VORLESUNGSREIHE KJP WS 2011/2012 Ulm, 22. November 2011 Dr. med. Andrea G. Ludolph Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Universitätsklinikum Ulm Störungen des Sozialverhaltens Dr. med. Andrea G. Ludolph Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Universitätsklinikum Ulm Gliederung I. Störungen des Sozialverhaltens: Klinik und Epidemiologie II. Ätiologie: Genetik und Umwelt III. Diagnostik und Therapieoptionen I. Störungen des Sozialverhaltens (SSV): Klinik und Epidemiologie II. Ätiologie: Genetik und Umwelt III. Diagnostik und Therapieoptionen Definition Die Störungen des Sozialverhaltens umfassen ein Muster dissozialen, aggressiven oder aufsässigen Verhaltens mit Verletzungen altersentsprechender sozialer Erwartungen, welches länger als 6 Monate besteht. Sie kommen oft gleichzeitig mit schwierigen psychosozialen Umständen (F91) vor und können mit deutlichen Symptomen einer emotionalen Störung, vorzugsweise Depression oder Angst, kombiniert sein (F92). Leitsymptome Deutliches Maß an Ungehorsam, Streiten oder Tyrannisieren Ungewöhnlich häufige oder schwere Wutausbrüche Grausamkeit gegenüber anderen Menschen oder Tieren Erhebliche Destruktivität gegenüber Eigentum Zündeln Stehlen Häufiges Lügen Schuleschwänzen Weglaufen von zu Hause. Bei erheblicher Ausprägung genügt jedes einzelne der genannten Symptome für die Diagnosestellung, nicht jedoch einzelne dissoziale Handlungen. Aggressives Verhalten ist als zentrales Symptom von SSV anzusehen. ICD-10 DSM IV Ort des Auftretens + Komorbidität Code F 90.1 Name Alter bei Beginn Code Name Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens 312.81 or • Childhood-onset Störung des Sozialverhaltens 312.82 or • Adolescent-onset F 91.0 • auf familiären Rahmen beschränkt 312.89 • Unspecified onset F 91.1 • bei fehlenden sozialen Bindungen F 91.2 • bei vorhandenen soz. Bindungen F 91.3 • mit oppositionellem Verhalten 313.81 Oppositional Defiant Disorder kombinierte SSV und der Emotionen 312.8 or 312.9 (CD + 2. Diagnose) F 92.0 • SSV mit depressiver Störung F 92.8 • sonstige Conduct Disorder Jugendliche Tatverdächtige, Abgeurteilte und Verurteilte der Gewaltkriminalität pro 100.000 der Altersgruppe,1984 bis 2006 Quelle: Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen und Polizeiliche Kriminalstatistik 2007 (PKS) Diagnosen Jan 2009 – Dez 2009 Institutsambulanz KJP Ulm 1600 1400 1200 1000 ambulant 800 stationär 600 400 200 0 F0 F1 F2 F3 F4 F5 F6 F7 F8 F90 F91 F92 F93 F94 F95 F98 Epidemiolog. Untersuchung Rhein-Neckarkreis, 3981 Kinder, 4. Klasse Grundschule: 6-13% (Haffner et al., 2001) ♂:♀ = 5:1 I. Störungen des Sozialverhaltens: Klinik u. Epidemiologie II. Ätiologie: Genetik und Umwelt III. Diagnostik und Therapieoptionen IV. Zusammenfassung Bio-psycho-soziales Entwicklungsmodell Resch et al., 1999 Entwicklungspsychopathologie des Kindes- und Jugendalters Ätiologie: Genetik und Umweltfaktoren Neurotransmitter, die involviert sind: Serotonin (5-HT), insb. 5-HT1A und 5HT1B –Rezeptoren (5-HT Spiegel ↓: Impulsivität ↑; 5HT1B -/- Mäuse Aggression ↑) Dopamin GABA Noradrenalin Stickstoffmonoxid (bei NOS1-/- Mäuse Aggression ↑ ) Monoaminooxidase A (MAO A) Oxytocin / Vasopressin Steroide (Testosteron, Östrogene) Pränatale Risikofaktoren für SSV Trennung der Eltern vor Geburt Geringes Einkommen der Herkunftsfamilie Mutter: - häufiges antisoziales Verhalten in der Jugendzeit - Geburt d. Kindes vor dem 21. Lj. - kein Schulabschluß - Rauchen / Substanzkonsum während der Schwangerschaft - psychosozialer Stress in der Schwangerschaft Ätiologie: Genetik und Umweltfaktoren Erziehungsstile - Pittsburgh Youth study Longitudinale Studie: 14 Jahre, Alter 7-19a Autoritär: wenig Unterstützung, viel Kontrolle, körperliche Züchtigung Zuverlässig: viel Unterstützung, viel Kontrolle, gute Kommuniktionsskills, keine körperliche Züchtigung, adäquate Kontrolle Gewährend: viel Unterstützung, wenig Kontrolle Vernachlässigend: wenig Unterstützung, wenig Kontrolle, körperliche Züchtigung (Maccoby & Martin 1983; Hoeve et al. 2008) Ätiologie: Umweltfaktoren Gewalt in Medien und Aggressives Verhalten 46 studies N=4975 Assoziation von Stunden TV/tägl. im Alter von 14 Jahren und Gewaltakten im Alter von 16-22 Jahren Johnson et al, Science 2002 86 studies N=37.341 28 studies N=1976 124 studies N=7305 Metaanalyse: Auswirkung von Mediengewalt auf aggressive Verhaltensweisen. Rote Linien = Effektstärken Anderson & Bushman, Psychol Science 2001; Anderson & Bushman, Science 2002; Protektive Faktoren Hoher IQ „ruhiges“ Temperament Fähigkeit gut mit anderen in Kontakt zu kommen Gute schulische Arbeitshaltung Außerschulische Kompetenzen Gute Beziehung zu mind. einem Elternteil od. anderem wichtigem Erwachsenen Prosoziale peers Schulatmosphäre, die Wert auf Erfolg, Verantwortung und Selbstdisziplin legt Risk-Resilience-Modell Kein klarer Alleinauslöser: Mischung protektiver und Risikofaktoren Subformen von aggressiven Verhaltensweisen: „Hot and cold aggression“? „Heisse“ versus „kalte“ Aggression „Heiss“ „Kalt“ - reaktiv - affektiv - proaktiv (geplant) - instumentell (emotionslos, unempathisch) - defensiv - impulsiv, offen • Schlägt sofort, wenn gehänselt • Beschuldigt andere in Auseinandersetzungen • Überreagiert auf „Unfälle“ („Anrempler“) - offensiv (Vorteil) - verdeckt - stiftet andere zum Mobben an - verwendet Gewalt um anderen zu befehlen - bedroht andere um seinen Willen durchzusetzen Steiner H, 2005, Kempes M, 2005 Neuroanatomie der Aggression Schädigung des frontalen Cortex: HOT ↑ Läsion, Tumor od. Epilepsie d. Temporallappens: aggressives Verhalten fMRT: Aktivität im frontalen Cortex ↓: b. Menschen mit HOT ↑ Höhere Aktivierung im PFC: weniger hohe Aggressionsscores Gesteigerte Aktivität der Amygdala beim Betrachten wütender Gesichtsausdrücke b. Menschen mit HOT ABER: reduzierte Amygdala Aktivität b. COLD Siever 2008, Nelson & Trainor 2007 I. Störungen des Sozialverhaltens: Klinik u. Epidemiologie II. Ätiologie: Genetik und Umwelt III. Diagnostik und Therapieoptionen IV. Zusammenfassung Diagnostik I Symptomatik Interview mit Kind/ Jugendlicher u. Eltern (getrennt u. zusammen) Kind: Familienbeziehungen, peer-Beziehungen, Freizeitverhalten, (Computerspiele), Delinquenz, Substanzkonsum, sex. Entw., Selbstbild Eltern: Umgang mit Problemen, Stress, soz. Integration, Erziehungsmethoden, Umgang mit Aggression Störungsspezifische Entwicklungsgeschichte: Entw., Pränatale u. Geburtsanamnese (Alk, Drogen, Infektionen, Medikamente, Hypoxie, Streß in der SS), Med. Vorgeschichte (Anfallsleiden, Unfälle), körperl./ sex. Mißbrauch, Adoptionen, Schullaufbahn Diagnostik II Psych. Komorbidität HKS, Drogen, Depression, Angst, Suizidalität, Paranoia Rahmenbedingungen: Familienanamnese (Modelle, Mißbrauch, Psych. Störungen in Familie, Umweltbedingungen, Schule) Apparative Labor- und Testdiagnostik Standardfragebogen bzgl. Verhalten (Eltern Lehrer, Kind/ Jugendlicher) Testdiagnostik: IQ, Sprache, Teilleistungsstörungen Körperl. U. neurolog. Untersuchungen b. Verdacht (Substanzkonsum, Mißbrauch, neurlog. Auffälligkeiten) Drogenscreening b. Verdacht od. Anamnese Entbehrlich: Apparative Diagnostik ohne anamnestische Hinweise Projektiv-psycholog. Diagnostik Multimodales Therapiekonzept: Psychosoziale Interventionen und Medikation Präventions- und frühe Interventionsprogramme sind effektiv, wenn 1. Unterstützung von Kind, Familie und Lehrer/Erzieher erfolgt. 2. Gezielte Interventionen regelmäßig hochfrequent erfolgen 3. Die Intervention ausreichend lang ist (mind. 2 Jahre) 4. Spezifische Interventionen zur Reduktion psychosozialer Risikofaktoren (gewalttätiges Familienklima, vernachlässigender oder misshandelnder Erziehungsstil) erfolgen 5. Eine Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion erfolgt (Kommunikation, Problemlöse-Verhalten, Copingstrategien) 6. die Intervention möglichst früh erfolgt (Alter des Kindes 0-6 Jahre) 7. eine intensive Kollaboration zwischen Familie, Schule, Jugendamt, Jugendgerichtshilfe und KJP erfolgt Connor DF, J Clin Psychiatry 2006 Familienzentrierte Interventionen „PMT“= parent management training Grundkonzept: – Verhaltensprobleme werden durch maladaptive ElternKind Interaktionen entwickelt und aufrechterhalten Elterntraining: Muster der Eltern- Kind Interaktion verändern - mehr prosoziales statt erzwungenes Verhalten innerhalb d. Familie – Klare und konsistente Regeln – Positive Verstärkung – Milde Konsequenzen – Kompromißbereitschaft Psychopharmakologische Unterstützung Stimulantien (RCT) Mood stabilizer (z.B. Valproinsäure) (RCT, CO) Antidepressiva (SSRI) (CO) Neuroleptika –Konventionelle Neuroleptika (RCT) –Atypische Neuroleptika (Risperidon) (RCT) Lithium (RCT) α- adrenerge Substanzen (augm.) (RCT) Connor et al 2006, Tcheremissine et Lieving 2006, Ruths et Steiner 2004, Tcheremissine et al 2004, Steiner et al 2003, Humble et Berk 2003, McDougle et al 2003, Bassarath 2003, Gérardin et al 2002 Medikamentöse Behandlung Beste Evidenz zur Zeit für –Risperidon und –Valproat KEINE Zulassung für ein Medikament zur Behandlung von F90.1, F91.x oder F92 In RCT waren alle atypischen & konventionellen Neuroleptika Placebo überlegen Connor et al 2006, Tcheremissine et Lieving 2006, Ruths et Steiner 2004, Tcheremissine et al 2004, Steiner et al 2003, Humble et Berk 2003, McDougle et al 2003, Bassarath 2003, Gérardin et al 2002 Das Antiaggressivitätstraining (AAT) • beinhaltet eine Konfrontationsstrategie, der Täter wird mit seinen Taten und deren Folgen in der Gruppe konfrontiert • Kennenlernen der Opfersicht, um die Empathiefähigkeit zu steigern. • In einer Katamnesestudie (Rau 2006) ließ sich im Vergleich zur Kontrollgruppe eine Reduktion straffälligen Verhaltens nachweisen. Elternfragebogen CBCL (Child Behavior Checklist) Ergebnisse „Machbarkeitsstudie“, Pilotphase N=6 T-Wert T-Wert 100 100 95 95 90 90 85 85 80 80 75 75 70 70 65 65 60 60 55 55 50 50 1 Sozialer Rückzug 2 3 Körperliche Ängstlich Beschw erden Depressiv 4 Soziale Probleme 5 6 7 8 Schizoid Aufmerksam- Dissoziales Aggressives Zw anghaft keitsprobleme Verhalten Verhalten 1 Sozialer Rückzug 2 3 Körperliche Ängstlich Beschw erden Depressiv 4 Soziale Probleme 5 6 7 8 Schizoid Aufmerksam- Dissoziales Aggressives Zw anghaft keitsprobleme Verhalten Verhalten Zusammenfassung Die Prognose ist bei Beginn vor dem 10. Lebensjahr eher ungünstiger als nach dem 10. LJ., es droht ein chronischer Verlauf zur dissozialen Persönlichkeitsstörung. Prävention und frühe Intervention in Hochrisikofamilien ist am erfolgversprechendsten. Interventionen sollten multimodal (Betroffener, Familie, evtl Medikation, Jugend- und Jugendgerichtshilfe) erfolgen. Atypische Neuroleptika werden am häufigsten eingesetzt in der medikamentösen Therapie. Programme wie das AAT müssen in größeren, kontrollierten Studien evaluiert werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Andrea G. Ludolph e-mail: [email protected]