Objektagnosie

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3 Störungen der Objektwahrnehmung (Objektagnosie) (S. 33-34)
3.1 Beschreibung der Störung
3.1.1 Bezeichnung und Definition
Unter einer visuellen Objektagnosie versteht man Einschränkungen im Erkennen und Identifizieren
visuell präsentierter Gegenstände, die dem Betrachter eigentlich bekannt sein sollten. Agnosien können
kombiniert in verschiedenen Sinnesmodalitäten auftreten (auditiv, taktil und visuell), sind aber zumeist
auf eine Modalität beschränkt. Aus diesem Grund kann ein Patient mit der visuellen Objektagnosie
Gegenstände erkennen, wenn er typische assoziierte Geräusche hört (Rascheln von Papier) oder er sie
betasten darf.
In diesem Kapitel wird die Agnosie als Störung des visuellen Erkennens von modalitätsspezifischen
Benennensstörungen abgegrenzt (optische Aphasie), da Letzteres nicht als „Wahrnehmungsstörung" im
engeren Sinne zu definieren ist. Jedoch folgen wir aus pragmatischen Gründen der Trennung zwischen
einer apperzeptiven und einer assoziativen Objektagnosie, die in den meisten Lehrbüchern zu finden ist.
Bei einer apperzeptiven Agnosie sind also die frühen visuellen Analyseprozesse defizitär, was vor allem
in einer fehlerhaften visuellen Integration lokaler Merkmale deutlich wird. Der Eindruck eines
Gesamtmusters muss daher oft mühsam konstruiert werden und wird nicht unmittelbar erfasst. Das
Fallbeispiel des Patienten HL soll die Defizite verdeutlichen.
Fallbeispiel Patient HL (apperzeptive Agnosie)
Der Patient erlitt im Alter von 60 Jahren einen Posterior-Infarkt, der zuerst deutliche
Gesichtsfeldeinbußen (homonyme Hemianopsie nach rechts) hervorrief. Trotz langsamer Rückbildung
der kortikalen Blindheit blieben Probleme im Erkennen von Gesichtern, Farben und Objekten bestehen.
Letztere konnten jedoch nach Betasten oder auf Grund eines typischen Geräusches ohne Probleme
identifiziert werden. Besonders auffällig war sein Defizit, wenn der Patient künstliche Objekte (sinnlose
Strichzeichnungen) und reale Objekte diskriminieren sollte. Das Abzeichnen von einfachen Objekten
(Kreuz, Quader, Pfeife) gelang zwar zufrieden stellend, doch benötigte der Patient lange Zeit zum
Anfertigen der Zeichnung, da er sie Strich-für-Strich kopierte. Aus diesem Grund wurden einzelne
Elemente oft nur ungenügend in das Gesamtbild integriert. Das Defizit in der Identifikation von
Objekten blieb auch nach Einsatz eines Computertrainings (Kategorisierung von Strichzeichnungen)
über 3 Monate hinweg konsistent bestehen.
Bei einer assoziativen Agnosie wird das Abzeichnen eines Objektes ohne größere Probleme gelingen,
was zuerst nicht auf ein inhaltliches Verkennen schließen lässt. Jedoch wird der Patient das Objekt nicht
immer benennen oder seine Funktion erklären können, wie dies auch beim Patienten TH der Fall ist.
Im Gegensatz zu einer aphasischen Störung des Benennens ist das visuell präsentierte Objekt also von
seiner semantischen Bedeutung entkoppelt. Der Patient wird nicht in der Lage sein, z. B. den
Lebensraum eines visuell dargestellten Tieres anzugeben, kann aber seine Form, Farbe und Größe
korrekt beschreiben.
Die Objekterkennung ist das Resultat einer Serie von Analyseprozessen, die an vielen Stellen
unterbrochen werden können (siehe Störungsmodelle). Deshalb gibt es eine Reihe von Unterformen der
Objektagnosie, die im Diagnoseprozess differenziert werden sollten.
3.1.2 Epidemiologische Daten
Da genaue Angaben zur Prävalenz fehlen, können wir zur Schätzung der Auftretenswahrscheinlichkeit
nur eine Gruppenstudie heranziehen. Mulder et al. (1995) untersuchten eine Gruppe von 35 Patienten,
die eine unilaterale Hirnschädigung auf Grund eines zerebrovaskulären Insults erworben hatten. In der
Gruppe der Patienten mit einer linkshemisphärischen Läsion war die Wahrscheinlichkeit für Störungen
der Objektwahrnehmung relativ häufiger (6 von 14 Patienten) als in der Gruppe rechtshemisphärischer
Patienten (6 von 19). In der klinischen Praxis zeigen sich jedoch Objektagnosien sehr viel seltener als in
der Studie angedeutet. Die Unterschiede gehen möglicherweise darauf zurück, dass assoziierte Defizite
(z.B. Störungen der Kontrastsensitivität oder selektive Störungen der mentalen Rotation) nur
ungenügend ausgeschlossen wurden.
Fallbeispiel Patient TH (assoziative Agnosie)
Der Patient hatte im Alter von 52 Jahren einen linksseitigen Thalamusinfarkt erlitten. Er berichtete
selbst über keinerlei Veränderungen seiner kognitiven Fähigkeiten. Während der neuropsychologischen
Untersuchung fiel jedoch auf, dass der Patient Gegenstände nicht benennen und auch nicht in ihrer
Funktion beschreiben konnte. Dagegen bereitete ihm das Beschreiben der äußeren Gestalt oder das
Abzeichnen einfacher schwarz-weißer Zeichnungen keine Probleme. Sowohl er als auch seine Ehefrau
gaben an, dass er im Alltag die meisten Gegenstände korrekt benutzen würde und in seiner täglichen
Funktionsfähigkeit daher nicht eingeschränkt sei.
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