STUDIUM GESCHICHTE Ulrich Huttner Römische Antike 2. Auflage A. Francke 4.1 Antike Historiographie 4. Einleitung Antike und moderne Historiographie Jede Gesamtdarstellung der Römischen Geschichte fußt auf einer lange währenden Tradition, deren Anfänge sich bis in das 3. Jh. v.Chr. zurückverfolgen lassen. In der folgenden Skizze sollen sowohl die antiken als auch die modernen Geschichtsschreiber berücksichtigt werden. 4.1 Antike Historiographie Im antiken Gymnasium der griechischen Stadt Taormina auf Sizilien war mehreren – im 2. Jh. v.Chr. in roter Farbe aufgemalten – Inschriften zu entnehmen, welche Werke die zugehörige Bibliothek enthielt. Das Gymnasium diente nicht nur zur körperlichen Ertüchtigung der städtischen Jugend, sondern auch der geistigen Kultivierung, und es ist bezeichnend, dass vor allem Geschichtsschreiber genannt waren. In einem der Katalogeinträge, der bis auf einige Lücken erhalten ist, heißt es: Fabius Pictor „Quintus Fabius, auch Pictorinus genannt, Römer, Sohn des Gaius. Er berichtete von der Ankunft des Herakles in Italien sowie von der Fahrt (?) des Lanoios und …(?)… von Aeneas und Ascanius (?). Viel später kamen dann Romulus und Remus und die Gründung Roms durch Romulus, welcher der erste König war.“ (FRH I F1; vgl. ZPE 157 [2006], S. 175) Schon wenige Jahrzehnte nachdem der römische Senator Quintus Fabius Pictor (nicht Pictorinus wie in der Inschrift) seine Römische Geschichte verfasst hatte, beschäftigten sich die Griechen in Sizilien damit. Fabius Pictor schrieb nämlich nicht in seiner lateinischen Muttersprache, sondern auf Griechisch: Zum einen war das Griechische die traditionelle Sprache der Geschichtsschreibung, zum anderen waren alle Gebildeten (also auch die römischen Eliten) ihrer mächtig. Die Inschrift aus Taormina erweckt den Anschein, als beschäftige sich das Opus des Fabius Pictor nur mit der Gründung Roms: Alle genannten Namen, von Herakles bis Romulus, sind im Gründungsmythos der Stadt verankert. Die Römische Geschichte des Fabius Pictor reichte allerdings bis in seine eigene Zeit, also bis in die letzten Jahrzehnte des 3. Jhs. v.Chr. Wir kennen sie nur in einigen schattenhaften Grundzügen, da der Text lediglich in dürren und spärlichen Zitaten und Referenzen bei späteren Autoren erhalten ist. Ebenfalls nur fragmentarisch ist die erste Römische Geschichte in lateinischer Sprache erhalten. Ihr Autor ist Marcus Porcius Cato (gest. 149 v.Chr.), und sie trägt den Titel Origines (Ursprünge), denn der Autor widmete den italischen Völkern und ihren Gründungsgeschichten breiten Raum. Die Gestaltung des Geschichtswerkes ist originell: Einerseits scheut sich Cato nicht, in den letzten – also zeitgeschichtlichen – Passagen seine eigenen Reden im Wortlaut aufzunehmen, mit denen er als hochrangiger Senator die politischen Entscheidungen steuerte; andererseits verschweigt er die Namen politischer und militärischer Protagonisten, um einzelne 9 Cato Einleitung Polybios pragmatiké historía Sallust I.4 Antike und moderne Historiographie Führungspersönlichkeiten nicht zu sehr aus dem römischen Kollektiv hervorheben zu müssen. Ein jüngerer Zeitgenosse Catos war der Grieche Polybios, dessen Heimat auf der Peloponnes lag. Er wurde im Jahr 168 v.Chr. nach Rom deportiert (vgl. u. S. 94), wo er sich schon bald mit den römischen Eliten arrangierte. Zweifellos schärfte dieses persönliche Schicksal das Interesse des Polybios für die römische Machtpolitik, besonders für die Frage, wie Rom in so kurzer Zeit eine überragende Machtposition aufbauen konnte. Es geht Polybios also nicht um eine allgemeine Geschichte Roms von den Anfängen bis zur Gegenwart (wie Fabius Pictor und Cato), sondern um eine Prozessanalyse, die mit dem Ende des 3. Jhs. v.Chr. einsetzt, als Rom die Karthager in einem Kraftakt ohnegleichen aus Italien verjagte und daraufhin einen massiven Expansionsschub vor allem in Richtung Osten einleitete. Polybios bezeichnet seine Art zu forschen und zu schreiben als pragmatiké historía, als „sachbezogene“ („pragmatische“) Beschäftigung mit der Geschichte. Er meint damit eine starke Konzentration auf die politischen und militärischen Aspekte, so dass der politisch Interessierte einen möglichst großen Erkenntnisgewinn daraus ziehen möge: Staatsmänner sollten das Geschichtswerk des Polybios nutzen, um ihre verantwortungsträchtigen Aufgaben besser zu bewältigen. Das Orientierungswissen, das historische Kenntnis grundsätzlich vermittelt, wird also durch eine konkrete, politisch ausgerichtete didaktische Zielsetzung angereichert. Von den ursprünglich 40 Büchern der Römischen Geschichte des Polybios ist etwa ein Drittel erhalten, die Bücher 1–5 zählen zu den wichtigsten Quellen über die ersten Jahre des römischen Krieges gegen Hannibal (Zweiter Punischer Krieg). Das Werk des Polybios erwies sich für die spätere Historiographie vielfach als beispielhaft. Gegen Ende des 1. Jhs. v.Chr. schuf z.B ein anderer Grieche, Dionysios von Halikarnass, eine Römische Geschichte, die von den Anfängen der Stadt Rom bis in die zweite Hälfte des 3. Jhs. reichte; er bot damit gleichsam eine Fortsetzung der polybianischen Geschichte nach hinten. Ähnlich wie Polybios ließ sich auch der römische Senator Caius Sallustius Crispus, dessen literarische Schaffenszeit vor allem in die 40er und 30er Jahre des 1. Jhs. v.Chr. fällt, nicht auf eine Gesamtdarstellung der römischen Geschichte ein, sondern beschränkte sich auf ausgewählte Zeitspannen der späten Republik (also des Jahrhunderts der Krise): Er behandelte die Verschwörung des Catilina gegen die etablierte Senatsaristokratie im Jahr 63 v.Chr. (Bellum Catilinarium, Catilinarischer Krieg), den langwierigen Krieg römischer Invasionstruppen gegen den nordafrikanischen Prinzen Iugurtha am Ende des 2. Jhs. v.Chr. (Bellum Iugurthinum) und schließlich eine in nur wenigen Fragmenten erhaltene Zeitgeschichte (Historiae) ab dem Jahr 78 v.Chr. In diesen historischen Monographien geht es Sallust darum, die Dekadenz der römischen Führungsschicht (der Nobilität) exemplarisch darzulegen. Ein Großteil der römischen Senatoren sei durch nagenden Ehrgeiz, Habsucht und verweichlichenden Luxus in ihrem politischen Anspruch diskreditiert. Die politische Ethik prägt also den Grundtenor (vgl. u. S. 106). 10 4.1 Antike Historiographie Einleitung Inzwischen hatte sich in der lateinischen Historiographie eine spezifische Tradition herausgebildet, die man als die Annalistik (von lat. annus = „Jahr“) bezeichnet. Zahlreiche Autoren verfassten seit der zweiten Hälfte des 2. Jhs. v.Chr. (heute bis auf wenige Fragmente verlorene) Geschichtswerke, die streng chronologisch nach Amtsjahren gegliedert waren. Die meisten dieser Darstellungen begannen (wie schon das Werk des Fabius Pictor) mit der Gründungsgeschichte Roms. Aus dieser Tradition schöpfte das monumentale Opus des Titus Livius. Der aus Padua (Oberitalien) stammende Livius hatte – im Unterschied zu vielen anderen Geschichtsschreibern – keine politische Karriere durchlaufen, sein Werk ist also nicht von politischer Erfahrung getragen. Insgesamt umfasste es 142 Bücher, die von der Gründungsphase Roms bis in seine Gegenwart, also die Regierungszeit des Kaisers Augustus, reichten; ein knappes Viertel davon ist erhalten. Der in den Handschriften beglaubigte Titel lautete Ab urbe condita (Von Gründung der Stadt Rom an). Ähnlich wie im Geschichtsbild des Sallust spielt bei Livius der enge Zusammenhang zwischen dem Ethos der politischen Handlungsträger und dem historischen Prozess eine tragende Rolle, und ähnlich wie Sallust – wenn auch nicht so krass – diagnostiziert Livius eine deutliche Dekadenz, von der das römische Staatswesen in Mitleidenschaft gezogen werde. Umso wichtiger sei es, sich an den makellosen Leitbildern der früheren römischen Geschichte aufzurichten, so die Einleitung zu seinem Geschichtswerk: Livius und die Annalistik „Ein jeder soll mir darauf seine gespannte Aufmerksamkeit richten, was für ein Leben und welche Sitten (mores) geherrscht haben, und durch welche Männer und mit welchen zivilen und militärischen Mitteln die Herrschaft erworben und erweitert wurde; im Geist soll er nachvollziehen, wie dann Zucht und Ordnung ins Wanken gerieten und dann die Sitten (mores) gleichsam absanken, dann immer mehr ins Rutschen gerieten und schließlich kopfüber abstürzten, bis die heutige Zeit erreicht ist, in der wir weder unsere Defizite noch die Mittel dagegen aushalten können. Das ist in der Kenntnis der Geschichte besonders heilsam und fruchtbringend, dass man an einem herrlichen Denkmal vorbildhafte Beispiele zur Belehrung betrachten kann. Und so findest du – persönlich wie politisch – Vorbilder zur Nachahmung, und auch das, was zu vermeiden ist, da es sowohl in der Durchführung als auch in der Wirkung entsetzlich ist.“ (Liv. praef. 8–10) Es ist also wieder der Gedanke zu erkennen, dass das Geschichtswerk Orientierung stiftet, und zwar nicht nur für das (politische) Handeln des einzelnen Staatsmannes, sondern auch für die Gestaltung des gesamten politischen Systems. Jedoch geht Livius im Grunde noch einen Schritt weiter: Die Kenntnis der Geschichte gerät angesichts der bedrückenden Gegenwart zum Trost des gequälten Zeitgenossen (vgl. praef. 5). Für die umfangreichen Passagen aus dem Werk des Livius, die heute verloren sind (u.a. mehr als die gesamte zweite Hälfte), bieten spätantike Auszüge und Zusammenfassungen der einzelnen Bücher einen dürftigen Ausgleich. Eine Generation nach Livius schrieb der lange im Offiziersdienst tätige Velleius Paterculus, der seiner Römischen Geschichte einen ähnlichen chronologischen Rahmen setzte wie Livius, jedoch in der Gewichtung völlig 11 Velleius Paterculus Einleitung Tacitus I.4 Antike und moderne Historiographie anders verfuhr. Zwei Bücher umfasst das um 30 n.Chr. erschienene Werk, das letzte Drittel konzentiert sich auf die Regierungszeit des Augustus und seines Nachfolgers Tiberius. Dabei wird deutlich, dass Velleius Paterculus in Loyalitäten eingebunden war, die eine unvoreingenommene Darstellung des neuen Regimes unmöglich machten. In der Kaiserzeit mag es problematisch geworden sein, unbefangen Geschichte zu schreiben. Tacitus beklagt in der Einleitung zu dem älteren seiner beiden historiographischen Hauptwerke, den Historien, den massiven Qualitätsverlust in der Geschichtsschreibung: „Die Wahrheit gerät … auf verschiedene Weise zu Bruch: zunächst einmal deswegen, weil man über die öffentlichen Belange gar nicht mehr Bescheid weiß und ihnen entfremdet ist; dann aus dem Bedürfnis heraus, den Herrschenden nach dem Mund zu reden oder andererseits aus Hass ihnen gegenüber.“ (Tac. hist. 1,1,1) Historien und Annalen Tacitus zieht aus diesem Missstand für sich die anspruchsvolle Konsequenz, von einem strikt neutralen Standpunkt aus zu schreiben, also gänzlich „ohne Antipathie und ohne Sympathie“, wie er es in seinem letzten großen Opus, den Annalen, formuliert (sine ira et studio; ann.1,1,3). Freilich wurde er diesem Anspruch nur auf den ersten Blick gerecht. Zu sehr war er als hochrangiger Senator mit den vom Kaiser dominierten und von den Kollegen im Senat oft nur durch Akklamation flankierten politischen Entscheidungsprozessen vertraut. Ihm gefiel die unangefochtene Vorrangstellung des Kaisers nicht, ebensowenig die nachgeordnete Rolle der immer wieder zum Abnicken verurteilten Senatsaristokratie. Indes sah er keine Alternative zu diesem reibungslos funktionierenden politischen System. Stattdessen suchte er immer wieder dessen Mängel zu entlarven, indem er die (häufig auch moralischen) Fehlleistungen aller politischen Akteure mit beißendem Sarkasmus ans Licht zerrte. Nachdem Tacitus in drei kleinen, zum Teil durchaus historiographisch angelegten Monographien (v.a. die Biographie über seinen Schwiegervater Agricola und die Abhandlung über Germanien) seine Versiertheit als analysierender Berichterstatter unter Beweis gestellt hatte, wagte er sich an größere Projekte: Zunächst nahm er eine Darstellung der selbsterlebten Jahrzehnte von 69 bis 96 in Angriff, in denen er die ersten Schritte seiner Karriere im Senat zurückgelegt hatte. Wie andere zeitgeschichtliche Entwürfe der römischen Historiographie trug dieses Werk des Tacitus den Titel Historiae. Eigentlich wollte er diese Arbeit fortsetzen, um auch von der allerjüngsten Vergangenheit ein Bild zu vermitteln. Es mag sein, dass Tacitus an der Möglichkeit einer objektiven Berichterstattung verzweifelte, jedenfalls verwarf er seinen Plan und wandte sich der ferneren Vergangenheit zu: Er schuf den Anschluss zu den Historiae, indem er die Zeit vom Tod des Kaisers Augustus (14 n.Chr.) bis zum Jahr 69 in den Blick nahm. Es ist althistorische wissenschaftliche Konvention, dieses Werk mit dem Titel Annales zu bezeichnen; Tacitus hatte es vermutlich Ab excessu divi Augusti überschrieben, also „Vom Tod des vergöttlichten Augustus an“. Weder die Historien noch die Annalen liegen vollständig vor, wenn auch 12 4.1 Antike Historiographie Einleitung beträchtliche Teile erhalten sind. In seinem rigorosen Bemühen, menschliche Schwächen aufzudecken und in lakonischen Formulierungen bloßzulegen, sollte Tacitus von keinem antiken Historiker übertroffen werden. Gegen Ende des 4. Jhs. n.Chr. setzte der hohe Offizier Ammianus Marcellinus die Historien des Tacitus fort. Jedoch ist fast die ganze erste Hälfte jenes Werkes verloren, so dass es als Quelle für den hier zu behandelnden Zeitraum so gut wie keine Rolle spielt. Dass der Grieche Appian, der etwa ein halbes Jahrhundert nach Tacitus einzuordnen ist, dem Jahr 133 v.Chr. als Zäsur eine besondere Bedeutung zugemessen hatte, haben wir gesehen. Sein Zugriff auf den historischen Stoff ist originell, legte er seiner Römischen Geschichte (Rhomaiká) doch nicht nur die konventionelle chronologische Ordnung zugrunde, sondern auch eine geographische bzw. ethnographische. Dabei spannt sich der chronologische Rahmen von der römischen Frühzeit bis in Appians eigene Zeit. Die Gliederung nach geographisch-ethnographischen Faktoren, also wesentlich nach Schauplätzen, führt den Leser durch das gesamte Römische Reich und hält ihm die Geschichte der einzelnen Regionen seit ihrer Eroberung vor Augen. Dieses (nicht bis zur letzten Konsequenz durchgehaltene) Ordnungsschema spiegelt sich auch in den Titeln vieler der einzelnen Bücher des Gesamtwerkes wider: Samnitische Geschichte, Keltische Geschichte, Iberische Geschichte, Dakische Geschichte usw. Das Opus Appians ist nicht vollständig erhalten, einige Bücher sind völlig verloren. Der einzige antike Historiker, der sich für seine Arbeit einen chronologischen Rahmen steckte, der demjenigen dieses Studienbuches nahekommt, war Cassius Dio: ein Grieche aus dem nordwestlichen Kleinasien, zugleich ein Senator, der auf der Karriereleiter ganz nach oben kletterte und gute Kontakte zum Kaiserhaus pflegte. Ein Glanzpunkt seiner politischen Biographie war zweifellos das Jahr 229 n.Chr., als er zusammen mit dem regierenden Kaiser Severus Alexander das Konsulat bekleidete. Nach kleineren Publikationen teils historiographischen Inhalts arbeitete er über Jahre hinweg an der Stoffsammlung für eine monumentale Römische Geschichte, die schließlich auf 80 Bücher anwuchs. Sie reichte von der Gründungszeit Roms bis zu Dios persönlichem Epochenjahr 229. Leider ist ein Großteil der Bücher nur in byzantinischen Exzerpten (Auszügen) erhalten. Besonders wertvoll sind diejenigen Passagen, in denen Cassius Dio als Augenzeuge berichtet und überraschende Einblicke in die Zwänge vermittelt, in denen sich ein Senator während der Kaiserherrschaft um 200 n.Chr. behaupten musste. Von Herodian, über dessen Leben kaum etwas bekannt ist, war schon im Zusammenhang mit seinen Reflexionen über Krisenerscheinungen seiner Zeit die Rede. Er verfasste in griechischer Sprache einen Abriss der Kaisergeschichte von 180 bis 238. Darin maß er die Leistung der einzelnen Regenten an vorgefertigten Idealbildern. Die Hintergründe historischer Abläufe und politischer Entscheidungsfindung scheinen ihn wenig interessiert zu haben. Bei ihm wird das biographische Element der Geschichtsschreibung besonders deutlich. 13 Appian Cassius Dio Herodian