Pränatale Entwicklung und neurobiologische Grundlagen

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Pränatale Entwicklung und
neurobiologische Grundlagen
der psychischen Entwicklung
Gerhard Roth und Nicole Strüber
1.1
Einleitung – 4
1.2
Frühe Hirnentwicklung – 4
1.3
Regionenspezifische Hirnreifung: Struktur und Funktion – 5
1.4
Individuelle Unterschiede in der strukturellen
Hirnreifung – 6
1.5
Entstehung einer Persönlichkeit: Das neurobiologische
Vier-Ebenen-Modell der Persönlichkeit – 7
1.6
Neuromodulatoren und Persönlichkeit – 9
1.6.1
1.6.2
1.6.3
1.6.4
1.6.5
1.6.6
Stressverarbeitungssystem – 10
Selbstberuhigungssystem – 12
Selbstbewertung und Motivation – 13
Impulskontrolle – 14
Bindung und Empathie – 14
Realitätssinn und Risikowahrnehmung – 15
1.7
Abschließende Betrachtung: Neurobiologische
Einschätzung des Einflusses früher Erfahrungen auf die
Entwicklung einer Persönlichkeit – 16
Literatur – 17
1
4
1
Kapitel 1 • Pränatale Entwicklung und neurobiologische Grundlagen der psychischen Entwicklung
Pränatal entsteht aus unspezialisierten Zellen ein
kompliziertes Netzwerk miteinander verschalteter
Nervenzellen. Es ermöglicht dem Menschen wahrzunehmen, sich zu bewegen, zu denken, zu lernen,
sich zu erinnern und zu fühlen. Für die individuelle
Ausgestaltung dieses Netzwerkes ist die Struktur
der Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen
ebenso von Bedeutung wie die Funktionsweise
neuroaktiver Substanzen (Transmitter, Peptide,
Hormone), die während der Gehirnentwicklung
auf vier Ebenen miteinander in Wechselwirkung
treten und dadurch sechs neurobiologisch-psychische Grundsysteme hervorbringen. Die individuelle Funktionsweise dieser Systeme reflektiert
die Persönlichkeit des Menschen. Sie wird, neben
genetischen Veranlagungen, wesentlich von den
Erfahrungen in der frühen Kindheit beeinflusst.
Etwaige Interventionen sollten deshalb möglichst
früh erfolgen, beispielsweise in Form einer ElternSäuglings-Beratung.
1.1
Einleitung
Alle kognitiven und psychischen Prozesse sind im
Gehirn mit neuroelektrischer und neurochemischer Aktivität in kleineren oder größeren Netzwerken von Nervenzellen verbunden. Der Aufbau
dieser hochkomplex verschalteten Netzwerke beginnt bereits im Embryo: Pränatal (d. h. vor der Geburt) bilden genetische Informationen die Grundlage für die Entstehung des Nervensystems. Bereits
während dieser frühen Phase der Entwicklung wird
jedoch die neuronale Verschaltung durch negative
Einflüsse wie mütterlichen Stress oder Alkoholmissbrauch während der Schwangerschaft beeinflusst (Charil et al. 2010; Rothenberger et al. 2011).
Postnatal (d. h. nach der Geburt) wird das neuronale Netzwerk verfeinert und infolge spezifischer Erfahrungen, beispielsweise der Bindungserfahrung,
verändert. Die frühen Erfahrungen haben über
ihren Einfluss auf die neuronale Verschaltung eine
wesentliche Bedeutung für die Entwicklung einer
Persönlichkeit und – im Falle ungünstiger Erfahrungen – das Auftreten psychischer Erkrankungen
(Möhler et al. 2008; Möhler et al. 2009; Pryce et al.
2002). Möglicherweise notwendige Interventionen
müssen früh erfolgen, etwa in Form einer ElternSäuglings-Beratung, um das neuronale Netzwerk
nachhaltig positiv beeinflussen zu können.
1.2
Frühe Hirnentwicklung
In den ersten acht Wochen nach der Befruchtung
entstehen während der embryonalen Periode in kurzer Zeit Gewebe und Organe. Es schließt sich eine
Phase des Wachstums und der histologischen Differenzierung an: die fötale Periode. Der Beginn der
dritten Woche ist durch die Bildung dreier Keimblätter – Endoderm, Mesoderm und Ektoderm –
charakterisiert. Das Ektoderm gliedert sich bereits
bei seiner Entstehung in zwei Abschnitte, nämlich
die zentral gelegene Neuralplatte (Neuroektoderm)
und das Oberflächenektoderm (epidermales Ektoderm) an deren beiden Seiten. Letzteres bringt u. a.
die spätere Epidermis (»Haut«) hervor, während
sich aus der Neuralplatte das Zentralnervensystem
entwickelt. Die Neuralplatte verlängert sich und
vertieft sich in der Mittellinie, sodass gegen Ende
der vierten Woche im Prozess der Neurulation
das Neuralrohr entsteht. Die Wände des Neuralrohrs bestehen aus neuronalen Stammzellen, auch
»neuroepitheliale Zellen« oder »Vorläuferzellen«
genannt. Diese teilen sich und erhalten aufgrund
verschiedener Signale von Nachbarzellen eine spezifische Funktion: Sie differenzieren sich, und es
entsteht eine große Vielfalt morphologischer und
funktionaler Nervenzelltypen. Der hintere Bereich
des Neuralrohrs bringt das Rückenmark hervor.
Wenn der Embryo fünf Wochen alt ist, werden am
vorderen Ende des nun geschlossenen Neuralrohrs
die fünf grundlegenden Hirnstrukturen sichtbar:
Großhirn (Telencephalon), Zwischenhirn (Diencephalon), Mittelhirn (Mesencephalon), Hinterhirn
(Metencephalon) und Nachhirn (Myelencephalon)
(Monk et al. 2001; O’Rahilly u. Müller 2008).
Innerhalb des Großhirns entsteht durch die
Wanderung der jungen Nervenzellen in Richtung
Hirnoberfläche die Hirnrinde (Cortex). Diese Wanderung wird durch ein Gerüst spezialisierter Zellen
(Radiärfaserglia) ermöglicht, das den Entstehungsbereich der Zellen mit der Hirnoberfläche verbindet (Rakic 1990). An ihrer Endposition differenzieren sich die Nervenzellen morphologisch und
5
1.3 • Regionenspezifische Hirnreifung: Struktur und Funktion
pharmakologisch, d. h., sie spezialisieren sich auf
bestimmte Transmitter, um funktionale Zellverbände mit anderen Neuronen herstellen zu können
(Jessell u. Sanes 2000).
Nervenzellen sind über lange Fortsätze, Axone,
mit teilweise weit entfernten anderen Nervenzellen
verbunden. Informationen werden in Form elektrischer Impulse weitergeleitet, die sich entlang des
Axons ausbreiten. Während der pränatalen Entwicklung entstehen diese Zellverbindungen, indem
die Axone zunächst an Tausenden potenzieller, aber
»inkorrekter« Partnernervenzellen vorbeiziehen,
bevor sie in der richtigen Hirnregion ankommen.
Die Axone erkennen hierbei ihren Weg durch eine
komplexe Anordnung chemischer Erkennungssignale der zellulären Umgebung (Tessier-Lavigne u.
Goodman 1996). Haben die Nervenzellen ihre Zielregion gefunden, so erkennen sie aufgrund weiterer
spezifischer Moleküle auf der Oberfläche der Zellmembranen ihre Zielzellen (Waites et al. 2005) und
bilden Synapsen, d. h. Kontaktpunkte zwischen den
Zellen. Synapsen können elektrischer oder chemischer Natur sein. In elektrischen Synapsen gelangen
die Nervenimpulse mehr oder weniger ungehindert von einer Nervenzelle zur anderen, in chemischen Synapsen ist die Kommunikation komplexer:
Die elektrischen Impulse der Ausgangszelle werden
in der sogenannten Präsynapse zunächst in chemische Signale, d. h. Neurotransmitter (z. B. Glutamat), »übersetzt«, die durch den synaptischen Spalt
zur postsynaptischen Zelle diffundieren. Dort werden sie in elektrische Signale zurückübersetzt. Die
umfangreiche Bildung von Synapsen, die Synaptogenese, beginnt in vielen Teilen des Cortex während
des letzten Schwangerschaftsdrittels und setzt sich
über die ersten Jahre nach der Geburt fort (Huttenlocher u. Dabholkar 1997).
Diese Prozesse sind anfänglich im Wesentlichen genetisch determiniert. Jede Zelle hat dadurch
zahlreiche synaptische Partner, und so entsteht ein
initiales Gerüst neuronaler Verschaltungen, gekennzeichnet durch Überproduktion und Redundanz synaptischer Kontakte. Dieses Verschaltungsmuster wird anschließend in Abhängigkeit von
der Aktivität der Synapse verfeinert. Synaptische
Verbindungen, die aktiv sind, werden stabilisiert
(Changeux u. Danchin 1976), nicht aktive Synapsen werden eliminiert, und entsprechende Axo-
1
ne ziehen ihre Verzweigungen zurück (Purves u.
Lichtman 1980). Die Elimination synaptischer Verbindungen bzw. der entsprechenden Fortsätze wird
auch als »Pruning« (Zurückschneiden) bezeichnet.
Mit zunehmender Reifung beeinflusst also eine erfahrungsabhängige neuronale Aktivität, d. h. die Erfahrungen mit der Außenwelt, die Anzahl der Synapsen und die Stärke und Struktur der Fortsätze
von Nervenzellen (Goodman u. Shatz 1993).
> Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen werden zunächst überschießend produziert und anschließend aktivitäts- und
erfahrungsabhängig reduziert.
Die Myelinisierung der Zellfortsätze ist ein weiterer wichtiger Entwicklungsprozess. Myelin ist eine
von spezialisierten Gliazellen (Schwann-Zellen
bzw. Oligodendrozyten) gebildete isolierende Umhüllung der Axone. Die Myelinisierung ermöglicht
eine schnelle und genaue axonale Weiterleitung von
Aktionspotenzialen (Toga et al. 2006). Der Zeitverlauf der Myelinisierung des menschlichen zentralen Nervensystems verläuft regional unterschiedlich
und steht im Zusammenhang mit den Funktionen
der jeweiligen Hirnregionen. Das Rückenmark
macht in der 12. bis 14. Schwangerschaftswoche
den Anfang, die Myelinisierung der Axone anderer Hirnregionen (z. B. Zwischen- und Großhirn)
erfolgt später und setzt sich bis in das dritte oder
vierte Lebensjahrzehnt hinein fort (Sampaio u.
Truwit 2001).
1.3
Regionenspezifische
Hirnreifung: Struktur und
Funktion
Bereiche des Gehirns, die mit früh entstehenden
Funktionen wie etwa den autonomen Reflexen befasst sind, reifen früh aus, ebenso die meisten limbischen Hirnbereiche, die mit emotional-affektiven
Zuständen zusammenhängen (Roth 2003).
Das Großhirn (Endhirn, Telencephalon) besteht aus der Hirnrinde (Cortex cerebri) und subcorticalen Anteilen wie dem Corpus striatum (Nucleus caudatus und Putamen), dem basalen Vorderhirn einschließlich des medialen und lateralen
Septums sowie Teilen der Amygdala (Roth 2003).
6
1
Kapitel 1 • Pränatale Entwicklung und neurobiologische Grundlagen der psychischen Entwicklung
Die Amygdala beginnt mit ihrer Ausbildung in der
fünften und sechsten Schwangerschaftswoche. Die
Großhirnrinde besteht aus dem sechsschichtigen
Isocortex und dem drei- bis fünfschichtig aufgebauten Allocortex. Der Allocortex beinhaltet die
Riechrinde (olfaktorischer Cortex), den insulären
Cortex (Insula), den cingulären Cortex, basolaterale Kerne der Amygdala, die Hippocampusformation und deren benachbarte entorhinale, perirhinale und parahippocampale Rinde (Roth 2003). Die
meisten Neurone der hippocampalen Formation
werden in der ersten Hälfte der Schwangerschaft
vor der 24. Woche gebildet, die Entwicklung von
Dendriten und die Ausbildung von Synapsen des
Hippocampus setzen sich bis in das fünfte postnatale Jahr und wahrscheinlich darüber hinaus fort
(Seress 2001). Der Isocortex wird im ausgereiften
Zustand in ca. 50 Bereiche (Brodmann-Areale) eingeteilt, die anatomisch unterscheidbar und funktional spezialisiert sind. Regionale Unterschiede in
der Entwicklung des Cortex sind bereits pränatal
an den Furchen (Sulci) und Windungen (Gyri) zu
erkennen. Im fetalen Alter von 16 bis 19 Wochen
kann im Stirnlappen (Frontalcortex) der cinguläre Cortex als Windung ausgemacht werden, lange
bevor sich in der 24. bis 27. Gestationswoche die
Windungen des präfrontalen Cortex ausbilden. Die
Windungen des orbitofrontalen Cortex im unteren
Stirnhirn entstehen zuletzt (Benes 2001; Chi et al.
1977).
Der Zeitverlauf der Reifung einer jeweiligen
Hirnregion reflektiert die Entstehung der von ihr
vermittelten Funktionen (Sowell et al. 2003). In Teilen der Sehrinde (primärer visueller Cortex) erhöht
sich die Dichte der Synapsen bei Säuglingen im
Alter von zwei bis vier Monaten schnell, mit acht
Monaten wird das Maximum erreicht. Die Dichte
verringert sich dann im Alter von einem Jahr, und
mit etwa elf Jahren wird das Erwachsenenniveau
erreicht (Huttenlocher et al. 1982). Im mittleren
frontalen Gyrus des präfrontalen Cortex, der u. a.
für Handlungsplanung und Problemlösung zuständig ist (Roth 2003), erhöht sich die Synapsendichte
ebenfalls während der frühen Kindheit und erreicht im Alter von zwei bis dreieinhalb Jahren das
Maximum. Ein Synapsenabbau tritt erst in der späten Kindheit und in der Jugend auf, und das Niveau
eines Erwachsenen wird nicht vor dem Alter von 16
Jahren erreicht (Huttenlocher 1979; Huttenlocher
u. Dabholkar 1997).
> Verschiedene Gehirnstrukturen reifen je
nach Komplexität der von ihnen vermittelten Funktionen in unterschiedlichen Phasen der prä- und postnatalen Entwicklung.
1.4
Individuelle Unterschiede in der
strukturellen Hirnreifung
Strukturelle Eigenschaften der sich entwickelnden
Hirnrinde stehen in einem Zusammenhang mit
individuellen Unterschieden in den Funktionen.
Menschen, deren rechter vorderer cingulärer Cortex besonders groß ist, berichten beispielsweise von
einer Veranlagung zu Furcht und antizipatorischer
Sorge sowie Schüchternheit im Umgang mit Fremden (Pujol et al. 2002). Neben genetischen Prädispositionen spielen frühe Erfahrungen eine bedeutsame Rolle für diese individuellen Unterschiede
in Struktur und Funktion des Gehirns. Sie legen
zusammen mit intrinsischen Faktoren fest, ob Synapsen stabilisiert oder eliminiert werden. Diese
Kombination intrinsischer und erfahrungsabhängiger Verfeinerung der neuronalen Verschaltungen
bildet die Grundlage für die Richtung der psychischen Entwicklung.
> Genetische Prädispositionen und frühe
Erfahrungen bringen individuelle Unterschiede in der Struktur und Funktion des
Gehirns hervor.
Einige neuronale Schaltkreise benötigen für ihre
Entwicklung spezifische Erfahrungen während
bestimmter Zeitfenster, sogenannter kritischer Perioden (Hensch 2004). So ist während der ersten
Lebensjahre ein visueller Input notwendig, damit
Netzwerke von Nervenzellen des visuellen Systems
verbunden werden und diese Funktion vermitteln
können. Bleiben diese Informationen aus, so sind
Beeinträchtigungen der visuellen und visuomotorischen Fähigkeiten die Folge (Lewis u. Maurer
2005). Die sozioemotionale Entwicklung wird ebenfalls von Erfahrungen in spezifischen Phasen beeinflusst. Das klassische Beispiel einer sozialen
kritischen Phase ist die ursprünglich von Konrad
1.5 • Entstehung einer Persönlichkeit: Das neurobiologische Vier-Ebenen-Modell
Lorenz beschriebene Prägung (Lorenz 1965). Bei
dieser Form des Lernens werden nestflüchtende
Vögel (z. B. Gänse) direkt nach dem Schlüpfen unauslöschlich an eine elterliche Figur, die Mutter
oder ein anderes bewegtes Objekt, gebunden, d. h.
auf sie »geprägt«. Hinsichtlich der sozioemotionalen Entwicklung des Menschen ist der Nachweis
kritischer Perioden schwieriger. Wichtige Informationen über die Bedeutung früher sozialer Erfahrungen liefern Deprivationsstudien, in denen
untersucht wird, welchen Einfluss ein Entzug sozialer Erfahrungen ausübt. So waren Kinder, die in
rumänischen Waisenhäusern nahezu ohne individuelle Aufmerksamkeit und adäquate soziale Stimulation lebten und dann adoptiert wurden, zum
Zeitpunkt der Adoption hinsichtlich ihrer körperlichen und kognitiven Entwicklung sowie ihrer
Verhaltensentfaltung meist erheblich zurückgeblieben. Die weitere sozioemotionale Entwicklung
der Kinder innerhalb ihrer Adoptionsfamilie war
abhängig vom Zeitpunkt der Adoption: Kinder, die
nach dem zweiten Lebensjahr adoptiert wurden,
entwickelten in erhöhtem Maße internalisierende
Störungen wie Depressionen oder Angststörungen und externalisierende Verhaltensprobleme wie
Störungen des Sozialverhaltens, Aggressionen oder
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen im Vergleich zu Kindern, die früher adoptiert
wurden (Gunnar u. van Dulmen 2007). Dies legt
eine kritische Phase für die sozioemotionale Entwicklung nahe, innerhalb deren soziale Erfahrungen einen tief greifenden und irreversiblen Einfluss
auf die neuronale Verschaltung und die psychische
Entwicklung haben können.
> In vielen Systemen sind Erfahrungen
während bestimmter kritischer Perioden
der Entwicklung notwendig. Das reifende
Gehirn wird hierdurch den Anforderungen
der individuellen Umwelt angepasst. Dieser Prozess wird im weiteren Verlauf der
Entwicklung optimiert.
1.5
7
1
Entstehung einer Persönlichkeit:
Das neurobiologische
Vier-Ebenen-Modell der
Persönlichkeit
Zahlreiche Hirnstrukturen tragen zur Ausprägung
der individuellen Persönlichkeit eines Menschen
bei. Sie gehören mehrheitlich zum limbischen System, das auch der Entstehungsort von Affekten, Gefühlen, Motiven, Handlungszielen, Empathie, Moral und Ethik und damit diejenige Instanz ist, die
unser individuell-egoistisches ebenso wie unser soziales Handeln bestimmt. Innerhalb des limbischen
Systems lassen sich drei strukturelle und funktionale Ebenen unterscheiden, innerhalb deren persönlichkeitsrelevante Gene mit der Umwelt interagieren. Eine vierte Ebene beruht auf Funktionen
des Isocortex, der unsere kognitiven Leistungen
wie Wahrnehmen, Erkennen, Denken, Intelligenz,
Vorstellen, Erinnern und Handlungsplanung vermittelt. Die Art der Wechselwirkung zwischen dem
limbisch-emotionalen und dem kognitiven System
ist ein wesentliches Merkmal der Persönlichkeit
eines Menschen (Roth 2009; Roth u. Strüber 2010).
z
Vegetativ-affektive Ebene
Die unterste Ebene der Persönlichkeit ist die vegetativ-affektive Ebene. Sie wird von der limbischvegetativen Grundachse des Gehirns repräsentiert,
die das zentrale Höhlengrau, die mediale septale
Region, die präoptisch-hypothalamische Region,
die zentrale Amygdala und vegetative Zentren des
Hirnstamms umfasst. Diese Grundachse reguliert
den Stoffwechselhaushalt, den Kreislauf und den
Blutdruck, die Temperatur, das Verdauungs- und
Hormonsystem, die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme sowie das Wachen und Schlafen und
sichert so unsere biologische Existenz. Ebenso
steuert diese Ebene unsere elementaren affektiven
Verhaltensweisen und Empfindungen wie Angriffsund Verteidigungsverhalten, Flucht und Erstarren,
Aggressivität, Wut und Sexualverhalten. Die Antriebe und Affektzustände dieser Ebene sind in der
Art ihres Auftretens weitgehend genetisch bedingt
und durch Erfahrung und willentliche Kontrolle
nur wenig beeinflussbar. Sie laufen unbewusst ab
und werden erst dann bewusst, wenn ihre Aktivität
der bewusstseinsfähigen Großhirnrinde gemeldet
8
1
Kapitel 1 • Pränatale Entwicklung und neurobiologische Grundlagen der psychischen Entwicklung
wird. Diese Ebene bildet sich bereits in den ersten Wochen der Hirnentwicklung aus und legt in
ihrer individuellen Ausformung der Eigenschaften
dazugehöriger Hirnstrukturen die angeborenen
Komponenten des Temperaments fest, d. h., sie entscheidet mit darüber, ob eine Person grundsätzlich
neugierig-draufgängerisch oder vorsichtig-abwägend, kommunikativ oder wortkarg, mutig oder
ängstlich ist.
z
Ebene der emotionalen Konditionierung und
des individuellen emotionalen Lernens
Die zweite, darüber angeordnete Ebene ist die der
emotionalen Konditionierung und des individuellen emotionalen Lernens. Für diese Ebene sind
insbesondere die basolaterale Amygdala und das
mesolimbische System (Nucleus accumbens, ventrales tegmentales Areal und Substantia nigra)
von Bedeutung. Die basolaterale Amygdala ist der
Ort der erfahrungsgeleiteten, d. h. auf Konditionierung beruhenden Verknüpfung emotionaler,
überwiegend negativer oder überraschender, aber
auch positiver Ereignisse mit den angeborenen
Grundgefühlen der Furcht, Angst, Abwehr und
Überraschung (LeDoux 2000). Das mesolimbische
System vermittelt die Registrierung und Verarbeitung natürlicher Belohnungsereignisse. Es führt
als zerebrales Belohnungssystem bei Befriedigung,
Lust und Freude zu einer Ausschüttung hirneigener lusterzeugender Stoffe (sogenannter endogener
Opioide). Zudem stellt das mesolimbische System
das grundlegende Motivationssystem dar, das über
die Freisetzung des Neuromodulators Dopamin
unser Verhalten motiviert, wenn aufgrund vorangegangener Erfahrungen Ziele oder Ereignisse eine
Belohnung bestimmter Qualität und Quantität vorhersagen (Alcaro et al. 2007; Merrer et al. 2009;
Schultz 2007). Diese Ebene entsteht etwas später als
die erste Ebene, bildet sich aber auch bereits vor der
Geburt und entwickelt sich besonders in der ersten
Zeit nach der Geburt. Auf dieser Ebene formen sich
die Grundstrukturen unseres Verhältnisses zu uns
selbst (Selbstbild) und zu den Mitmenschen und
die Grundkategorien des – aus infantil-egoistischer
Sichtweise – Guten bzw. Schlechten.
z
Ebene der bewussten, überwiegend sozial
vermittelten Emotionen
Die dritte Ebene ist die der bewussten, überwiegend sozial vermittelten Emotionen. Sie umfasst
die limbischen Anteile der Großhirnrinde. Hierzu
gehören der insuläre, der cinguläre und der orbitofrontale Cortex. Über den insulären Cortex (Insula) wird der eigene körperliche Zustand wahrgenommen, etwa Erregung und Schmerz, aber
auch der Zustand anderer (Empathie). Die Wahrnehmung dieser Zustände wird in der Insula mit
Informationen über individuelle Vorlieben und
Risikostrategien integriert (Singer et al. 2009). Der
anteriore cinguläre Cortex (ACC) ist ebenfalls mit
der Zusammenführung verschiedener Informationen (z. B. Motivation, Fehlerbewertung, Repräsentationen kognitiver und emotionaler Netzwerke)
beschäftigt und beeinflusst eine Vielzahl kognitiver,
motorischer, endokriner und viszeraler Prozesse.
Eine wesentliche Aufgabe des ACC ist die Wahrnehmung und Bewertung von Risiken und die entsprechende Steuerung des Verhaltens, um diese
Risiken zu vermeiden (Brown u. Braver 2007). Der
über den Augenhöhlen (Orbita) liegende orbitofrontale Cortex (OFC), also das untere Stirnhirn,
und der innen angrenzende ventromediale frontale
Cortex (VMC) stellen die Teile des limbischen Cortex dar, die die komplexesten Funktionen vermitteln. Der OFC bewertet und reguliert das Verhalten
hinsichtlich seiner möglichen Folgen, insbesondere
bei unerwarteten Ergebnissen, sodass es der Situation angepasst werden kann (Schoenbaum et al.
2009). Personen mit Schädigungen im OFC zeigen
auch bei normaler oder gar hoher Intelligenz und
Rationalität impulsives und sozial unangemessenes
Verhalten (Berlin et al. 2004). Sie haben Schwierigkeiten, den sozialen Kontext, z. B. die Bedeutung von Szenen, die Mimik oder die emotionale
Tönung der Stimme, zu erfassen (Kringelbach u.
Rolls 2004). Wenngleich eine unmittelbare Belohnung oder Bestrafung von Aktionen das Handeln
betroffener Patienten beeinflussen kann, sind diese
dennoch unfähig, negative oder positive Konsequenzen ihrer Handlungen längerfristig vorauszusehen und sich danach zu richten, und zeigen eine
charakteristische Reuelosigkeit (Bechara 2004),
insbesondere dann, wenn die Schädigung bereits
in der frühen Kindheit aufgetreten ist (Anderson
9
1.6 • Neuromodulatoren und Persönlichkeit
et al. 1999). OFC und VMC haben eine zügelnde,
impulshemmende Funktion gegenüber der vegetativ-affektiven Ebene und gegenüber den egoistischinfantilen Antrieben der zweiten Ebene, d. h. der
Amygdala und des mesolimbischen Systems. Hier
bilden sich auf der Grundlage sozial vermittelter
Erfahrung die bewussten Anteile des Selbst und
des affektiv-emotionalen Ich aus, und zugleich formen sich hier Elemente von Moral und Ethik, die
von Sigmund Freud als Über-Ich bezeichnet wurden (Roth u. Strüber 2010). Der OFC ist derjenige
Hirnteil, der die längste Reifezeit benötigt und erst
im frühen Erwachsenenalter ausgereift ist (Gogtay
et al. 2004).
z
Kognitiv-sprachliche Ebene
Den soeben beschriebenen drei limbischen Ebenen steht als vierte Ebene die kognitiv-sprachliche
Ebene gegenüber, die im Isocortex angesiedelt ist.
In diesem Zusammenhang sind kognitive Bereiche des präfrontalen Cortex (PFC) von Bedeutung,
insbesondere der dorsolaterale präfrontale Cortex
(dlPFC). Der dlPFC ist Sitz des Arbeitsgedächtnisses und damit Sitz von Intelligenz und Verstand,
er dient der zeitlich-räumlichen Strukturierung
von Sinneswahrnehmungen, dem planvollen und
kontextgerechten Handeln und Sprechen und der
Entwicklung von Zielvorstellungen (Forbes u.
Grafman 2010; Salzman u. Fusi 2010). Läsionen des
dlPFC führen zu Defiziten in der Intelligenz und im
Problemlöseverhalten, insbesondere zur Unfähigkeit, die Relevanz externer Ereignisse einzuschätzen, und außerdem zu schweren Beeinträchtigungen des Arbeitsgedächtnisses (Manes et al. 2002).
Die kognitiv-sprachliche Ebene ist die Ebene des
rationalen Ich, des Verstandes und der Intelligenz.
Hier werden der Realitätsgehalt geprüft, Probleme gelöst, Handlungen geplant, und hier wird das
bewusste Ich vor sich selbst und vor den anderen
dargestellt und gerechtfertigt. Bedeutsam ist, dass
der dlPFC als Sitz von Intelligenz und Verstand
und der OFC als Instanz für moralisch-ethische
Kontrolle, Risikobewertung und Gefühlskontrolle
kaum miteinander interagieren. Die unmittelbare
Konsequenz dieser erstaunlichen Tatsache kennen
wir alle, nämlich, dass vernünftige Ratschläge und
Einsichten allein nicht in der Lage sind, Menschen
nachhaltig zu beeinflussen.
1
> Vier Ebenen der Persönlichkeit, eine untere, eine mittlere und eine obere limbische
Ebene sowie eine kognitive Ebene, werden
in unterschiedlichem Maße durch Gene
und Erfahrungen beeinflusst und bringen
verschiedene unbewusste oder bewusste
Anteile unseres Selbst sowie unser Sozialverhalten hervor.
1.6
Neuromodulatoren und
Persönlichkeit
Die individuelle Ausprägung der von den vier Ebenen vermittelten Eigenschaften, die Persönlichkeit,
ist zugleich das Ergebnis eines komplizierten Zusammenspiels verschiedener psychisch wirksamer
Substanzen, die festlegen, wie die einzelnen Zentren der verschiedenen Ebenen arbeiten, wie sie
interagieren (z. B. erregend oder hemmend) und
in welcher Weise sie von Erfahrungen beeinflusst
werden.
Zu den psychisch wirksamen Substanzen gehören neuromodulatorische Transmitter wie Serotonin, Dopamin, Adrenalin/Noradrenalin und Acetylcholin. Diese beeinflussen – »modulieren« – die
Wirkungsweise sogenannter schneller Transmitter
wie Glutamat, GABA und Glycin. Die Zellkörper
neuromodulatorischer Neurone befinden sich in
der Brücke (Pons) des Hirnstamms (Dopamin, Serotonin, Noradrenalin) und im basalen Vorderhirn
(Acetylcholin). Von dort senden diese Zellen ihre
Axone in andere Bereiche des Gehirns und setzen
dort ihre modulatorischen Substanzen frei. Diese
diffundieren zur Zielzelle und binden an bestimmte Rezeptortypen oder -untertypen (Roth 2003).
Hinzu kommen längerfristig wirkende Neuropeptide und Neurohormone, so etwa Oxytocin oder die
»Stresshormone« CRH und Cortisol, die eng mit
den neuromodulatorischen Transmittern wechselwirken.
Das spezifische Zusammenwirken dieser
neuromodulatorischen Substanzen auf den drei
limbischen Ebenen und der kognitiv-sprachlichen
Ebene bzw. den dazugehörigen Hirnzentren führt
zur Ausbildung von sechs neurobiologisch-psychischen Grundsystemen:
10
1
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Kapitel 1 • Pränatale Entwicklung und neurobiologische Grundlagen der psychischen Entwicklung
Stressverarbeitungssystem,
Selbstberuhigungssystem,
Selbstbewertungs- und Motivationssystem,
Impulskontrollsystem,
Bindungs- und Empathiesystem und
Realitätssinn- und Risikowahrnehmungssystem.
Nachfolgend werden diese sechs Grundsysteme
kurz vorgestellt.
1.6.1
Stressverarbeitungssystem
Bei der Wahrnehmung scheinbar oder tatsächlich
bedrohlicher Dinge oder Situationen reagieren wir
mit Stress auf die antizipierte Bedrohung des Wohlbefindens (Ulrich-Lai u. Herman 2009). Viele Faktoren beeinflussen das Muster und das Ausmaß der
Stressantwort, so etwa die Art des Stresses (physisch – z. B. Blutverlust, Kälte – oder psychisch, z. B.
Furcht), die Dauer des Stressors (akut oder chronisch), der Kontext des Stresses (z. B. Tageszeit), die
Entwicklungsstufe des Individuums (z. B. neugeboren, kindlich oder erwachsen), das Geschlecht des
Individuums sowie seine genetische Ausstattung
(Joëls u. Baram 2009).
Für die Wahrnehmung tatsächlicher oder
potenzieller Stressoren sind vornehmlich die basolaterale Amygdala und der Hypothalamus zuständig (LeDoux 2000). Sie lösen im autonom-vegetativen Nervensystem eine sofortige Antwort auf
den Stressor aus, und in Sekundenschnelle wird der
physiologische Zustand angepasst (sympathicoadrenomedulläres System): Das Mark der Nebenniere schüttet Adrenalin aus, dadurch wird die
Herzfrequenz beschleunigt, der Blutdruck wird erhöht (Ulrich-Lai u. Herman 2009), und es werden
weitere physiologische Veränderungen veranlasst,
um die körperliche und psychische Reaktionsbereitschaft zu steigern. Zudem wird im Gehirn durch
den Locus coeruleus Noradrenalin ausgeschüttet
und dadurch die allgemeine Wachsamkeit erhöht
(Berridge 2008). Wenn der Stressor nicht sofort
kontrollierbar ist, kommt es auch zu einer erhöhten Freisetzung von Serotonin durch Neurone
des dorsalen Raphe-Kerns. Kann hingegen der
Stressor kontrolliert werden, so wird der dorsale
Raphe-Kern durch Fasern des ventralen und medialen Frontalcortex gehemmt (Amat et al. 2005).
Moderater Stress führt des Weiteren zu einer Freisetzung von Dopamin, um Risikobeurteilung und
Entscheidungsstrategien zu verbessern. Die so vermittelten Verhaltensstrategien helfen dem Individuum, der ersten Phase eines stressreichen Ereignisses entgegenzutreten (Joëls u. Baram 2009).
Zusätzlich wird ein wesentlich langsameres
Stresssystem aktiviert: die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse
(HHN-Achse,
auch »Stressachse« genannt). Hierbei bewirkt die
Konfrontation mit dem Stressor zunächst, dass
spezielle Neurone des Hypothalamus das Corticotropin-freisetzende Hormon (CRH) sowie das
Neuropeptid Arginin-Vasopressin in den regionalen Blutstrom freisetzen. Diese Stoffe gelangen zum
Vorderlappen der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse)
und bewirken dort die Ausschüttung des Adrenocorticotropen Hormons (ACTH). ACTH erreicht
dann über die Blutbahn die Nebennierenrinde
und führt dort im Verlauf der nächsten Minuten
zu einer Synthese und Freisetzung von Glucocorticoidhormonen – beim Menschen vorwiegend des
Hormons Cortisol (Ulrich-Lai u. Herman 2009).
Cortisol wird auch unter basalen (Nicht-Stress-)
Bedingungen in einem bestimmten tageszeitlichen
Rhythmus in die Blutbahn ausgeschüttet, wobei
die größte Menge zu Tagesbeginn freigesetzt wird.
Stress löst die Freisetzung zusätzlichen Cortisols
aus, das dann die emotionale Erregung, motivationale Prozesse und kognitive Leistungen beeinflusst.
Die zentrale Wirkung von Cortisol wird von
unterschiedlichen Rezeptoren vermittelt. Der nukleare Glucocorticoidrezeptor (GR) befindet sich im
Innern der Neurone und beeinflusst bei Aktivierung durch Cortisol im Zellkern die Expression der
Gene und hierüber die Produktion von Peptiden.
Der GR bindet nur bei hohem Cortisolspiegel, d. h.
fast ausschließlich unter Bedingungen des Stresses.
Eine seiner Hauptfunktionen ist die Beendigung
der Stressantwort durch eine Hemmung der weiteren Freisetzung von CRH durch den Hypothalamus, also eine negative Feedbackhemmung. Die
Hirnaktivität wird dadurch einige Stunden nach
einem stressreichen Ereignis wieder normalisiert
(de Kloet et al. 2008; Joëls et al. 2008). Der nukleare
Mineralocorticoidrezeptor (MR), der ebenfalls im
1.6 • Neuromodulatoren und Persönlichkeit
Zellinneren lokalisiert ist, bindet Cortisol auch bei
geringer Konzentration. Dadurch ist dieser Rezeptor fast immer aktiviert. Er vermittelt die Wirkung
der basalen, d. h. in Ruhe vorhandenen Cortisolkonzentrationen und sorgt so u. a. für die Aufrechterhaltung der tageszeitlichen Schwankungen in der
Cortisolfreisetzung (Gunnar u. Quevedo 2007;
Joëls et al. 2008). In Neuronen des Hippocampus
findet sich zudem ein membranständiger MR. Dieser bindet wie der nukleare GR Cortisol erst bei
höherer Konzentration. Er antwortet im Gegensatz
zu den anderen Rezeptoren schnell auf Stress. Er
treibt über die verstärkte Ausschüttung des Neurotransmitters Glutamat die initiale Stressreaktion an
und erlaubt so die Bewertung der Situation und die
Auswahl der adäquaten Bewältigungsstrategie. Der
langsamere GR-vermittelte Effekt verhindert, dass
diese schnelle initiale Reaktion über das Ziel hinausschießt (Joëls et al. 2008). Eine entsprechend
moderate Aktivierung des Stresssystems ist gesundheitsverträglich, während sowohl chronisch
niedrige als auch chronisch erhöhte Cortisolkonzentrationen eine nicht optimale Anpassung widerspiegeln. Die Beziehung zwischen Cortisol und
adaptiver Funktionsweise nimmt also häufig die
Form eines umgekehrten »U« an (Sapolsky 1997).
Von besonderer Bedeutung hierfür ist das zahlenmäßige und funktionale Gleichgewicht zwischen
den GR und den MR. Wenn dieses Gleichgewicht
aufgrund starken oder chronischen Stresses gestört
ist, dann verliert das Individuum die Fähigkeit zur
Stressbewältigung (»Coping«), und dies kann die
Anfälligkeit gegenüber stressbezogenen Erkrankungen erhöhen (Joël et al. 2008).
Das Stresssystem kann durch genetische Veranlagung ebenso wie durch Erfahrungen in seiner
Entwicklung beeinflusst werden. Verschiedene
Ausprägungen der Gene für die Cortisolrezeptoren sind an der individuellen Art der Stressbewältigung beteiligt. So reagieren Menschen, die eine
bestimmte genetische Variante des MR aufweisen,
mit einer verstärkten Cortisol- und Herzfrequenzantwort auf einen psychischen Stressor (DeRijk et
al. 2006). Erfahrungen können bereits pränatal in
die Entwicklung der HHN-Achse eingreifen. Das
Stresssystem beginnt seine Entwicklung bereits in
den ersten Schwangerschaftswochen, weist aber
erst im Kleinkindalter, und zwar besonders dann,
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wenn Kinder ihr Nachmittagsschläfchen aufgeben,
die charakteristischen Schwankungen im Tagesverlauf auf (Gunnar u. Quevedo 2007). Starker
oder chronischer mütterlicher Stress während der
Schwangerschaft erhöht die Cortisolkonzentration
im Blutplasma bei Mutter und Fötus. Das pränatal
vorhandene Niveau dieser Stresshormone scheint
den Fötus während kritischer Perioden seiner Entwicklung zu »programmieren«: Es wird festgelegt,
wie der Körper postnatal mit Stress umgeht. Der
pränatale Stress könnte das notwendige Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Rezeptoren u. a.
dadurch stören, dass er die Anzahl der aktiven GRRezeptoren verringert, die an der erwähnten Feedbackhemmung beteiligt sind (Weinstock 2008).
Dieser Zusammenhang kann an einem Rattenmodell verdeutlicht werden. Ratten haben zum
Zeitpunkt ihrer Geburt im Vergleich zu neugeborenen Kindern ein viel unreiferes Gehirn. Erst nach
ihrer ersten Lebenswoche ist der Reifungsgrad mit
dem eines menschlichen Neugeborenen vergleichbar (Gunnar u. Cheatham 2003). Bestimmte Erfahrungen der Ratten während dieser ersten Lebenswoche, die dem dritten Trimester der pränatalen
Entwicklung des Menschen entspricht (Oberlander
et al. 2008), beeinflussen das Stresssystem: Werden
die Jungtiere von der Rattenmutter intensiv geleckt,
dann bilden ihre Nachkommen eine große Zahl
von GRs im Hippocampus aus, die für die Feedbackhemmung verantwortlich sind. So kann dieses System sehr empfindlich auf die Rückkopplung
reagieren, und eine Stressantwort kann effektiv
beendet werden. Diese Tiere zeigen eine gut kontrollierte Antwort auf Stress und wenig furchtsames Verhalten. Hingegen entwickeln Jungtiere von
Müttern, die weniger intensiv Brutpflege betreiben,
eine größere Stressreaktivität. Die Erfahrung mütterlicher Fürsorge formt also das Stresspotenzial
des Nachwuchses (Meaney 2010). Ursächlich hierfür scheint eine epigenetische Regulation der Expression des GR-Gens zu sein: Aufgrund der verringerten Fürsorge werden in einem bestimmten
Bereich des GR-Gens Methylgruppen angehängt
(Methylierung), die das Auslesen des Gens unterdrücken. Es wird entsprechend weniger Rezeptorprotein produziert, und eine verringerte Anzahl
von GRs sowie eine weniger effektive Stressregulation sind die Folge (Seckl 2008).
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Kapitel 1 • Pränatale Entwicklung und neurobiologische Grundlagen der psychischen Entwicklung
Beim Menschen scheint ein ähnlicher Zusammenhang gegeben zu sein: Neugeborene, deren
Mütter im letzten Trimester der Schwangerschaft
eine depressive Stimmung hatten, weisen ebenfalls
eine erhöhte Methylierung eines bestimmten Bereichs des GR-Gens auf. Zudem zeigen diese Kinder im Alter von drei Monaten eine erhöhte Cortisolreaktivität (Oberlander et al. 2008). Einer aktuellen Studie (McGowan et al. 2009) zufolge kann
die postnatale Umwelt ebenfalls einen Einfluss auf
den Methylierungszustand und die Expression des
GR-Gens nehmen: Personen, die in ihrer Kindheit
Missbrauch erfahren hatten und Selbstmord begingen, wiesen eine erhöhte Methylierung und eine
verringerte Expression des GR-Gens auf. Frühe Erfahrungen scheinen also die Expression bestimmter Gene verändern zu können und dadurch an
den individuellen Unterschieden in der Funktion
des Stresssystems und dem Risiko für psychische
Erkrankungen beteiligt zu sein (McGowan et al.
2009).
Als Konsequenz dieser frühen Erfahrungen
und genetischen Prädispositionen unterscheiden
sich Menschen hinsichtlich ihres Umgangs mit
Stress. Einige Menschen reagieren besonders empfindlich (vulnerabel) auf stressreiche Belastungen,
andere Menschen sind dagegen widerstandsfähig
(resilient) gegenüber diesen Herausforderungen
(Gunnar u. Quevedo 2007).
1.6.2
Selbstberuhigungssystem
Das zweite psychische Grundsystem ist das interne
Beruhigungssystem. Es beginnt seine Entwicklung
ebenfalls vor der Geburt. Es wird wesentlich vom
Neuromodulator Serotonin (5-Hydroxytryptamin,
5-HT) vermittelt. Serotonin wird in Zellkörpern
der Raphe-Kerne gebildet und über axonale Fortsätze in vielen Bereichen des Gehirns ausgeschüttet (Hensler 2006). Serotonerge Neurone treten
ab dem embryonalen Alter von fünf Wochen auf
(Sundström et al. 1993). Die Konzentration des
Serotonins erhöht sich während der ersten beiden
Lebensjahre, verringert sich anschließend und erreicht bei Fünfjährigen ein ausgereiftes Niveau
(Whitaker-Azmitia 2001). Die Wirkung von Serotonin wird über seine Bindung an spezialisierte
Rezeptoren vermittelt. Es gibt mindestens 14 verschiedene Serotoninrezeptoren und Untertypen;
diese können auf der Zielzelle lokalisiert sein und
deren Aktivität hemmen oder fördern oder als
Autorezeptoren auf den Serotonin-produzierenden
Zellen die Freisetzung weiteren Serotonins regulieren. Der 5-HT1A-Rezeptor kommt sowohl als Autorezeptor als auch als Rezeptor auf vielen Zielzellen
in limbischen Zentren vor. Seine Aktivierung wirkt
angstlösend und antidepressiv. Mäuse, denen der
5-HT1A-Rezeptor fehlt, sind besonders ängstlich
(Zhuang et al. 1999). Menschen, die unter Panikstörungen leiden, weisen ebenfalls weniger 5-HT1ARezeptoren auf (Nash et al. 2008). Depressionen
sowie Selbstmordneigungen könnten ebenfalls mit
einer Dysfunktion dieser Rezeptoren einhergehen
(Savitz et al. 2009). Eine Aktivierung des 5-HT2ARezeptors dagegen hat teilweise gegensätzliche –
z. B. angststeigernde – Wirkungen (Sodhi u. Sanders-Bush 2004).
Die Serotonin-ausschüttenden Zellen erreichen
mit ihren Fortsätzen bereits früh ihre Zielgebiete
und sind dort an vielen Entwicklungsprozessen –
z. B. der Neurogenese, der neuronalen Differenzierung oder der dendritischen Feinverdrahtung
– beteiligt (Whitaker-Azmitia 2001). Sie beeinflussen hierüber die Verschaltung des Gehirns und
die Entwicklung anderer Neurotransmittersysteme
(Daubert u. Condron 2010). Dieser Einfluss des Serotonins tritt innerhalb spezifischer kritischer Zeitfenster auf; so bewirkt bei Ratten ein Serotoninmangel in einem sehr frühen pränatalen Stadium
eine Reduktion der Anzahl der Neurone im Hippocampus und im Cortex. Deshalb spielt die Menge an Serotonin in einem bestimmten Hirnareal
eine Schlüsselrolle für dessen weitere Entwicklung
(Whitaker-Azmitia 2001).
Die individuelle Funktionsweise des Serotoninsystems scheint im Verlauf der Zeit relativ stabil
zu sein und ein dauerhaftes Persönlichkeitsmerkmal darzustellen (Higley u. Linnoila 1997). Einige
am Hirnstoffwechsel beteiligte Proteine können
in unterschiedlichen Formen ausgebildet werden,
je nachdem, welche von mehreren Varianten, sogenannten Polymorphismen, eines Gens ihnen zugrunde liegen. Ein besonders gut untersuchtes Protein ist der Serotonintransporter. Dieser bewirkt,
dass das Serotonin nach seiner Ausschüttung in
http://www.springer.com/978-3-642-20295-7
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