SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE __________________________________________________________________________ SWR2 Essay Georg Philipp Telemann Die Ein-Mann-Industrie im Zeitalter des Barock Von Wolfgang Fuhrmann Sendung: Redaktion: Produktion: Montag, 5. Juni 2017, 22.03 Uhr Lydia Jeschke SWR 2017 __________________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. __________________________________________________________________________ Service: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Essay sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. 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Es ist ein geistvoller Zug, wenn das Hauptmotiv, was das Ritornell vorspielt, von der Singstimme gleich zum ersten Male in der Vergrößerung gebracht wird, ein wahres Aufblühen aus der Knospe, wozu der tiefsinnige Meister vielleicht durch die Textesworte veranlaßt wurde: Blüht doch der Trost im Herzen: Ich weiß, daß mein Erlöser lebt! Reize und Feinheiten aller Art entwickelt auch der weitere Verlauf. Zu dem nachfolgenden Recitative hatte der Dichter einen sehr brauchbaren Text geliefert, indem er des Heilands ganze Leidensgeschichte bis zur Erstehung aus dem Grabe in Ausdrücken von lobenswerther Plastik noch einmal kurz vorüberführte und andeutete, was das Gemüth des theilnehmenden Christen dabei empfunden. Was Bach daraus gemacht, ist ein wahres Kleinod an ergreifender Declamation und herrlichem melodischen Zuge. 1 Musik 2: 0‘30 Georg Philipp Telemann: Ausschnitt aus der Kantate „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt“ (BWV 160), Rezitativ: Er lebt und ist von Todten auferstanden. Johann Sebastian Bach ([früher irrtümlich zugeschrieben]) Textdichter: Erdmann Neumeister Markus Schäfer (Tenor) Kölner Kammerorchester Leitung: Helmut Müller-Brühl NAXOS (05537), 8.557615 D 1 Philipp Spitta, Johann Sebastian Bach. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1873, Drittes Buch: Erstes Jahrzehnt der Meisterschaft, Abschnitt 4. Gemeinfrei, hier zitiert nach http://www.zeno.org/Musik/M/Spitta,+Philipp/Johann+Sebastian+Bach/Erster+Band/Drittes+Buch%3A +Erstes+Jahrzehnt+der+Meisterschaft/4. 2 S1: Diese „durchweg vorzügliche“ Kantate, wie Spitta sie nennt, hat nur einen kleinen Schönheitsfehler: Sie ist gar kein Werk von Johann Sebastian Bach. Das Stück stammt von Bachs unmittelbaren Zeitgenossen Georg Philipp Telemann. Und auch eine Reihe weiterer Kantaten Telemanns sind irrtümlich im Bach-Werke-Verzeichnis gelandet: Das ist je gewißlich wahr BWV 141, Gott der Hoffnung erfülle euch BWV 218, Siehe, es hat überwunden der Löwe BWV 219. Wir werden noch sehen, warum. Spitta wäre dieser Irrtum sicherlich peinlich gewesen. Denn er hatte von Telemann die denkbar schlechteste Meinung: An anderer Stelle seiner Bach-Biographie hat er über eine Kantate Telemanns so pauschal geurteilt, dass es einer Vernichtung des ganzen Komponisten gleichkam: S2: … allein da sein Talent für das Großartige wenig ergiebig war, so bleibt er auch hier im Alltäglichen sitzen, oder bringt es mit der krampfhaften, stimm- und chorwidrigen Gesangsbehandlung, die ihm in seinen frühern Werken eigen ist, nur zur Carricatur.2 S1: Spitta verglich auch Kompositionen Bachs und Telemanns auf dieselben Texte, und es verwundert kaum, dass solche Vergleiche immer zu Gunsten Bachs ausfielen. Damit stand der Gelehrte nicht allein; das ganze 19. Jahrhundert und noch weite Teile des 20. haben den sicherlich ungemein produktiven Telemann als oberflächlichen Vielschreiber abgeurteilt. Hugo Riemann, einer der wichtigsten Musikwissenschaftler um 1900, erklärte: S2: Nachdem ich ein paar hundert Seiten Telemann spartirt, kann ich mein Gesammturtheil nur dahin präcisiren, dass derselbe im Allgemeinen glatt, manchmal piquant, in den Tanzstücken sogar hie und da recht flott schreibt, aber das Interesse nicht dauernd zu fesseln vermag, da er nicht zu steigern versteht. Trotz seiner grossen Erfolge bei Lebzeiten hat er daher auf eine Wiederbelebung wenig Anspruch. 3 S1: Das 20. Jahrhundert hat sich Riemanns „Gesammturtheil“ nicht gebeugt und Telemann wissenschaftlich und praktisch-musikalisch „wiederbelebt“. Die TelemannFaszination, die vor allem in den 1920er Jahren, in der Jugendmusikbewegung, ihren Ausgangspunkt nahm, fand wiederum einen scharfen Gegner in dem Musikphilosophen Theodor W. Adorno, der in seinem Aufsatz „Kritik des Musikanten“ bemerkte: 2 Spitta, Johann Sebastian Bach, Band 1, Erstes Buch: Die Vorfahren, 4 hier zitiert nach http://www.zeno.org/Musik/M/Spitta,+Philipp/Johann+Sebastian+Bach/Erster+Band/Erstes+Buch%3A +Die+Vorfahren/4. 3 Hugo Riemann, Die französische Ouvertüre (Orchestersuite) in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Musikalisches Wochenblatt 30 (1899), 67. 3 S2: Spitta und Riemann haben „noch ein Organ für die unermeßliche qualitative Differenz zwischen Bach und Zeitgenossen wie Telemann“ gehabt. 4 S1: Zumindest, so dürfen wir ergänzen, wenn sie das Werk nicht für „ein wahres Kleinod“ aus Bachs Feder hielten. Denn in der Tat liegen diese Kantaten Telemanns in Abschriften aus Bachs Feder vor. Bach selbst hatte sie abgeschrieben, so hielt Spitta sie für sein Werk, und Schmieder nahm sie in das Bach-Werke-Verzeichnis auf. Kirchenmusik wurde damals meistens handschriftlich verbreitet, nicht gedruckt, und Bach war sich nicht zu schade, Musik, die ihn interessierte, eigenhändig zu kopieren; zweifellos, um sie in einer Leipziger Kirche aufzuführen, genauso wie er Telemanns Brockes [gespr. Broocks]-Passion aufgeführt hat. Tatsächlich hat Bach mehr Werke von Telemann abgeschrieben als von irgendeinem anderen seiner Zeitgenossen, ein sicheres Zeichen der Wertschätzung. Telemann seinerseits war persönlich mit Bach bekannt und wohl auch befreundet, er hat sogar ein Trauergedicht auf dessen Tod verfasst, und er war der Taufpate von Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel, der ihm wiederum als Musikdirektor in Hamburg nachfolgen sollte. Bach stand mit seiner Wertschätzung Telemanns nicht allein; dieser Komponist war in ganz Europa berühmt. Obwohl er – geboren 1681 – vier Jahre älter war als Bach, war er doch bis ins hohe Alter von 88 Jahren ein aufmerksamer Beobachter der spektakulären kulturellen, ästhetischen, musikalischen und literarischen Umbrüche im Deutschland seiner Zeit – bis zu seinem Tod am 25. Juni 1767, also vor 250 Jahren. Telemanns Werke verbreiteten sich von England bis Russland, wurden sogar in Pennsylvania gespielt und eine Paris-Reise 1737/38 zeigte, dass er auch im Zentrum der französischen Kultur reüssieren konnte. In der neuen Biographie von Siegbert Rampe wird, durchaus nicht unpolemisch erklärt: S2: … dass aus historischer Sicht nicht Bach, sondern Telemann als wichtigster deutscher Komponist des Spätbarock zu gelten hat.5 S1: Offensichtlich klafft eine gewaltige Lücke zwischen der Hochachtung, die seine Zeitgenossen inklusive Bach für den Komponisten Telemann verspürten, und dem scharfen Urteil späterer Forscher wie Spitta, die Bach um jeden Preis zum unerreichbaren Genie erklären wollten und dafür Telemann zum oberflächlichen Vielschreiber degradierten. Diese Abneigung beruft sich auf vielerlei Gründe, aber man kann sie in einem Satz zusammenfassen: Telemann war zu populär. Da liegt der Hase im Pfeffer. Die Deutschen lieben ihre Genies verkannt, zurückgezogen, gerne auch arm, krank oder dem Wahnsinn verfallend: Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann, Bruckner, Hugo Wolf, sogar Wagner – mindestens eins dieser Klischees trifft auf sie alle zu. Komponisten, die kommerziell erfolgreich waren – Rossini, Meyerbeer, Verdi, auch Richard Strauss – haben in Deutschland 4 Theodor W. Adorno, Kritik des Musikanten, in: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990 (Gesammelte Schriften 14), S. 78f. 5 Siegbert Rampe, Georg Philipp Telemann und seine Zeit, Laaber 2017 (Große Komponisten und ihre Zeit), S. 9. 4 immer einen schweren Stand gehabt, sogar Haydn wird immer wieder gern herabgesetzt. Oder ihre Geschäftstüchtigkeit ist, wie bei Brahms, kein Bestandteil ihres Image. Wenn sich einer leicht tut mit dem Komponieren und auch noch viel Geld damit verdient, wie Telemann (oder Richard Strauss), hat er es mit der Nachwelt schwer. Der deutsche Künstler muss still und zurückgezogen schaffen oder auch leidend mit dem Werk ringen. Und dieses Ringen muss sich dann als Anstrengung auf die Zuhörer übertragen. „Wahre“ Musik muss – um zwei deutsche Lieblingsbegriffe zu verwenden – „Innigkeit“ und „Tiefe“ haben. Telemann ging es aber um Leichtigkeit. Das betraf den Tonfall der Musik, es betraf aber auch die Ausführung. So sagte er selbst einmal: S2: Ich habe es „mir insonderheit angelegen seyn lassen, eines jeden Instrument nach seiner Natur anzubringen / worbey ich mich jedoch der Leichtigkeit beflissen / wie ich fast durchgehends in allen meinen übrigen Sachen gethan.“6 S1: Immer wieder betont Telemann sein Ideal einer Musik, die sich Zugänglichkeit für Musiker und Hörer auf die Fahnen geschrieben hat. In einem Gedicht macht er sich lustig über jene hochvirtuosen Anforderungen, bei denen man Grimassen schneiden muss vor Anstrengung, alle Töne richtig zu treffen, und die dann auch nur den ganz wenigen hochprofessionellen Musikern zugute kommt. Telemann aber betont geschickt das Gemeinwohl: Das, was leicht „gesetzt“, also komponiert ist, nützt nicht nur wenigen, sondern vielen. S2: Ich sage ferner so: Wer vielen nutzen kan / Thut besser / als wer nur für wenige was schreibet; Nun dient / was leicht gesetzt / durchgehends jedermann: Drum wirds am besten seyn / daß man bey diesem bleibet.7 Musik 3: 3‘34 Georg Philipp Telemann: Konzert G-Dur, 1. Satz „Etwas lebhaft“ (Vivace) aus dem Konzert für Flöte, Chalumeau, Oboe, 2 Kontrabässe Streicher und Basso continuo G-Dur, TWV 50:1, Grillen-Sinfonie Freiburger Barockorchester Leitung: Gottfried von der Goltz Eigenproduktion des SWR 6 Georg Philipp Telemann, Lebens-Lauff, in: Johann Matthesons Grosse General-Baß-Schule, Hamburg 1731, S. 160ff., hier zitiert nach: Georg Philipp Telemann, Singen ist das Fundament zur Musik in allen Dingen. Eine Dokumentensammlung, Wilhelmshaven 1981 (Taschenbücher zur Musikwissenschaft 80), S. 101. (fortan zitiert als Singen) 7 Ebenda. 5 S1: Telemann komponiert also bewusst für die vielen – auch wenn damit immer noch die relativ kleine bürgerlich-aristokratische Bildungsschicht gemeint ist, die musikalische Instrumente und die Notenschrift beherrschten. Aber gerade diese Schicht wurde im Zeitalter der Aufklärung ökonomisch wie kulturell tonangebend. Was so hehr nach der Pflege des Gemeinwohls klingt, hat also auch einen kommerziellen Nebenaspekt: Telemann hat bewusst als komponierender Unternehmer gearbeitet, er hat den Notendruck dafür ebenso genutzt wie das Konzert- und Opernwesen. Er war also nicht nur ein wahrhaft „demokratischer“ Komponist, wenn man das so sagen kann, sondern ineins damit auch ein glänzender Geschäftsmann. Zum bürgerlichen Unternehmer Telemann passt auch, dass er in seinen persönlichen Umständen auf Sicherheit gesetzt hat; deswegen hat er eine Tätigkeit in einer Stadt dem Hofleben vorgezogen. Obwohl hochbegehrt, hat Telemann gerade mal acht Jahre in höfischen Diensten gestanden, in Sorau und in Eisenach. Von 1712 bis zu seinem Tod 1767 hingegen, also 55 Jahre, wirkte er als Musikdirektor, das heißt als vor allem für die Kirchenmusik zuständiger kommunaler Angestellter, zunächst in Frankfurt am Main und dann ab 1721 in Hamburg. Dabei bot die Tätigkeit an den luxuriösen Höfen mehr musikalische Möglichkeiten und auch mehr Prestige als der etwas farblosere Dienst in einer „Republik“, und seien es auch, wie hier, freie Reichsstädte. Doch der Glanz des höfischen Lebens bot die Gefahr, dass man jederzeit von der Gnade, der Laune und dem Geldbeutel eines Fürsten abhängig war – und von seiner Gesundheit, denn nach dem Tod des Regenten wurde routinemäßig dessen gesamter Hofstaat und damit auch die Hofkapelle entlassen. Man konnte dann nur hoffen, vom Nachfolger wieder eingestellt zu werden; diese Hoffnung aber erfüllte sich nicht immer. Und so erklärt Telemann in einer seiner Autobiographien: S2: Ich weiß nicht, was mich bewog, einen so auserlesenen Hof, als der eisenachische war, zu verlassen; das aber weiß ich, damahls gehört zu haben: Wer Zeit Lebens fest sitzen wolle, müsse sich in einer Republick niederlassen. 8 S1: Die Entscheidung für die Stadt als Wirkungsraum erlaubte es Georg Philipp Telemann somit erst, seine Idee einer „Musik für alle“, wenn wir es so salopp ausdrücken wollen, konsequent zu verwirklichen. Schon in Leipzig, wo er 1701 als gerade mal zwanzigjähriger Student eingetroffen war, hat er sich sofort darum bemüht, Strukturen aufzubauen, die wir heute als selbstverständlich für ein öffentliches, urbanes Musikleben ansehen, die es damals aber eben noch nicht waren. Zunächst gründete er ein sogenanntes Collegium musicum, eine Art Studenten-Ensemble auf sehr hohem musikalischen Niveau, das man durchaus als eine Art Vorläufer oder Prototyp des späteren Gewandhausorchesters ansehen kann. Fast gleichzeitig übernahm er die Leitung der Leipziger Oper und komponierte zahlreiche Werke für sie. Schon zuvor hatte er als Kirchenkomponist Erfolge gefeiert 8 Telemann (ex autogr.), in: Johann Mattheson, Grundlage einer Ehren-Pforte, Hamburg 1740, hier zitiert nach Singen, S. 205. 6 und machte dem amtierenden Thomaskantor, Johann Kuhnau, damit das Leben schwer. Kein Wunder, dass der Leipziger Magistrat den begabten Jungspund rasch als Nachfolger Kuhnaus ins Auge fasste und er tatsächlich 1722 die erste Wahl für die vakante Position des Thomaskantors wurde – er blieb dann doch in Hamburg, und das Amt ging an den Drittplazierten, Johann Sebastian Bach. Dieses schon in der Leipziger Studentenzeit erfolgreich durchgespielte Muster einer nahezu absolutistischen Herrschaft über das öffentliche Musikleben bewährte sich nach den höfischen Intermezzi auch in Telemanns gesicherten Positionen in Frankfurt und vor allem in Hamburg. Wiederum begann Telemann sofort eine ungeheure Aktivität als Musikorganisator im öffentlichen Raum: in der Kirchenmusik, für die sein Vertrag galt, sowieso, aber auch im Bereich des Konzerts und der Opernoder (in Frankfurt) Oratorienaufführungen. Zudem beginnt schon in Frankfurt eine beachtliche Serie von Musikdrucken, die Telemann selbst herausgegeben und oft auch verlegt hat. Nicht zuletzt zeigt sich Telemanns planmäßige Eroberung der musikalischen Öffentlichkeit auch darin, dass er sich immer wieder publizistisch zu Wort gemeldet hat. Das ist für einen Musiker ja nicht selbstverständlich. Von Bach oder Händel besitzen wir kaum signifikante öffentliche Aussagen. Telemann aber äußerte sich oft und gern über Musik, schrieb Vorworte zu seinen Publikationen, verfasste launige Gedichte und auch zahlreiche seiner Textbücher. Überdies besitzen wir nicht weniger als drei autobiographische Texte von ihm (ein vierter blieb Fragment) – diese aber sind immer auf eine konkrete Aufforderung hin entstanden. Sie verdankten sich also nicht der bloßen Eitelkeit, aber sie wurden verfasst mit offenbarer Lust an der Selbstdarstellung und wohl auch Selbststilisierung. Primär war Telemann jedoch kein Schriftsteller, sondern Komponist. Zu seinem Selbstverständnis gehörte das in allererster Linie, obwohl er natürlich auch immer ausübender Musiker war; im Gegensatz etwa zum Orgelvirtuosen Johann Sebastian Bach oder dem brillanten Geiger Antonio Vivaldi hat er sich aber auf keinem Instrument besonders hervorgetan. Seine Virtuosität bestand im Komponieren, und darin war er von unermüdlicher, vielseitiger und geradezu unerschöpflicher Produktivität. Er war geradezu eine Ein-Mann-Industrie. Während Vivaldi sich damit gebrüstet hat, dass er ein Konzert schneller komponieren könne als es der Kopist abschreiben könne, ist von Telemann die Anekdote überliefert, dass er, als sich einmal hoher Besuch unerwartet angesagt hatte, in einer Stunde eine Huldigungskantate komponiert habe und zwar schneller, als der Dichter den Text dafür schreiben konnte. Diese Produktivität war aber kein Selbstzweck; Telemann verstand und betrieb sein Komponieren als einen integralen Bestandteil seines Projekts „musikalische Öffentlichkeit“. Er komponierte gewissermaßen dort, wo er einen Bedarf dieses Projekts sah. Das gilt vor allem für die Veröffentlichung seiner Kompositionen im Druck, die er mit einer Energie und mit einem Erfolg vorantrieb wie keiner seiner Zeitgenossen. Telemanns Publikationen richten sich an den häuslichen Hobbymusiker ebenso wie an den gestandenen Kantor, an den Gottesdienstbesucher und an die Konzertveranstalter. 7 Dabei machte sich der Komponist eine Reihe von Strategien zunutze, um eine möglichst weite Verbreitung seiner Musik zu garantieren. So setzte er ganz bewusst auf eine eingängige, kantable Melodik. 1718 schiebt er in seiner ersten Autobiographie eine Art Merkvers ein: S2: Singen ist das Fundament /zur Music in allen Dingen Wer die Composition ergreifft / muß in seinen Sätzen singen Wer auf Instrumenten spielt / muß des Singens kündig seyn. Also präge man das Singen jungen Leuten fleißig ein.9 S1: Über seine eigenen kompositorischen Anfänge in der Kirchenmusik, wobei er sich, wie damals üblich, ganz an etablierten Mustern orientierte, berichtet Telemann: S2: Ich ließ die Stücke derer neuern Teutschen und Italiänischen Meister mir zur Vorschrifft dienen / und fand an ihrer Erfindungs-vollen / singenden und zugleich arbeithsamen Arth den angenehmsten Geschmack / bin auch jetzt noch der Meynung / daß ein junger Mensch besser verfahre / wann er sich mehr in denen Sätzen von gedachter Sorte umsiehet / als denenjenigen Alten nachzuahmen suchet / die zwar krauß genug contra-punctiren / aber darbey an Erfindung nackend sind / oder 15. biß 20. obligate Stimmen machen / wo aber Diogenes selbst mit seiner Laterne kein Tröpfgen Melodie finden würde.10 S1: Mit solchen Worten stellt sich Telemann in einer Debatte, die das ganze 18. Jahrhundert beherrschen sollte, auf die Seite des „Fortschritts“: Einfache, singbare Melodie, die zu Herzen geht, statt komplizierter Harmonie und unverständlicher kontrapunktischer Künsteleien, damit befindet sich Telemann in direkter Übereinstimmung mit den musikalischen Idealen der deutschen Frühaufklärung. Und natürlich musste diese zugängliche Musik dann auch für jedermann zugänglich, verfügbar sein. Dafür brauchte Telemann den Notendruck, und eine seiner frühesten Publikationen, von 1716, betitelte er denn auch programmatisch: S2: Kleine Cammer-Music / bestehend aus VI Partien / Welche vor die Violine / Flûte traverse / wie auch vors Clavier / besonders aber vor die Hautbois / nach einer Leichten und singenden Art / also / dass sich so wohl ein Anfänger darinnen üben / als auch ein Virtuose darmit hören lassen kann / eingerichtet und verfertiget sind.11 S1: Der Titel ist Programm: Es handelt sich um Musik für die bürgerliche Kammer, und das heißt auch für den Amateur-Markt – wobei „Amateur“ nicht abschätzig zu verstehen ist, sondern in seinem ursprünglichen Wortsinn: als Freund oder Liebhaber der Musik. Damit wurde dem Käufer garantiert, dass diese Musik keine allzu 9 Telemann, Lebens-Lauff, in: Singen (wie Anm. 6), S. 92. Ebenda, S. 93. 11 Titel von Kleine Cammer-Music … verfertiget … durch Georg Philipp Telemann, Capellmeistern in Franckfurt am Mayn. In der Herbst-Messe 1716, in: Singen (wie Anm. 6), S. 71. 10 8 virtuosen Ansprüche stellte, nicht nur im technischen Sinn, sondern auch, was das hörende Verständnis betrifft, wie etwa im folgenden „Grave“ aus der 4. Partita in gMoll. Musik 4: 1‘59 Georg Philipp Telemann: 1. Satz: Grave aus: Partita für Viola da gamba und Basso continuo Nr. 4 g-Moll TWV 41:g2 (Die Kleine Cammer-Music) Camerata Köln cpo (08492), 999497-2 Deutlich, und durchaus programmatisch, wird hier auf Simplizität und Melodik gesetzt – eben auf die „Leichte und singende Art“. Im Vorwort legt Telemann selbst davon Rechenschaft ab, so hat er etwa den Tonumfang möglichst klein gehalten – wodurch die Musik eben für Violine, Flöte, oder Oboe spielbar wurde, also der Absatzmarkt sich vergrößerte –, auch harmonisch hat er auf Schlichtheit, ja auf Gewöhnliches gesetzt. S2: … dieses aber ist denen und also den meisten / zu gefallen geschehen / welche in der musikalischen Wissenschaft noch nicht gar zu weit kommen sind. Enfin / ich habe getrachten / allen etwas nach ihrem Geschmack vorzulegen. Ist mein Zweck nicht erreichet / so habe doch getan / was ich gekonnt.12 S1: Dass ein Komponist seine Werke im Druck veröffentlicht, scheint uns heute selbstverständlich, das war es aber gerade zu jener Zeit ganz und gar nicht. Im frühen 18. Jahrhundert hatte der deutsche Musikalienverlag seinen Tiefststand erreicht; es gab praktisch keine Verleger für Musik mehr, sondern die Komponisten mussten ihre Drucke im Selbstverlag herausbringen, d. h. selbst finanzieren und teilweise auch selbst produzieren. Unter diesen nicht gerade vorteilhaften Umständen begann Telemann eine Publikations-Serie, die nicht ihresgleichen hatte: In den 25 Jahren zwischen 1715 und 1740 brachte er nicht weniger als 46 teils umfangreiche Veröffentlichungen heraus. Zum Vergleich: Johann Sebastian Bach hat gerade zwölf Drucke selbst veranlasst, und schon damit lag er weit über dem Durchschnitt seiner Zeitgenossen. Dabei sind Telemanns Publikationen zumindest ab der Zeit in Hamburg im Selbstverlag erschienen, und nicht nur das, Telemann hat sich auch selbst das Kupferstechen beigebracht und seine Platten selbst gestochen. Er war eben eine Ein-Mann-Industrie. Viele dieser Publikationen sind, wie beschrieben, auf den Markt bürgerlicher Amateure gerichtet; aber 1725, als Hamburger Musikdirektor, setzte Telemann einen ehrgeizigeren Plan um. Er wollte einen ganzen Jahrgang von Kirchenkantaten veröffentlichen, also für alle Sonntage des Kirchenjahrs: den Harmonischen GottesDienst. Dieses Unternehmen war, gerade was die Kirchenmusik betraf, in der 12 Ebenda, S. 72. 9 damaligen Marktlage höchst riskant. Im 17. Jahrhundert ließ Heinrich Schütz noch zahlreiche große geistliche Vokal-Werke drucken – die Psalmen Davids, die Symphoniae sacrae, die Geistliche Chormusik und so fort – im frühen 18. Jahrhundert hat Johann Sebastian Bach kein einziges seiner zahlreichen geistlichen Vokalwerke veröffentlicht. Kirchenmusik wurde nur handschriftlich vervielfältigt; eine überregionale Nachfrage schien nicht zu bestehen. Telemann wagte es trotzdem, aber er wagte es mit einer Sicherheitsvorkehrung. Am 26. Oktober 1725 publizierte er in der Staats- und Gelehrten Zeitung des Hollsteinischen Correspondenten folgende Anzeige: S2: „Hr. Georg Philipp Telemann ist gesonnen, mit dem Anfang des bevorstehenden neuen Jahrs einen zum allgemeinen Gebrauch besonders eingerichteten musicalischen Jahr-Gang auf alle Sonn- und Fest-Tage heraus zu geben. Jedes Stück soll eintzeln, und 4 Wochen vorher zum Vorschein kommen, damit es bey Zeiten an auswärtigen Orten zu haben sey, und auch dort könne aufgeführt werden. … Dieser Jahrgang, wozu der Text von einer geschickten Feder, und auf die jedesmalige Epistolische Lection gerichtet ist, wird beydes complet, und auch bey einzelnen Stücken, ausgegeben. Da er überhaupt 67 Piecen enthalten wird, so sollen diejenigen, welche denselben vollständig verlangen, ihn für 20 Marck oder 6 Reichsthaler 16 Groschen haben … Eintzeln aber werden sie nicht unter 6 Schillingen oder 3 Groschen zu haben seyn.“13 S1: Der Anreiz für die Käufer bestand, wie ja auch heute noch, in einem Preisrabatt: Wer subskribierte, wir würden heute sagen abonnierte, konnte mit einem Preisnachlass zwischen 10 und 40 Prozent, meistens mit einem guten Viertel weniger, rechnen. Dieses Verfahren war ein wichtiger Gradmesser nicht nur dafür, ob sich eine Publikation lohnte – man konnte auch noch einen Rückzieher machen – sondern auch, um sozusagen Marktforschung zu betreiben und eventuell neue Abnehmer kennenzulernen. Die Subskriptionslisten wurden oft auch veröffentlicht, und für nicht wenige Käufer ist das der eigentliche Anreiz gewesen: sich in einer Liste mit hochgestellten Persönlichkeiten wiederzufinden. Insgesamt hat es mindestens 14 solcher Aufrufe gegeben, nicht zufällig meistens für größer besetzte Werke wie einen weiteren Kantatenjahrgang, das Oratorium Music vom Leiden und Sterben des Welt Erlösers oder groß besetzte Instrumentalwerke wie die Tafelmusik. Dieses letzte Stück, die 1733 veröffentlichte Musique de table, hatte beispielsweise 185 Subskribenten, die insgesamt 206 Exemplare abnahmen. Sie kamen aus England, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Holland, Norwegen, Spanien, der Schweiz und dem Baltikum. Die in Paris gedruckten Nouveaux Quatuors – die Pariser Quartette – von 1738 hatten sogar, Nachträge mitgerechnet, 287 Subskribenten (davon 138 in Paris) und 294 Kopien. Aus diesen Listen wissen wir, dass auch Bach und Händel zu Telemanns Abonnenten zählten. Ersterer hat 13 Staats- und Gelehrten Zeitung des Hollsteinischen Correspondenten, 26. Oktober 1725, hier zitiert nach Werner Menke, Das Vokalwerk Georg Philipp Telemann’s: Überlieferung und Zeitfolge, Bärenreiter, Kassel 1942, Anh. A, S. 6f. 10 diese Quartette gewiss in Leipzig, im Kaffeehaus von Gottfried Zimmermann mit seinem Collegium musicum aufgeführt – das Ensemble, das ja 1703 von Telemann gegründet worden war. Letzterer, also Händel, hat sich aus dem Harmonischen Gottes-Dienst und auch aus der Musique de table immer wieder Ideen geholt – Händel war ja denkbar unbekümmert darin, musikalische Einfälle zu entlehnen, freilich hat er sie auch oft mit Zinsen zurückgezahlt. So setzt im dritten Teil von Telemanns Tafel-Musik die Fuge der Ouvertüre mit einem charakteristischen Motiv ein: Musik 5: 0‘40 Georg Philipp Telemann: 1. Satz: Ouverture. Lentement - Presto –Lentement (Ausschnitt) aus der Suite für 2 Oboen, Streicher und Basso continuo B-Dur, TWV, 55:B1 Freiburger Barockorchester Leitung: Petra Müllejans Gottfried von der Goltz HARMONIA MUNDI FRANCE (07045), 902042.45 Dieses Motiv hat Händel, kaum verändert, aber mit ganz anderer Klang-Dramaturgie, in sein Occasional Oratorio übernommen. Musik 6: 2‘30 Georg Friedrich Händel: Ouverture (Ausschnitt) aus der Occasional Suite D-Dur, bearbeitet für Orchester Bearbeiter: Trevor Pinnock The English Concert Leitung: Trevor Pinnock Archiv Produktion (00113), 453451-2 Solche produktiven Verarbeitungen sollte man nicht mit den Maßstäben des Urheberrechts messen, das es damals ja noch nicht gegeben hat; auch der Gedanke von künstlerischer Originalität und die Genie-Ästhetik begannen sich erst allmählich durchzusetzen. Man kann hier das merkwürdige historische Zwischenstadium erkennen, in dem Telemann tätig ist: Obwohl er als Selbstverleger das gesamte Risiko auf sich nimmt, hat er keinerlei Urheberrechtsanspruch, in der Tat sind mindestens zehn unautorisierte Drucke seiner Werke erschienen. Die wöchentliche Publikation seiner Kantaten verhinderte allzu eifrige Nachdrucke. Telemann hat die Druckvorlagen für einen Teil seiner Publikationen eigenhändig erstellt, und das im ganz physischen Sinn: Er hat mit speziellen Stempeln Notenformen in Zinnplatten eingehämmert. Dieses Geschäft diente der 11 Geldersparnis, aber auch der künstlerischen Kalkulation. Telemann hat ganz bewusst die eigentümliche Materialität des Formats Musikdruck mit einbezogen. So hat er bei verschiedenen seiner Fantasien für Soloinstrumente oder die XX Kleinen Fugen jedes Stück so komponiert, dass es genau auf eine Seite passte. Er hat auch seine 7 x 7 + 1 Menuette so komponiert, dass immer 7 Menuette auf genau acht Seiten passten. Er hat, und das ist vielleicht sein raffiniertester Schachzug gewesen, schließlich eine Art musikalisches Äquivalent zur Zeitschrift entwickelt: Der getreue Music-Meister, der 1728–29 erschien. Telemann selbst hat in Titel und Vorrede das Prinzip dieser Publikation geschildert. S2: Der getreue Music-Meister, welcher so wol für Sänger als Instrumentalisten allerhand Gattungen musicalischer Stücke, so auf verschiedene Stimmen und fast alle gebräuchliche Instrumente gerichtet sind, und moralische, Opern- und andere Arien, dessgleichen Trii, Duetti, Soli etc. Sonaten, Ouvertüren, etc. wie auch Fugen, Contrapuncte, Canones, etc. enthalten, mithin das mehreste, was nur in der Music vorkommen mag, nach Italiänischer, Französischer, Englischer, Polnischer, etc. so ernsthaft- als lebhaft- und lustigen Ahrt, nach und nach alle 14. Tage in einer Lection vorzutragen gedenket, durch Telemann. Hamburg, Ao. (Anno) 1728. Geneigte Leser! Es würde das gegenwärtige Werk, von dessen Inhalte der Titul bereits hinlängliche Nachricht ertheilet, ohne Vor-Rede geblieben seyn, wann ich nicht den Raum dieses leren Blates mit etlichen schwarzen Buchstaben zu schmücken gedächte. … Demnach sage ich …, daß es ein musicalisches Journal sey, und, meines Wissens, das erste, so vermittelst wirklicher Music, in Teutschland, zum Vorschein kommt. Haben sonst die so genannten monatliche, oder solche, Schriften, die zu gewissen Zeiten Stück-weise herauskommen, vielfältig ihre Liebhaber gefunden, so sollte ich glauben, es werde auch diese nicht gar verworfen werden, da sie, mit jenen, den Zweck hat, zu nutzen und zu belustigen.14 S1: Die „monatlichen Schriften“, auf die sich Telemann hier bezieht, sind die sogenannten moralischen Journale, das bedeutendste Massenmedium der Aufklärung, die nach dem Vorbild des englischen The Tatler und The Spectator bald auch in Deutschland erschienen. Als Übersetzung aus diesen war die erste deutsche Zeitschrift dieser Art, Der Vernünftler, entstanden. Sie wurde 1713/14 in Hamburg von keinem anderen als Johann Mattheson herausgegeben, dem Komponisten, Musiktheoretiker und persönlichen Bekannten Telemanns. Mattheson hatte auch ab 1722 den ersten Versuch überhaupt einer Zeitschrift über Musik herausgebracht, die Critica Musica, ebenfalls in Hamburg. Telemann aber brachte, abermals im weltläufigen Hamburg, Musik als Zeitschrift heraus – ein revolutionäres Konzept. S2: Man könnte mir indeß etwan einwerfen, daß es von einer einzelnen Person nicht wenig gewagt sey, dergleichen Werk zu unternehmen, worin so vielerley Sachen 14 Georg Philipp Telemann, Der getreue Music-Meister, Hamburg 1728, Vorrede, in: Singen (wie Anm. 6), S. 144f. 12 vorgetragen werden sollten. Es ist wahr, und habe ich mich deswegen lange bedacht …, ob ich mich schon einiger massen darauf verlassen könnte, daß mich die Noten bisher fast so bald gesuchet, als ich mich nach ihnen umgesehen. Aber, weil der Mensch der Arbeit wegen, und um dem Nächsten zu dienen, lebet, so habe ich mich endlich diese Hinderniß nicht anfechten lassen, zumal, da ich darauf gerechnet, ich würde zur muntern Fortsetzung dieser Sätze auch dadurch angefrischet werden, weil ich mich an einem Orte befinde, wo die Music gleichsam ihr Vaterland zu haben scheinet, … wo verschiedne vornehme Familien Virtuosen und Virtuosinnen unter den ihrigen zehlen … und wo endlich der Schau-Platz so viele bündige Gedancken auswärtiger Componisten durch die auserlesensten Stimmen dem Gehöre mittheilet.15 S1: Schlau verbindet Telemann hier den vermeintlich selbstlosen Zweck der Nächstenliebe und des Dienstes am Gemeinwohl mit geschickt demonstriertem Lokalpatriotismus – mit dem zuletzt erwähnten Schau-Platz ist die damalige Hamburger Oper am Gänsemarkt gemeint, zu deren Leitung natürlich kein anderer als Telemann berufen worden war. Auch andere Publikationen hat Telemann nach Art einer Zeitschrift erscheinen lassen. Die Fugirenden und veraendernden Choräle oder die VI moralischen Cantaten erschienen beispielsweise immer vierzehntägig am Donnerstag. Der getreue Music-Meister aber bietet Telemanns raffinierteste Steigerung dieses Prinzips; er hat ihn nämlich nach der Art eines Fortsetzungsromans veröffentlicht, indem er mehrsätzige Werke auf mehrere Nummern verteilte und so seine Käufer dazu zwang, die nächste Ausgabe zu erwerben. Auch die Anspielung im Titel – ein Musikmeister war nach damaligem Sprachgebrauch ein Musiklehrer – ist keineswegs zufällig: Telemann hat bewusst didaktische, pädagogische Sammlungen veröffentlicht, für Amateure wie für angehende professionelle Musiker; Sammlungen, die zugleich die musikalische Geschicklichkeit und das Urteilsvermögen stärken sollten – so etwa die Sonate metodiche, die die Verzierungspraxis vorführen, die Singe-, Spiel- und Generalbaß-Übungen oder die Essercizii musici. Damit schließt sich der Kreis, denn damit zieht sich Telemann die nächste Generation seines Publikums, das er für seine Publikationen voraussetzt, selbst heran. Auch den Vertrieb seiner Musik hat Telemann nicht zum geringsten Teil selbst organisiert, er hat aber ebenso die Distributionswege des Buchmarkts dafür genutzt und damit auch Publikum in England, Schweden oder Russland erreicht. Er hat Hamburger Kaufleute involviert, um mit deren Sendungen und Lieferungen kostenlos Noten mitzuschicken. Er hat aber auch persönliche Kontakte genutzt, um Subskribenten anzuwerben. Es blieb also keine Anstrengung aus, um die größtmögliche Öffentlichkeit zu erreichen. Die Entwicklung einer bürgerlichen Öffentlichkeit ist, nach der berühmten These des Sozialphilosophen Jürgen Habermas, eine der wichtigsten Leistungen der europäischen Aufklärung. Habermas definiert die bürgerliche Öffentlichkeit als 15 Ebenda, S. 145. 13 S2: die Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute.16 S1: Eben um diese Privatleute und ihre musikalische Geschmacksbildung war es Georg Philipp Telemann zeitlebens zu tun – durch die Entwicklung oder Aufrechterhaltung eines urbanen Konzert- und Opernbetriebs ebenso wie durch die Verbreitung seiner Musik mit den Mitteln des Musikdrucks – wobei die pädagogische Grundlagenliteratur gleich mitgeliefert wurde. Telemann erwies sich so als genialer Stammvater der Musikvermittlung. Dass er unter der zu vermittelnden Musik in allererster Linie seine eigene verstand, zeugt von seinem Selbstbewusstsein, das sicherlich nicht geringer war als seine Arbeitskraft und sein Organisationstalent. Es zeugt auch von jenem gesunden Verhältnis zwischen der Sorge ums Gemeinwohl und Eigennutz, das sein jüngerer Zeitgenosse Adam Smith in der Metapher von der „unsichtbaren Hand“ formuliert hat: Indem Telemann die Musikkultur sowohl in seinem unmittelbaren städtischen Wirkungskreis als auch auf dem internationalen Musikalienmarkt voranbrachte, brachte er auch sich selbst voran; nach Schätzungen des Musikwissenschaftlers Steven Zohn dürfte er in der Zeit seiner intensivsten Publikationstätigkeit seine üppigen Hamburger Haupt- und Nebeneinkünfte von etwa 1300 Reichstalern mindestens verdoppelt, wenn nicht verdreifacht haben. Auch auf dem scheinbar entlegenen Gebiet der Musik zeigt sich also die aufklärerische Tendenz, die das aristokratische Geburtsrecht durch das bürgerliche Verdienstprinzip ersetzen will. Und das sei an einem letzten Beispiel gezeigt, Telemanns sicherlich ehrgeizigster Instrumentalpublikation, der bereits erwähnten Musique de table, die den Subskribenten 1733 in drei Teilen vierteljährlich geliefert wurde. Telemann bezieht sich hier unverkennbar auf die jahrhundertealte Tradition der Musikdarbietung bei der fürstlichen Tafel, d. h. beim Mittag- und Abendessen, wie er sie selbst am Eisenacher Hof geliefert hatte: S2: Die Absicht war in Eisenach … auf eine Instrumental-Musik gerichtet, deren Gliedern … ich, als Concertmeister, vorgesetzet ward, mithin bey der Tafel und in der Kammer die Violine, und das übrige, zu spielen hatte.17 S1: Auch in Hamburg hat Telemann die vom Rat veranstalteten Mahlzeiten bei gegebenen Anlässen oder Festen mit Musik versorgt. Mit seiner Musique de table, die alle Spielarten des Instrumentalen, von der umfangreichen Orchestersuite, über Konzerte für verschiedene Instrumente bis hin zur intimen Kammermusik umfasste, machte Telemann dieses Privileg der Eliten nun der Öffentlichkeit zugänglich. Und so können auch wir heute noch, ohne Subskribenten zu sein, die Eleganz und Leichtigkeit bewundern, mit der Georg Philipp Telemann sein Zeitalter erfreute und aufklärte. 16 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1990, S. 86. 17 Telemann (ex autogr.) (wie Anm. 8), in: Singen (wie Anm. 6), S. 203. 14 Musik 7: 4‘06 Georg Philipp Telemann: 2. Satz: Air: Tempo giusto aus der Suite für Oboe, Trompete, Streicher und Basso continuo D-Dur, TWV 55:D1 Freiburger Barockorchester Leitung: Gottfried von der Goltz Eigenproduktion des SWR 15