Neues Abkommen in Kolumbien - Hanns-Seidel

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POLITISCHER HINTERGRUNDBERICHT
Projektland:
Kolumbien
Datum:
Dezember 2016
Neues Abkommen in Kolumbien:
Friedensschluss im zweiten Anlauf
Nachdem Kolumbiens Ringen um einen Friedensschluss zwischen Regierung und der
Guerilla FARC1 durch die Ablehnung der Friedensvereinbarung2 vom 24. August 2016
zwischen Regierung und FARC in einer Volksabstimmung einen herben Rückschlag
erlitten hatte, ist 53 Tage danach ein überarbeitetes Abkommen unterzeichnet
worden. Dieses ist nun am 30. November 2016, also nur eine Woche danach, mit
seiner Ratifizierung durch die Abgeordnetenkammer des zwei Kammern umfassenden
Kongresses der Republik Kolumbien in Kraft getreten. Der Senat hatte bereits kurz
zuvor das Abkommen gebilligt. Das Friedensabkommen ist damit nach mehr als vier
Jahren schwieriger Gespräche und Verhandlungen Realität.
Staatspräsident Juan Manuel Santos und Oberbefehlshaber der FARC, Rodrigo
Londoño, alias Timochenko, waren am 24. November 2016 zum zweiten Mal
zusammengekommen, um das neue Friedensabkommen zu unterzeichnen. Nach der
beeindruckenden Zeremonie in der Stadt Cartagena traf man sich nun in einem sehr
viel bescheideneren Rahmen im Theater Colón im Herzen des politischen Zentrums
von Bogotá – in Rufweite des Außenministeriums und des Kongresses der Republik.
Auch dies kann als politisches Signal der Annäherung interpretiert werden.
Ein Rückblick: Mit einer hauchdünnen Mehrheit von 50,23 Prozent war das
ursprüngliche Abkommen am 2. Oktober 2016 in einer Volksabstimmung
überraschend abgelehnt worden.3 Was folgte war Entsetzen auf der Seite der
Befürworter und großes Erstaunen auf der Seite des Nein-Lagers. Denn selbst letztere
hatten mit diesem Ausgang nicht gerechnet. Die Tage und Wochen danach waren
geprägt von Unsicherheit, wie es weitergehen und wie lange es dauern werde, bis eine
neue, überarbeitete Vereinbarung vorliegen und ob der Waffenstillstand so lange
anhalten werde. Alle beteiligten Seiten hatten bekräftigt, an einer Rettung des
Friedensprozesses mitwirken zu wollen.
Die Tatsache, dass Santos nur Tage später mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet
wurde, war mehr als eine bedeutende Geste und wirkte sich in dieser schwierigen
Phase stabilisierend auf den Friedensprozess aus.
1
Vollständiger Name: FARC-EP: “Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo” (Revolutionäre
Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee)
2
Vgl. Politischer Hintergrundbericht vom 25.08.2016: Friedensvereinbarung zwischen Regierung und FARC in Kolumbien
3
Vgl. Politischer Hintergrundbericht vom 04.10.2016: Kolumbianer lehnen Friedensabkommen mit Guerilla FARC ab
Hanns-Seidel-Stiftung_Politischer Hintergrundbericht_Kolumbien_Dezember 2016
1
Was folgte, waren intensive Gespräche der Regierung mit einer Gruppe prominenter
Vertreter des „Neins“, deren Ergebnisse von der Regierung an den Verhandlungstisch
mit der FARC nach Havanna gebracht und in wesentlichen Teilen in das neue
Abkommen übertragen wurden. Die meisten Opferverbände, alle im Kongress
vertretenen Parteien mit Ausnahme der Partei Centro Democrático, die
Wirtschaftsverbände, ein Großteil der Vertreter der Katholischen Kirche und nicht
zuletzt die Medien unterstützen das neue Abkommen, das aus Sicht der Opfer des
Konflikts ein besseres Abkommen ist – auch wenn nicht alle Kritiker mit der neuen
Vereinbarung zufrieden sind, da ihnen die Änderungen nicht weitgehend genug gehen.
Welche Punkte blieben im neuen Abkommen unverändert?

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In seiner neuen Version sieht das Abkommen weiterhin keine klassischen
Gefängnisstrafen für Täter aus den Reihen der FARC vor, insofern diese
geständig sind und zur Wahrheitsfindung beitragen.
Auch gibt es erwartungsgemäß keine Abkehr vom Ziel aktiv die nachhaltige
Etablierung der FARC als politische Partei zu unterstützen.
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Ebenso wird es für verurteilte Täter der FARC keinen Ausschluss von
politischen Aktivitäten oder der Übernahme eines politischen Mandats (nach
Verbüßung der Strafe) geben.
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Schließlich bleibt es auch bei zehn garantierten Sitzen für die politischen
Vertreter der FARC im Kongress der Republik für zwei Wahlperioden ab 2018.
FARC zeigt Willen zum Frieden
Das überarbeitete neue Friedensabkommen und die erkennbaren deutlichen
Zugeständnisse der FARC gegenüber der kolumbianischen Gesellschaft bezeugen
deren festen Willen, den bewaffneten Kampf hinter sich zu lassen und die politische
Auseinandersetzung im Rahmen des demokratisch-institutionellen Systems zu suchen.
Der FARC-Führer Timochenko bezeichnete die Nachverhandlung am Tag der
Unterschrift – schon ganz Politiker – als eine „Bereicherung für das Abkommen“, und
sprach von bedeutenden Änderungen im Inhalt der Vereinbarung. Dies ist
bemerkenswert, da alle wesentlichen Änderungen zu Lasten der Guerilla gingen.
Die Aussagen der Gegner des Abkommens erwecken den Eindruck, es sei nicht nur
wünschenswert, sondern auch machbar, der FARC nahezu alle denkbaren
Zugeständnisse abzuringen. Dabei verkennen sie den Umstand, dass es sich eben nicht
um die Kapitulation eines besiegten Gegners handelt, sondern um die freiwillige
Demobilisierung einer zwar geschwächten, aber bis heute handlungsfähigen Guerilla
auf Grundlage einer Übereinkunft beider Seiten.
Was ist neu im Abkommen?
Insgesamt kam es zu 190 Veränderungen und Klarstellungen am ursprünglichen
Abkommen, welches nun um 13 auf 310 Seiten angewachsen ist. Nur drei von
insgesamt 57 Themenfeldern blieben unangetastet:
Hanns-Seidel-Stiftung_Politischer Hintergrundbericht_Kolumbien_Dezember 2016
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Klargestellt wurde, dass verurteilte Angehörige der FARC, die geständig sind, in
ihrem jeweiligen Sammelraum (Zona de Concentración) verbleiben und dort
ihre fünf- bis achtjährigen Freiheitsbeschränkungen verbüßen müssen.
Insgesamt wird es landesweit 28 dieser Rückzugsräume geben, in welchen die
FARC sich mit ihren 5.645 gemeldeten Guerilleros einfinden muss. Auch sind
Reisen von verurteilten Tätern zwischen den einzelnen Sammelräumen
ausgeschlossen.
Hinsichtlich des Drogenhandels wird es bei der justiziellen Aufarbeitung zu
Einzelfallbetrachtungen kommen. In der ersten Version des Abkommens sollte
der Drogenhandel zur Finanzierung der Rebellion gänzlich unter eine pauschale
Amnestieregelung fallen. Nun soll jeweils untersucht werden, ob der
Drogenhandel der Finanzierung des bewaffneten Kampfes oder der
individuellen Bereicherung galt. Darüber hinaus verpflichtet sich die FARC alle
Informationen im Zusammenhang mit dem Drogenhandel (Allianzen mit
Kartellen, Transportrouten etc.) offenzulegen.
Die FARC erklärt sich bereit, einen Beitrag zur Wiedergutmachung und
materiellen Opferentschädigung zu leisten. Dazu übergibt sie eine Liste mit
den Gütern (Land- und Immobilienbesitz, Minen, Unternehmensbeteiligungen
etc.) und Geldvermögen, welche zur Entschädigung der Opfer herangezogen
werden sollen. Explizit vereinbart wurde, dass ein Verheimlichen von
Besitztümern mit dem Ausschluss aus der Übergangsjustiz und dem Übergang
in die ordinäre Justiz mit entsprechend drastischen Strafen einhergehen werde.
An der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden, die im Kern des Systems der
Übergangsjustiz steht, werden keine ausländischen Richter beteiligt werden.
Zudem wird deren Existenz auf zehn Jahre beschränkt und Verfahren werden
nur in den ersten beiden Jahren initiiert werden können. Auch wird die
Überprüfung der Urteile nicht in der Hand der Sondergerichtsbarkeit selbst
liegen, sondern geht auf das Verfassungsgericht und somit die traditionelle
kolumbianische Justiz über.
Klargestellt wurde, dass die FARC keine eigenen Kandidaten für die 16
vorgesehenen Parlamentssitze der neuen Sonderwahlkreise, welche eine
überproportionale Repräsentation der Konfliktzonen sicherstellen sollen,
aufstellen wird.
Der Anteil der künftigen FARC-Partei an der Gesamtsumme der öffentlichen
Mittel zur Parteienfinanzierung wird von den ursprünglich vorgesehenen zehn
Prozent um ein Drittel gekürzt und entspricht damit der Förderung
traditioneller Parteien. Ursprünglich war eine überproportionale Förderung
vorgesehen.
Als Zugeständnis an die katholische und insbesondere die evangelikalen
Kirchen und ihnen nahestehenden Vertreter des „Neins“ wurde im Abkommen
explizit klargestellt, dass die freie Religionsausübung garantiert werde, die
Bedeutung der Familie von Staat und FARC anerkannt und kein Aufzwinen
einer „Gender-Ideologie“ erfolgen werde.
Das System der Übergangsjustiz gilt neben Angehörigen der FARC auch für
Mitglieder des Militärs und Zivilisten. Auch wenn die kolumbianischen
Streitkräfte nicht Gegenstand der Friedensgespräche zwischen Regierung und
FARC waren, kam es unmittelbar vor der Unterschrift zu einem bedeutenden
Hanns-Seidel-Stiftung_Politischer Hintergrundbericht_Kolumbien_Dezember 2016
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Zugeständnis an Polizei und Armee und damit an die Repräsentanten des NeinLagers. Auch Militärs und Zivilisten – beispielsweise Unternehmer, die
Paramilitärs finanziert haben – können gleichermaßen angeklagt werden und
profitieren von denselben reduzierten Strafen. Klargestellt wurde nun von
Regierungsseite, dass auch für Angehörige der Streitkräfte keine automatische
Haftung im Zuge der Befehlskette von Vorgesetzen für ihre Untergebenen
erfolgen soll. Die meisten der derzeit wegen Kriegsverbrechen inhaftierten
Offiziere der Streitkräfte wurden auf Grundlage eben dieser Haftung für die
Taten ihrer Untergebenen verurteilt, nicht für eigene Handlungen oder Befehle
und ohne selbst am Ort der Ereignisse anwesend gewesen zu sein.
Ausgangspunkt soll auch für die Streitkräfte das Wissen der Vorgesetzten um
die Straftaten sein und deren Handeln, um Taten zu verhüten, direkt zu
unterbinden und/oder eine Sanktionierung der Täter einzuleiten. Also Kontrolle
über die Taten, statt Kontrolle über die Untergebenen. Kritik an dieser
Regelung äußerte insbesondere die NGO Human Rights Watch, die befürchtet,
dass manche Straftat, die von Militärangehörigen zu verantworten ist, nicht
mehr angemessen sanktioniert werden könnte.
Umsetzung des Abkommens ohne neue Volksabstimmung
Im Zuge der Nachverhandlungen wurde von Regierungsseite klargestellt, dass es eine
erneute Volksabstimmung über das neue Abkommen nicht geben würde. Die Regierung
argumentiert, dass das Nein-Lager durch deren politische Repräsentanten angemessen
vertreten und eingebunden wurde und deren Kritikpunkte und Änderungsvorschläge in
wesentlichen Teilen und so gut wie möglich in das neue Abkommen überführt wurden.
Die Volksabstimmung über die erste Version des Abkommens war von Santos freiwillig
aus politischen Gründen angesetzt worden, nicht aus juristischer Notwendigkeit. Das
Verfassungsgericht stellte in einem Urteil klar, dass das Ergebnis der Volksabstimmung
verbindlich sei und die Regierung das Abkommen daher nicht umsetzen dürfe.
Die Regierungsseite spricht angesichts der vielfachen Änderungen und
Konkretisierungen nun von einem neuen Abkommen, das daher in den
parlamentarischen Prozess eingebracht und verabschiedet werden darf. Die
kolumbianische Justiz teilt diese Bewertung.
Wiederstand aus dem rechten Nein-Lager
Die Annahme des Friedensabkommens erfolgte im Kongress gegen den Widerstand der
inzwischen sehr bedeutenden Partei Centro Democrático, die vom ehemaligen
Staatspräsidenten Álvaro Uribe als Antwort auf den Friedensprozess und als
„Korrektiv“ zu diesem gegründet worden war. Dem Kern der Kritiker des Abkommens
um Uribe, dem „Gewinner“ der Volksabstimmung, gingen die Neuerungen und
Änderungen im Friedensabkommen nicht weit genug. Er hatte inner- und
außerparlamentarischen Widerstand gegen das Abkommen angekündigt. Das
manifestierte sich in den Debatten und dem Fernbleiben der finalen Abstimmung in
beiden Kammern des Kongresses, sprich Senat und Abgeordnetenkammer.
Hanns-Seidel-Stiftung_Politischer Hintergrundbericht_Kolumbien_Dezember 2016
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Weitere vereinzelte, aber bedeutende Kritiker des alten und neuen Abkommens
kommen aus der Partido Conservador, die als solche und mittels ihrer Fraktion im
Kongress den Friedensprozess und das Abkommen mehrheitlich unterstützt.
Populistisches Wahlkampfgetöse: Wahlsieg geht vor Frieden
Um das Ziel Präsidentschaft 2018 zu erreichen, streut die Uribe-Partei Zweifel an der
Legitimität des Kongresses, über ein solches Abkommen zu urteilen und verstrickt sich
dabei in Widersprüche. So forderten Vertreter der Partei Centro Democrático gar die
Auflösung des Kongresses und Neuwahlen, da das Parlament den Willen des Volkes
nicht repräsentiere. Auch der ehemalige Präsident und Parteivorsitzende Uribe selbst
gehört als Senator der Institution an, die seine Partei – zweifellos nicht ohne dessen
Rückendeckung – nun angreift. Dem traditionell geringen Ansehen der Legislative in
der Bevölkerung schadet ein solches Manöver immens. Zumal die erst seit den Wahlen
2014 existierende Fraktion des Centro Democrático ihre Rolle im Parlament sehr gut
ausfüllt und eine der aktivsten, sichtbarsten und mit Abstand die disziplinierteste ist.
Allerdings scheint die Partei bereit zu sein, den Frieden und die Stabilität des Landes
der Perspektive auf einen Wahlsieg in 2018 zu opfern. Sie vertieft gezielt die
vorhandene Polarisierung der Gesellschaft. Dabei geht es immer weniger um die
Friedenspolitik und den Inhalt des neuerlichen Abkommens. Denn es gilt das Ziel, eine
– noch in weiter Ferne stehende – mögliche Allianz der Parteien der politischen Mitte
mit der FARC-Bewegung und deren Etablierung als politische Kraft zu verhindern.
Daher geht es der Partei darum, einen möglichen Linksrutsch wie in Venezuela
abzuwenden – auch wenn ein solcher mit Blick auf das Wählerverhalten im konservativ
geprägten Kolumbien, das linken Parteien bislang kaum Entfaltungsspielräume gab,
bislang kaum denkbar scheint.
Diskussion um direkte oder repräsentative Demokratie
Um die Frage des Friedensabkommens entspinnt das Nein-Lager, das auch einzelne,
bedeutende Politiker der Partido Conservador, wie etwa den ehemaligen
Staatspräsidenten Andrés Pastrana umfasst, zunehmend eine Diskussion über direkte
versus repräsentative Demokratie und die Frage: Wer repräsentiert den Willen des
Volkes?
In der Abgeordnetenkammer verließen neben den 19 Abgeordneten des Centro
Democrático überraschenderweise auch acht der 27 Parlamentarier der Konservativen
Partei die Abstimmung und sprachen sich somit indirekt gegen das Abkommen aus.
Letztere gänzlich ohne Polemik. Auch hier lautet das Argument, dass nur eine zweite
Volksabstimmung das Ergebnis legitimieren kann, da sich in der ersten eine Mehrheit
dagegen ausgesprochen habe. Am Ende wurden 130 Ja-Stimmen ohne Gegenstimme
für das Abkommen in der Plenarsitzung der Abgeordnetenkammer gezählt.
Bei der laufenden Debatte um Volksabstimmungen und direkte Demokratie handelt es
sich eher um eine Scheindebatte. Gerade die genannten beiden Parteien
unterstreichen in ihren traditionellen Kernpositionen in besonderem Maße die
Bedeutung der staatlichen Institutionen und der Staatsgewalt – und damit auch der
Hanns-Seidel-Stiftung_Politischer Hintergrundbericht_Kolumbien_Dezember 2016
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legislativen Gewalt. Sie sind in der Vergangenheit keinesfalls als Wortführer für
plebiszitäre Elemente der direkte Demokratie in Erscheinung getreten.
Zudem haben diese in Kolumbien auf nationaler Ebene weder eine Tradition, noch sind
sie ein übliches Verfahren. Die letzte vergleichbare Volksabstimmung liegt fast 60
Jahre zurück und diente zur Legitimierung der als Frente Nacional in die Geschichte
eingegangenen Zweiparteienallianz, die ab 1958 bis 1972 als permanentes
Regierungsbündnis zur Beendigung des de-facto-Bürgerkriegs zwischen Anhängern der
Konservativen und der Liberalen Partei und der nachfolgenden Diktatur des General
Gustavo Rojas Pinilla führte. Zugleich führte diese Zweiparteiendominanz zur
Entstehung diverser Guerilla, darunter der FARC.
Fahrplan zum Frieden
Nach der Ratifizierung des Abkommens wird die Implementierung mittels rund 50
Einzelgesetzen erfolgen. Angedacht sind dazu verkürzte Gesetzgebungsverfahren, die
derzeit vom Verfassungsgericht auf Rechtmäßigkeit überprüft werden, welche die
Anzahl der notwendigen Lesungen halbieren und dem Präsidenten innerhalb eines
Jahres erlauben, zur Implementierung des Abkommens Verordnungen mit
Gesetzescharakter zu erlassen.
Experten rechnen mit mindestens einem halben Jahr für die Umsetzung,
möglicherweise aber noch deutlich länger. Zu den ersten Gesetzen wird ein
Amnestiegesetz für Guerillakämpfer gehören, denen weder Kriegsverbrechen noch
Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen werden, sondern lediglich
„politische Delikte“, wie die Teilnahme an der Rebellion. Ebenso wird die Regierung
Begnadigungen für bereits verurteilte Mitglieder der Guerilla verkünden.
Jetzt werden sich die Angehörigen der FARC geordnet in den 28 Sammlungsräumen
landesweit einfinden. Die Waffenabgabe wird an die Vereinten Nationen erfolgen und
muss spätestens nach 180 Tagen abgeschlossen sein. Damit wird die FARC als
bewaffnete Organisation Geschichte sein.
FARC auf dem Weg zur Partei
Die Implementierung des Abkommens ist Aufgabe des kolumbianischen Staats. Die
FARC spielt hierbei keine aktive, sondern nur eine beobachtende und begleitende
Rolle. Sie kann sich ab sofort auf die ersten Schritte ihrer Parteibildung fokussieren,
der zunächst in drei Stufen ablaufen wird
Erstens ist es der Guerilla ab sofort erlaubt, politische Pädagogik zu betreiben. 60
Angehörige der Guerilla haben für ein halbes Jahr das Mandat, sich landesweit zu
bewegen und für ihre zukünftige Partei und die politischen Ziele zu werben. Hinzu
kommen zehn weitere Pädagogen für jeden einzelnen Sammlungsraum, also 280
insgesamt.
Zweitens bemüht sich die FARC intensiv, ihr negatives Bild in der Öffentlichkeit zu
verbessern. Die Kommunikation, also Inhalte, Ton und Wortwahl, sowie die Kleidung
haben sich bereits verändert und „zivilisiert“. Jüngste Umfragen des
Forschungsinstituts Gallup zeigen, dass sich die Zustimmung für die FARC in der
Hanns-Seidel-Stiftung_Politischer Hintergrundbericht_Kolumbien_Dezember 2016
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Bevölkerung von sechs auf 18 Prozent verdreifacht hat. Auch wenn Umfragen in
Kolumbien mit Vorsicht zu genießen sind, ist die Tendenz eindeutig.
Und drittens sucht die FARC als Teil ihrer Versöhnungsbemühungen politische
Allianzen und nähert sich an die Parteien an, die das Friedensabkommen unterstützen.
Damit will sie die Implementierung des Abkommens und des langjährigen Prozesses
der Friedensschaffung auch in der Amtszeit eines neuen Staatspräsidenten ab Mitte
2018 sicherstellen.
Ausblick – Kolumbiens langer Weg zum Frieden
Meinungsverschiedenheiten bis hin zu einer Polarisierung über zentrale, die
Gesellschaft bewegende politische Fragestellungen sind in einer pluralistischen
Demokratie eine Normalität. Im spezifischen, historisch gewachsenen Gewaltkontext
Kolumbiens hingegen, birgt der tiefgreifende politische Konflikt und das in
Abredestellen der Legitimität und Legalität des Friedensabkommens große Risiken für
eine Eskalation von Gewalt durch Teile derer, die das Abkommen ablehnen und das
„Recht“, sprich Rache und Bestrafung, in die eigene Hand nehmen wollen.
Es mangelt nicht an Beispielen: So wurden in den 1980er Jahren in kurzer Zeit mehr
als 3.000 Mitglieder der linken, der FARC nahestehenden Partei Unión Patriótica von
bis heute vielfach nicht identifizierten „dunklen Kräften“, Todesschwadronen,
bestehend aus rechten Paramilitärs, teilweise unter Mitwirkung staatlicher
Sicherheitsorgane, umgebracht. Dabei handelte es sich um linke Parteifunktionäre,
Abgeordnete, Bürgermeister und Politiker vor allem auf der lokalen und regionalen
Ebene. Diese Geschichte schreibt sich bis heute fort. In den letzten vier Jahren wurden
mehr als 100 Angehörige dieser politischen Bewegung getötet.
Daher besteht die große Gefahr, dass Angehörige der künftigen FARC-Partei verstärkt
zum Ziel von Gewalt werden. Umgekehrt aber wird die FARC zweifellos indirekt zu
einem Gewaltexporteuer werden. Teile der Guerilla werden sich nicht demobilisieren,
sondern als Pseudo-FARC und kriminelle Banden weiterbestehen, insbesondere in den
lukrativen Drogenanbaugebieten. Andere Guerilleros werden sich nach der
Demobilisierung der Organisierten Kriminalität anschließen. Dies dürfte zu neuen
Erscheinungsformen und –orten der Kriminalität und Gewalt führen – nicht zuletzt in
den Großstädten.
Schon jetzt nehmen politisch und ökonomisch motivierte Tötungsdelikte, die in
Kolumbien niemals völlig zum Erliegen gekommen sind, und in vielen Regionen mit
Bedrohungen und Vertreibungen Grundkonstanten darstellen, wieder zu. Allein im
Monat November 2016 wurden landesweit auf mehr als ein halbes Dutzend, zumeist
dem
linken
politischen
Spektrum
zuzurechnenden
Sozialund
Menschenrechtsaktivisten im ländlichen Raum Attentate verübt. Dahinter stehen
Auseinandersetzungen mit mafiösen Organisationen um Landnutzungsfragen, Viehund Forstwirtschaft oder Bergbau und daraus folgende soziale Konflikte. Viele
Beobachter interpretieren die jüngste Gewaltwelle als einen Versuch „dunkler Kräfte“,
das Friedensabkommen zu sabotieren. Eine von der Regierung eingesetzte Ad-hoc
Kommission unter Führung des Innenministers hat hingegen keine Anzeichen für ein
koordiniertes, zielgerichtetes Vorgehen und gemeinsame Hintermänner der Attentate
ausmachen können.
Hanns-Seidel-Stiftung_Politischer Hintergrundbericht_Kolumbien_Dezember 2016
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Darüber hinaus konzentriert sich der Staat reaktiv auf den Schutz einzelner,
gefährdeter Personen. Von einer aktiven, vorausschauenden und ganzheitlichen
sicherheitspolitischen Antwort auf diese Bedrohungslage im ländlichen Raum ist man
noch weit entfernt. Anlass zur Hoffnung gibt die Tatsache, dass das
Friedensabkommen die Problematik der Sicherheit im ländlichen Raum explizit
aufgreift, und den Staat zu integralen Lösungsansätzen und zu Sicherheitsgarantien
verpflichtet.
Der sicherheitspolitische Schwerpunkt liegt derzeit auf der Intensivierung des
militärischen Vorgehens gegen die verbleibenden, deutlich kleineren Guerillas, ELN4
und EPL5 mit rund 2.000 bzw. 200 Bewaffneten sowie den diversen, militärisch
organisierten und teilweise noch größeren kriminellen Banden. Der Rückzug bzw. die
Einstellung der militärischen Handlungen durch die FARC führt zu einer
Neustrukturierung und örtlichen Verschiebungen bei den verbleibenden Akteuren des
bewaffneten Konflikts.
Das Friedensabkommen mit der FARC wird also nicht von einem Tag auf den anderen
den von der Regierung und im Ausland viel zitierten „Frieden für Kolumbien“ bringen.
Dem Land stehen Jahrzehnte der Erarbeitung eines innergesellschaftlichen Friedens
bevor. Dazu gehört ein schneller Friedensschluss mit der zweitgrößten Guerilla-Gruppe
ELN. Die formelle Aufnahme offizieller Gespräche, die noch komplizierter und ebenso
langwierig zu werden drohen, ist durch die nicht erfolgte Freilassung eines
Entführungsopfers
dieser
Guerilla
derzeit
blockiert.
Die
inhaltliche
Verhandlungsagenda steht, die Gespräche könnten jeden Tag in der ecuadorianischen
Hauptstadt Quito beginnen.
Kolumbiens Politik und Gesellschaft stehen daher auch in Zukunft vor großen
Herausforderungen. Hier wird sich die Erfahrung anderer Länder bestätigen, dass die
Umsetzung des Friedens eine mindestens genauso große Herausforderung darstellt,
wie die Erarbeitung eines solchen Abkommens selbst.
Benjamin Bobbe
Der Autor ist Leiter der Vertretungen der Hanns-Seidel-Stiftung in
Bogotá/Kolumbien und Caracas/Venezuela.
IMPRESSUM
Erstellt: Dezember 2016
Herausgeber: Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Copyright 2016
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Vorsitzender: Prof. Ursula Männle, Staatsministerin a.D.
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Verantwortlich: Dr. Susanne Luther
Leiterin des Instituts für Internationale Zusammenarbeit
Tel. +49 (0)89 1258-0 | Fax -359
E-Mail: [email protected], www.hss.de
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Ejército de Liberación Nacional –ELN (“Nationale Befreiungsarmee”)
Ejécito Popular de Liberación – EPL („Volksbefreiungsarmee“)
Hanns-Seidel-Stiftung_Politischer Hintergrundbericht_Kolumbien_Dezember 2016
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