PETER BISSEGGER PETER BISSEGGER

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4. Mai 2012
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Porträt
PETER
BISSEGGER
MIT DER KRAFT DER VORSTELLUNG
von Roger Staub
D
ie Centovallibahn jammert die letzte Kurve, bevor
sie fast still über die Eisenbrücke hoch über dem
Isorno fährt. Der späte April zeigt die eisigen Zähne,
durch schwarze Wolken bricht kräftiger Sonnenschein in das frische Grün von Bäumen und Wiesen.
Der beschneite Grenzberg Ghiridone vermittelt einen Hauch von Patagonien. Palmen verhöhnen die schroffe Bergwelt,
mediterrane Pflanzen mildern den kühlen Granit. Hier, im Umkreis
von zehn Kilometern, hat sich so mancher bekannte Künstler niedergelassen. Max Frisch, Golo Mann und Alfred Andersch im Onsernonetal, Clown Dimitri, der Maler Fritz Pauli, der Regisseur Fredi Murer und der Bühnenbildner Peter Bissegger im Centovalli. Bei ihm
sind wir zu Besuch. Ein alter Weg führt uns zur ehemaligen Mühle,
die Peter und Bethli Bissegger vor fast fünfzig Jahren bezogen haben.
Peter habe sich damals selbständig gemacht und zahlreiche Aufträge
an italienischen Theater- und Opernhäusern erhalten, erzählt Bethli.
So habe man beschlossen, vorerst die romantische Mühle zu beziehen, die man bisher nur in den Ferien bewohnt habe.
Aus dem Provisorium wurde ein Zuhause und aus der alten, kargen
Mühle Zug um Zug ein gemütliches Heim, dessen Gestaltung das
bühnenbildnerische Flair Peter Bisseggers offenbart. Wie er mit seinen achtzig Jahren die steilen Treppen und Winkel erklimmt, scheint
ein Rätsel. Ja, das Knie mache ihm seit einigen Jahren schon zu schaffen. Nein, er sei kein Künstler, er sei Bühnenbildner und Modellbauer.
Beim Theater im Sinne eines „Gesamtkunstwerks“ gehöre der Bühnenbildner zum Team, so gut wie der Regisseur, die Musiker oder
Schauspieler. Wenn der Schauspieler schlecht spiele, so nütze das
schönste Bühnenbild nichts. Und das Bühnenbild müsse dem Stück
zum Verständnis, der Inszenierung zu ihrer Deutung verhelfen. Das
sei in erster Linie ein verantwortungsvoller Job. Zudem sei das Theater vergänglich. Es sei solange Kunst, wie es gespielt werde. Das
Theater müsse sich stets neu erschaffen, im Gegensatz zur Literatur
oder Malerei, die den Schaffensprozess überdauerten.
Peter Bissegger ist bescheiden, dabei hätte er Grund genug, es nicht
zu sein. Ja, was denn Kunst sei? „Kunst ist eine Behauptung, subjektiv und unbeweisbar“, kommt die Antwort schnell, ja fast unwirsch.
Früher sei man mit dem Begriff Kunst sparsam umgegangen.
Im bürgerlichen Elternhaus hatte Kunst keinen hohen Stellenwert.
Etwas Rechtes sollte aus Peter werden – Zahnarzt zum Beispiel.
Als man merkt, dass Klavierspielen für ihn zur Leidenschaft wird,
streicht man die Stunden. Im humanistischen Gymnasium mit
Schwerpunkt Latein fällt der Schüler durch schnelle Auffassungsgabe vor allem in der darstellenden Geometrie auf. Auch das Interesse an Literatur und Theater wächst in dieser Zeit, wo er sich am
Schauspielhaus Zürich als Statist, dann als Beleuchter etwas Taschengeld verdient. Horwitz, Düggelin, Ginsberg: das sind Namen,
bei denen damals jedes junge Theaterherz höher schlägt.
Immerhin erlaubt man ihm nach dem Gymnasium den Besuch der
Kunstgewerbeschule. Mit 25 Jahren engagiert ihn Teo Otto, damals
der „Star“-Bühnenbildner am Schauspielhaus Zürich; mit 26 entsteht
sein erstes Bühnenbild. Von 1957 bis 61 gestaltet er siebzehn Bühnenbilder, darunter mit Reinhard Spörri die legendäre Wallenstein-Trilogie, Max Frisch sucht für seine Uraufführung von Biedermann und
die Brandstifter 1958 einen Assistenten und wird auf Peter Bissegger
aufmerksam. Der junge Bühnenbildner macht sich schnell einen Namen. Seine vielseitige Begabung wird geschätzt. Ab 1961 arbeitet er
am Stadttheater Basel.
Ein Bühnenbildner war früher ein „Zehnkämpfer“; er musste nicht
nur über handwerkliches Geschick und mathematische, insbesondere
zeichnerische Fähigkeiten verfügen, sondern auch einen Draht zur Literatur und Sprache haben. Eigentlich brauche ein Bühnenbildner vor
allem „Vorstellungskraft“, „Phantasie“ sei hier nicht das passende
Wort, betont Peter Bissegger.
Als er sich 1966 selbständig macht, ist er schon über dreissig, muss
eine Familie mit zwei Kindern ernähren. Schon 1957 hatte er von einem Theatertechniker die alte Mühle in Intragna gekauft. Bethli
kannte das Locarnese und das Pedemonte bereits aus ihrer Kindheit,
als ihre Mutter mit den drei Mädchen kurzerhand hierherzog.
Von nun an reist er: Er baut Bühnenbilder, in Zürich, St Gallen, auch
Ein Bühnenbildner muss nicht nur über
handwerkliches, mathematisches und
zeichnerisches Geschick verfügen, sondern auch
einen Draht zur Literatur und Sprache haben
an grossen Häusern Europas, an der Scala di Milano, der Oper von
Rom, im Teatro San Carlo di Napoli, Teatro la Fenice in Venedig, in
Florenz oder Lissabon, aber auch am Schillertheater Berlin, an den
Theatern von Düsseldorf, Dortmund, Essen, Freiburg i. Br., an der
Städtischen Oper von Krakau, der Königlichen Oper von Kopenhagen. Die Liste ist lang, selbst nach Houston verschlägt ihn ein Auftrag. Da sei ihm sein Zuhause im Tessin wichtig geworden. Hier hätte
er ausspannen können. Von wegen! Peter Bissegger kauft Agrarland,
beginnt Trauben anzubauen und eigenen Wein zu keltern.
Mona, das dritte Kind, kommt zur Welt. Längst hat Bethli Bissegger
einen Gemüsegarten angelegt und das abschüssige Gelände rund um
die alte Mühle in eine parkähnliche Gegend verwandelt. Nach dem
zweiten Kind hatte sie ihr Atelier für Haute Couture aufgegeben und
sich ganz der Familie und dem Haushalt gewidmet.
Die Bisseggers schlagen Wurzeln im Tessin. Peter beginnt eine langjährige intensive Zusammenarbeit am Tessiner Fernsehen in der Ära
von Bixio Candolfi; gründet mit Renato Reichlin, Sergio Genni,
Mando Bernardinello und Adriano Soldini das „Teatro della Svizzera
Italiana“. Unter Künstlern und Immigranten bildet sich ein Beziehungsnetz. Dimitris haben sich 1964 im oberen Centovalli angesiedelt, man versteht sich, die Kinder wachsen zusammen auf. Auch
Max Frisch trifft man wieder, der sich 1965 nach Berzona zurückgezogen hat, eine Freundschaft entsteht. Frisch schätzt die „gefüllte
Kalbsbrust“ bei Bisseggers, aber auch das philologische Gespür des
Szenographen. Manchmal gibt er Peter einen Text zur Durchsicht, bevor er an den Verlag geht.
Eine rege Zusammenarbeit mit dem bekannten Ausstellungsmacher
Harald Szeemann beginnt. Bissegger baut zahlreiche Modelle, z.B.
für die Ausstellung „Monte Verità – Berg der Wahrheit“ (1978), die
dann auch ins Kunsthaus Zürich wandert. Herausragend ist Bisseggers Rekonstruktion des MERZbau von Kurt Schwitters, 1981-83
(Szeemann: „Peter Bissegger war der einzige, dem ich die Rekonstruktion zutraute.“); 30 Mal ist sie bislang in Museen in aller Welt gezeigt worden – jetzt installiert sie sein Sohn Mario.
Peter Bissegger, der am 30. April achtzig geworden ist, arbeitet immer
noch. Museen und Theater schätzen sein gestalterisches Gespür und
bitten ihn um Rat. Daneben kultiviert er zusammen mit seinem Sohn
Mario weiterhin den Wein, gestaltet die felsige Landschaft um den
Bach herum. Am kleinen Teich plätschert ein Wasserrädchen und
schlägt bei jeder Umdrehung ein japanisches Tempelglöckchen an.
Über dem Bach hängen feingliedrige platonische Körper, und zwischen den Granitfelsen am Bach tummeln sich Figuren, von denen
sich kürzlich eine ans Strauhof-Museum Zürich zur Jubiläumsausstellung über Max Frisch verirrt hat.
Die eigenen Kinder führen die künstlerische Tradition fort: Mona arbeitet als Illustratorin in San Francisco und malt kolossale Wandbilder, Mario entwirft innovative Möbelsysteme, und Meret wird weit
über das Tessin hinaus als Starköchin gepriesen.
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