Die Überlagerung der islamischen Kultur durch den Westen Autor(en): Hottinger, Arnold Objekttyp: Article Zeitschrift: Du : die Zeitschrift der Kultur Band (Jahr): 68 (2008-2009) Heft 787: Das Essen PDF erstellt am: 20.08.2017 Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-302922 Nutzungsbedingungen Die ETH-Bibliothek ist Anbieterin der digitalisierten Zeitschriften. Sie besitzt keine Urheberrechte an den Inhalten der Zeitschriften. Die Rechte liegen in der Regel bei den Herausgebern. Die auf der Plattform e-periodica veröffentlichten Dokumente stehen für nicht-kommerzielle Zwecke in Lehre und Forschung sowie für die private Nutzung frei zur Verfügung. Einzelne Dateien oder Ausdrucke aus diesem Angebot können zusammen mit diesen Nutzungsbedingungen und den korrekten Herkunftsbezeichnungen weitergegeben werden. Das Veröffentlichen von Bildern in Print- und Online-Publikationen ist nur mit vorheriger Genehmigung der Rechteinhaber erlaubt. 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Dies und sein kürzlicher Auftritt an der Tagung " „ Wenn Kulturen aufeinanderprallen in Zürich war der Anlass, den Nahostspezialisten, der heute als freier Publizist tätig ist, seine über die fagesaktualität hinaus reichenden, grundlegenden Gedanken speziell für Du zusammenfassen zu lassen. Text von Arnold Hottinger Totos von Antonin Kratochvil Der Mythos vom Zusammenprall der Kulturen ist falsch, aber er hält sich zäh, obgleich viele Fachleute ihm immer wieder laut wi¬ dersprechen. Das kommt wohl daher, dass es scheint, der Mythos bestätige sich in der Praxis: Es gibt heute Einwanderer aus ande¬ ren Kulturen in die westlichen Industriestaaten, die ihre Kultur mit sich bringen, und dies führt unvermeidlicherweise zu kleineren oder größeren Reibungen und Zusammenstößen. Es gibt auch Terroranschläge von Leuten, die sich auf „den Is¬ lam" berufen und die deshalb leicht als die Vorkämpfer eines „Zu¬ sammenstoßes mit dem Islam" gesehen und stilisiert werden kön¬ nen. Doch dabei handelt es sich nicht um „den Islam", und schon gar nicht um eine wie auch immer geartete „islamische Kultur", sondern um das besondere Islamverständnis bestimmter, stark minontärer, dem Fanatismus verfallener Randgruppen, die so wenig für „den Islam" stehen können wie die Baader-Meinhof-Gruppe für „den Sozialismus". Überlagerung, nicht zwei Blöcke Damit sei nicht behauptet, dass das Verhältnis der sogenannt west¬ lichen Welt zu ihren islamischen Nachbarländern unbedingt ein harmonisches sei. Doch das Bild Samuel Huntingtons, das dem Be¬ griff „Zusammenstoß" innewohnt, ist verkehrt. Es vermittelt die Vorstellung von zwei Blöcken, die eisbergartig aufeinanderpral¬ len. In Wirklichkeit geht etwas ganz anderes vor sich. Eine Über¬ lagerung findet statt. Es sind die als „westlich" geltenden industri¬ alisierten europäischen und amerikanischen Kulturen christlicher Wurzel, die heute ihre islamischen Nachbarkulturen immer noch beständig zunehmend überlagern. Der Vorgang ist schon alt. Er be¬ gann am Anfang des 19. Jahrhunderts, als die europäischen Heere die islamische Welt von allen Seiten her, zuerst an der Peripherie, 32 später immer mehr auch in ihren zentralen Gebieten, angriffen, eroberten, unterjochten, so lange, bis nach dem Ersten Weltkrieg beinahe die gesamte islamische Welt unter die koloniale Herrschaft der Europäer gelangt war. Um sich dieser Angriffe zu erwehren, sahen die islamischen Reiche und ihre Herrscher sich gezwungen, ihrerseits europäische Waffen, ein europäisches Heereswesen einzuführen. Bald stellte sich heraus, dass diesem ersten Schritt der militärischen Anpassung an den Westen weitere folgen mussten: Man brauchte nicht nur Sol¬ daten im westlichen Stil, sondern auch Uniformen, Stiefel, Pulver für sie. Die militärische Technologie: Kanonen, Maschinengewehr, Automobile, Kampfflugzeuge, Sanitätswesen, Kartografie, Ballis¬ tik, musste Schritt für Schritt eingeführt werden. Dafür brauchte man neue Geldquellen. Dies erforderte Umformung der Verwal¬ tung nach europäischen Vorbildern, Einführung des ausländischen Bankenwesens, Gründung von Manufakturen im europäischen Stil, Anbau von neuen Feldfrüchten, die nach Europa exportiert werden konnten, später eine beginnende Industrialisierung, immer nach eu¬ ropäischen Mustern, oft mit der Hilfe von fremden Fachleuten und Geldgebern. Der gleiche Prozess setzte auch neue Bildungsanstalten voraus: von der staatlichen Volksschule nach französischem Vorbild bis zu den Universitäten nach europäischem Modell und anfänglich von europäischen Professoren geleitet. Trotz diesen Anpassungsbemühungen der islamischen Länder wuchs der Machtunterschied zwischen dem Westen und Osten immer weiter an. Nach dem Ersten Weltkrieg war beinahe die gesamte islamische Welt unter verschiedene Formen europäischer Kolonialherrschaft gekommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind die fremden Kolonialtrup¬ pen abgezogen; in Algerien erst 1962, in den Golfstaaten nach 1972. Horizonte: Arnold Hottinger Doch eine Abhängigkeit von westlicher Technologie im militä¬ rischen und im zivilen Bereich, von Verwaltungs-, Finanz-, Wirt¬ schafts- und Bildungsmethoden verblieb und wuchs immer weiter an, bis auf den heutigen Tag. Zuerst Kolonialismus, dann Globalisierung Weil die Importe und die Modelle der Übernahmen heute nicht mehr alleine aus Europa kommen, sondern auch zunehmend aus den Vereinigten Staaten, aus Japan, dem Fernen Osten, spricht man heute nicht mehr von „Verwestlichung" der islamischen Welt, sondern von „Globalisierung". Es bleibt aber der Umstand, dass es sich um Importe und Übernahmen handelt, die nicht der ein¬ heimischen, „islamischen" Kultur angehören, sondern der frem¬ den westlichen entstammen. Insgesamt gehen diese Kulturimporte heute so weit, dass man von einer „Fremdbestimmung" der isla¬ mischen Kulturen sprechen kann. Diese entsteht nicht freiwillig. _T legentlich sogar physisch (wie heute im Irak und in den besetzten Gebieten) liquidiert werden wollen. Die Profiteure und die Zurückgebliebenen Zu den Eigenheiten der Lage gehört, dass die Dinge der Fremden, die man zu übernehmen gezwungen ist, immer die erfolgreichen sind; die Dinge und Belange der eigenen Kultur regelmäßig und immer mehr die erfolglosen. Man sieht dies an der heute bestehen¬ den sozialen Schichtung. Die wohlhabenden Oberschichten leben weitgehend und beständig zunehmend im Stil der westlichen Welt. Mit deren technologischen und kulturellen, wirtschaftlichen, wis¬ senschaftlichen „Errungenschaften". Viele ihrer Vertreter gründen ihre Existenz darauf, dass sie Verbindungen zum westlichen Aus¬ land unterhalten, dorther Dinge, Ideen, Methoden, Votstellungen, Bildungsbegriffc und Bildungsinhaltc importieren und sie in ihrem eigenen Land zur Anwendung bringen. Dadurch werden sie reich ' m»<*»s-<«rij3.i»i - -twt Ta-m Krisen I fr¦'-'-* 1 *, k Kuwait-Stadt, Emirat Kuwait Sie kommt unter Zwang zustande. Man muss immer mehr von den Fremden übernehmen, um ihrem Druck widerstehen zu kön¬ nen. Der Druck kann militärischer, wirtschaftlicher oder kultu¬ und mächtig. Wer dies nicht vermag, verarmt zusehends. Dies ist die große Masse der muslimischen Völker, welcher der Zugang zu den Fremdsprachen, dem Wissen der Ausländer, deren Technolo¬ reller Natur sein. Die „Importe" führen zu einem Paradox für die Muslime: Um sich der Fremden zu erwehren, müssen sie sich ihnen immer mehr angleichen. Dabei laufen sie Gefahr, ihre eigene Iden¬ tität schrittweise aufzugeben. Doch sie haben keine andere Wahl, wenn sie sich nicht selbst kulturell, moralisch, wirtschaftlich, ge- gie und Wirtschaftsmethoden fehlt. „Globalisierte" Großstädte der islamischen Welt Wer eine der heutigen Großstädte in der islamischen Welt besucht, kann dies hautnah erleben. Es gibt noch die alten, historischen 33 Horizonte: Arnold Hottinger Stadtkerne, mit einigen ihrer alten Paläste, Moscheen, Basargewöl¬ ben. Doch viele zerfallen unter dem Druck der immer wachsen¬ den und zunehmend verarmenden Bevölkerung, die sie bewohnt. Daran schließen sich die einst von der kolonialen Oberschicht an¬ gelegten „europäischen Städte" an. Sie bilden heute das Handels¬ und Geschäftszentrum. Einzelne Hochhäuser stehen dort für die Banken, die großen Hotels und die reichen Geschäfte. Doch diese einstigen Gartenstädte beziehungsweise Städte der Kolonialisten sind auch schon zerwohnt. Rundherum, weiter außen, schließen sich Vorstädte übet Vorstädte an, „globalisierte" Zementblöcke im Allcrweltsstil, hoch und eng zusammengebaut. Noch weiter au¬ ßen kommen die „gated communities", der Begriff importiert aus Amerika, bewacht und ummauert, welche die Reichen mit ihren Gärten, Villen und Autos beschirmen. Die alten und die neuen Lehranstalten Überall gibt „islamischen" Kulturen überlagert. Vom Automobil bis zu Radio und Fernsehen, der modernen Medizin und Hygiene bis zur Atom¬ bombe, vom Buchdruck bis zum Internetcafe, vom Fußball bis zu den Staudämmen der großen Ströme, von der Erdölförderung bis zur Börsenspekulation bildet sich eine aus der „westlichen Welt" übernommene, abgeleitete, eingekaufte, unentbehrlich gewordene verwestlichte Kulturschicht, die sich der angestammten islamisch¬ östlichen aufgezwungen und diese überlagert hat. Alle Menschen im Nahen Osten und in den anderen weit dar¬ über hinausreichenden Ländern der islamischen Welt im Fernen Osten, in Zentralasien und in Afrika haben heute teil an beiden Kultursphären. Jedoch in sehr unterschiedlichem Maße. Grosso es die gewaltigen, immer zunehmenden Massen der Un¬ terschichten, die mangels materieller Mittel und geistigen Zugangs in der sich verengenden und oft verelendenden Welt ihrer eige- modo sind • zwei Bildungswege, einerseits den Erfolg ver¬ sprechenden, lukrativen, von der fremdsprachigen Privatschu¬ le, deutsch, französisch, englisch, italienisch, russisch sogar, wei¬ ter zur Universität europäischen Stils. Er führt zum Kontakt mit den Fremden, Geschäften mit ihnen, einem gehobenen Lebensstil, weitgehend „verwestlicht". Andererseits parallel dazu überlebt das traditionelle Bildungswesen von der Koranschule oder Volksschu¬ es zur islamischen Universität mit ihrem nur leicht modernisierten traditionell muslimischen Lehrplan, wo die islamischen Gotteswis¬ senschaften im Zentrum stehen. Dies ist der Ausbildungsweg der Bildungsbeflissenen unter den ärmeren und den bäuerlichen Be¬ völkerungsschichten. Wer ihn absolviert, kann als Gottesgelehrter mit dem Respekt der einfachen Leute rechnen; doch wirtschaftlich kommt er schwerlich voran. Er wird sich im Normalfall gezwun¬ le gen sehen, in der sich beständig verengenden Sphäre des traditio¬ nellen Lebens zurückzubleiben. Erfolg und Fortschritt sind fast immer an den anderen Bildungsweg gebunden, den fremdspra¬ chigen mit den ausländischen Lehrplänen, die aus Europa und aus Amerika eingeführt wurden. Die beste Aussicht auf beruflichen Erfolg bietet ein Studienabschluss im Ausland. Eine erfolgreich eingedrungene Fremdkultur Wenn Samuel Huntington von einem „Zusammenstoß der Kul¬ turen" spricht, muss man korrigieren: Dieser „Zusammenstoß" findet nicht statt, wie ihn Huntington schildert, zwischen einem „westlichen Block" und einem „islamischen". So war es vielleicht einmal im Hochmittelalter, als sich die beiden Zivilisationen eini¬ germaßen ebenbürtig gegenüberstanden. Allerdings gab es schon damals nicht nur Zusammenstöße, sondern auch vielfältige Verbin¬ dungen und Einflüsse beiderseits über die Kulturgrenzen hinweg. Heute sind es nicht mehr zwei Blöcke, die einander konfrontie¬ ren. Es ist vielmehr so, dass der eine, der „westliche", den anderen, „östlichen", seit 1800 immer mehr überlagert hat und immer weiter überlagert. Ein Ztisammenstoß, mehr in der Form von allerhand Widersprüchen und Reibungen, findet in erster Linie innerhalb der muslimischen Welt statt. Eine schwere, immer noch weiter wach¬ sende Schicht von „westlichen" Dingen, Ideen, Methoden, Tech¬ nologien, Ordnungsvorstellungen, Bildungsbegriffen, Erfolgsre¬ zepten hat in den letzten zweihundert Jahren die einheimischen 34 m % Altstadt von Marib, Jemen nen Vergangenheit gefangen bleiben, während die Oberschichten dank ihres Zugangs zu westlichen Kultutgütern aller Art in die Lage gelangen, in einer weitgehend „verwesthehten" separaten Umwelt zu leben und auch aus ihr Gewinn zu ziehen. Auch sie bleiben in einigen intimen Bereichen ihrer eigenen Tradition ver¬ bunden, jenem der Speisen und Küche etwa, der Familie mit ihren Sitten und Überlieferungen, dem des sozialen Umgangs mit ande¬ ren, Gleichgestellten, Untergebenen, Übergeordneten; heute nicht mehr jenem der Kleidung; nur teilweise noch dem der Sprache; manchmal der Religion. Die Überlagerung hat dazu geführt, dass praktisch jeder Mann und jede Frau in der islamischen Welt innerhalb von zwei Kul¬ turen zu leben gezwungen sind. Auch die Ärmsten der Armen be¬ wegen sich heute nicht mehr in einer ausschließlich traditionellen Welt — einfach weil es sie nicht mehr gibt, und auch che Reichsten der Reichen sind in einigen der Fasern ihrer Existenz an die eigene, überlieferte Kultur gebunden, schon weil sie in Ländern leben, tlie von ihr durchdrungen sind. Die Quellen des Terrorismus Wer diese Zusammenhänge in Rechnung stellt, beginnt auch den wahren Stellenwert des sogenannten îslamistischen Terrorismus zu erfassen. Er ist nicht „dem Islam" zu verdanken, sondern vielmehr ein Nebenprodukt, das aus den inneren Reibungen entsteht, welche Horizonte: Arnold Hottinger sich innerhalb der islamischen Gesellschaften abspielen. Die Rei¬ bungen sind ihrerseits eine Folge der geschilderten Überlagerung. Sein Mentor, der diese Entwicklung gefördert hat, ist bekannt. Es war der Palästinenser Abdullah Azzam, der auch als einer der Die Islamisten wenden sich primär gegen die „westlichen" Phä¬ Gründer der palästinensischen Hamas-Bewegung gilt. Azzam ar¬ beitete während des Guerillakriegs gegen die Sowjetunion in Af¬ ghanistan, in dem auch Bin Laden mitwirkte, als der Hauptrekrutierer der CIA unter den Muslimen der USA und besuchte in dieser Eigenschaft nicht weniger als 26 amerikanische Staaten. Azzam ist 1989 in Peschawar mit zwei seiner Söhne durch eine Landmine getötet worden. Die Tat wurde nie aufgeklärt. nomene, die sie aufSchritt und Tritt in ihrer eigenen Gesellschaft vorfinden. Diese erklären sie als „unislamisch" und daher verderb¬ lich. Freilich mit Einschränkungen. Viele von ihnen meinen, die Technologie und auch die Naturwissenschaften seien ja wertfrei, nicht islamisch und nicht christlich, deshalb könne man sie getrost übernehmen. Wieweit das zutrifft, ist allerdings eine andere Fra¬ ge. Die gewaltbereiten Randgruppen des Islamismus erklären sich darüber hinaus als bereit, ja gezwungen, gegen die eigenen Regie¬ Identitätsfragen rungen mit Gewalt vorzugehen, weil sie der Ansicht sind, ohne ge¬ waltsames Eingreifen, das die heute bestehenden Machtstrukturen Das Doppelleben aller heutigen Muslime — teils in der eigenen alt¬ hergebrachten Kultur, teils in der fremden, von außen her unter Zwang aufgedrängten, aber immer mehr einzig Erfolg verspre¬ der eigenen Staaten erschüttern soll, seien ihre Gesellschaften nicht mehr in echt „islamische" zurückzuverwandeln. chenden Moderne — wirft die Frage auf: Wer bin ich? Wo sintl r ± J s • fe ^ i_4 ¦•¦-¦¦e.^--- i H «4. ** Kuwait-Stadt, Emirat Kuwait Wenn einige islamistische Netzwerke, wie das berühmte Bin Ladens, sich schließlich nicht mehr gegen die eigenen Machtha¬ ber zu wenden begann, sondern gegen die Amerikaner und ande¬ ausdrücklich mit dem Ziel, jenen Mächten einen Schlag zu versetzen, die ihrerseits als die entscheidenden Stützen hinter den eigenen Machtstrukturen eingestuft wurden. Im Falle Bin Ladens waren es die in Saudi-Ara¬ bien stehenden amerikanischen Soldaten, die ihn zuerst zu Terror¬ anschlägen gegen Amerikaner in Saudi-Arabien veranlasst hatten. re „westliche Vormächte", so geschah dies meine eigenen Wurzeln? Wie können sie mit dem Erfolg und der Machtüberlegenheit des Fremden und der Fremden innerhalb mei¬ ner eigenen Gesellschaft in Einklang gebracht werden? Dies sind Identitätsfragen. Das Eigene sieht sich durch die Macht des Frem¬ den in Frage gestellt. Deshalb entsteht ein starker Wunsch, eine innere Notwendigkeit, das Eigene gegenüber dem andringenden Fremden zu bewahren und zur Geltung zu bringen. Die Generation nach der Unabhängigkeit (Nasser war das deut¬ lichste Beispiel) sah die neu gegründete Nation als den Hort dieser 35 Horizonte: Arnold Hottinger Eigenständigkeit. Die damals modische nationalistische Ideologie versicherte, nach dem Abzug der kolonialen Armeen und nach dem Sieg über das, was man „Neokolonialismus" nannte, werde ein eigener, „echt" nationaler Rahmen ihrem Volk die Möglich¬ keit bieten, „sich selbst zu verwirklichen". Was unter den gege¬ benen Umständen hieß, die eigenen Nöte und Notwendigkeiten gegenüber der Macht der andringenden fremden Menschen und Dinge z.u überwinden, die Macht der Fremden in eigene Macht zu verwandeln. Doch die Höhenflüge des Nationalismus endeten in der Katastrophe der Niederlage durch Israel im Sechstagekrieg Anziehungskraft und Wirkung dieser Ideologie in dem Maße zu¬ nimmt, in dem alle anderen Wege in die Zukunft versperrt und alle anderen Aussichten auf ein volles Dazugehören und Mitbe¬ herrschen der heutigen Welt hoffnungslos verbaut und vergeblich von 1967. Seither ist die Hoffnung, dass die Förderung der Nation den Durchbruch zu eigener Macht und eigenem Ansehen bewirke, mer engeren Leben entgegenstellt. Kleinere Teile von ihnen ver¬ mögen es nicht, in dieser Doppeltwelt fortzuleben. Sie suchen dann einen Ausweg bei der Verheißung der islamistischcn Ideologie. 'S JfflU k 4? Shibam, Jemen unglaubwürdig geworden. Eine neue Ideologie trat die Nachfolge der nationalistischen Hoffnungen an, sie wollte in der Rückkehr zum reinen, zum wahren Islam den Weg zum Heil, zur Rettung erblicken. Die islamistische Hellsverheißung Die algerischen Islamisten hatten sich zur „Islamischen Heilsfront" zusammengeschlossen. Die arabische Bezeichnung dieser Front (Jubha al-lnqadh al-Islami) kann man auch als „Islamische Ret¬ tungsfront" übersetzen. Die Rettung, das Heil, das die algerischen Islamisten verhießen, war gewiss Seelenrettung im Jenseits, doch zugleich auch immer und ausdrücklich „Rettung" der Gesellschaft der Muslime hier und jetzt aus der Not der Fremdbestimmung. Dabei darf Islamismus nicht mit Islam verwechselt werden. Es handelt sich um eine Ideologisierung der Religion des Islams. Sie behauptet, was die Nation (übrigens ein Begriff, der ebenfalls aus erscheinen. Noch immer: nur kleine Minderheiten Der größte Teil der heutigen Muslime hält die Gespaltenhcit ihres heutigen Lebens aus, welche beständig das fremde Mächtige und Erfolgversprechende dem eigenen immer mehr verarmenden, im¬ Nicht alle Islamisten glauben, dass sie ihre Ideologie mit Ge¬ walt zur Macht bringen müssen. Mehrheiten von ihnen setzen auf friedliche Durchdringung ihrer Gesellschaften durch ihre Ideo¬ logie. Doch Minderheiten von ihnen verfallen dem Glauben, tlass nur Gewalt ihrer Lehre zum Durchbruch verhelfen könne. Die Gewalttätigen sind also die Minderheiten einer Minderheit. Doch es ist evident, dass diese Randgruppen immer dann anwachsen werden, wenn alle Hoffnungen auf eine graduelle und friedliche Lösung der Spannungen schwinden, die durch die Macht und Prä¬ senz des Fremden in ihren Gesellschaften gegeben sind. Die radi¬ kalste Form, in der zurzeit die Macht der Fremden erscheint, ist die militärischer Besetzung durch kriegsführende Außenseiter unter Tötung und Vertreibung der einheimischen Bevölkerung durch die „westliche" Kriegstechnologie der Invasoren. Deshalb sind die beiden heutigen Hauptkrisenherde des Nahen Ostens, der von den Amerikanern besetzte Irak und das von den Israelis in Besitz ge¬ nommene Land Palästina, die Hauptproduzenten von gewaltbe¬ reitem Islamismus. Der „Clash" als Grundlage der Kriegspropaganda Wer diese Zusammenhänge einigermaßen durchschaut, wird auch erkennen, dass die falsche Vorstellung von den zwei Kulturen, die wie zwei Machtblöcke aufeinanderstoßen, viel Unheil gebracht hat und weiter bringt. Dieses die wirklichen Verhältnisse entstel¬ lende Bild hat als Rechtfertigung für Machteingriffc gedient, in¬ es eine nicht vorhandene „muslimische Gefahr" an die Wand malte, gegen die „der Krieg gegen den Terrorismus" einschreiten sollte. Das Gespenst eines feindlichen Machtblockes wurde auf¬ gestellt und gegen cs ein Krieg ausgerufen, der nur dazu dienen dem 3/111), wenn sie nur den Weisungen ihrer Ideologen bedingungslos kann, dieses Gespenst in eine reale Gefahr zu verwandeln. Wenn „al-Qa'ida" als das gesehen worden wäre, was die Terrorgruppc in Wirklichkeit ist, nämlich eine gewalttätige Randerscheinung der îslamistischen Minderheitsideologie, hätte dies ein zweckmäßiges Vorgehen gegen sie zugelassen: etwa durch eine diplomatisch er¬ gänzte und abgesicherte internationale Polizeiaktion, anstelle von — bisher — zwei weitgehend fehlgeschlagenen Vernichtungskriegen folgen wollten. gegen ganze Völker des Islams. Europa importiert worden war) nicht habe bringen können, sei vom „Islam", so wie ihn die Ideologen des Islamismus verstehen, mit Sicherheit zu erwarten: Macht und Ansehen für die Gefolgs¬ leute der Ideologie. Sie würden zur „besten Gemeinschaft" (Koran Ein solches Versprechen impliziert die Überwindung der heute bestehenden Spaltung in Eigen und Fremd, es verheißt ein „Wir", das der gegenwärtigen Welt mächtig werde. Diese Verhei¬ ßung macht ohne Zweifel einen guten Teil der Anziehungskraft der islamistischen Ideologie aus. Und es ist offensichtlich, dass die 36 Das Versagen der islamistischen Lehre Was die Ideologie des Islamismus angeht, ist bereits heute deutlich zu erkennen, dass sie che Verheißungen nicht zu erfüllen vermag, auf denen ihre Anziehungskraft auf bestimmte Gruppen von Mus- Horizonte: Arnold Hottinger limen beruht. Der Islamismus ist in einem einzigen Staat zur Macht gekommen: im Iran durch die Revolution Khomeinis von Februar 1979. Im Iran muss er nun zeigen, ob er seine Verheißungen wirk¬ lich erfüllen kann. Er hat es nicht gezeigt, und große Teile der iranischen Bevölkerung, besonders die stutlentischen Eliten, sintl seiner müde geworden. Die offizielle Propaganda kann es nur not¬ dürftig überdecken: Die iranische Jugend, das heißt über die Hälfte der dortigen Bevölkerung, will anders leben als unter der Fuchtel der Islamisten. Der wichtigste Aspekt des Versagens besteht für sie darin, dass tlas heutige iranische Wirtschaftssystem unter der Lei¬ tung der Islamisten nicht in tier Lage ist, Arbeit für alle zu schaffen. Obwohl der Iran eine durch sein Erdöl begünstigte Wirtschaftsba¬ sis besitzt. Doch auch die geistigen Aspekte zählen. Die iranische Jugend ineinander verschmelzen, dass sie gemeinsam fruchtbar werden. Sobaltl bei der überlagerten Kultur deutlich wird, dass sie auch in Belangen der überlagernden fruchtbar werden, gültig mitsprechen kann, tlas heißt an ihr erfolgreich mitarbeiten, kann man von einer so gelungenen Verschmelzung der beiden Kulturschichten sprechen mindestens in dem betreffenden Teilsektor. — Die Rolle der äußeren Umwelt Das notwendige Einpfropfen des fremden Neuen in das alte Eige¬ ne ist ein kreativer Vorgang. Als solcher kann es nicht angeordnet oder organisiert werden. Es muss sich tlurch langsame fruchtbare Kleinarbeit vollziehen, es braucht Zeit unti Raum, um zli geschc- begehrt Meinungsfreiheit, und es ist überdeutlich, dass „der Islam", in Wirklichkeit: die islamistischen Ideologen, so wie sie in Teheran herrschen, Meinungsfreiheit nicht zulassen können. Täten sie es, sähe sich das Regime alsbald gefährdet. Ml | ü In allen anderen islamischen Ländern ist tlie islamistische Ide¬ ologie nicht aul die Probe gestellt. Sie steht in der Opposition und kann von dort aus für viele glaubwürdig versichern, wenn sie ein¬ mal an die Macht käme, würde sie alles zum Besseren wenden. Als Oppositionskraft wirkt tier Islamismus umso überzeugentler, je mehr es ihm gelingt, deutlich z.u machen, tlass er gegen das Frem¬ * * de, er nennt es das „Unislamische", in der eigenen Welt ankämpfe und dabei schwere Opfer erbringe. Der einzige Weg voran Sanaa, Jemen Wenn aber auch der Islamismus sein Heilsversprechen nicht ein¬ halten kann, was ist dann der Ausweg aus dem Dilemma zwischen fremder Moderne und eigener Kulturtradition? Ein Zurück zur hen. Die muslimischen Gesellschaften müssen reinen Eigenkultur kann es nicht mehr geben. Rein materiell wür¬ den die seit dem letzten Jahrhundert gewaltig angewachsenen Be¬ völkerungszahlen dies nicht erlauben. Nur ein Beispiel: Ägypten vermochte während fünf Jahrtausenden eine Bevölkerungszahl von maximal fünf Millionen zu ernähren. Doch die heutigen 75 Millionen Ägypter können schlechterdings nicht in einem Wirt¬ schaftsrahmen überleben, welcher der altherkömmlichen Kultur des Lantles entspräche. Für alle anderen Läntler gilt Ähnliches. Doch auch in den Bereichen des Geisteslebens kann kein „zurück zu den Glaubensgewissheiten des Mittelalters" mehr ge¬ ben. Es sei tlenn, dies werde mit Gewalt erzwungen. Unti wenn das geschieht, ist ein weitgehendes Versiegen aller echten geistigen Tätigkeit zu befürchten. Auch tlie „Globalisierung", wie sie heute vorangeht, scheint unvermeidlich. Die Kräfte einer technologisch und wirtschaftlich vorangetragenen „Moderne" dehnen sich vorläufig unabsehbar weiter über den Globus aus. Ein Ausweg aus dem Dilemma zwischen überlieferter Eigen¬ kultur und aufgezwungener fremder und damit eine Klärung der Identitätsprobleme kann mir auf einem Wege erfolgen: Die Fremd¬ kultur muss zur Eigenkulttir werden. Dies bedeutet, was aus der Fremde herangebracht unti eingekauft, angelernt und vorgelebt wurde, muss schrittweise etwas Eigenes wertlen. Die einheimische überlagerte und die fremde sie überlagernde Kulturschicht müssen es es selbst vollbrin¬ gen. Doch für die Außenkräfte wäre es wichtig zu erkennen, dass sich Betlingungen ausmachen lassen, unter denen dieser Vorgang gedeihen kann, und solche, die ihn blockieren oder zurücksetzen. Krieg einer fremden „Kultur" gegen die eigene, sei es in Israel, sei es im Irak, sei es in Afghanistan, ist ganz offensichtlich tlie aliernegativste solcher Voraussetzungen. Sie bringt die größte Gefahr, ja Wahrscheinlichkeit von katastrophalen Rückschlägen mit sich. Soziologisch äußern sich diese Rückschläge im Wachstum tier islamistischen Ideologie. Antlere Hindernisse für tlas Zustandekommen einer kreativen Einpflanzung sind alle Arten von Ausbeutting durch the stärke¬ ren Fremden und auch alle von ihnen ausgeübten offensichtlichen Ungerechtigkeiten, wie zum Beispiel die doppelten Maße, nach tlenen im Nahen Osten die westlichen Mächte sich selbst und ihre angeblich demokratischen „pro-westlichen" oder mindestens als „gemäßigt" eingestuften Freunde beurteilen und behandeln, im Gegensatz, zu ihren als „islamisch" oder gar „terroristisch" abgeur¬ teilten und blutig verfolgten Gegenspielern. Alle offensichtlichen Ungerechtigkeiten der westlichen Vormächte bestätigen Khomei¬ nis islamistische Aussage, nach welcher alle Westler und alle west¬ lichen Dinge „taghuti" sind, wir würden sagen, „satanisch", Dinge des Teufels. Man kann die Grundsätze aufzählen, nach denen gehandelt werden musste, aber nicht gehandelt wirtl: Der mörderische Klein¬ krieg zwischen den Israelis und den Palästinensern, der sich mit amerikanischer Unterstützung um die Machterhaltung tier Israelis 37 Horizonte: Arnold Hottinger in den besetzten Gebieten dreht, musste beendet wertlen. Die Pa¬ lästinafrage belastet seit über einem Jahrhundert (genau seit 1882) immer zunehmend das Verhältnis zwischen den überlagernden und der überlagerten Kultur. Neu dazu kam 2003 der zweite nahöstli¬ Irak. Die dortige Besetzung durch die amerika¬ nischen Truppen und das damit verbundene tägliche Blutvergießen mussten zu Ende gebracht wertlen. Auch dies stellt eine Belastung dar, die sich weit über das Zweistromland hinaus auswirkt. Bevor tliese beiden Infektionsherde eingedämmt otler aus der Welt geschafft sind, ist alle Aufbauarbeit am Verhältnis zwischen überlagernder Übermacht unti überlagerter islamischer Kultur un¬ gewiss, provisorisch und ziemlich sinnlos. Weil jeder Kontakt und jede Zusammenarbeit von der betroffenen, schwächeren Seite von dieser unvermeidlich in den Rahmen dessen gestellt wird, was un¬ che Krisenherd im übersehbar geschieht: „... der Machtergreifung der Fremden über uns! Ja, deren Versuche, uns aus der Welt zu schaffen!" Was immer geschehen mag, wird in diesem Rahmen gesehen unti ausgelegt. „Guter Wille von der westlichen Seite, haha! Man sieht ja, was im Irak und in Palästina geschieht. Was sie uns sonst noch antun und antragen, Lernen und Übernehmen, Einkaufen mit Hilfe tier Erdölrente (für jene, die darüber verfügen) genügt schwerlich. Der westliche Fortschritt steht ja nicht still. Was man von ihm und über ihn lernt, ist manchmal überholt, noch bevor es gelernt und sachgemäß an¬ gewandt werden konnte. Der Lernende, so lernwillig er sein mag, bleibt immer zurück. Er muss immer schneller laufen, um den sich immer rascher voranbewegenden Lehrmeister einzuholen. Dieser kann seinerseits schon etwas veraltetes Wissen leichter vermitteln, und vermittelt es möglicherweise lieber als das von tier vorders¬ ten Fortschrittsfront, wo er selber noch forscht. Mitforschen und Mithervorbringen von Resultaten wird daher zum entscheidenden Indiz unti Symptom dafür, tlass der bisherige Lehrling von nun an vollgültig tlazugehört. Eine wirtschaftliche Komponente Wenn dabei das oben geschilderte Auseinanderklaffen in aus Ar¬ mut zurückbleibende Unterschichten und reiche Eliten, die sich al¬ leine die Errungenschaften des Westens aneignen können, vermie¬ den otler reduziert werden soll, ist ein bedeutendet wirtschaftlicher 1 u?v i> il' ¦*s*.< n w •!!»¦-: -. - ,\l Shibam, Jemen Kuwait-Stadt, Emirat Kuwait mag schöngefärbt sein. Doch es dient nur dem Gesamtzweck, den sie mit uns allen verfolgen!", ist die beinahe unvermeidliche Reaktion Wachstumsprozess notwentlig, wie er heute nicht stattfindet. Sei¬ ne Inhibitionen und Mängel erklären sich ihrerseits oft durch die der überragenden Mehrheit aller Muslime. Einen besseren Humus für die Ausbreitung der islamistischen Ideologie kann man sich nicht vorstellen. Politik von einheimischen Machthabern, die alle politischen und wirtschaftlichen Entscheitlungen selbst treffen wollen und treffen. Je ungewisser ihre Machtposition, desto ängstlicher schränken sie alle Freiheiten ein und desto stärker untergraben sie auch die Un¬ abhängigkeit der Gerichte. Auch an einer Veränderung der heute bestehenden inneren Machtverhältnisse in den muslimischen Län¬ dern musste kreativ gearbeitet werden, wenn man die Vorausset¬ zungen für ein tatsächliches Ineinanderwachsen der überlagernden und der überlagerten Kulturschichten hervorbringen will. Falls es je dazu käme, dass tliese Hauptärgernisse der Gegen¬ wart beigelegt oder gemildert wertlen könnten, rückten die Fragen einer positiven Bewältigung tier Spannungen zwischen tien beiden ungleichen Kulturschichten in tien Vordergrund. Dabei steht die Frage der verletzten Identität im Zentrum. Wie wir oben gesehen haben, kann sie nur angepackt wertlen, indem die neue, fremde Überlagerungsschicht der Motlerne „westlicher" Wurzel in einen Bestantlteil der eigenen Kultur verwandelt wird. Das Fremde muss dem Eigenen einverleibt werden, indem es als etwas Dazugehö¬ riges, „uns Zugehöriges" verstanden wird. Dies geschieht in dem Augenblick, in tlem ein „muslimisches" Wir zum Mithervorbringer der bisher bloß „westlichen" Errungenschaften wird, mit anderen Worten zum Mitarbeiter am bisher westlichen Fortschritt — der in diesem Falle zu „unserem" Fortschritt wird. 3S Der andere Weg der Japaner Man kann als Kontrast zu tlem hier geschilderten Problem der unbewältigten Überlagerung im islamischen Bereich an die Staaten des Fernen Ostens denken, vor allem an Japan. Dort scheint ein ver¬ gleichbares Dilemma erfolgreich überwunden zu sein. Warum war dies in Japan möglich, aber bisher nicht in der islamischen Welt2 Um umfassende Auskunft tlarüber zu geben, mussten sich Fach- Horizonte: Arnold Hottinger leute der islamischen und tier japanischen Geschichte und Soziolo¬ gie zusammenfinden. Hier können wir nur einige offensichtliche Unterschietle erwähnen. Die Inselnation Japan hat sich in einem gezwungen ist, dürfte viel leichter sein als Selbsterhaltung unter den gleichen Bedingungen, wenn die übernommenen Teilaspekte der Fremdkultur aus einer weit entfernten Kultur stammen. Dies bestimmten Augenblick ihrer Geschichte, jenem der Meiji-Revolution, bewusst und diszipliniert umgedreht und beschlossen, von mag zunächst paradox erscheinen. Doch ist in Rechnung zu stel¬ len, dass die Angriffspunkte der fremden Kultur im Falle größerer Nähe sehr viel empfindlicher sind. Ein Ringen zwischen Brüdern den bisher streng ferngehaltenen Fremden zu lernen. Die drei isla¬ mischen Großreiche — jenes der Osmanen im Nahen Osten, das per¬ sische der Kajaren im Iran sowie jenes der Moguln in Nordindien deren Zerfall zur Zeit der europäischen Herausforderung schon weit fortgeschritten war, haben keine einstimmige Lösung gefun¬ den. In ihnen wurde erbittert, und manchmal in blutigen Episotlen, darum gekämpft, ob man „von den Fremden lernen" oder ob man „zum wahren Islam zurückkehren" solle. Man diskutiert darüber bis heute. Es waren oftmals nicht so sehr die Muslime, die sich ge¬ —, meinsam entschlossen hätten, die Herausforderung anzunehmen und zu bewältigen, als vielmehr die Fremden, von denen die Initi¬ ative der Erneuerung ausging. Ihre Gesinnungsfreunde unter den einheimischen Machthabern ließen sich durch die Fremden tlazu anregen, Teilaspekte europäischen Lebens, beginnend mit tlem Mi¬ litärwesen, zu übernehmen. Der Motor des Prozesses war mehr der Druck von außen als „der Wille der Nation". „Nationen" gab es üb¬ rigens zu Beginn des Prozesses noch gar nicht. Kulturelle Nähe als Hindernis Die kulturelle Distanz dürfte auch eine Rolle gespielt haben: Die eigene Kultur zu erhalten, ohne sie der Aushöhlung tlurch eine fremde auszusetzen, deren „Errungenschaften" man einzuführen entsteht. Dies kann für den schwächeren Bruder besonders gefähr¬ lich werden. Die Identitätsgefährdung ist größer als im Falle von weiter Distanz. Die islamische Kultur steht der „westlichen" sehr viel näher als die „westliche" der fernöstlichen Eigenkultur Japans. Dies sowohl genetisch in der Abstammung des Islams von Juden- und Christen¬ tum wie auch geografisch als die nächste Nachbarkultut tier Euro¬ päer, die über anderthalb Jahrtausende hinweg beständig mit jener des „Westens" in Tuchfühlung stand. Wie das oft bei Nachbarn der Fall ist, sieht der eine leicht den anderen als Karikatur, das heißt als verzerrende Entstellung seiner selbst, unti daher als gefährlich für die eigene Konstitution, tlas eigene kulturelle Gleichgewicht, an. Die Furcht vor Ansteckung, Entstellung ties Selbst durch die nahe¬ stehenden anderen, bildet die Quelle des inneren Widerstands von Teilen tier islamischen Gesellschaften gegenüber der aufgezwun¬ genen Verwestlichung. Diese oftmals durchaus berechtigte Furcht verursacht Reibungen und vertieft die inneren Spaltungen, die sich seit dem Beginn des Überlagerungsvorgangs im Inneren des Nahen Ostens unter den betroffenen muslimischen Gesellschaften selbst geöffnet haben und bis in die Gegenwart fortgähnen. V WS O » O *&mf Ä * > à v Kuwait-Stadt, Emirat Kuwait Ì S*V m ^s «ä» ü -l 39