Reise in das „Dahinter“ Der Ballettdirektor spricht über sein neues Tanzstück „Latent“ Goyo Montero kreiert sein erstes Sinfonisches Ballett zur „Symphonie fantastique“ von Hector Berlioz und zur Musik des Klangkünstlers Owen Belton. Mit der Arbeit an dem abstrakten Ballett betritt er künstlerisches Neuland und stellt sich einer Herausforderung, die im Ergebnis ohne Zweifel die unverwechselbare Handschrift des Choreographen tragen wird. Du erarbeitest Dein erstes sinfonisches Ballett – war Dir sofort klar, dass es zur Musik von Berlioz‘ „Symphonie fantastique“ sein wird? Goyo Montero: Eines der ersten Stücke, das ich damals als Tänzer getanzt habe, war Uwe Scholz‘ „Symphonie fantastique“ – ein Meisterstück! Uwe Scholz hat damals durchaus die autobiographischen Bezüge von Berlioz interpretiert, also diese Liebesgeschichte zwischen dem Komponisten und Harriet Smithson, der Shakespeare-Schauspielerin, die er wie besessen angebetet hat. – Und seitdem lebe ich mit dieser Musik und dem Gedanken, dazu etwas zu choreographieren. Allerdings war mir klar, dass diese Musik, die so reich, so groß, so voller Farben ist, viel Kraft von mir fordern würde, sie in Tanz umzusetzen. Über den Weg der Dramaturgie von Berlioz selbst – also seiner Obsession für diese Schauspielerin und die Motive wie Rausch und Wahnsinn – habe ich eine Idee für mich weiter entwickelt, die sich mit der menschlichen Psyche bzw. mit Phasen mentalen und psychischen Ungleichgewichts beschäftigt. Die Frage nach der mentalen Gesundheit hat mich interessiert: Solange man in der Gesellschaft funktioniert, gilt man als gesund im Kopf; wenn man nicht mehr funktioniert, wird man auch nicht mehr als gesund eingestuft. Aber aus Verrücktheit und Wahnsinn entspringt auch eine gewisse Kreativität. Ich habe dann zunächst sehr viel über Psychologie gelesen, Bücher über psychische Phänomene wie Paranoia, Schizophrenie, bipolare Persönlichkeitsstörungen etc. Oliver Sacks‘ Buch über Menschen mit Halluzinationen und auch Christine Lavants Bericht über den Aufenthalt in einer Psychiatrie sowie Werke von Louis-Ferdinand Céline, Richard Yates und insbesondere die Abhandlung von Darian Leader über den Wahnsinn waren für mich sehr aufschlussreich. Aber diese Themen sind so komplex … Wie sollte ich das alles für meinen roten Faden im Tanzstück bündeln? 5 Ballett : Latent Du konntest dann einen Kontakt zu Prof. Dr. Günter Niklewski, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Nürnberg, knüpfen. Wie war diese Begegnung? G. M.: Dieser Kontakt war entscheidend für meine Ideen. Ich durfte ihn in der Klinik besuchen und bei seinen Patientengesprächen dabei sein. Das war in der kreativen Phase ein total wichtiger Baustein für meine Arbeit. Die Frage, die mich natürlich am meisten beschäftigt hat, war: Wie beeinflusst die psychische Krankheit die Bewegung? Ich war auf der Suche nach Impulsen für eine neue Bewegungssprache und wollte nicht einfach einen „Archetyp“ auf der Bühne zeigen, so, wie man sich klischeehaft vielleicht einen psychisch instabilen Menschen vorstellen mag. Ich durfte dann bei einer Tanztherapie-Gruppe als Gast zusehen. Da habe ich Menschen gesehen, die große Probleme haben und total verschlossen sind. Nur für den Moment in der Tanztherapie sind sie kurzzeitig aufgewacht, haben sich ein kleines bisschen öffnen können – aber sind sofort danach wieder in sich zusammen gesunken und versteinert. Du sprichst von einem roten Faden – gibt es also doch eine Handlung und „Rollen“? G. M.: Es gibt vielmehr so etwas wie Ideen oder Leitmotive. Es gibt zum Beispiel – entsprechend der Programmmusik von Hector Berlioz – eine personifizierte „Idée fixe“. Bei Berlioz ist das die Geliebte als musikalisches Motiv, das immer wiederkehrt. Im Tanzstück wird es eher so sein, dass diese „Idée fixe“ immer wieder als Figur erscheint. Wir erleben die vorgestellten Bilder oder „Visionen“ gleichsam durch die Augen eines Mediums, einer Art Mittlerfigur. An dieser Stelle muss ich etwas zu den Kostümen sagen: „Der Mann“ – nennen wir diese eine Rolle für den Moment so – wird durch sein 6 Kostüm gekennzeichnet sein: Er wird einen dunkelblauen Anzug tragen und sich damit von der Menge abheben. Die anderen Tänzer changieren – mal fungieren sie als „Energiequelle“, mal sind sie wie Doppelgänger des Mannes – einerseits gekennzeichnet durch Kostüme mit Motiven des Rorschach-Tests* und andererseits durch ebensolche dunkelblauen Anzüge wie „der Mann“. Hier lasse ich bewusst die Perspektive für den Zuschauer verschwimmen – so, als sähe er alles durch den Kopf des Mannes. Zum Thema Schizophrenie bzw. auch Autoskopie habe ich auch gelesen, dass der Patient sich selbst in jemand anderem sieht. Genauer handelt es sich um verschiedene Phänomene des „Sich-selbstSehens“. Es ist wie eine außerkörperliche Erfahrung oder aber ein Doppelgänger-Erlebnis: Er sieht jemanden, der aussieht wie er selbst, der sich bewegt wie er selbst. Irgendwann fängt dieses Gegenüber an, bedrohlich zu sein. Dieses Phänomen greife ich auch für das Stück auf: Die Doppelgänger werden immer mehr werden und nicht mehr auseinander zu halten sein … Wir wissen am Ende nicht, ob alle nur gespielt und sich als Doppelgänger inszeniert haben – oder ob dieser eine Mensch alles in einer Psychose erlebt hat. Latent Die Bühne … G. M.: … ist im Wesentlichen aus zwei einfachen, zentralen Elementen gestaltet: einem großen Raum und einem Vorhang. Wir wollen mit diesen an sich reduzierten Mitteln nichts Geringeres, als die Perspektiven klassischer Bühnenräume zu verändern. In diesem Stück soll das „Dahinter“, das üblicherweise „Unsichtbare“ auch räumlich zum Vorschein kommen. Eine besondere Herausforderung – ich hoffe, dass es uns gelingt. Die Räume werden nach und nach für die Hauptfigur zusammenbrechen bzw. immer mühsamer zu erreichen sein. Es wird immer schwerer, die erlebte Traumwelt zu verlassen. Wie wird diesmal die sinfonische, live gespielte Orchestermusik mit der elektronischen Komposition von Owen Belton kombiniert, ähnlich wie bei „Cyrano“? G. M.: Owens Musik könnte für die Realität stehen, er führt quasi musikalisch immer wieder aus der Welt des Wahnsinns heraus. Diesmal wirkt die Musik von Owen nicht wie bei „Cyrano“ als klangliche Brücke, vielmehr sind es eigene, in sich geschlossene Stücke. Es gibt insgesamt neun Sequenzen über das gesamte Stück, fünf von Berlioz und vier von Owen Belton. Wir gehen dabei nicht immer gleich vor, z.B. werden der dritte und vierte Satz von Berlioz nacheinander, also ohne Zwischenmusik gespielt. Owens Komposition kommt größtenteils vom Tonband. Aber der letzte Satz von Owen, den wir ganz : Ballett ans Ende setzen, wird vom Orchester live gespielt. Hier überschneiden sich also auch musikalisch die beiden Welten – eine Komposition von Owen, aber gespielt vom Orchester, welches vorher mit Berlioz‘ Musik der Traumwelt zugeschrieben war. Auf diese Weise begegnen sich die beiden Welten: „Realität“ und „Vision“ treffen aufeinander und vereinen sich. Für diese Arbeit ist der Austausch mit dem Dirigenten unerlässlich. Welche Absprachen finden in der Vorbereitung und später in den Proben mit Gábor Káli statt? G.M.: Ich habe mich mit Gábor bereits letzte Spielzeit getroffen, um die Berlioz-Sinfonie in Ruhe durchzusprechen. Wichtig ist, eine gute Aufnahme zu finden, die wir in den Proben dann verwenden können, denn das Live-Orchester kommt ja erst am Ende der Probenzeit dazu. Das wäre schlimm, wenn dann ganz unterschiedliche Tempi, Dynamiken und Phrasierungen gestaltet werden, die wir gar nicht auf der Aufnahme hatten. Ich brauche wirklich den Klang und die Farben, die wir nachher auch aus dem Orchestergraben hören. Wichtig war für mich auch eine Erkenntnis aus der Partitur, nämlich dass es immer einen Dialog zwischen den Instrumenten-Gruppen gibt, so z. B. zwischen Englischhorn und Oboe oder von Streichern und Schlagzeug. Auf der Bühne gibt es dann entsprechend den szenischen Dialog zwischen den beiden Welten – Vision und Wirklichkeit. Das Gespräch führte Sonja Westerbeck. * Der Rorschach-Test ist ein diagnostisches Verfahren aus der Psychoanalyse, welches das Unterbewusstsein von Patienten erforscht. Bei der nach dem schweizerischen Psychiater Hermann Rorschach (1884-1922) benannten Methode handelt es sich um einen projektiven Persönlichkeitstest zur Messung von Intelligenz, mitmenschlicher Einstellungen, Stimmung und Affektivität. Das Verfahren beruht auf der Formdeutung von Tintenklecksbildern. 7