Hector Berlioz - Schulmusik online

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Hartmut Flechsig
Hector Berlioz:
Aspekte seines Lebens
I
Eine CD mit einer interessanten Musik möchte ich mir kaufen – für mich oder auch
für jemand anderes – und betrete meinen „Schallplattenmarkt“ (der immer noch so
heißt). Wonach suche ich eigentlich, woran orientiere ich mich? Da gibt es auf
Extraständern verbilligte Sonderangebote. Andere Angebote nehmen Bezug auf
Konzerte, die gerade stattgefunden haben, oder auf Jahrestage, die an Komponisten
oder auch Dirigenten erinnern; die meisten CD’s aber sind schlicht alphabetisch
geordnet, das ist am übersichtlichsten. Alle diese Anordnungen helfen mir beim
Aussuchen eigentlich nicht. Ich muss schon selber und im voraus wissen, was ich
möchte, was sich als Geschenk eignen oder was mir ganz persönlich zusagen
könnte.
Alle Ständer sind mir gleich gut
zugänglich. Es liegt an mir, bei
welchem ich verweile.
Das bin ich
Kein Händler käme auf den Gedanken, die angebotene Musik nach der
Entstehungszeit zu ordnen. Wer wüsste denn auch auf Anhieb, ob Wagner jünger
oder älter ist als Liszt oder welchen linken und welchen rechten Nachbarn Hector
Berlioz im Regal hätte?
„Von den wenigen Spezialisten, die das wissen, könnte ich ohnehin nicht leben!“
würde der Kritiker einwerfen. „Die ganze Anordnung wäre ja doch völlig unsinnig!
Musik und ihre Geschichte, das ist doch nicht eine Abfolge von Ereignissen, sondern
eher ein imaginäres Museum. Die unterschiedlichsten Dinge sind – nach dem
neuesten Stand der Technik – konserviert und warten nun darauf, dass jemand sich
ihnen zuwendet, sie erwirbt und zu neuem Leben erweckt. Bei der Auswahl dessen,
was einem zusagt, möchte sich niemand gern dreinreden lassen.“
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Da hat der Händler recht. Wir alle als die Teilhaber am „postmodernen“ Denken
betrachten Geschichte als wohlgeordnetes Repertoire, als Angebot an Möglichkeiten,
die grundsätzlich, von uns aus gesehen, alle gleich weit entfernt sind, und das nicht
nur im Schallplattenmarkt. Ob sie uns näher rücken oder nicht, liegt allein an uns,
und das betrifft Shakespeare ebenso wie Goethe; Christoph Willibald Gluck hatte ein
große Bedeutung für Berlioz’ Musikauffassung, und doch sind beide, davon ganz
unabhängig, uns Heutigen gleichermaßen fern oder nah.
Nun ist der Blickwinkel, unter dem der postmoderne Liebhaber sog. klassischer
Musik die Geschichte betrachtet, durchaus nicht alternativlos. Der jugendliche
Popmusikhörer würde das Verhältnis zwischen seiner eigenen, leibhaftigen
Gegenwart und der näheren oder ferneren Vergangenheit ganz anders darstellen:
So vielleicht:
Musikproduktion und Hörereinstellung sieht
er als beständige Entwicklung, hin zum
Aktuellen, in welchem er selbst sich aufhält,
solange, bis es seinerseits von neuer
Aktualität überboten sein wird.
Nun aber eine überraschende Einsicht:
Geschichte als eine stetige Aufwärtsentwicklung; im Gegenwort als Höhepunkt, in
dessen Licht alles Frühere zur bloßen Vorstufe herabsinkt; die (heute aberwitzig
anmutende) Meinung, menschliches Handeln sei als ununterbrochener Fortschritt zu
begreifen, diese Sichtweise beanspruchte in Berlioz’ Lebenszeit (und darüber
hinaus) unangefochtene Gültigkeit – zumindest in jenen Kreisen, die sich der
„Avantgarde“ zugehörig wussten; Schriftsteller, Maler, Musiker, Zeitungsleute,
Kunstsammler,
Konzertbesucher,
die
sich
3
untereinander
kannten
und
ihre
Zugehörigkeit im Gespräch bestätigten. Berlioz sprach von ihnen, durchaus
hochmütig, als dem „wahren Publikum“.
Ferdinand von Hiller, scharfsinniger Beobachter des Musiklebens in Leipzig,
Dresden, Köln, zuvor: 1828-35 in Paris, schrieb jedoch: „Hector Berlioz gehört nicht
in unser musikalisches Sonnensystem – er gehört nicht zu den Planeten, weder zu
den großen noch zu kleinen. Ein Komet war er, - weithin leuchtend, etwas unheimlich
anzuschauen, bald wieder verschwindend; - seine Erscheinung wird aber
unvergessen bleiben.“
(zitiert nach: W. Dömling, Hector Berlioz in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten,
Reinbek bei Hamburg 1977, S. 141)
II
Die meisten Komponisten beginnen ihre Arbeit mit einem Entwurf: In jeder
Notenzeile sind mehrere Orchester – oder Singstimmen zusammengezogen, hier z.
B. von Richard Wagner zum mehrstimmigen, orchesterbegleiteten Gesang der
Blumenmädchen aus „Parsifal“.
Notenbeispiel Parsifal
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Man kann den Entwurf gut am Klavier überprüfen und verbessern. Danach erst
werden die Stimmen auf die verschiedenen Instrumente mit ihren charakteristischen
Klangfarben verteilt.
Hectors Vater, ein angesehener Arzt, ermöglichte seinem Sohn Unterricht auf der
Gitarre und der Flöte, nicht am Klavier: Das hätte ihn vielleicht zu stark fasziniert und
zu sehr von einem „ordentlichen“ Beruf abgelenkt. (Viele Väter dachten damals so.)
Hector Berlioz komponierte auch später nicht vom Klavier aus und fertigte auch keine
Klavierskizzen an. Er ging sogleich mit den Klängen und Klangfarben des ganzen
Orchesters um; das, was andere Komponisten Instrumentation nannten, war für ihn
deshalb die eigentliche Arbeit, auch noch aus einem anderen Grund: Musik solle
nicht glatt und gefällig klingen, ausbalanciert zwischen den Instrumenten und
Instrumentengruppen, sie habe vielmehr Gefühle und Leidenschaften auszudrücken
– kontrastreich, farbig, durchaus mit plötzlichen Wendungen und heftigen
Aisbrüchen.
Berlioz’ Absicht, Instrumentation in den Dienst des Ausdrucks zu stellen, rechtfertigt
den
Versuch,
umgekehrt,
den
Verlauf
der
Gefühlsregungen
in
einer
Klangfarbenpartitur darzustellen: möglichst nicht gegenständlich, sondern intuitiv, mit
sichtbaren Farben. Der Lehrer mag entscheiden, ob und wann er dazu die der
Komposition beigefügten Texte heranzieht und verwendet.
Zeichne den Verlauf des III. Satzes der Symphonie fantastique beim Hören nach!
Versuche zu zeigen, wie sich die Klangfarbe ändert und an welcher Stelle dies
geschieht! (nach wieviel Minuten und Sekunden?)
Hirtenweise; ein 2. Hirte
antwortet aus dem
Hintergrund heraus.
Hirtenweise; der
andere Hirte antwortet nicht mehr.
ideé fixe
5
Über den III. Satz „Szene auf dem Lande“ der Symphonie fantastique schrieb
Berlioz:
Als er
Wer? Berlioz selbst?
sich eines Tages auf dem Land
oder ein anderer, ähnlich
befindet, hört er
empfindender Künstler?
zwei Hirten spielen.
Liebesgedanken
und
durch
nicht nur der Text fordert
Hoffnung, verdüstert
geradezu Vergleiche mit Beet-
dunkle Vorahnungen
hovens VI. Symphonie heraus?
(1830)
Oboe I derrière la scène,
hinter der Bühne; nicht nur in der
Instrumentation
(z.
B.
durch
den
Einsatz der Harfen), auch mit solchen,
Raum suggerierenden Effekten nimmt
die Symphonie Elemente der Oper auf.
Aus dem Text des „Programmes“ in der Partitur von 1845/46:
Das Duo der beiden Hirten, das leise Rauschen der sanft vom Wind bewegten
Bäume – all dies bringt seinem Herzen einen ungewohnten Frieden und verleiht
seinen Gedanken eine heitere Färbung. Er sinnt über seine Einsamkeit nach: er
hofft, bald nicht mehr allein zu sein.
Doch wenn sie ihn täuschte!
Fernes Donnergrollen ... Einsamkeit ... Stille ...
Aus dem Text des „Programmes“ in der Partitur von 1855 (und später):
... Da erscheint sie auf’s Neue;
sein Herz stockt,
Ist sie’s wirklich? Oder
schmerzliche Ahnungen
taucht lediglich ihr Bild aus
steigen in ihm auf:
seiner Erinnerung auf?
Wenn sie ihn hinterginge!
vgl. dazu die folgende
Darstellung zur idée fixe!
6
idée fixe:
Damit ist in der Pathologie eine Zwangsvorstellung gemeint. Berlioz übernahm die
Bezeichnung und meinte mit ihr einen Gedanken, der ihn vollständig beherrschte,
von dem er sich durch nichts abbringen ließ, obwohl die Vorstellung mit der
Wirklichkeit überhaupt nicht übereinstimmte: Berlioz bewunderte Harriet Smithson,
die mit einer englischen Theatergruppe auftrat und das Publikum für Shakespeare
begeisterte (dessen Dramen bis dahin in Frankreich nahezu unbekannt waren).
Berlioz war ihr in „infernalischer Leidenschaft“ verfallen, versuchte, sie auf sich
aufmerksam zu machen,
wollte ihr gegenüber als
geachteter
Komponist
gelten, der seine eigene
Befindlichkeit darzustellen
vermag, nur: Sie ahnte
davon
nichts.
Die
Sehnsucht trieb ihn weiter
an, bis es ihm tatsächlich
gelang, ihr vorgestellt zu
werden. Er heiratete sie –
und
durchlebte
eine
unglückliche Ehe, in der die
gegenseitige
Zuneigung
bald erloschen war.
Harriet Smithson als Ophelia, aus: Dömling, S. 51
Dass eine charakteristische Melodie an eine Person erinnert, die momentan gar nicht
sichtbar ist, das ist eine in der Oper wohlvertraute Technik. Berlioz überträgt auch sie
auf die Sinfonie: Immer wieder in den verschiedenen Sätzen erinnert eine Melodie –
nicht an die ohne ihr Wissen verehrte Schauspielerin, sondern an das Bild, das der
unglücklich Verliebte sich von ihr macht. Während er, in der Realität und in der
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Phantasie, verschiedene Situationen durchlebt, stellt diese „double idée fixe“1, hörbar
und im Traum sichtbar, zwischen ihnen und ihm selbst immer wieder neue
Zusammenhänge her.
Als melodische Gestalt wandelt sie sich jedes Mal, doch kann man sie jederzeit
wiedererkennen.
Im III. Teil der Symphonie hat sie folgende Gestalt:
1
aus dem Programmtext der Partitur (1. Auflage, 1845/46):
„Infolge einer eigentümlichen Bizarrerie erscheint dem Künstler das geliebte Bild stets nur in
Verbindung mit einem musikalischen Gedanken, in dem er einen gewissen leidenschaftlichen, aber
noblen und schüchternen Ausdruck findet, wie er ihn dem geliebten Wesen zuschreibt. Dieses
musikalische Abbild und sein Modell verfolgen ihn ununterbrochen wie eine doppelte fixe Idee. Dies ist
der Grund, warum das Anfangsthema des ersten Allegro in allen Sätzen der Symphonie beständig
wieder auftaucht.“
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III
Vom wohlausgestatteten Elternhaus war bereits die Rede gewesen, betrachten wir
es nun einmal als Umrissgestalt eines Bürgertums, das sich anschickt, nunmehr
auch dem neu etablierten Adel dessen Privilegien streitig zu machen. Das Bürgertum
hat sich eine Position selbst erarbeitet (nicht, wie der Adel, ererbt), und auch die
erworbenen Bildungsgüter betrachtet es als ein Kapital: Sie gewährleisten, dass man
sich seiner selbst vergewissern und mit seinesgleichen sich verständigen kann.
Stoffe, die einen – in Frankreich – damals geläufig zu sein hatten und mit denen
auch Berlioz sich beschäftigte, waren Orpheus, Doktor Faust, Aeneas (in Vergils
Epos), Kleopatra; vom soeben wiederentdeckten Shakespeare: King Lear, Hamlet
(Berlioz verliebte sich in die Darstellerin der Ophelia), Der Sturm, Romeo und Julia.
Die Vertrautheit mit diesen Stoffen eröffnet auch für die Musik und ihr bürgerliches
Publikum neue Möglichkeiten: Musik wird nicht mehr (möglichst unauffällig) durch
Konstruktion zusammengehalten, sondern durch innewohnende Bedeutungen. Aber
wie soll das geschehen? Kann denn eine Symphonie auf eine literarische Gestalt
verweisen, ohne deren Geschichte zu erzählen? Und das in einer „Sprache“, der
jede Eindeutigkeit in Wortwahl und Syntax abgeht? Bei der jeder dasjenige
heraushören wird, das seiner eigenen Lebenserfahrung am besten entspricht? Die
Schwierigkeit nimmt zu, wenn der Komponist
die
Vorlagen
benutzt,
um
autobiographische Erfahrungen in ihnen abzuspiegeln oder assoziativ zu reihen. Hier
bereits liegt es nahe, das Herstellen von Bedeutungszusammenhängen durch
beigefügte Texte (durch ein „Programm“) behutsam zu steuern. Erst recht mag dies
angemessen erscheinen, wenn auf ein literarisches Leitbild ganz verzichtet wird und
ein
27jähriger,
wohl
etwas
überschwänglicher,
bisher
eher
als
Dirigent
hervorgetretener Musiker auf seine nur ihm eigene Lebens- und Phantasiewelt
verweist –
–
als jemand, der im Träumen den Sinn für die Wirklichkeit verliert, bis hin zur
Entfremdung von der realen Gesellschaft;
–
den niemand verstehen kann, nicht einmal jemand, dem er innig zugetan ist;
–
in
einer
Einsamkeit,
die
sich
gleichgültig
zeigt
gegenüber
dem
unausgesprochenen Vorwurf, ungestüm, sprunghaft, launisch zu sein, in der
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Übersteigerung eigenen Empfindens den Anspruch anderer nicht mehr
wahrnehmen zu können.
Im Vergleich hierzu bezeichnet man heute ganz andere Erfahrungen als
„romantisch“. Es lohnt sich, sie als Kontrast in einem Wortfeld zusammenzustellen.
unbeschwert,
unalltäglich
in
gelöster Atmosphäre
in angenehmer Umgebung
(Blumenwiese, Kuschelmusik)
stimmungsvoll (Kerzenlicht)
IV
Musik enthält Bedeutungen und wird durch sie zusammengehalten. Was die Musik
dabei mitteilt, ist nicht eindeutig, aber eindringlich, bedeutsam. Sollte sie es dann bei
der Übermittlung persönlicher Befindlichkeit bewenden lassen? Oder aber die
romantische Egozentrik überwinden, Fragen aufwerfen, die die Gesellschaft im
Ganzen, den Staat, die Zukunft angehen? Sich mitteilen in den jähen Umbrüchen
zwischen Revolutionen und der Restauration? Partei ergreifen – das erscheint vielen
zu riskant angesichts der raschen Veränderung der Verhältnisse. (Dass Berlioz ein
glühender Verehrer Napoleons III. war, wussten wohl nur wenige.) Was jedoch
immer ankommt und kaum Anstoß erregt, wer auch immer politisch das Sagen
haben mag:
die Oper: große Aufmachung, raffinierte Raumwirkung, elegante Körpersprache
im Ballett;
verfeinerte Virtuosität im Konzert, dazu die geistreiche Soirée mit den Künstlern,
wenn man Glück hat mit Liszt, Chopin, Paganini;
alles in allem also: Paris sucht höchste Perfektion, ist jedoch misstrauisch gegenüber
unerwarteten Wendungen. Da passt Berlioz nicht so richtig hinein; zu sprunghaft ist
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er, zu wenig berechenbar; zu wenig bemüht um ein Publikum, welches er eher
verachtet; unhöflich, oft schroff – wie seine Musik.
Über die Oper „Benvenuto Cellini“, 1836-38 entstanden, von einem romantischgenialen Außenseiter handelnd: Das Finale des ersten Aktes sei eine „Scene voller
Bewegung, voller Leidenschaft, Aufregung, voller Gegensätze zwischen Helle und
Dunkel, zwischen heiterem Lachen und dem Röcheln des Sterbens, zwischen
üppigem Leben und schnellem Tod, zwischen Liebe und Mord, Zorn und Feigheit –
eine Scene, in der die Menge zum ersten Mal mit ihrer großen und tosenden Stimme
spricht.“ (zitiert nach: W. Dömling, a. a. O., S. 64)
Berlioz hätte gern ein staatliches Amt gehabt, als Hochschullehrer z. B., aber es
reichte nur zur – schlecht bezahlten – Stelle eines Bibliothekars (1839), daneben
schrieb er Musikkritiken für verschiedene Zeitungen. Die Kompositionen, die er trotz
ständigen Zeitmangels fertig stellen konnte, waren gleichwohl recht erfolgreich. Aber
in seinen Briefen reißen die Klagen über Geldmangel nicht ab.
Auch heute gibt es Veranstaltungen, Musiksendungen (z. B. im Fernsehen) oder
auch Zeitungsberichte, die vom politischen Gespräch eher ablenken als sich daran
zu beteiligen. Viele Menschen finden das auch gar nicht schlimm; Ablenkung sei
notwendig, um sich erholen oder entspannen zu können. Was ist davon zu halten?
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Obwohl er in Deutschland und England große Anerkennung als Dirigent findet, hat er
Sehnsucht nach Paris – und hasst die Stadt, sobald er sie wieder erreicht hat:
„Unsere
finde
Hauptstadt
ich
allem
wieder
vor
mit
materiellen
Interessen
beschäftigt,
unaufmerksam
und
gleichgültig gegen das,
was die Dichter und die
Künstler begeistert... Ich
finde
wieder...
ihre
gelangweilten Gestalten
und verdrießlichen Gesichter, ihre entmutigten
Künstler,
erschöpften
Denker, die wimmelnde
Menge
an
Dumm-
köpfen, die entkräfteten,
ausgehungerten,
ster-
benden
toten
oder
Theater...“
Berlioz dirigiert ein Konzert der Société Philharmonique.
Karrikatur von Gustave Doré, 1850; aus: Dömling, S. 101
Düsternis legte sich über den letzten Abschnitt seines Lebensweges. Auch seine
zweite Frau und sein Sohn starben vor ihm, Krankheiten quälten ihn. 1869 starb er
selbst, verbittert, vereinsamt.
Berlioz, der Außenseiter, passte nicht in das „musikalische Sonnensystem“ (F. v.
Hiller, s. o.): Zwischen den „Planeten“ bilden sich Bezüge und Beziehungen heraus;
sie geben sich so, wie man es von ihnen erwarten kann – verlässlich, solide. Sie
suchen in ihrem Umkreis nach gleichermaßen berechenbaren Partnern. Ihre
Äußerungen, auch die musikalischen, gründen sich auf einen akzeptierten Standard,
mit welchem sie allerdings brillant und virtuos umzugehen verstehen. Berlioz
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hingegen offenbart schon in der Ausgestaltung der Melodik sein Bedürfnis nach
individuellem Ausdruck, nach „expression passionée“; intensiver, als die „gültigen“
Regeln des Tonsatzes und die traditionellen Gattungsnormen es zulassen, oft den
literarischen Leitbildern oder auch einer dramatisch sich entfaltenden, subjektiven
Wahrheit verpflichtet. Die Einbeziehung räumlicher Wirkungen gehört dabei ebenso
zu seinem Repertoire wie der Einbruch des Unvorhersehbaren in den rhythmischen
Strom, bis hin zur Verzerrung und zur kalkulierten Schockwirkung.
Verständnislosigkeit bei den Zuhörern ist indessen als ein Risiko stets mehr oder
weniger präsent; ihm entgegenzuwirken hätte es der Hinwendung zu einer
geeigneten Gattung bedurft, oder aber der abmildernden Zugeständnisse. Zu
ersterem, als Opernprojekt immerhin denkbar, fehlte es an Gelegenheit, auch an
Kraft, sich der Resignation zu widersetzen. Die andere Möglichkeit tritt im Spätwerk
hervor, welches mehr und mehr in den Sog des Klassizismus gerät. Hierzu bemerkt
Christian Berger in der neuen MGG: Berlioz habe zu erkennen gegeben, „wie wenig
es ihm möglich war, das Entwicklungspotential, das in seinen satztechnischen
„Qualitäten“ angelegt war, weiterzuführen. So ist es doch in erster Linie der
revolutionäre Aufbruch der 1830er Jahre mit seinen radikalen satztechnischen und
gedanklichen Neuansätzen, der unser Bild von Berlioz in besonders nachhaltiger
Weise geprägt hat, und nicht das klassizistische Spätwerk der 1850er Jahre.“
Wahrhaftigkeit des Ausdrucks, diese Absicht verbindet Berlioz mit dem Werk des von
ihm hochverehrten Christoph Willibald Gluck, ebenso aber auch mit der
expressionistischen Motivation in der Malerei, der Literatur und der Musik des 20.
Jahrhunderts. Das trägt dazu bei, dass Berlioz’ Musik trotz allem heute
nachvollziehbar und verständlich ist, während ihre Inhalte der Gefahr, subjektiv und
belanglos zu bleiben, nicht immer entgehen.
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