12.4 Die Grundlagen der Signalverarbeitung im

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12.4 Die Grundlagen der
Signalverarbeitung im
Nervensystem
Lerncoach
Im Folgenden geht es um die Prinzipien der
komplexen Informationsverarbeitung im
gesamten Nervensystem. Hier können Sie an
das Vorhergehende anknüpfen, da die unterschiedlichen Eigenschaften von Synapsen bei
dieser Erregungsverarbeitung eine große
Rolle spielen.
Machen Sie sich die genannten Prinzipien
Schritt für Schritt klar und merken Sie sich
dann zur Vertiefung jeweils ein Beispiel, wo
dieses Prinzip im Nervensystem auftaucht.
12.4.1 Überblick und Funktion
Welcher Reiz im menschlichen Organismus zu welchem Sinneseindruck führt, ist abhängig von der Sig-
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nalverarbeitung im Nervensystem. Mechanismen der
unterschiedlichen Signalverarbeitung finden sich
zum einen auf der Ebene der Synapsen, wo Aktions-
unterscheidet man die räumliche von der zeitlichen
Summation. Bei Ersterer erreichen nahezu zeitgleich
erregende Impulse von mehreren Synapsen die Zielzelle und addieren sich. Die zeitliche Summation ist
seltener. Bei ihr addieren sich hochfrequente Impulssalven an einer erregenden Synapse zu einem überschwelligen EPSP.
Bei der Bahnung erleichtert ein Signal die Übertragung der nachfolgenden Signale. Auf synaptischer
Ebene bedeutet dies eine gesteigerte Transmitterfreisetzung pro Impuls. Der intrazelluläre Mechanismus
entspricht dem der posttetanischen Potenzierung
(s. S. 237). Bedeutung hat die Bahnung aber auch in
neuronalen Netzwerken. Hat ein Impuls einmal
einen bestimmten Weg beschritten, erleichtert er
dies so auch den folgenden Impulsen.
Das Gegenteil der Bahnung ist die Okklusion. Der
Erfolg mehrerer hintereinander einlaufender Impulse wird gegenüber einem Einzelreiz immer geringer. Hier kann eine synaptische Depression
(s. S. 237) der Grund sein. Insgesamt sind die Begriffe Bahnung und Okklusion eher für Netzwerke
aus Neuronen gebräuchlich als bei Einzelsynapsen.
potenziale verschiedene Reaktionen auslösen können, aber auch auf der Ebene von Neuronenverbän-
12.4.2.2 Formen der Hemmung an der Synapse
den. Hierunter verstehen wir die Vernetzung zwi-
Unter dem Begriff der Hemmung versteht man in die-
schen Nervenzellen durch Verbindung von Dendriten
und Axonen. Dabei können mehrere Dendriten einer
sem Zusammenhang die Hemmung der über eine erregende Synapse erfolgenden Signalübertragung auf
Nervenzelle zum Axon einer anderen Nervenzelle
eine Zielzelle infolge gleichzeitiger Aktivität einer
Verbindung haben, die Dendriten einer Nervenzelle
oder mehrerer anderer Synapsen. Dabei kann man
können aber auch Verbindung zu den Axonen mehre-
zwei Formen unterscheiden.
rer anderer Nervenzellen haben. Auf diese Art ent-
Die postsynaptische Hemmung kommt zustande
steht ein Netzwerk, das je nach Erregung oder Hem-
durch gleichzeitige Aktivität von einer an derselben
mung Reize modifizieren kann.
Zielzelle ansetzenden hemmenden Synapse. Das im
12.4.2 Die Signalverarbeitung
an der Synapse
Signalverarbeitung findet nicht nur in großen Netz-
Bereich der subsynaptischen Membran von dieser
hemmenden Synapse erzeugte IPSP erschwert die Erregung der Membran durch die exzitatorischen Trans-
werken statt. Bereits auf der Ebene einer Synapse wer-
mitter der eigentlichen Synapse.
Bei der präsynaptischen Hemmung setzt eine axo-
den Signale modifiziert und erleichtern so oft die
axonale Synapse – d. h. die Verbindung eines Axons
zentrale Verarbeitung. Dabei kann man einige grund-
an ein anderes Axon – an der präsynaptischen Endi-
sätzliche Vorgänge unterscheiden.
gung an. Wird diese aktiviert, so kommt es zu einer
12.4.2.1 Summation, Bahnung und Okklusion
Verringerung der Effektivität der nachgeschalteten
synaptischen Verbindung, indem diese dadurch weni-
Unter Summation versteht man, dass mehrere unter-
ger Transmittermoleküle in den eigentlichen synapti-
schwellige Reize sich zu einem überschwelligen Reiz
schen Spalt freisetzen kann. Diese Form der synapti-
addieren und so doch noch ein Aktionspotenzial am
schen Verschaltung erlaubt die selektive Kontrolle
Axonhügel des Zielneurons auslösen können. Dabei
einzelner synaptischer Eingänge. Die hemmende
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238 Die Grundlagen der Signalverarbeitung im Nervensystem 12 Allgemeine Neurophysiologie
12 Allgemeine Neurophysiologie Die Grundlagen der Signalverarbeitung im Nervensystem 239
axo-axonale Synapse benutzt GABA als Transmitter.
Bei der Vorwärts-Hemmung erregt die Kollaterale
Ein Beispiel für diese Art der Hemmung ist die Ver-
eines Axons ein hemmendes Interneuron, das wiede-
schaltung afferenter Ia-Fasern auf die α-Motoneurone
im Rückenmark (s. S. 283).
rum seine Zielzelle hemmt. Die Wirkweise kann man
sich am Beispiel der Antagonisten-Hemmung klar
machen. Bei der Innervation z. B. eines beugenden
12.4.3 Die Signalverarbeitung in
Neuronenverbänden
Muskels (Flexor) wird über ein Interneuron gleichzei-
An kleinen neuronalen Netzen kann man einige Vor-
so dass die Beugung ungestört durchgeführt werden
gänge gut beobachten, die auch bei komplexen Ver-
kann.
schaltungen eine Rolle spielen, aber aufgrund der
Komplexität schlecht beobachtet werden können.
Bei der Rückwärts-Hemmung (= rekurrente Hemmung) wird über eine Axon-Kollaterale ein hemmendes Interneuron innerviert, das das aktivierende Neu-
12.4.3.1 Die Divergenz und Konvergenz
ron hemmt. Auch hierfür existiert ein Beispiel auf Rü-
Die meisten Axone stehen über Kollateralen mit meh-
ckenmarksebene. Das Axon der α-Motoneurone akti-
reren Zielzellen in Verbindung. So ist ein Übergreifen
viert über Kollateralen sog. Renshaw-Zellen, die wie-
der Impulse eines Neurons auf mehrere weitere Neu-
derum mittels Glycin das α-Motoneuron hemmen.
rone möglich. Von jedem dieser Neurone können wie-
Über diese Rückkoppelung hemmt sich das Motoneu-
derum mehrere Neurone erregt werden. Dieses Phä-
ron also praktisch selbst (s. S. 283).
nomen der Erregungsausbreitung von einem auf
mehrere Neurone bezeichnet man als Divergenz.
Das Gegenteil hierzu ist die Konvergenz. In diesem
Eine Sonderform der rekurrenten Hemmung ist die
laterale- oder Umfeld-Hemmung. Hier hemmen die
Interneurone nicht die sie innervierende Zelle, sondern vorwiegend die benachbarten Neurone. Dies
führt zu einer Kontrasterhöhung. Dabei wird das Reizmaximum hervorgehoben und zudem noch von
einem hemmenden Umfeld umgeben. Solche Umfeld-Hemmung findet man v. a. in sensorischen Systemen, z. B. in der Retina (s. S. 326).
Als deszendierende Hemmung bezeichnet man efferente Systeme, die die Reizleitung eines afferenten
Systems herabsetzen. So kann z. B. die Weiterleitung
von Schmerzimpulsen im Rückenmark dadurch herabgesetzt werden, dass aus dem Hirnstamm kom-
Fall laufen die Informationen mehrerer Neurone auf
einer Zelle zusammen. Ein Beispiel ist das α-Motoneuron des Rückenmarks, auf das mehrere tausend
Neurone konvergieren können.
12.4.3.2 Die neuronale Hemmung
In neuronalen Netzen findet man immer auch hemmende Synapsen, die oftmals sog. Interneurone darstellen, also Neurone, die lediglich zwischen zwei andere Neuronen geschaltet sind. Dabei existieren verschiedene Möglichkeiten (Abb. 12.5).
Abb. 12.5 Verschiedene Formen der
neuronalen Hemmung; hemmende
Interneurone sind farbig dargestellt
(nach Kahle/Frotscher)
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tig der antagonistisch wirkende Extensor gehemmt,
240 Die Prinzipien sensorischer Systeme 12 Allgemeine Neurophysiologie
Durch diesen Mechanismus kann die Empfindlichkeit
eines sensiblen Systems gesenkt werden.
Klinischer Bezug
Imbalancen zwischen hemmenden und erregenden
Synapsen als Teilkomponente der Epilepsie: Epileptische Krampfanfälle entstehen, wenn sich Gruppen von
Neuronen synchron und unkontrolliert entladen. Geschieht dies bei Neuronen des Motorkortex, so kommt
es zu dem typischen Bild des zuckenden Anfallskranken.
Diese Impulssalven können sich vom Entstehungsort
auf weite Teile des Kortex ausbreiten (Vollbild des generalisierten Anfalls). Pathophysiologisch liegt epileptischen Anfällen eine gesteigerte Erregbarkeit der Neuronengruppen zugrunde, die entweder durch ein Überangebot exzitatorischer Transmitter (Glutamat) oder einen
Mangel an inhibitorischen Transmittern (GABA) entsteht.
Außerdem greifen hemmende Schaltkreise, die normalerweise die Ausbreitung von einem Hirnareal auf andere
verhindern, nicht richtig ein, so dass es zum generalisierten Anfall kommen kann.
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pers“, d. h. in Aktionspotenziale um (Reiztransduktion). Die entstandenen Nervenimpulse werden
dann ins ZNS weitergeleitet und dort verarbeitet.
12.5.2 Die Sensoren
Die Sensoren sind für die Aufnahme einer bestimmten Reizart (z. B. Berührung, Schall, Licht etc.) bestimmt. Dieser Reiz, der einen bestimmten Sensortyp
optimal erregt, wird als adäquater Reiz bezeichnet.
Inadäquate Reize sind Reize, die den Sensortyp nicht
optimal ansprechen, aber dennoch zu einer Sensorerregung führen. Man kann die Sensoren nach der Art
ihrer adäquaten Reize einteilen. Es existieren Photo-,
Mechano-, Thermo- und Chemosensoren. Darüber hinaus gibt es die Schmerzsensoren (Nozizeptoren).
Bei ihnen handelt es sich um eine polymodale Rezeptorart, die auf alle der erwähnten Reizarten reagieren
kann, wenn sie stark genug sind (s. S. 306).
Morphologisch kann man die Sensoren unterteilen in
spezialisierte Sinneszellen (z. B. Photorezeptoren),
spezialisierte Nervenendigungen (z. B. die Mechano-
Check-up
✔
Machen Sie sich noch einmal die Vorgänge
klar, die die Signalverarbeitung in den
Neuronenverbänden steuern. Wiederholen
Sie insbesondere die verschiedenen Möglichkeiten der neuronalen Hemmung.
12.5 Die Prinzipien sensorischer
Systeme
Lerncoach
Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit den
Zellen, die Umweltreize aufnehmen und in
Erregung umwandeln können.
Gehen Sie auch hier Schritt für Schritt vor.
Machen Sie sich erst die Unterschiede
zwischen den Zellen klar und beschäftigen Sie
sich dann mit dem Reizaufnahme- und Reizumwandlungsprozess.
sensoren der Haut) und freie Nervenendigungen
(Thermosensoren und Nozizeptoren).
Für die genaue Wahrnehmung eines Reizes ist nicht
nur die Kenntnis der Reizstärke von Bedeutung, sondern auch, wie schnell sich der Reiz dabei geändert
hat. Für beides existieren Rezeptoren mit einer entsprechenden Charakteristik.
Man unterscheidet Proportional- oder Intensitäts-
sensoren, Differenzial- oder Geschwindigkeitssensoren (D-Sensoren) sowie Beschleunigungssensoren
(s. S. 303). Eine Mischform stellen die ProportionalDifferenzial-Sensoren (PD-Sensoren) dar. Sie informieren das ZNS sowohl über Reizintensität als auch
über die Reizänderungen. Auf konstante Reize weisen
sie eine der Intensität proportionale Impulsfrequenz
auf, reagieren auf Reizänderungen jedoch in Abhängigkeit von der Änderungsgeschwindigkeit mit einer
überschießenden Zu- oder Abnahme der Impulsrate.
12.5.2.1 Die Adaptation
Adaptation könnte man übersetzen als Gewöhnung
12.5.1 Überblick und Funktion
Sensorische Systeme dienen dazu, uns mit Informa-
an einen Dauerreiz. So nehmen wir über längere
Zeit gleich bleibende Reize irgendwann kaum noch
tionen über die Außenwelt bzw. den Funktionszu-
wahr. Neben zentralnervösen Vorgängen sind vor
stand unseres Körpers zu versorgen. Ein Reiz erregt
allem die Rezeptoren daran beteiligt. Je nach Ge-
einen Sensor (Sinnesrezeptor). Dieser Sensor wandelt
schwindigkeit der Adaptation, die sich in einer Ab-
den Reiz (z. B. Berührung) in die „Sprache des Kör-
nahme der Aktionspotenzialfrequenz bei länger-
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mende Fasern die Signalübertragung inhibieren.
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