08./09./10.10.2005 ALAN GILBERT RENAUD CAPUCON VIOLINE ANZEIGE ODER BILDFORTFÜHRUNG SAISON 2005/2006 ABONNEMENTKONZERTE HB1 / A2 / B2 Samstag, 8. Oktober 2005, 20 Uhr Bremen, Glocke Das Konzert am 10. Oktober 2005 wird live auf NDR Kultur gesendet. Sonntag, 9. Oktober 2005, 11 Uhr Montag, 10. Oktober 2005, 20 Uhr Hamburg, Laeiszhalle (Musikhalle), Großer Saal ANZEIGE EMI Dirigent: Solist: IGOR STRAWINSKY (1882 – 1971) CAMILLE SAINT-SAENS (1835 – 1921) ALAN GILBERT RENAUD CAPUCON VIOLINE Scherzo fantastique op. 3 (1907/08) Violinkonzert Nr. 3 h-moll op. 61 (1880) Allegro non troppo Andantino quasi allegretto Molto moderato e maestoso – Allegro non troppo Pause HECTOR BERLIOZ (1803 – 1869) Symphonie fantastique op. 14 (1830) Episode aus dem Leben eines Künstlers. Phantastische Symphonie in fünf Sätzen I. Träumereien; Leidenschaften. Largo – Allegro agitato e appassionato assai II. Ein Ball; Walzer. Allegro non troppo III. Szene auf dem Lande. Adagio IV. Der Gang zum Richtplatz. Allegro non troppo V. Walpurgisnachtstraum. Larghetto – Allegro 03 ALAN GILBERT RENAUD CAPUCON DIRIGENT VIOLINE Alan Gilbert hat mit Beginn der Saison 2004/05 das Amt des Ersten Gastdirigenten beim NDR Sinfonieorchester übernommen. Gilbert, 1967 in New York geboren, wurde frühzeitig von seinen Eltern (beide Violinisten im New York Philharmonic Orchestra) im Violinspiel unterrichtet. Er studierte in Harvard Komposition bei Leon Kirchner, Peter Lieberson und Earl Kim sowie Violine bei Masuko Ushioda am New England Conservatory of Music. Sein Studium schloss er am Curtis Institute of Music in Philadelphia und an der Juilliard School of Music ab. Als professioneller Violin- und Violaspieler war er für zwei Jahre Substitut im Philadelphia Orchestra, bevor er 1993 zweiter Konzertmeister im Santa Fé Opera Orchestra wurde. Zur Zeit ist Gilbert Music Direktor der Santa Fe Opera und seit Januar 2000 Chefdirigent und künstlerischer Berater des Royal Stockholm Philharmonic Orchestra. Daneben hat er sich eine Karriere als Gastdirigent aufgebaut und ist u. a. mit Orchestern wie dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, den Bamberger Symphonikern, dem Orchestre de Paris, dem Tonhalle Orchester Zürich, dem London Philharmonic Orchestra, dem New York Philharmonic Orchestra, dem Los Angeles Philharmonic Orchestra, dem Concertgebouw Orchestra, dem Cleveland Orchestra sowie mit dem NHK Symphony Orchestra aufgetreten. Der Music Director des New York Philharmonic, Lorin Maazel, hat Gilbert im Juni 2004 eingeladen, in den Spielzeiten 2006/2007 bis 2008/2009 jeweils zwei Wochen mit dem Orchester zu arbeiten. Renaud Capuçon wurde 1976 in Chambéry geboren und studierte am Conservatoire National Supérieur de Musique de Paris bei Gérard Poulet und Veda Reynolds; 1992 wurde er dort mit dem ersten Preis für Kammermusik ausgezeichnet und im Jahr darauf erkannte ihm die Jury einen ersten Preis mit Auszeichnung im Fach Violine zu. Ab 1995 studierte Capuçon bei Thomas Brandis in Berlin, später auch bei Isaac Stern. Claudio Abbado holte ihn 1997 auf die Stelle der Konzertmeisters im Gustav Mahler Jugendorchester, wo er unter der Leitung von Pierre Boulez, Seiji Ozawa, Daniel Barenboim und Franz Welser-Möst weitere musikalische Erfahrungen sammeln konnte. Im November 2002 gab Capuçon sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern unter Bernard Haitink, im Oktober 2003 debütierte er beim NDR Sinfonieorchester unter Christoph Eschenbach und im Juli 2004 beim Boston Symphony Orchestra unter Christoph von Dohnányi. Mit dem Orchestre de Paris und DIRIGENT 04 Alan Gilberts leidenschaftliches Interesse gilt der Oper, und er hat eine Reihe konzertanter Opernaufführungen in Stockholm aufzuweisen. In den Jahren 2001 und 2002 eröffnete er die Saison an der Santa Fe Opera mit „Falstaff“ und „Eugen Onegin“. Im Oktober 2002 gab er sein Debüt an der Oper Zürich mit Zemlinskys „Der Kreidekreis“. 1994 wurde Alan Gilbert einstimmig mit dem ersten Preis beim Musikwettbewerb Genf (CIEM) ausgezeichnet. Zudem erhielt er den Schweizer Preis dieses Wettbewerbs, den Bunkamura Orchard Hall Award sowie den Sir Georg Solti Award. 1998 wurde er mit dem begehrten Seaver/National Endowment for the Arts Conductors Award ausgezeichnet. Christoph Eschenbach geht Capuçon im November 2005 auf eine China-Tournee. Capuçon ist als Solist auch mit zahlreichen anderen renommierten Orchestern aufgetreten, u. a. mit dem Gustav Mahler Jugendorchester, dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, der Deutschen Kammerphilharmonie, dem Chamber Orchestra of Europe, der Montreal Symphony, dem Orchestre National de France, dem Royal Copenhagen Orchestra und der Sinfonia Varsovia. Zu den Dirigenten, mit denen Capuçon als Solist zusammengearbeitet hat, zählen außerdem Myung-Whun Chung, Charles Dutoit, Ivan Fischer, Hans Graf, Emmanuel Krivine, Christof Perick, Daniel Harding, Marc Minkowski, John Nelson, David Robertson und Yoav Talmi. Als passionierter Kammermusiker hat Capuçon u.a. mit Martha Argerich, Daniel Barenboim, Elena Bashkirova, Hélène Grimaud, Yefim Bronfman, Myung-Whun Chung, Stephen Kovacevich, Jean-Yves Thibaudet, Vadim Repin, Yuri Bashmet, Truls Mork, Paul Meyer und der Kremerata Baltica konzertiert. Renaud Capuçon spielt eine Stradivarius von 1721, die vormals Fritz Kreisler gehörte. SOLIST 05 „ABER TOLL ZUM ANBINDEN“ Scherzo fantastique noch begutachten und mit dem gebührendem Lob bedenken, die Uraufführung jedoch durfte er nicht mehr erleben. Sie fand am 24. Januar (6. Februar) 1909 in einem der von Alexander Siloti geleiteten Konzerte in St. Petersburg statt. Im Publikum saß auch Sergej Diaghilew, Gründer und Lenker der Ballets Russes, und mit seinem untrüglichen Gespür für künstlerische Genialität vergab er noch im selben Jahr einen ersten Auftrag an den 26-jährigen Strawinsky: der Beginn einer Zusammenarbeit, ja einer Freundschaft, die Musik- und Ballettgeschichte schreiben sollte. MUSIKALISCHE TAGTRÄUMER, MÄRCHENERZÄHLER UND PHANTASTEN Phantastisch! Dieser Ausruf der Begeisterung ist längst zum sprachlichen Alltagsgut abgesunken, wenn nicht gar durch neuere Jubelmoden und Beifallsrituale verdrängt worden. Frühere Generationen besaßen noch ein ungetrübtes Sensorium für das „Phantastische“, für die Höhenflüge und Abgründe der Phantasie, für die verwirrenden und bedenklichen Verführungsgaben der Phantasten. Am 8. Dezember 1830 berichtete der Schriftsteller Ludwig Börne seinen deutschen Lesern von der Premiere der Symphonie fantastique in Paris: „Ein junger Komponist namens Berlioz, von dem ich Ihnen schon geschrieben, ließ von seinen Kompositionen aufführen; das ist ein Romantiker. Ein ganzer Beethoven steckt in diesem Franzosen. Aber toll zum Anbinden. Mir hat alles sehr gefallen. Eine merkwürdige Symphonie, eine dramatische in fünf Akten, natürlich bloß Instrumentalmusik; aber daß man sie verstehe, ließ er wie zu einer Oper einen die Handlung erklärenden Text drucken. Es ist die ausschweifendste Ironie, wie sie noch kein Dichter in Worten ausgedrückt, und alles gottlos. Der Komponist erzählt darin seine eigene Jugendgeschichte.“ Ohne die Strenge und den Anspruch einer Definition anzustreben, weiß Börne dennoch höchst anschaulich zu schildern, was eine Musik ausmacht, die ihm und seinen Zeitgenossen unerhört „phantastisch“ vorkommen musste. Narzissmus, das Schwelgen in Empfindungen bis zur fiebrigen Leidenschaft, Freiheit und Eigenwilligkeit im Umdeuten aller Formen, Konventionen und Traditionen, PROGRAMM 06 eine „ausschweifende“ Vorstellungskraft, eine Neigung zur Traumsphäre, zum Exotischen, Exaltierten, Erschreckenden, zu Rausch, Effekt und Prunk – diese phantastischen Eigenschaften wagte Hector Berlioz in seiner Sinfonie mit nie gekannter Hemmungslosigkeit und Radikalität auszuleben. Aber auch in den Kompositionen von Saint-Saëns und Strawinsky treibt die Phantasie ihr tolles Spiel und lockt den Hörer in ein Labyrinth ungeahnter Hörabenteuer, in eine Fabelwelt der erlesensten Klangkünste. DIE GUNST DER GEIGER – SAINT-SAENS’ VIOLINKONZERT H-MOLL IM ZAUBERSPIEGEL – STRAWINSKYS SCHERZO FANTASTIQUE Als Igor Strawinsky fünfzig Jahre nach der Vollendung seines Scherzo fantastique dieses brillante Gesellenstück dirigierte, zeigte er sich von dessen vergessenen Vorzügen höchst angenehm berührt: „Das Orchester ‚klingt‘, die Musik ist licht“, bemerkte er, „auf eine Art, wie sie in Kompositionen jener Epoche selten zu finden ist, und es gibt ein oder zwei gute Ideen.“ Strawinskys Hörern wird es ganz ähnlich ergehen, wenn sie von der Eleganz, dem unwiderstehlichen Klangzauber, dem raffinierten Farbenspiel dieses mit der Opuszahl 3 versehenen Jugendwerks berückt werden: als seien alle sinfonischen Scherzi des 19. Jahrhunderts im Treibhausklima des Fin de siècle zu einer letzten, unwirklich schillernden Blüte erwachsen. Gewiss lädt die zwischen Juni 1907 und März 1908 entstandene Partitur – namentlich im langsameren Mittelteil – zu allerlei Reminiszenzenjägerei und Igor Strawinsky musikhistorischem Ratespiel ein: Wer nennt die Vorbilder, Wagner, Dukas, Debussy? Auch konnte und wollte Strawinsky in seinem Scherzo fantastique nicht verleugnen, wessen Schüler er war: Die prachtvolle, orientalisch funkelnde Märchenwelt Rimsky-Korsakows spiegelt sich („Hummelflug“ eingeschlossen) in diesem frühem Orchesterstück. Aber, so gab der russische Musikhistoriker Michail Druskin zu bedenken, „in musikalischer Hinsicht hat dieser Spiegel, welchen der junge Strawinsky selbst verkörperte, die vom Lehrmeister ausgehenden Strahlen nicht nur reflektiert, sondern auf eigene, originelle Weise gebrochen“. Nikolaj Rimsky-Korsakow konnte die Skizzen zum Mit seinem Anfang 1881 uraufgeführten Dritten Violinkonzert war dem französischen Komponisten Camille Saint-Saëns ein grandioser Erfolg vergönnt, der damals freilich noch untrennbar mit der Person des Widmungsträgers zusammenhing. Saint-Saëns war sich dessen durchaus illusionslos bewusst: „Es ist ziemlich lange her, daß der schon berühmte Pablo de Sarasate bei mir erschien. Jung und frisch wie der Frühling war er, seine Lippen umspielte die erst schattenhafte Andeutung eines Schnurrbartes. Er bat mich liebenswürdig und so, als sei es die einfachste Sache von der Welt, für ihn ein Konzert zu schreiben. Ich war sehr geschmeichelt und dazu von ihm äußerst bezaubert, also gab ich ihm mein Versprechen, und ich hielt mein Wort mit dem Violinkonzert A-Dur [Nr. 1 op. 20]. Ich habe danach noch das ‚Rondo capriccioso‘ in spanischem Stil und später das Konzert h-Moll [Nr. 3 op. 61] für ihn geschrieben. Für letzteres hat er mir wertvolle Hinweise gegeben, und sicherlich PROGRAMM 07 liegt es zum großen Teil daran, daß dieses Werk sich derart der Gunst der Geiger erfreut.“ Der spanische Wundergeiger Pablo de Sarasate wurde 1844 als Sohn eines Militärkapellmeisters in Pamplona geboren; er starb 1908 in Biarritz. Bereits als Zwölfjähriger war er nach Paris an das Conservatoire gekommen; seit den 1860er-Jahren bereiste er Europa und Amerika als bald schon legendärer und enthusiastisch gefeierter Virtuose. Sein Einfluss auf Saint-Saëns, auf das h-Moll-Konzert op. 61, zeigt sich natürlich zuallererst im spanischen Kolorit des Finales, denn Sarasate selbst war es ja, der mit seinen „Spanischen Tänzen“ die ohnehin in Frankreich grassierende Spanien-Mode musikalisch angefacht hatte. Das „Andantino“ huldigt der delikaten Süße des reizvollen Geigentons, mit dem Sarasate sein Publikum stets zu betören wusste. Die heiklen, von der Klarinette grundierten Flageolettöne – im selben Satz – schrieb Saint-Saëns im sicheren Vertrauen auf die vielgerühmte Intonationsreinheit seines spanischen Ratgebers. Doch bezeugt diese ideal auf Sarasate zugeschnittene Partitur auch die Experimentierfreude, die Suche nach unkonventionellen formalen Lösungen, die Saint-Saëns in gut dreißig Konzerten und konzertanten Kompositionen jahrzehntelang beflügelte. Ein unerwartetes dramatisches Ereignis, eine erregte, rezitativische Kadenz eröffnet den Schlusssatz des h-Moll-Konzerts: ein kurzer, opernhafter „Auftritt“ des Solisten vor dem letzten Akt. Aber wer sich den im Konzertsaal allzu selten gebotenen Konzerten des Franzosen zuwendet (insbesondere seine drei Violin-, zwei Cello- und fünf Klavierkonzerte seien nachdrücklich empfohlen), wird das Staunen nicht so rasch verlernen angesichts der geistigen Ungebundenheit und der verblüffenden Ideenfülle, mit der sich Saint-Saëns der Tradition der Konzertform stellte und einige der ungewöhnlichsten Gattungsbeiträge des 19. Jahrhunderts schrieb. NÄCHTLICHE SCHAUSPIELE – BERLIOZ’ SYMPHONIE FANTASTIQUE Pablo de Sarasate PROGRAMM 08 „Wir glauben in der Sinfonie von Berlioz das Vorspiel einer Revolution in der Instrumentalmusik und eine neue dramatische Entwicklung zu erblicken“: Der französische Musikkritiker Joseph d’Ortigue hatte keineswegs übertrieben, als er 1833 dieses Urteil aussprach – drei Jahre nach der Uraufführung der Symphonie fantastique in Paris. Denn was Hector Berlioz mit dieser Komposition gewagt hatte, kam in der Tat einer musikalischen Revolution gleich. Mit beispielloser Kühnheit zerbrach er die Schranken, die das Drama, den Roman und die Sinfonie prinzipiell und unüberwindlich getrennt hatten. Szenische Effekte wie sonst nur im Theater (Fernoboe und Glocken hinter der Bühne) bereichern seine Instrumentalmusik. Aus der Oper übernahm Berlioz das Erinnerungsmotiv, das eine bestimmte Idee oder eine Person repräsentiert, und nutzte es für die Psychologie seines Werkes. Und ein bis dahin nur aus dem Orchestergraben bekanntes Rieseninstrumentarium begann mit der Symphonie fantastique den Konzertsaal zu erobern: Die exponierten Harfen des zweiten Satzes, die Clustereffekte der Pauken, die ohnehin sehr erweiterte Mitwirkung des Schlagzeugs, die zuvor ausschließlich in der Militärmusik beheimatete Es-Klarinette, brutale Einsätze der Blechbläser, das Col-legno-Geklapper der Streicher – der Reichtum der expressiven, grotesken und unerwarteten Einfälle muss das Publikum damals zutiefst irritiert und verstört haben. Nicht weniger radikal griff Berlioz in die Gewohnheiten einer für ihn viel zu vorsichtigen Anwendung des Rhythmus ein: „Den Rhythmus auf die armselige Rolle beschränken zu wollen, die ihm seit langer Zeit zugefallen ist, ist genauso unnütz und dumm, wie es zu Zeiten Monteverdis der Versuch war, das Eindringen der Dissonanz in die Harmonik zu verhindern.“ Weisen die szenischen Momente und der gewaltige Orchesterapparat auf die Oper hin, so kann der hemmungslose Subjektivismus, dem alle rhythmischen Fesseln, alle melodische Regelmäßigkeit zu eng werden, den Einfluss des zeitgenössischen, die Grenzen von Autobiografie und Fiktion verwischenden Romans nicht verleugnen. Das (in vier- zehn Versionen überlieferte) literarische Programm, mit dem Berlioz die Komposition von Anfang an kommentierte, hätte auch als Entwurf für einen romantischen Künstlerroman dienen können. In der späten Fassung dieses Textes vergiftet sich der Künstler, der „Held“ der Sinfonie, mit einer narkotisierenden Dosis der Modedroge Opium, bevor mit den „Träumereien – Leidenschaften“ eine hitzige Folge der widersprüchlichsten Affekte und Phantasien losbricht. Die ursprüngliche Version sah den Griff nach dem Rauschmittel erst für die letzten beiden Sätze vor. Im Grunde aber ist diese Frage bedeutungslos, da – so oder so – die ganze Sinfonie Zustände und Grenzerfahrungen der Exaltation schildert und zudem auf einer Bühne der Imagination spielt, wie sie die 1828 in französischer Übersetzung erschienenen „Confessions of an English Opium-Eater“ des Engländers Thomas De Quincey als Halluzination des Opiumrausches beschreiben: „Hinter meiner Stirn schien plötzlich ein Theater erstanden und beleuchtet, in dem nächtliche Schauspiele von überirdischem Glanze stattfanden [...]. Diese und alle anderen Veränderungen meiner Träume waren von abgründiger Angst und düsterer Schwermut begleitet, die sich mit Worten nicht schildern lassen.“ Berlioz überschrieb seine Komposition mit „Épisode de la vie d’un artiste“ – Symphonie fantastique heißt sie nur im Untertitel. Im Programm ist von einem „jungen Musiker“ die Rede, der sich in eine Frau verliebt habe: in das Idealbild einer unerreichbaren Geliebten. Ihr Erscheinen, vor allem aber jeder Gedanke an sie, wird in den fünf Sätzen der Sinfonie durch ein zyklisches Thema vergegenwärtigt: Berlioz vergleicht es mit einer „fixen Idee“. PROGRAMM 09 Im ersten Satz, nach der „Largo“-Einleitung („Träumereien“), wird es zu Beginn des Hauptteils von der Soloflöte und den ersten Geigen exponiert – und löst einen rasenden Taumel widerstreitender „Leidenschaften“ aus. Der zweite Satz führt den Künstler auf einen Ball. Aus seiner Perspektive „sehen“ wir die Festgesellschaft, erkennen die Geliebte, die sich im Walzertakt bewegt, um am Ende, in der Coda, plötzlich noch einmal aus der Anonymität des Festes hervorzutreten. Diese Konstellation drängt den Vergleich mit Berlioz’ dramatischer Sinfonie „Roméo et Juliette“ von 1839 auf: Wie hier der Künstler umschleicht auch Romeo als unerwünschter Außenseiter ein Fest (der Capulets), auf dem er Julia weiß. Doch die – in beiden Sinfonien – sich anschließenden „Liebesszenen“ könnten nicht besser geeignet sein, die wesentlichen Unterschiede zu verdeutlichen: In der Veroneser Balkonszene, so erklärt es Berlioz, „finden wir die Liebe des Südens, den italienischen Himmel, die sternenklare Nacht“; in der „Scène aux Champs“ dagegen, dem dritten Satz der Symphonie fantastique, müssen wir „die Einsamkeit der leidenden Liebe des Nordens erkennen, die drohenden Schatten eines aufziehenden Gewitters an einem Sommerabend, an dem die Wolken lautlose Blitze schleudern. In dem einen ist es Liebe in Gegenwart des geliebten Wesens, in dem anderen ist es Liebe in Abwesenheit des Geschöpfes, um das er die gesamte Natur bittet.“ unaufhaltsamen Katastrophe. Die Ruhe des ländlichen Refugiums wird jäh zerschnitten, als sich die Gedanken des Künstlers wieder der Geliebten zuwenden (in der späten Fassung wird sogar ein Zusammentreffen angedeutet). Der Verdacht, von ihr verraten und hintergegangen zu werden, wird ihm immer unerträglicher. In der „Scène aux Champs“ reift ein mörderischer Entschluss, den der Künstler nicht in die Tat umsetzt und der doch nicht ohne Konsequenzen bleibt. Aus dem Vorsatz spaltet sich der Wahn ab, er habe die Geliebte getötet, und mit dieser Vorstellung bilden sich Bestrafungsphantasien, die den Opiumtraum des Musikers grauenvoll bebildern: Er muss seiner eigenen Hinrichtung zusehen. Die „Marche au Supplice“, den vierten Satz, schrieb Berlioz ursprünglich unter dem Titel „Marche des Gardes“ für seine unvollendete Oper „Les Francs-Juges“. Vollständig zog er das fertige Stück aus der Schub- DRAMA IN FÜNF AKTEN Beurteilt man die Symphonie fantastique als ein Drama in fünf Akten, so ereignet sich im dritten Satz – oder Akt – die Peripetie: die Wende hin zur PROGRAMM 10 Berlioz als Dirigent; Weimar 1846 lade und integrierte es in das Programm und in die Sinfonie. Den Schluss allerdings erfand er neu, das Aufsteigen der „idée fixe“ in der Soloklarinette als „letzter Liebesgedanke“, der dann vom Tuttischlag des Orchesters gekappt wird. Die Darstellung der Enthauptung – wir hören das niederkrachende Fallbeil und, in den Pizzicati der Streicher, den dumpf herabstürzenden Kopf – vollzieht Berlioz ganz direkt, brutal und schockierend. Schließlich träumt der Künstler sein eigenes Begräbnis, zu dem sich „eine abscheuliche Schar von Geistern, Hexen und Ungeheuern aller Art“ versammelt hat: „Die geliebte Melodie erscheint noch einmal, doch sie hat ihren noblen und schüchternen Charakter verloren; sie ist nur noch eine gemeine Tanzweise, trivial und grotesk.“ Der „Songe d’une Nuit du Sabbat“, das Finale der Symphonie fantastique, entfesselt das ganze irrwitzige Pandämonium der Schwarzen Romantik. Mit diesem Hexensabbat sind die finstersten Schlünde und Abgründe des Unbewussten erreicht, wie sie den „Opium-Eater“ in Angst und Depressionen stürzen. Und inmitten des bizarren Höllenspuks ertönt das Dies irae aus der lateinischen Totenmesse, die Schrecken erregende Vision des Weltenendes. Durch Berlioz’ Symphonie fantastique und durch Liszts „Totentanz“ (1849) gewann die alte gregorianische Melodie eine schaurige Popularität. In einer Zeit sozialer und politischer Umwälzungen zeigten sich die Menschen offenbar besonders empfänglich für dieses Symbol des Todes und des Untergangs: „Dies irae, dies illa, / Solvet saeclum in favilla.“ Das aristokratische Ordnungs- und Machtgefüge war zusammengebrochen, und bürgerliche Aufsteiger verschafften sich Platz und Ansehen, die in dem anderen zuerst den Feind und Konkurrenten sahen. Die massenhafte Furcht vor gesellschaftlichem Abstieg und dem Verlust persönlicher Identität breitete sich aus und verstärkte sich zu einer angsterfüllten Endzeitstimmung, die hinter dem zur Schau getragenen Selbstbewusstsein des wirtschaftlichen Aufschwungs lauerte. Berlioz’ Symphonie fantastique bezeugt die kreative Unruhe jener Epoche; sie spiegelt aber auch deren tiefe geistige Unsicherheit und Ziellosigkeit. Wolfgang Stähr PROGRAMM 11 SO:AT HOME DIE DIRIGENTIN ANU TALI „Ich glaube, die Ära der tyrannischen Dirigenten ist endgültig vorbei, es kommt vielmehr darauf an, wie kooperativ man wirklich ist. Und wie klar und ehrlich man mit der Musik ist und wie man sie vermitteln kann.“ Die Frau, die solches sagt, weiß wovon sie redet. 1972 in Estland geboren, hat die Dirigentin Anu Tali beim finnischen Dirigentenmacher Jorma Panula studiert, aus dessen Dirigierklasse u. a. auch Esa-Pekka Salonen, Sakari Oramo und Jukka-Pekka Saraste hervorgegangen sind. Der neue Geist, der Musikern aus den baltischen Ländern in den letzten Jahren so große Erfolge gebracht hat, dokumentiert sich über die Musik hinaus auch in deren organisatorischen Qualitäten. Die Dirigentin Anu Tali hat sich ihr Orchester selbst gegründet. 1997, mit nur 25 Jahren, rief sie zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Kadri das Estnisch-Finnische Sinfonieorchester ins Leben, das nunmehr seit acht Jahren ohne Subventionen, nur aus Kartenerlösen und Sponsorengeldern finanziert, bestehen kann. Geführt wird der Klangkörper aus dem Geist der Schwesterlichkeit, Kadri kümmert sich um alles, was nicht Musik ist, und Anu dirigiert. Ihre Devise dabei lautet: „Ich glaube, man sollte vor allem Respekt haben.“ In seiner Reihe SO:at Home stellt das NDR Sinfonieorchester nunmehr in der vierten Saison die viel versprechendsten Dirigenten der jungen Generation vor. Im lockeren Rahmen und mit moderierten Programmen präsentieren sich hier die Pultstars von morgen. Zum Auftakt der SO:at Home-Reihe 2005/2006 kommt nun am 20. Oktober 2005 Anu Tali ins Rolf-Liebermann-Studio des KONZERTTIPP 12 SO:AT HOME ABONNEMENTKONZERTE Donnerstag, 20. Oktober 2005, 19 Uhr Rolf-Liebermann-Studio Dirigentin: Anu Tali NDR Sinfonieorchester A3 Sonntag, 6. November 2005, 11 Uhr B3 Montag, 7. November 2005, 20 Uhr Hamburg, Laeiszhalle (Musikhalle), Großer Saal Dirigent: Christoph von Dohnányi BELA BARTOK Divertimento für Streichorchester ANTON BRUCKNER Sinfonie Nr. 7 E-dur Das Programm entnehmen Sie bitte den gesonderten Veröffentlichungen. ABONNEMENTKONZERT NDR. Dass ihr dieser Rahmen liegen wird, kann man schon vermuten, sagt Tali doch von sich selber: „Ich gehöre nicht zu den Leuten, die der Meinung sind, dass etwas nur dann Kultur ist, wenn weniger Leute im Publikum sind als auf der Bühne; und wenn mehr Leute im Publikum sind als auf der Bühne, dann ist das Entertainment.“ Um Menschen in ihr erstes klassisches Konzert zu locken, scheut Tali sich gewöhnlich nicht, auch Walzer oder Musicalpassagen mit ins Programm zu nehmen. Die ersten beiden CDs ihres Orchesters weisen sie aber auch als Frau aus, die Debussys „La Mer“ und Zeitgenössisches wie Musik von ErkkiSven Tüür oder Veljo Tormis zu meistern weiß. D2 Freitag, 28. Oktober 2005, 20 Uhr Hamburg, Laeiszhalle (Musikhalle), Großer Saal Dirigent: Michael Gielen Solistin: Elena Bashkirova Klavier BELA BARTOK Klavierkonzert Nr. 3 GUSTAV MAHLER Sinfonie Nr. 6 a-moll Einführungsveranstaltung mit Thorsten Weber um 19 Uhr im E-Saal. ABONNEMENTKONZERT C2 Dienstag, 8. November 2005, 20 Uhr Hamburg, Laeiszhalle (Musikhalle), Großer Saal Dirigent: Christoph von Dohnányi Solist: Gil Shaham Violine JEAN SIBELIUS Violinkonzert d-moll op. 47 ANTON BRUCKNER Sinfonie Nr. 7 E-dur Einführungsveranstaltung mit Habakuk Traber um 19 Uhr im Kleinen Saal. KONZERTVORSCHAU 13 1. VIOLINEN KONTRABASS POSAUNE IMPRESSUM Roland Greutter**, Stefan Wagner**, Florin Paul**, Gabriella Györbiro*, Lawrence Braunstein*, Marietta Kratz-Peschke*, Brigitte Lang*, Heinrich Hörlein, Dagmar Ferle, Malte Heutling, Sophie Arbenz-Braunstein, Radboud Oomens, Katrin Scheitzbach, Ruxandra Klein, Alexandra Psareva, Bettina Lenz, Razvan Aliman, N.N., N.N., Barbara Gruszczynska, Johanna Schlüter Ekkehard Beringer**, Michael Rieber**, Katharina C. Bunners*, Jens Bomhardt*, Karl-Helmut von Ahn, Eckardt Hemkemeier, Peter Schmidt, Volker Donandt, Tino Steffen Stefan Geiger**, Simone Candotto**, Joachim Preu, Peter Dreßel, Uwe Leonbacher (Bassposaune) Herausgegeben vom TUBA NORDDEUTSCHEN RUNDFUNK BEREICH ORCHESTER UND CHOR Markus Hötzel** Leitung: Rolf Beck HARFE Redaktion Sinfonieorchester: Achim Dobschall FLÖTE Wolfgang Ritter**, Matthias Perl**, Hans-Udo Heinzmann, Hans Jürgen Pincus, Jürgen Franz (Piccolo) 2. VIOLINEN Rodrigo Reichel**, Christine-Maria Miesen**, Rainer Christiansen*, Rahel Rilling*, Hans-Georg Deneke, Horea Crisan, Werner Roth, Regine Borchert, Dr. Ludolf Klemeyer, Felicitas Mathé-Mix, Hans-Christoph Sauer, Stefan Pintev, Theresa Micke, Boris Bachmann, Juliane Laakmann, Frauke Kuhlmann, Riluca Stanzel VIOLA Hirofumi Fukai**, Marius Nichiteanu**, Jacob Zeijl**, Jan Larsen*, Gerhard Sibbing*, Klaus-Dieter Dassow, Rainer Castillon, Roswitha Lechtenbrink, Rainer Lechtenbrink, Thomas Oepen, Ion-Petre Teodorescu, Susanne Kellermann, Aline Saniter, Torsten Frank VIOLONCELLO Christopher Franzius**, Yuri-Charlotte Christiansen**, Dieter Göltl*, Vytautas Sondeckis*, Thomas Koch, Michael Katzenmaier, Christof Groth, Sven Forsberg, Bettina Barbara Bertsch, Christoph Rocholl, Fabian Diederichs NDR SINFONIEORCHESTER 14 Ludmila Muster** PAUKE OBOE Stephan Cürlis**, N.N. Paulus van der Merwe**, Kalev Kuljus**, Malte Lammers, Beate Aanderud, Björn Vestre (Engl. Horn) SCHLAGZEUG KLARINETTE TASTENINSTRUMENTE Nothart Müller**, Till Renner **, Bernhard Reyelts, Walter Hermann (Es-Klarinette), Renate Rusche-Staudinger (Bassklarinette) Jürgen Lamke FAGOTT Wassilios Papadopoulos**, Jörg Hannabach VORSTAND Boris Bachmann, Hans-Udo Heinzmann, Hans-Christoph Sauer Thomas Starke**, Volker Tessmann**, Sonja Bieselt, N.N., Björn Groth (Kontrafagott) HORN Claudia Strenkert**, Jens Plücker**, N.N., Volker Schmitz, Dave Claessen*, Marcel Sobol Jürgen Bertelmann, N.N. TROMPETE Jeroen Berwaerts**, N.N.**, Bernhard Läubin, Stephan Graf, Constantin Ribbentrop **Konzertmeister und Stimmführer *Stellvertreter Redaktion des Programmheftes: Dr. Ilja Stephan Der Einführungstext von Wolfgang Stähr ist ein Originalbeitrag für den NDR. Fotos: Klaus Westermann | NDR (Titel) Thomas Müller (S. 4) Simon Fowler (S. 5) picture-alliance | akg-images (S. 7) Hulton-Deutsch Collection | Corbis (S. 8) picture-alliance | akg-images (S. 10) Warner Classics 2005 (S. 12) NDR | Markendesign Gestaltung: Klasse 3b, Hamburg Litho: Reproform Druck: Nehr & Co GmbH Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des NDR gestattet. NDR SINFONIEORCHESTER 15