwiler[at]zadz.ch terschied sich nicht von der von Kontrollen. Bei einigen Kindern, deren Mütter kurz vor dem Geburtstermin SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):716 –724 Aktualisierung der Behandlungsempfehlungen Diese Behandlungsempfehlungen werden in Abstimmung mit den WFSBP-Leitlinien sowie den Leitlinien S3 der DGPPN aktualisiert und auf der Website der SGAD (www.sgad.ch), und der SGPP (www.psychiatrie.ch) publiziert. Disclaimer Die SGPP entwickelt Behandlungs- und andere Empfehlungen zu wichtigen Fragen der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung, um ihren Mitgliedern bei ihren Bemühungen um Qualitätssicherung behilflich zu sein. Die Empfehlungen beruhen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren. Im Einzelfall können auch andere Behandlungsarten und -vorgehen zum Ziel führen. Die Empfehlungen der SGPP werden regelmässig auf ihre Gültigkeit überprüft und von der SGPP mit grösster Sorgfalt in der für die Mitglieder und allenfalls andere Interessierte geeigneten Form publiziert. Die Befolgung oder Nichtbefolgung dieser Empfehlungen hat für den Arzt oder die Ärztin weder haftungsbefreiende noch haftungsbegründende Wirkung. Disclosure statement Die Erstellung dieser schweizerischen Leitlinien der SGAD, SGBP und SGPP wurde von keiner kommerziellen Organisation finanziell unterstützt. Literatur Die vollständige nummerierte Literaturliste finden Sie als Anhang des Online-Artikels unter www.medicalforum.ch. LITERATUR / RÉFÉRENCES Online-Appendix Literatur 1. Holsboer-Trachsler E, Hättenschwiler J, Beck J, Brand S, Hemmeter U, Keck ME et al. Die somatische Behandlung der unipolaren depressiven Störungen 1. Teil. Behandlungsempfehlung der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD), der Schweizerischen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (SGBP), in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) und auf der Grundlage der Leitlinien der World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP 2008) sowie der S3-Leitlinie/Nationalen Versorgungsleitlinie „Unipolare Depression“ der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN 2009). Schweiz Med Forum. 2010;10(46):802-9. 2. Bauer M, Pfennig A, Severus E, Whybrow PC, Angst J, Möller H-J on behalf of the Task Force on Unipolar Depressive Disorders (u.a. Holsboer-Trachsler E). The World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP) Guidelines for Biological Treatment of Unipolar Depressive Disorders, Part 1: Update 2013 on the acute and continuation treatment of unipolar depressive disorders. World J Biol Psychiatry. 2013;14;334-85. 3. S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie „Unipolare Depression“ der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). 2. Auflage, Version 1, November 2015 (http://www.versorgungsleitlinien.de). 4. Holsboer-Trachsler E, Holsboer F. Antidepressiva (Kap. 53) in: Handbuch der Psychopharmakotherapie. Hrsg. Gründer G, Benkert O. Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York. 2. vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage 2012:589-628. 5. AHCPR (Agency for Health Care Policy and Research). Evidence Report on Treatment of Depression. Newer Pharmacotherapies. Washington, DC: San Antonio Evidence-Based Practice Center, 1999:No. 99-E014. 6. Peretti S, Judge R, Hindmarch I. Safety and tolerability considerations: tricyclic antidepressants vs. selective serotonin reuptake inhibitors. Acta Psychiatr Scand. 2000;403(Suppl 2000):17–25. 7. Beck AT, Ward CH, Mendelson M. An inventory for measuring depression. Arch Gen Psychiatry. 1961;4:561-71. 8. Breitenstein B, Scheuer S, Pfister H, Uhr M, Lucae S, SWISS MEDI CAL FO RUM Holsboer F, Ising M, Brückl TM: The clinical application of ABCB1 genotyping in antidepressant treatment: a pilot study. CNS Spectr. 2014 Apr;19(2);165-75. 9. Tranter R, O’Donovan C, Chandarana P, Kennedy S. Prevalence and outcome of partial remission in depression. J Psychiatry Neurosci. 2002;27:241–7. 10. Bauer M, Crossley NA, Gerber S, Bschor T. The acute antidepressive effects of lithium: from monotherapy to augmentation. In: Bauer M, Grof P, Müller-Oerlinghausen (eds.). Lithium in Neuropsychiatry – The Comprehensive Guide. Abingdon: Informa Healthcare. 2006:109–28. 11. Barbee JG, Conrad EJ, Jamhour NJ. The effectiveness of olanzapine, risperidone, quetiapine, and ziprasidone as augmentation agents in treatment-resistant major depressive disorder. J Clin Psychiatry. 2004;65:975-81. 12. Linde K, Mulrow CD, Berner M, Egger M. St John‘s wort for depression. Cochrane Database Syst Rev. 2005;2:CD000448. 13. Mead GE, Morley W, Campbell P, Greig CA, McMurdo M, Lawlor DA. Exercise for depression. Cochrane Database Syst Rev. 2009;3. Art. No.: CD004366. DOI: 10.1002/14651858.CD004366.pub4. 14. Berlim MT, van den Eynde F, Tovar-Perdomo S, Daskalakis ZJ. Response, remission and drop-out rates following highfrequency repetitive transcranial magnetic stimulation (rTMS) for treating major depression: a systematic review and meta-analysis of randomized, double-blind and shamcontrolled trials. Psychol Med. 2014;44(2):225-39. 15. Schlaepfer T, George MS & Mayberg H on behalf of the WFSBP Task Force on Brain Stimulation. WFSBP Guidelines on Brain Stimulation Treatments in Psychiatry. World J Biol Psychiatry 2010;11:2-18. 16. Martin JL & Martin-Sanchez E. Systematic review and meta-analysis of vagus nerve stimulation in the treatment of depression: variable results based on study designs. Eur Psychiatr. 2012;27(3):147-55. 17. Jindal RD, Thase ME. Integrating psychotherapy and pharmacotherapy to improve outcomes among patients with mood disorders. Psychiatr Serv. 2003;54:1484-90. 18. Kupfer DJ. Long-term treatment of depression. J Clin Psychiatry. 1991;52(Suppl):28-34. 725 FALLBERICHTE Ein diagnostischer «Leckerbissen» aus der Praxis Wenn doch alles «unter einen Hut zu bringen» ist Dr. med. Silvia Güntert a , Prof. Dr. med. Martin Brutsche b , Dr. med. Regulo Rodriguez c , Dr. med. Daniel Güntert a a Gemeinschaftspraxis, Wattwil; b Kantonsspital St. Gallen, Chefarzt Pneumologie; c Kantonsspital St. Gallen, Oberarzt mbF, Institut für Pathologie Fallbeschreibung leicht dolente linke Glandula parotis. Bronchoskopisch zeigten sich unspezifische, chronische bronchitische Die Zuweisung des Patienten erfolgte zur weiteren Veränderungen und eine linksseitige Stimmbandpa- Abklärung, als diverse Befunde wie Anämie, Thrombo- rese (Abb. 4). Die bronchoalveoläre Lavage wies eine zytose und Transaminasenerhöhung im klinischen leicht erhöhte Zellzahl auf mit mässig vermehrtem Kontext mit anhaltendem Nachtschweiss, vorüberge- Lymphozyten-Anteil bei normalem CD4/CD8-Quotien- hendem Gewichtsverlust und trockenem Husten nach ten sowie diskret vermehrten neutrophilen Granulo- einer antibiotisch behandelten Sinusitis und Otitis zyten – wiederum unspezifische Befunde, die mit einer media drei Monate zuvor nicht «unter einen Hut zu Tuberkulose gut vereinbar gewesen wären. Doch waren bringen» waren. sowohl der mikroskopische Direktnachweis als auch Es präsentierte sich initial ein 36-jähriger, febriler die PCR (polymerase chain reaction), später auch die (38°C) Patient deutsch-jemenitischer Abstammung in Kulturen negativ. In den transbronchial entnommenen gutem Allgemein- und Ernährungszustand. Bis auf Biopsien des Mittellappens waren schliesslich histolo- beidseits gerötete Augen war der übrige Status zunächst gisch wenige kleine, epitheloidzellige Granulome mit unauffällig. Das Labor zeigte eine leichte normochrome, Riesenzellen ohne Nekrosen erkennbar (Abb. 5). Die normozytäre Anämie, leichte Thrombozytose und dis- kardialen Untersuchungen (Ruhe- und 24-Stunden-EKG kret erhöhte GPT (Glutamat-Pyruvat-Transaminase); und Echokardiographie) waren unauffällig. das CRP und die Blutsenkungsreaktion waren normal. Somit erhärtete sich unsere Hypothese einer Sarkoi- Die ophthalmologische Untersuchung führte zur Dia- dose mit Multiorgan-Manifestation (Pneumonitis, gnose einer moderaten, beidseitigen vorderen Uveitis hiläre und mediastinale Lymphadenopathie, Uveitis, bei nachfolgend positivem HLA-B27-Antigen. Das Tho- Neuritis, Parotitis und möglicherweise auch Befall der rax-Röntgenbild zeigte neben einem retikulonodulären Leber). Die leichtgradige Anämie und Thrombozytose Infiltrat im rechten Mittelfeld eine beidseitige Hilusvergrösserung (Abb. 1). Im entsprechenden Thorax-CT bestätigten sich diffuse feinnoduläre, teils konfluierende Lungenparenchymverdichtungen in den Mittellappen- und basalen Unterlappensegmenten (Abb. 2) sowie diskret im apikalen linken Oberlappen bei deutlicher bihilärer und subcarinärer Lymphadenopathie (Abb. 3). Die lungenfunktionellen Befunde inklusive CO-Diffusion waren normal. Das erweiterte Labor ergab als Hauptbefunde einen mit 1768 ng/l (Norm: <477 ng/l) fast vierfach erhöhten löslichen Interleukin-2-Rezeptor (sIl-2) sowie ein mit 80,9 U/l (Norm: ≤70 U/l) leicht über der Norm liegendes ACE (Angiotensin-converting enzyme). Beide Befunde sind aber unspezifisch. Infektionsserologische Untersuchungen waren durchwegs negativ, das Kalzium im Serum und 24-Stunden-Urin war normal. Im weiteren Verlauf fielen eine leichte Heiserkeit, und bei der Racheninspektion ein herabhängendes linkes Gaumensegel mit positivem Kulissenphänomen bei subjektiv leichten SchluckstörunSilvia Güntert gen auf sowie eine deutlich vergrösserte, derbe und SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):725–728 Abbildung 1: Thorax-Röntgenbild. Feinnoduläre Lungenparenchymverdichtungen im rechten Mittelfeld, entsprechend dem lateralen Mittellappen (Pfeil). Diskrete Veränderungen auch im apikalen Oberlappen links. Beidseits deutlich polyzyklisch veränderte Hili. 726 FALLBERICHTE Abbildung 2: Computertomographie des Thorax. Feinnoduläre Lungenparenchymverdichtungen im lateralen Mittellappen und apikalen Unterlappen rechts (Pfeil). Weitere Veränderungen bestanden im apikalen Oberlappen links sowie im posterioren Oberlappen rechts. Abbildung 3: Computertomographie des Thorax. Pathologische, vergrösserte Lymphknoten subcarinär (Pfeil) und bihilär beurteilten wir als Ausdruck des chronischen Entzün- nologischen Pathogenese der Sarkoidose verständlich. dungszustandes. So stellen die nicht-verkäsenden Epitheloidzellgranulome als Charakteristikum der Sarkoidose wahrscheinlich das Endresultat einer übersteigerten Immunreak- Diskussion tion auf noch unbekannte endogene oder exogene Der Chronologie der Symptome unseres Patienten Trigger dar. Geht man beim Nachtschweiss von einer folgend, möchten wir das bunte Bild der Sarkoidose be- durch Zytokine ausgelösten thermoregulatorischen leuchten und unsere differentialdiagnostischen Über- Dysfunktion aus, so ist er bei der Sarkoidose aus darge- legungen diskutieren. legten Gründen durchaus nachvollziehbar. Allgemeinsymptome Uveitis anterior Der vordergründige Nachtschweiss war, zusammen Im Verlauf entwickelte unser Patient eine vordere mit dem trockenen Husten, Fieber und Gewichtsverlust, Uveitis im Sinne einer Iritis und Iridozyklitis mit dem primär suggestiv für einen chronischen Infekt oder dafür typischen Symptom einer Visusminderung. Eine einen malignen Prozess, vorab ein malignes Lymphom. tuberkulöse Uveitis konnte aufgrund des negativen Er- Fieber, Nachtschweiss und Gewichtsverlust stellen regernachweises ausgeschlossen werden. Mit dem Nach- aber auch bei der Sarkoidose bekannte Allgemeinsym- weis des HLA-B27-Antigens im Rahmen des Uveitis- ptome dar und sind vor dem Hintergrund der immu- Screenings erwies sich unser Patient als Träger eines genetischen Risikofaktors für eine anteriore Uveitis. Die Prävalenz des HLA-B27 in der Allgemeinbevölkerung Mitteleuropas beträgt etwa 8% und im eurasischen Raum 2–15%. In diesem Sinne scheint unser Patient HLA-B27-Merkmalsträger zu sein, ohne unter einer damit assoziierten Erkrankung zu leiden. Denn zusammen mit den erwähnten Befunden schien uns eine Sarkoidose mit anteriorer Uveitis als deren häufigste okuläre Manifestation wahrscheinlicher. Heerfordt-Syndrom Eine uni- oder bilaterale Parotisschwellung, die bei lediglich 6–8% der Sarkoidosepatienten auftritt, definiert zusammen mit einer Uveitis und Fieber sowie faAbbildung 4: Stimmbandparese links (Pfeil), Aufnahme bei Inspiration. Das linke Stimmband wird bei der Inspiration nicht geöffnet und verbleibt in Ruhestellung. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):725–728 kultativer Fazialisparese das nach dem gleichnamigen dänischen Ophthalmologen Christian Frederick Heerfordt (1871–1953) benannte Heerfordt-Syndrom. Es ist 727 FALLBERICHTE Neurosarkoidose Das zentrale Nervensystem ist bei 5–15% der Sarkoidosepatienten befallen. Dabei kann jeder Abschnitt des zentralen Nervensystems betroffen sein und mannigfaltigste Symptome hervorrufen. Auch hier sollte deshalb die Sarkoidose als Differentialdiagnose stets gegenwärtig sein. Am häufigsten involviert sind die Hirnnerven, in erster Linie der Nervus facialis, der Hypothalamus und die Hypophyse [1]. Es können aber auch periphere Nerven betroffen sein mit Manifestation einer sensorischen oder motorischen Neuropathie. Bei unserem Patienten musste angesichts der linksseitigen Stimmband- und Gaumensegelparese sowie den Schluckstörungen eine in der Literatur an Einzelfällen beschriebene sarkoide Neuritis des Nervus laryngeus recurrens und des Nervus glossopharyngeus oder des Abbildung 5: Transbronchiale Lungenparenchym-Biopsie mit kleinem Granulom (Pfeile) mit Epitheloidzellen, Riesenzellen und wenigen perifokalen Lymphozyten ohne Nekrosen. hoch suspekt für eine Sarkoidose [1] und gehörte auch bei unserem Patienten zur Vielfalt seiner Sarkoidosemanifestationen. Nervus vagus vermutet werden. Isolierte Läsionen dieser zwei Hirnnerven sind aufgrund deren engen topographischen Beziehung selten. Linksseitige sarkoide Recurrens-Paresen werden aufgrund der unmittelbaren Nähe dieses Nerven zu aortopulmonalen Lymphknoten auch kompressionsbedingt durch eine ausgeprägte Pulmonale Beteiligung der Sarkoidose Die Lungen sind bei der Sarkoidose neben den hilären und mediastinalen Lymphknoten am häufigsten betroffen. Klinische Symptome beinhalten Dyspnoe, Husten, «Pfeifen» und unspezifische Thoraxbeschwerden. Sie sind Folge von vielgestaltigen, möglichen Lungenveränderungen, die von diffusen, fein- oder grobnodulären Lungenparenchymverdichtungen über konfluierende Infiltrationen bis hin zu selteneren Manifestationen wie Pleuraergüssen aber auch Atelektasen und Kavernen reichen [2]. Die radiologischen Thoraxveränderungen werden nach Siltzbach und Scadding in fünf Stadien eingeteilt (Tab. 1). Tabelle 1: Radiologische Thoraxveränderungen bei Sarkoidose nach Siltzbach und Scadding. paratracheale oder aortopulmonale Lymphadenopathie, oder aber durch eine Mediastinitis beschrieben [3]. Bei unserem Patienten bestanden lediglich kleine Lymphknoten im aortopulmonalen Segment. Störung des Kalziumstoffwechsels Während eine Hyperkalzurie, die bei jeder Sarkoidose mittels Kalziumbestimmung im 24-Stunden-Urin systematisch gesucht werden sollte, bei ca. 40% der Sarkoidosepatienten nachgewiesen werden kann, findet sich eine Hyperkalzämie bei lediglich ca. 11%. Ursache des gestörten Kalziummetabolismus bei der Sarkoidose ist eine unkontrollierte Bildung von 1,25(OH2)-Vitamin D3 in den Makrophagen der Granulome. Dabei konnte gezeigt werden, dass über 1,25(OH2)D3 wahrscheinlich eine Hemmung von INF-γ und IL-2 und damit eine vom Organismus versuchte Kontrolle der Granulombildung Stadium 0 Normalbefund Stadium I Bilaterale hiläre Lymphadenopathie ohne Lungenparenchymbeteiligung Stadium II Bilaterale hiläre Lymphadenopathie mit Lungenparenchymbeteiligung Stadium III Alleinige Lungenparenchymbeteiligung Kardiale Manifestation Stadium IV Pulmonale Fibrose Die autoptisch belegte kardiale Mitbeteiligung in bis stattfindet [4]. Nephrolithiasis, Nephrokalzinose und Niereninsuffizienz können mögliche Komplikationen der Hyperkalzurie sein. zu 30% der Fälle ist nur bei einem kleinen Teil auch kliLungenfunktionelle Ventilationsstörungen können res- nisch manifest. Rhythmusstörungen, vorzugsweise triktiver aber auch obstruktiver Art und mit bronchia- blockierende Arrhythmien, aber auch Vorhofflimmern ler Hyperreagibilität assoziiert sein. Eine pulmonal ar- und ventrikuläre Tachykardien sowie die dilatative terielle Hypertonie als relativ häufige Spätkomplikation Kardiomyopathie sind zwar charakteristisch, aber un- der Sarkoidose, und gewöhnlich Folge einer Lungenfib- spezifisch. Angesichts der zudem limitierten Sensitivi- rose, verschlechtert die Prognose massgebend. tät und Spezifität diagnostischer Modalitäten ist der SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):725–728 728 FALLBERICHTE Korrespondenz: Beweis einer kardialen Sarkoidose deswegen schwierig. Fazit Dres. med. S. und D. Güntert Zum Basisscreening gehören die Anamnese, ein 12-Ka- Bahnhofstrasse 4 nal-, 24-Stunden-Holter-EKG und eine Echokardio- Unser Patient hat gezeigt, dass die Sarkoidose eine Sys- graphie. Diese sind zusammen hoch sensitiv für das temerkrankung mit vielfältigen klinischen Erschei- Erfassen einer kardialen Beteiligung. Bei abnormen nungsbildern ist. Ihre zudem variable Krankheitsakti- Befunden sollte mittels kardialer Kernspintomographie vität macht diese Krankheit zu einer anspruchsvollen (CMR) oder PET-CT weiter abgeklärt werden. Während Diagnose. Unser Fall zeigt, dass sie bei ätiologisch die CMR eine Sensitivität von bis zu 100% bei einer Spe- unklarer ophthalmologischer, kardiologischer, pneu- zifität von 78% [5] aufweist, wird die Sensitivität für das mologischer und neurologischer Symptomatik immer PET-CT auf 89% und die Spezifität auf 78% [6] geschätzt. als Differentialdiagnose erwogen werden sollte. Die Die normalerweise rechts-ventrikulär entnommene deutsch-jemenitische Herkunft unseres Patienten warf endomyokardiale Biopsie weist wegen des fokalen kar- zudem die Frage der Bedeutung des ethnischen Hinter- dialen Befalls der Sarkoidose mit bevorzugter Lokalisa- grundes bei den differentialdiagnostischen Überle- tion der Granulome im linken Ventrikel und basalen gungen auf. Gerade bei der Sarkoidose sind ethnische ventrikulären Septum eine diagnostische Ausbeute Unterschiede mit höherer Inzidenz und schwerer Aus- von unter 20% auf [7]. prägung der Symptome bei Afroamerikanern hinläng- CH-9630 Wattwil silvia.guentert[at]hin.ch lich bekannt. Im Jemen ist eine – zwar kleine – Bevöl- Therapie und Verlauf kerungsgruppe afrikanischer Herkunft. Schliesslich Viele Patienten mit Sarkoidose sind durch die Erkran- kommt am Beispiel der Sarkoidose sehr schön die Be- kung nicht beeinträchtigt. Der Nutzen einer medika- deutung der interdisziplinären Zusammenarbeit im mentösen Therapie, meist Kortikosteroide, sollte des- medizinischen Schaffen zum Ausdruck. Und nicht zu- wegen gut gegen mögliche Nebenwirkungen abgewogen letzt zeigt dieser Fall, wie spannend der Alltag eines werden, zumal es bei der unbehandelten akuten Sarko- niedergelassenen Arztes in der Praxis sein kann! idose mit selbstlimitiertem Verlauf Hinweise auf eine bessere Langzeitprognose gibt. Subjektive Beschwerden oder Funktionseinschränkungen betroffener Organe erfordern eine Behandlung. Indikation zur Behandlung unseres Patienten war in erster Linie der neurologische Befall aber auch die ausgeprägte subjektive Beeinträchtigung durch den Nachtschweiss. Entsprechend den Sarkoidose-Richtlinien Informed consent Die Publikation erfolgt im Einverständnis des Patienten. Danksagung Die Autoren danken Frau Prof. Dr. med. P. Otto, Leitende Ärztin, Rheumatologie, Kantonsspital St. Gallen, für ihre initiale Unterstützung und dem Radiologischen Institut, Kantonsspital St. Gallen, für das Bildmaterial. haben wir bei unserem Patienten eine systemische Ste- Disclosure statement roidbehandlung mit 50 mg Prednison pro Tag begon- Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. nen. Bei bisher promptem Ansprechen sämtlicher Symptome bleibt der weitere Verlauf noch abzuwarten. Die Uveitis hatte sich bereits auf die lokale ophthalmologische Behandlung deutlich regredient gezeigt. Literatur 1 2 3 Das Wichtigste für die Praxis • Die Sarkoidose ist eine Erkrankung mit vielfältigen klinischen Erscheinungsbildern. • Allgemeinsymptome wie Fieber, Nachtschweiss und Gewichtsverlust stellen auch bei der Sarkoidose bekannte Symptome dar. 4 5 6 • Gerade bei unterschiedlichen Symptomen und verschiedenen Organmanifestationen sollte die Sarkoidose als Differentialdiagnose stets gegenwärtig sein. • Das Ziel, alle Symptome «unter einen Hut bringen» zu wollen, sollte bei den differentialdiagnostischen Überlegungen stets Leitplanke sein. Ausnahmen bestätigen diese Regel. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(35):725–728 7 8 Hoitsma E, Faber CG, Drent M, Sharma OmP. Neurosarcoidosis: a clinical dilemma. Lancet Neurol. 2004;3:397–407. Müller NL, Fraser RS, Colman N, Paré PD. Radiologic Diagnosis of Diseases of the Chest. 2001;320–8. Tobias JK, Santiago SM, Williams AJ. Sarcoidosis as a cause of left recurrent laryngeal nerve palsy. Arch Otolaryngol Head Neck Surg. 1990;116(8):971–2. Ackermann D. Die Hyperkalzämie im Verlauf der Sarkoidose – Fallbeispiel, Prävalenz, Pathophysiologie und Therapiemöglichkeiten. Therapeutische Umschau. 2007;64(5):281–6. Doughan AR, Williams BR. Cardiac sarcoidosis. Heart. 2006;92:282–8. Evanchan JP, Crouser ED, Kalbfleisch SJ. Cardiac sarcoidosis: Recent Advances in Diagnosis and Treatment and an Argument for the Need for a Systematic Multidsciplinary Approach to Management. The Journal of Innovations in Cardiac Rhythm Management. 2013;4:1160–74 Iannuzzi MC, Rybicki BA, Teirstein AS: Sarcoidosis. N Engl J Med. 2007;357:2153–65. Finger R, Rodriguez R, Schönegg R, Kluckert T, Brutsche M. Sarkoidose: ein klinisch orientierter Ueberblick. Schweiz Med Forum. 2013;13(13–14):265–70.