BR-MA-PH-PHANTASM.qxp_Layout 1 19.04.17 22:56 Seite 1 MUSICA ANTIQUA PERLEN DER POLYPHONIE DIE WUNDERSAME WELT DES KONTRAPUNKTS PHANTASM: LAURENCE DREYFUS br.de/franken BR-MA-PH-PHANTASM.qxp_Layout 1 19.04.17 22:56 Seite 2 Mittwoch, 26. April 2017, 20.00 Uhr Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Aufseßsaal PERLEN DER POLYPHONIE DIE WUNDERSAME WELT DES KONTRAPUNKTS PHANTASM: LAURENCE DREYFUS PHANTASM: LAURENCE DREYFUS – DISKANT-GAMBE UND MUSIKALISCHE LEITUNG EMILIA BENJAMIN – DISKANT-GAMBE JONATHAN MANSON – TENOR-GAMBE MARKKU LUOLAJAN-MIKKOLA – BASS-GAMBE Dieses Konzert wird vom Bayerischen Rundfunk – Studio Franken aufgezeichnet und am 4. Mai 2017 um 20.03 Uhr auf BR-KLASSIK gesendet. 02 BR-MA-PH-PHANTASM.qxp_Layout 1 19.04.17 22:56 Seite 3 PROGRAMM Elizabethanische Visionen Alfonso Ferrabosco (1543-1588) William Byrd (ca. 1540-1623) Elway Bevin (ca. 1554-1638) Thomas Tomkins (1572-1656) A Fancy Kyrie aus Missa a4 Fantasia III a4 [In manus tuus] Fantasia III a3 Fantasia II a3 Browning a3 Alman Jakobinische Stimmen Orlando Gibbons (1583-1625) Fantasia No. 4 a2 Fantasia No. 4 a3 Richard Mico (ca. 1590-1661) Pavan no. 3 a4 Fancy no. 4 a4 Fancy no. 5 a4 Launen des Commonwealth Matthew Locke (1622-1677) Sett no. 6 in G-Dur: Fantazie-Courante-Ayre-Saraband –PAUSE– Verehrung der Restauration Henry Purcell (1659-1695) Vier Fantazias (1680) Fantazia No. 2 a3 Fantazia No. 6 a4 Fantazia No. 8 a4 Fantazia No. 11 a4 Künste der Fuge W.A. Mozart (1756-1791) Fugen aus J.S. Bachs Wohltemperiertem Clavier II, arrangiert für Streichquartett, KV 405 Fuga 2 in Es-Dur (nach BWV 876,2) Fuga 3 in E-Dur (nach BWV 878,2) Fuga 5 in D-Dur (nach BWV 874,2) Johann Sebastian Bach (1685-1750) aus: Kunst der Fuge, BWV 1080 Contrapunctus 1 Contrapunctus 2 Contrapunctus 11 Contrapunctus 9 03 BR-MA-PH-PHANTASM.qxp_Layout 1 19.04.17 22:56 Seite 4 PHANTASM: LAURENCE DREYFUS Das vielfach preisgekrönte Gambenensemble PHANTASM wurde 1994 von Laurence Dreyfus gegründet und etablierte sich schnell als das aufregendste Gambenconsort im weltweiten Konzertleben, indem es durch die Intensität und technische Perfektion seiner Interpretationen neue Maßstäbe im Bereich der Consort-Musik setzte. Zu internationaler Bekanntheit gelangte PHANTASM bereits durch seine Debüt-CD mit Werken von Henry Purcell, die mit einem Gramophone Award für die beste instrumentale Barockeinspielung des Jahres 1997 ausgezeichnet wurde. Seitdem tourte das Ensemble durch die ganze Welt und konzertierte auf den jeweils bedeutendsten Kammermusikpodien in Städten wie London, Prag, Tokio, Istanbul, Helsinki, Berlin, New York und Washington DC. Kürzliche Engagements führten die Musiker zu Festivals wie den Tagen Alter Musik Regensburg, Festival Oude Muziek Utrecht, Barcelona Early Music Festival, Bergen International Festival, Masowia Barock Warschau, Stockholm Early Music Festival oder Laus Polyphoniae Antwerpen, und zu Konzertreihen im Palais des Beaux Arts Brüssel, Konzerthaus Wien, in der 04 Wigmore Hall London und in De Bijloke Gent – Auftritte, von denen Kritiker nicht selten zu so enthusiastischen Äußerungen wie „der eigentliche Höhepunkt des Festivals“ oder „bestes Gambenensemble der Welt“ hingerissen wurden. Ein gewisser Schwerpunkt von PHANTASMs Repertoire liegt dabei auf der englischen Musik der Renaissance und des Barock – mit Namen wie Purcell, Byrd, Gibbons, Locke oder Lawes –, doch auch italienische oder französische Gambenliteratur stehen auf den Programmen des Ensembles, ebenso wie beispielsweise Bachs Kunst der Fuge und Mozarts Bearbeitungen der Bach’schen Fugen aus dem Wohltemperierten Klavier. Die bislang 19 Aufnahmen des Gambenconsorts wurden von Publikum und Kritikern einmütig begeistert aufgenommen und vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Gramophone Award oder dem Diapason d'Or. Ihre im Mai 2015 erschienene CD mit William Lawes‘ Royal Consort wurde nicht nur von mehreren Hörfunksendern und Musikmagazinen in Europa, den USA, Australien und Neuseeland zur CD der Woche, des Monats oder gar des Jahres gekürt, sondern stand BR-MA-PH-PHANTASM.qxp_Layout 1 19.04.17 22:56 Seite 5 auch monatelang auf den ersten Plätzen der UK Classical Charts, und auch die jüngste Veröffentlichung – John Dowlands Lachrimae – erhielt bereits diverse Auszeichnungen. Von 2005 bis 2015 war PHANTASM der University of Oxford und dem Magdalen College Oxford als Consort-in-Residence verbunden; daneben wurden die Musiker zum Ensemble-in-Residence für die Saison 2017/18 in der Wigmore Hall London erkoren, wo sie bereits jahrelang regelmäßig auftraten. Seit Anfang 2016 ist das Ensemble, dessen Mitglieder aus Finnland und Großbritannien stammen, offiziell in Berlin zu Hause. Laurence Dreyfus, Diskantgambist und künstlerischer Leiter von Phantasm, wurde in Boston in eine Familie von Musikern geboren und lernte – von seinem Vater, der Geiger im Philadelphia Orchestra war; und seiner Mutter, einer Opernsängerin – Notenlesen, bevor er Englisch lesen konnte. Als Kind spielte er Klavier und Cello und hegte früh ein spezielles Interesse für Kammermusik, inspiriert von seinem Lehrer Edgar Ortenberg, der in den 1940er Jahren Mitglied des berühmten Budapest Quartet gewesen war. Als Teenager jedoch erstand Laurence eine obskure Aufnahme von Buxtehudes Trio-Sonaten, auf der eine Viola da Gamba im Mittelpunkt stand. Er fühlte sich augenblicklich von dem besonderen Klang dieses Instrumentes angezogen und gelobte, es eines Tages zu lernen. Zunächst einmal führte ihn seine Begabung jedoch an die berühmte Juilliard School in New York, wo er bei dem legendären Cellisten Leonard Rose Cello studierte und als Gründungsmitglied dem Ensemble angehörte, das heute als Emerson String Quartet Weltruhm genießt. Nach seinem Konzertdiplom an der Juilliard entschied er sich, noch ein akademisches Studium anzuschließen und schrieb sich an der Columbia University für Theologie, Politologie und Musikwissenschaft ein. Während seiner Promotion bei dem Bachforscher Christoph Wolff begann er dann auf eigene Faust Gambe zu lernen und erlag den Reizen dieses Instrumentes nach kürzester Zeit in einem solchen Maße, dass er es bei Wieland Kuijken am Königlichen Konservatorium in Brüssel studierte, wo er im Laufe von zwei Jahren gleich zwei Diplomstudiengänge mit glänzenden Beurteilungen absolvierte. Im Laufe seiner dualen Karriere als Musikwissenschaftler und Gambist war Dreyfus auf der ganzen Welt unterwegs, forschte als Musikhistoriker, gab Konzerte, hielt Vorträge und Meisterklassen. Er lehrte als Professor an den Universitäten Yale, Stanford, Chicago, am King‘s College London und zuletzt an der Universität Oxford und dem dortigen Magdalen College, und seine Verdienste um die Bach- und Wagner-Forschung wurden unter anderem mit der Mitgliedschaft in der British Academy belohnt. Sein Umzug nach England in den frühen 1990er Jahren bestärkte Dreyfus in seinem lange gehegten Traum, ein Gambenconsort auf Weltniveau zu gründen, das er von der Diskantgambe aus leiten wollte. Es dauerte freilich einige Jahre, bis er die richtigen Mitspieler dafür gefunden hatte, die seine Begeisterung für die englische Consortmusik teilten und sich nicht davor fürchteten, sich dieser mit einem neuen Ansatz zu nähern. Aber 1994 wurde sein großer Traum wahr: Sein Gambenquartett Phantasm wurde aus der Taufe gehoben – und von Anfang an dafür gerühmt, den Status Quo des Consortspiels durch seinen brillanten, dynamischen Klang in Frage zu stellen, der auf historischen Praktiken beruht, aber auch auf einer souveränen Bogenführung und meisterlichen Streichertechnik, die an die expressiven Traditionen der Streichquartette des frühen 20. Jahrhunderts, wie das Flonzaley- und BuschQuartett angelehnt ist. So brachte Dreyfus in Phantasm sein jugendliches Interesse für Kammermusik mit seinem musikhistorischen Wissen zusammen. Für ihn müsse die Alte Musik nicht in einem Ghetto existieren, meint der Gambist, denn sie weise intime Beziehungen zum Mainstream und selbst zur zeitgenössischen Musizierweise auf, indem sie Leuchttürme der Musikgeschichte, wie Byrd, Gibbons, Locke oder Lawes wieder in das Bewusstsein des heutigen Musiklebens bringe. „Credo in unam musicam“, so könnte man Phantasms Leitidee formulieren. Als Gambist und Cellist arbeitete Laurence Dreyfus für Konzerte und Aufnahmen mit zahlreichen anderen führenden Persönlichkeiten in der Alten Musik zusammen und gab außerdem viele Jahre lang regelmäßig Sommerkurse in Portugal, den USA und Norwegen (wo er – kein Zufall! – drei der heutigen Phantasm-Mitglieder kennenlernte). 2015 zog Dreyfus sich von seiner Lehrtätigkeit in Oxford zurück, um mehr Zeit für Konzerte und unabhängige Forschung zu haben. Er wurde so05 BR-MA-PH-PHANTASM.qxp_Layout 1 19.04.17 22:56 Seite 6 wohl von der Universität als auch vom College mit dem Titel des Professor Emeritus geehrt. Drei vielgelobte Bücher – zwei über J.S. Bach, eines über Richard Wagner –, deren Erscheinen in der Musikwelt einigen Staub aufwirbelte, sowie ungezählte Fachartikel und einige Dutzend CDEinspielungen, von denen viele mit internationalen Preisen ausgezeichnet wurden, machten ihn weit über typische Musikwissenschaftler- oder Alte-Musik-Kreise hinaus bekannt. Der Gambist lebt inzwischen in Berlin, wo er einstmals als Doktorand zwei inspirierende Jahre mit Bach-Forschung auf beiden Seiten der (damaligen) Mauer verbracht hatte. Nach einem knappen Vierteljahrhundert in England fand er hier nun seine neue Basis, von der aus er weiterhin forscht, konzertiert und neues Repertoire aufnimmt, um es Musikliebhabern auf der ganzen Welt nahe zu bringen. 06 Perlen der Polyphonie In der westeuropäischen Kunsttradition findet sich erstaunlich wenig große Musik, die sich nicht höchst ernsthaft mit den wunderlichen Verflechtungen einzelner Stimmen befasst, wie man sie gemeinhin unter dem Begriff der Kontrapunktik versteht. Die grundlegenden Regeln von Konsonanz und Dissonanz – letztere nur dann zulässig, wenn sie rechtzeitig ,vorbereitet‘ wird, indem man eine Note aus einem konsonanten Klang zuvor als ,Vorhalt‘ beibehält – führten zu einem gewaltigen Aufschwung westeuropäischer Polyphonie, der sich vor allem in geistlicher Vokalmusik manifestierte. Der vielleicht bedeutsamste Aspekt in der daraus resultierenden Auffassung von Harmonie war derjenige der Unabhängigkeit jeder Stimme in einem vielstimmigen musikalischen Geflecht: Jede musikalische Linie wurde im Bewusstsein ihrer höchstpersönlichen Integrität komponiert, mit wenig Rücksicht auf Hierarchie oder Dominanz eines Parts über einen anderen. Dieses Prinzip relativer linearer Unabhängigkeit führte auch dann noch ein recht fröhliches Leben nach dem Tod, als neue Mittel musikalischer Expressivität das alte polyphone Modell längst in den Hintergrund gedrängt hatten: Aus dem Blickwinkel der Oper oder des Sololieds schien die ältere Herangehensweise an den Kontrapunkt die Expressivität eines einzelnen Themas natürlich zu ersticken und das Streben nach einem Melodie-dominierten Aufbau eines Stücks mit ordentlich unterlegten Akkorden, in dem das Wichtige jederzeit klar vom weniger Wichtigen unterschieden werden konnte, zu vereiteln. Euphonie im alten Stil wirkte aus dieser späteren Perspektive eher wie ein Nebenprodukt kombinatorischer Prozesse – in harmonischer Hinsicht chaotisch bis primitiv. Doch gleichzeitig gab es auch in dieser post-polyphonen Zeit durchaus immer wieder Komponisten, die die Partituren der alten Meister studierten, um von ihnen Kontrapunkt-Technik zu lernen, die Geheimnisse ihrer linearen Verknüpfungen zu ergründen und diese dann in neuen Kontexten zu verwenden: Johann Sebastian Bach und Johannes Brahms wären dafür vielleicht die prominentesten Beispiele. Bei genauerer Betrachtung freilich entdeckt man eine ganz ähnliche Hingabe an kontrapunktische Prinzipien auch in den Werken diverser in dieser Hinsicht auf Anhieb weniger verdächtiger Tonsetzer, wie Domenico Scarlatti, Mozart oder Chopin – deren Werke nun sicher nicht im Ruche des Akademismus stehen, die in ihrer kompositorischen Praxis aber dennoch Kon- BR-MA-PH-PHANTASM.qxp_Layout 1 19.04.17 22:56 Seite 7 trapunktik von allerfeinster und oftmals berührendster Art zu kultivieren pflegten. Courante und Saraband Matthew Lockes zu hören. Die „Perlen der Polyphonie“, die wir in diesem Programm vorstellen, repräsentieren Komponisten, die in ihren Werken so manch faszinierende kontrapunktische Risiken eingehen – Risiken hier nicht nur im technischen Sinne gewagter Harmonien, eigenwilliger Melodien oder irritierender Rhythmen verstanden, sondern auch im globaleren Sinne der Gefährdung konventioneller Vorstellungen musikalischer Charaktere und Stile, gelegentlich sogar der musikalischen Kohärenz insgesamt. Und es spricht für den Genius dieser Komponisten – insbesondere Johann Sebastian Bachs –, dass die Faszination über die Welten, die sie schufen, umso rasanter wächst, je mehr man darüber nachdenkt, welch enorme Leistung es doch ist, solch großartige Musik aus ein paar voneinander unabhängigen und quasi demokratisch konstruierten einzelnen Stimmen zu kreieren. Unser Programm untersucht beinahe 200 Jahre eines hochgradig kontrapunktischen Repertoires, gewidmet der Kultivierung einzelner Linien, für deren Wiedergabe ein Consort von Gamben ganz besonders geeignet ist. Ein Stück weit markiert das Programm damit eine Zäsur in der Reihe rein vokaler Modelle geistlicher Polyphonie, wie etwa in den englischen fantasies (gelegentlich verkürzt fancies genannt), oder auch in Bachs Contrapuncti, die alle auf der Idee der Fuge beruhen. Eine Verbindung zur geistlichen Musik blieb dennoch in manchen Fällen offensichtlich, und von manchen wortlosen Quellen liturgischen Repertoires wissen wir, dass auch Gamben diese Musik gespielt haben müssen: Ein Beispiel dafür ist in unserem Programm das Kyrie aus Byrds vierstimmiger Messe. Und als sich in den 1550er Jahren einige englische Komponisten für ein zweiminütiges Stückchen Musik aus dem Benedictus einer Messe von John Taverner begeisterten und begannen, kurze Instrumentalwerke auf diese paar obskuren Töne Gregorianischen Chorals zu komponieren, die sie „In Nomines“ nannten, dürften sie nicht die blasseste Vorahnung davon gehabt haben, dass sie da gerade eine Tradition der Consortmusik für Gamben initiierten, die 130 Jahre anhalten und einen Teil der brillantesten Kammermusik hervorbringen sollte, die jemals geschrieben wurde. Aber genau das geschah. Kontrapunktik hat immer auch eine geheimnisvolle – und noch viel zu wenig erforschte – Beziehung zum Tanz. Und obwohl die Vorstellung der einfachsten Formen von Tanzmelodien der Komplexität der Polyphonie geradezu antithetisch gegenüberzustehen scheint, kann man sich doch beispielsweise leicht ausmalen, wie die polyphonen Verhandlungen mehrerer gleichzeitig erklingender Stimmen als Nachahmung der Identitäten und Gesten einzelner, in einer Gruppenchoreographie vereinter Tänzer verstanden werden können. In der langen Tradition polyphoner Tanzmusik begleitete die Komposition von Kunstmusik zum Tanzen – seien es Pavanen aus dem 16. oder Polonaisen aus dem 19. Jahrhundert – dann aber irgendwann nicht mehr nur die tatsächlichen Gesten der menschlichen Körper, sondern entfaltete und verkörperte die Aktivität und den Ausdruck der Tänze in der musikalischen Substanz selbst. Lange bevor also Frédéric Chopin Walzer schrieb, in denen der Kontrapunkt oft den männlichen und weiblichen Teil eines Paares jeweils als Individuum und als tanzendes Paar beschrieb, kultivierten die Engländer mit ihrem speziellen Polyphonie-Faible bereits Tanzformen für Tasteninstrumente und Gambenconsort, in denen sie die darin ausgemalte und verkörperte Gestik zarter menschlicher Beziehungen, wie sie sowohl im höfischen als auch im Volkstanz zu sehen war, in einem neuen und rein instrumentalen Idiom wiedererstehen ließen - wie heute Abend etwa in Tomkins‘ Alman, der Pavan von Mico oder der Es war ausgerechnet Heinrich VIII., der aus Mailand und Venedig einige Gambisten mit verdächtig jüdisch klingenden Namen auf die Insel gebracht hatte, und schon wenige Jahre später wetteiferten auch die englischen Komponisten darin, kunstvolle Stücke für vier, fünf und sechs Stimmen unter Titeln wie „In Nomine“ und „Fancy“ für diese Instrumente zu schreiben. Das war allerdings Musik, die weder so wirklich nach Chormusik klang, noch im Geringsten zum Tanzen zu gebrauchen war. Vielmehr handelte es sich um den Beginn einer wahrhaft eigenständigen Instrumentalpolyphonie in England, um mehrstimmige Musik, die sich selbst vom geschriebenen Wort (dittie) emanzipiert hatte und der Einbildungskraft des Komponisten – seiner Fantasie oder Fancy – die Alleinherrschaft überließ. In solcher Musik, so schrieb Thomas Morley 1597, „ist mehr Kunst zu entdecken als in jeder anderen Musik, da der Komponist an nichts gebunden ist 07 BR-MA-PH-PHANTASM.qxp_Layout 1 19.04.17 22:56 Seite 8 und stattdessen hinzufügen, hinwegnehmen oder ändern kann, wie es ihm beliebt“. Natürlich könnte man solche Musik für abstrakt, gar mathematisch halten - doch nichts läge der Wahrheit ferner: Wenn der Komponist eine ganze Reihe von musikalischen Themen (points genannt) von jeweils ganz eigenem Charakter zur Hand nimmt und diese dann „dreht und wendet, wie er möchte“, ist der Effekt ein Kaleidoskop an Emotionen und Erfahrungen. Noch 1676, als auf dem Kontinent längst das Generalbasszeitalter in vollster Blüte stand, erinnerte sich Thomas Mace, ein Connaisseur der Consortmusik, wie diese in ihm Gedanken an traurige Geschichten, mitreißende, inspirierende Reden, subtile und tiefe Gespräche hervorrief und wie perfekt sie mit den inneren, intimen und logischen Seiten von Geist und Seele harmonierte: Musik, die zu einer mystischen Erfahrung beiträgt, die zumindest zeitweise wilde Gedanken und Gefühle zu ordnen imstande ist und den Hörer sanft in Richtung Besonnenheit, Ernsthaftigkeit und Ruhe drängt. Ein zusammenpassendes Set oder chest (Truhe, Kasten) von Gamben in drei Größen – Diskant, Tenor und Bass – ist das ideale Medium, um in solch „subtilen und akkuraten Diskussionen“ zu schwelgen, wie Mace es formulierte. Durch die beweglichen Bünde an den Hälsen der Gamben schwingt jede Note im kontrapunktischen Gewebe wie eine leere Saite, und der so perfekt miteinander verschmelzende Klang der Instrumente lässt die produzierten Töne wunderbar warm erscheinen, während man doch gleichzeitig jede Linie wie eine einzelne Stimme heraushören kann, wenn man möchte. Und keine Stimme gewinnt jemals eine der Diskussionen! Bei all den großen Consort-Komponisten findet man eine wirkliche Freiheit des Ausdrucks und eine enorme Kühnheit – und sie bedienen sich in diesen Kompositionen gewöhnlich einer persönlicheren Schreibweise, gestatten freiere Einblicke in ihren Charakter als in den normalerweise zurückhaltenderen liturgischen Stücken, oder in offiziöser höfischer Unterhaltungsmusik. So kann man bei näherer Betrachtung dieser langen Tradition eine ganze Palette farbenfroher Persönlichkeiten unterscheiden, die versuchten, Stücke zu schreiben, die mehr sein sollten als nur hübsche Repräsentanten ihres Genres: Sie strebten nach einer einzigartigen Ausdrucksweise, die wie keine andere klingt. 08 Der ehemals in der päpstlichen Kapelle in Rom beschäftigte Alfonso Ferrabosco der Ältere (1543-1588) gilt als derjenige, der die italienische Madrigalkunst nach England brachte. Während er in Italien als recht konservativer Komponist galt, traf sein Stil den Geschmack in England (wohin er 1562 das erste mal reiste) ganz genau, und Elizabeth I. engagierte ihn stante pede für die Chapel Royal. Seine häufigen Reisen ins katholische Italien und seine erstaunlich gute Bezahlung ließen immer wieder den Verdacht aufkommen, er sei auch als Spion für Elizabeth tätig gewesen, doch verließ er die Insel nichtsdestotrotz 1578 endgültig und kehrte nicht mehr zurück. Sein unehelicher Sohn übrigens, Alfonso Ferrabosco der Jüngere, verblieb auf Wunsch Elizabeths in England, wo er unter anderem als Gambist Karriere machte. William Byrd (ca. 1540-1623), auch als der „Vater der englischen Musik“ gerühmt, begann in den 1560er Jahren Consortmusik in Form von Hymnen-Sätzen zu komponieren, die offenbar für rein instrumentale Aufführungen oder zum Üben gedacht waren. Jedenfalls nicht für die Liturgie, wie sich aus der falschen Anzahl von Strophen ersehen lässt. Gerade in Sermone blando (einem Hymnus für die katholische Laudes) stellt Byrd seine Fertigkeiten in der Komposition über Themen Gregorianischer Gesänge unter Beweis. Seine „Three fantasias, a 3“ sind später entstanden, und vereinen auf das Trefflichste konzentrierten Kontrapunkt und dichteste Expressivität. Wir spielen sie aus Stimmen ohne Taktstriche, um die Abwesenheit regelmäßiger Akzente (wie man sie in neuerer Musik fast automatisch auf jede erste Zählzeit eines Taktes erwartet) in den einzelnen Linien deutlicher machen zu können. Elway Bevin (um 1554-1638) schrieb die Variationen - Divisions genannt -, die wir heute spielen, über „Browning“, eine beliebte Melodie der elisabethanischen Zeit auf die folgenden Worte: The leaves be green, the nuts be brown, They hang so high, they will not come down. Thomas Tomkins (1572-1656) war Organist an der Kathedrale von Winchester, aber auch Mitglied der Chapel Royal. Er scheint relativ wenig Consortmusik geschrieben zu haben, aber seine drei- und sechsstimmigen Stücke müssen den Vergleich mit denen eines Gibbons oder Byrd nicht scheuen. Dass die Manuskripte fast sämt- BR-MA-PH-PHANTASM.qxp_Layout 1 19.04.17 22:56 Seite 9 lich mit Gloucester und Worcester in Verbindung gebracht werden können, lässt vermuten, dass die Werke ursprünglich für die Aufführung im Freundes- und Kollegenkreis gedacht waren. Orlando Gibbons‘ (1583-1625) überraschende Werke für Gamben-Consort zeichnen sich durch Konzentration und Stimmigkeit aus, aber auch durch eine besondere Aufrichtigkeit und Direktheit der harmonischen Sprache, wie sie in den Fantasies a3 besonders deutlich hervortritt – übrigens die einzigen Stücke seines gesamten Schaffens für Gambenconsort, die noch zu Lebzeiten des Komponisten in Einzelstimmen im Druck erschienen. Da sie idiomatisch geradezu ineinanderfließen, hört man sie am besten in direkter Folge. Sie zu spielen oder zu hören ist, als blicke man in ein Kaleidoskop: Welcher Stimme, welchem Motiv man auch beim Hören folgt – immer gewinnt man neue Einsichten in den Zusammenhang des Ganzen. Wobei man sich allerdings nur schwer entscheiden kann, worauf genau man seine Aufmerksamkeit denn jeweils fokussieren möchte, selbst wenn die Motive auf den ersten Blick ausgesprochen schlicht scheinen. Denn gerade die Kürze einiger Themen kreiert einen schillernden Bogen greller Blitze, von denen jeder einzelne sichtbar ist, obwohl man nie vorhersagen kann, wo er erscheinen wird. Doch trotz all der vermeintlichen metrischen Widersprüche, mit denen seine Werke gespickt sind, gelingt es Gibbons doch immer, im Endergebnis wahrhaft meisterliche Euphonie zu produzieren. Auch Richard Mico, ein Schüler William Byrds, der eine Weile bei der rekusanten Familie Petre angestellt war, hielt diese Tradition aufrecht, wenn auch in etwas weniger anspruchsvollem Stil. Matthew Locke (1622-1677), ein faszinierender und wohl ziemlich zänkischer Charakter, bekannt für seine streitlustigen Schriften, stellt in seinen Flat Consorts (beide in B-Tonarten – englisch flat keys – stehend) seine Lust unter Beweis, Regeln zu brechen und Konventionen zu ignorieren. 1660, zur Zeit der Wiedereinsetzung (restoration) der englischen Monarchie, galt Locke als Englands führender Komponist. Er gehörte der King‘s Private Music an, der Gruppe von Musikern, die in den königlichen Gemächern aufzuspielen pflegten und die Tradition der englischen Consortmusik aufrecht erhielten. Zur Zeit der Restauration jedoch musste Locke der königlichen „utter detestation of Fancys“ (äußersten Abscheu gegen Fantasien) und Vorliebe für Tanzmusik im französischen Stil Rechnung tragen. Man weiß, dass Locke eher wenig für französische Tanzmusik übrig hatte, außer er konnte französische Couranten schreiben, die er in seiner ganz eigenen Weise zu anglisieren pflegte. Seine stoßweise ausbrechenden Aktivitätsschübe markieren in Kombination mit herausgerissenen Teilen stilisierter Tänze als eine Art gewichtiger Apotheose einen Wendepunkt in der englischen Tradition, der von großem Einfluss auf Purcells Fantasien aus dem Jahr 1680 werden sollte. Mit Henry Purcells (1659-1695) jugendlicher Stellungnahme zum Thema „Fantazia“ (wie er diese Form in seinem Autograph bezeichnete) geht die englische Polyphonie für Gambenconsort in einer prachtvollen letzten Blüte zu Ende. Schon im zarten Alter von 20 Jahren – all seine Consorts entstanden im Laufe des Jahres 1680 – gelang es Purcell nicht nur, den über Jahrhunderte gesammelten Erfahrungsschatz englischer Kontrapunktik zusammenzuführen, sondern dieser inzwischen gar ehrwürdigen Norm auch noch seinen erstaunlich persönlichen Stempel aufzudrücken. Dies sind Werke, in denen der junge Komponist in einem so kontemplativen Idiom schrieb, dass so mancher sie eher einem Greis zuordnen würde, wenn sie sich den ernstesten Formen imitativen und umkehrbaren Kontrapunktes im Modus der hochspekulativen und experimentellen Exploration widmen. Dabei verleugnet Purcell keineswegs seine Kenntnis der verflossenen Meister der Fantasy; doch er geht schreitet weit über sie hinaus, indem er selbst die abwegigsten harmonischen Verbindungen als musikalisch nicht nur folgerichtig, sondern geradezu unausweichlich darstellt. Obgleich ein noch junger Komponist auf der Suche nach einer validen musikalischen Technik, schuf Purcell hier doch eine polyphone Methode, die auf einer ihm ganz eigenen, neuen harmonischen Sensibilität beruhte. Johann Sebastian Bach schließlich bemühte sich Zeit seines Lebens darum, den strengen Kontrapunkt nicht als ,Augenmusik‘ erscheinen zu lassen. Das ist insbesondere aus dem Titel der „Kunst der Fuge“ ersichtlich, der eben gerade von der „Kunst“ der Fuge spricht, nicht von ihrer Künstlichkeit oder Kunstfertigkeit. Die Idee, dass selbst so komplexe Kontrapunktik leidenschaftlich, lyrisch und expressiv klingen könne, ist eine bedeutende Errungenschaft in der Geschichte 09 BR-MA-PH-PHANTASM.qxp_Layout 1 19.04.17 22:56 Seite 10 des Kontrapunkts, und insbesondere die Contrapuncti 11 und 9 aus der Kunst der Fuge können als perfekte Beispiele dafür angesehen werden: Fesselnde Musikstücke, gerade auf Grund der Art und Weise, wie Bach die Mittel der Fugenkomposition – kontrapunktische Rotation und Stimmverteilung – dramatisch einsetzt. In Nummer 11 droht man gelegentlich das Gefühl für die tonale Verortung zu verlieren, wenn Bach sich in wirklich wilden chromatischen Sequenzen ergeht, die an die Turba-Chöre in seinen Passionen erinnern, während Nummer 9 – mit ihrem mysteriösen Doppel-Kontrapunkt in der Duodezime – ein ziemlich virtuoses Tempo zu verlangen scheint, damit der Hörer das Kunst der FugeThema noch als cantus firmus heraushören kann. So war es denn für Wolfgang Amadeus Mozart auch die Entdeckung der Werke Bachs in den frühen 1780er Jahren, die eine Leidenschaft sowohl für die Analyse als auch für die Komposition von Fugen auslöste, von der seine faszinierenden Arrangements einiger Fugen aus Bachs „Wohltemperiertem Clavier (Band II)“ für Streichquartett zeugen. Mozart erhielt Zugang zu dieser und anderer alter Musik – die im Wien seiner Zeit eigentlich gänzlich außer Mode war – durch seine engen Kontakte zu Baron van Swieten, und diese Erfahrung prägte ihn nachdrücklich. Van Swieten war als österreichischer Diplomat in den 1770er Jahren am Preußischen Hof in Berlin tätig gewesen, wo er Bachs Student Johann Philipp Kirnberger kennengelernt hatte, gleichfalls ein begeisterter Kenner und Liebhaber von Fugen und strengem Kontrapunkt. Van Swietens BachSammlung umfasste eine ganze Reihe der Bach‘schen Werke für Tasteninstrumente, darunter zumindest Teile des „Wohltemperierten Claviers“, und diverse Bekannte Mozarts aus dieser Zeit – darunter sein englischer Schüler Thomas Attwood – erwähnen, dass „dieser Band Fugen jederzeit offen auf [Mozarts] Fortepiano lag“. Von den neun vierstimmigen Fugen des zweiten Bands des Wohltemperierten Claviers transkribierte Mozart sechs; der Autograph (KV 405) enthält fünf davon: Die in c-Moll, Es-Dur, E-Dur, dis-Moll (transponiert nach d-Moll) und D-Dur, in dieser Reihenfolge. Bei keiner dieser fünf Fugen handelt es sich um eine mechanische Transkription, und so scheint es durchaus sinnvoll, diese Werke als Beleg für Mozarts ernsthafte Beschäftigung sowohl mit der Ästhetik als auch mit den analytischen Fragen der Bach‘schen Stimmfüh10 rung zu hören. Indem er die individuellen Stränge der vier Stimmen für Streichinstrumente auseinandernahm, dürfte Mozart sicher auch das Potential der Fugen für eine wie auch immer geartete Aufführung im Kopf gehabt haben. Die Absicht einer Aufführung wird aber nicht nur aus den gelegentlichen Angaben zu Artikulation und Strichen (von denen wir einige für die Gamben adaptieren mussten) deutlich, sondern auch aus den wohl bewussten Umarbeitungen des Kontrapunkts zugunsten der dramatischen Wirkung bei der heimischen Wiedergabe mit einem Streichquartett. Man darf auch davon ausgehen, dass Mozart die harmonischen Dinge gelegentlich selbst in die Hand nahm, wenn er Bachs chromatische Stimmführung das eine oder andere Mal veränderte; möglicherweise befand er, Bachs harmonische Ausdrucksmittel hätten eine Art Update nötig, wie in seinem Arrangement von Händels Messiah. Die Fugen, die Mozart ausgesucht hatte, sind außerdem diejenigen, in denen enge Imitation oder Engführung eine wichtige Rolle spielen; eine Technik, die gewissermaßen in schlechtem Rufe stand, wie man bei Joseph Riepel nachlesen kann, der 1768 notierte, man müsse die Geheimnisse der Engführung oder alle anderen Vorteile dieser Kunst nur dann verraten, wenn jemand behaupte, Komposition sei vielleicht keine Kunst... Laurence Dreyfus BR-MA-PH-PHANTASM.qxp_Layout 1 19.04.17 22:56 Seite 11 11 BR-MA-PH-PHANTASM.qxp_Layout 1 19.04.17 22:56 Seite 12 BR-KLASSIK-MUSICA ANTIQUA-KONZERTE 2017/18 Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Aufseßsaal, 20.00 Uhr Nächstes Konzert: Dienstag, 31. Oktober 2017, 20.00 Uhr FESTKONZERT ZUM REFORMATIONSJUBILÄUM MARTIN LUTHER UND DER ENGLISCHE GRUSS REFORMATION UND MARIENVEREHRUNG IN NÜRNBERG CAPELLA DE LA TORRE: KATHARINA BÄUML VORVERKAUFSSTELLEN Bayerischer Rundfunk – Studio Franken Tel. 0911 / 6550 – 19 270 E-Mail: [email protected] Ticket-Vorverkauf in der Kulturinformation Königstraße 93, 90402 Nürnberg Tel. 0911 / 231 – 4000 Nürnberger Nachrichten Konzertkasse in der Mauthalle Hallplatz 2, 90402 Nürnberg Tel. 0911 / 216 – 2298 BR-KLASSIK-Musica Antiqua-Konzerte / Saison 2016/17 / Programmheft herausgegeben vom Bayerischen Rundfunk – Studio Franken Veranstalter: Bayerischer Rundfunk – Studio Franken und Germanisches Nationalmuseum / Herausgeber: Musikredaktion, Dr. Thorsten Preuß, Wallensteinstraße 117, 90431 Nürnberg, Telefon: 0911 - 6550 - 19231 / www.br.de/franken / Texte: Laurence Dreyfus, Übersetzungen: Andrea Braun / Gestaltung: rose pistola, München / Umsetzung: sights & sounds, Saarbrücken / Druck: SDV Direct World GmbH, Dresden / Fotonachweis: Marco Borggreve br.de/franken