Epidemiologie psychischer Störungen & Implikationen für die Versorgung Prof. Dr. med. Steffi G. Riedel-Heller, MPH Public Mental Health Research Unit, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, & Selbst. Abteilung für Sozialmedizin, Universität Leipzig Überblick 1. Was ist psychiatrische Epidemiologie? 2. Warum brauchen wir psychiatrische Epidemiologie? 3. Was macht epidemiologische Forschung in der Psychiatrie so schwierig? 4. Meilensteine der internationalen Entwicklung psychiatrisch-epidemiologischer Forschung 5. Psychiatrische Epidemiologie in Deutschland - Häufigkeit, Folgen und Versorgungsapekte 5.1. Erwachsenenalter: GHS-MHS 5.2. Im höheren Alter: LEILA75+ 6. Fazit Definition Was ist psychiatrische Epidemiologie? Psychiatrische Epidemiologie beschäftigt sich mit der Häufigkeit und der zeitlichen und räumlichen Verteilung psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung und den Risikofaktoren, die mit der Entstehung und dem Verlauf dieser Erkrankungen assoziiert sind. Wir unterscheiden: Deskriptive Epidemiologie: Häufigkeit von Störungen, Verläufen, historischen Trends Häufigkeitsmaße: - Prävalenz (= Krankenstand) - Inzidenz (= Neuerkrankungsrate) Analytische Epidemiologie: Untersuchung von Hypothesen und Zusammenhängen von psychischen Erkrankungen und deren möglichen Determinanten Prävalenz: Krankenstand I Was ist ein Fall? Kriterien Zahl der Krankheitsfälle Prävalenz = in einer definierten Population Gesamtzahl aller Personen in dieser definierten Population Einwohnermelderegister? z.B.: Sorben (Region, Sprache, Herkunft...) Prävalenz: Krankenstand II Punktprävalenz (Haben Sie gegenwärtig Asthma?) Periodenprävalenz (Hatten Sie während des letzten Jahres Asthma?) Kummulative (lifetime) Prävalenz (Hatten Sie jemals Asthma?) Jan.2005 Sept.2005 Dez.2005 Inzidenz: Neuerkrankungswahrscheinlichkeit I Kumulierte Inzidenz (Inzidenzrisiko): IR = 1 Anzahl Neuerkrankter im Beobachtungszeitraum Anzahl der Personen „unter Risiko“1 Risikopopulation: Personen sind von der betreffenden Erkrankung noch nicht betroffen, können diese aber prinzipiell entwickeln z.B.: Risikopopulation: Inzidenz des Zervixkarzinoms Inzidenz: Neuerkrankungswahrscheinlichkeit II Inzidenzrate (Inzidenzdichte): ID = Anzahl Neuerkrankter im Beobachtungszeitraum Anzahl der Personenjahre „unter Risiko“2 Personenjahre „unter Risiko“: Summe der Beobachtungsjahre (evtl. auch -monate) für die Population unter Risiko 2 Prävalenz & Inzidenz Warum brauchen wir psychiatrische Epidemiologie? Bedarfsgerechte Planung von Versorgungseinrichtungen Vervollständigung des klinischen Bildes einer Störung - natürlicher Verlauf historische Trends in der Morbiditätsentwicklung individuelles Krankheitsrisiko über Feststellung von Häufigkeitsunterschieden können Hypothesen über ursächliche Faktoren von Krankheiten gebildet werden - Risikofaktoren Bevölkerungsstudien Der “Eisberg” erkannter und unerkannter psychischer Störungen oder: Warum Bevölkerungsstudien notwendig sind in psychiatrischen Kliniken in ambulanter psychiatrischer Behandlung erkannt unerkannt } beim Hausarzt unerkannt in anderen Institutionen (Heime) unerkannt außerhalb von Insitutionen und therapeutischer Betreuung Was ist ein Fall? Falldefinition: Notwendigkeit einer klaren Operationalisierung (DSM-III-R, DSM-IV, ICD-10) Häufige Störungsgruppen (ICD-10, DSM-IV) Wie findet man die Fälle? Fallidentifikation: Methoden sollen reliabel und valide sein Instrumente zur Fallidentifiaktion sind strukturierte Interviews z.B.: SKID: Strukturiertes klinisches Interview für DSM-III-R SCAN: Schedules for Clinical Assessment in Neuropsychiatry CIDI: Composite International Diagnostic Interview SIDAM: Strukturiertes Interview zur Diagnose von Demenzen vom Alzheimer-Typ, Multiinfarktdemenzen und Demenzen anderer Ätiologie nach DSM-III-R, DSM-IV und ICD-10 CIDI Meilensteine internationaler psychiatrischepidemiologischer Forschung Studien der 1. Generation Jarvis, 1855, Massachusetts Versuch einer Quantifizierung psychischer Störungen zur Abschätzung des Versorgungsbedarfes Faris & Dunham, 1922-1934, Chicago „Mental disorders in urban areas“ Verteilung psychischer Erkrankungen in Chicago anhand aller Erstaufnahmen in psychiatrische Krankenhäuser Falldefinition nicht operationalisiert Fallidentifikation durch Schlüsselpersonen oder Krankenakten Studien der 2. Generation Leighton, 1952, Stirling County „Stirling County Study“ Rennie & Srole, 1954, Mannhattan „Midtown Manhattan Study“ Essen-Möller, 1956 & Hagnell 1966, Südschweden „Lundby-study“ Fallidentifikation: (+) Bevölkerungsstudien / direkte Interviews (--) studieneigene Methoden zur Fallidentifikation Typ I (Europa): Interview durch Psychiater – diagnostische Zuordnung Typ II (USA): a) standardisierte Datenerfassung – Protokoll dann durch Psychiater evaluiert – diagnostische Zuordnung b) einfache Screening-Skalen (unspezifisch) Studien der 3. Generation Epidemiologic Catchment Area Study (ECA-Study) Robins & Regier, 1991 Diagnostic Interview Schedule DIS/ DSM-III National Comorbidity Study (NCS) Kessler et al., 1994 Composite International Diagnostic Interview CIDI/DSM-III-R Bundesgesundheitssurvey Wittchen, 2000 Composite International Diagnostic Interview CIDI/DSM-IV Falldefinition und Fallidentifikation: Strukturierte diagnostische Interviews, die auf klaren operationalisierten diagnostischen Kriterien beruhen Psychiatrische Epidemiologie in Deutschland Studien Studie Beginn R/ N QS/LS Alter Gegenstand Oberbayern-Studie (Dilling, Weyerer, Fichter) Mannheimer Kohortenstudie (Franz, Schepank) 1975 R LS 15+ 1979 R LS 1935,-45, -55 Prävalenz, Inzidenz und Verlauf psychischer Strg., Behandlungsnotwendigkeit und -inanspruchnahme Prävalenz, natürlicher Verlauf und Determinanten von Neurosen und Persönlichkeitsstrg. Münchner Follow-up Studie (Wittchen) Münchner Hochbetagtenstudie (Fichter) Berliner Altersstudie (Helmchen) Angstsyndrome / Ost und West (Margraf) EDSP (Wittchen) Dresdner Studie (Margraf) 1981 R QS 18-57 Prävalenz psychischer Strg. 1990 R LS 85+ 1990 R LS 70+ 1994 N QS 18+ 1995 R LS 14-24 1996 R QS 18-25 Prävalenz und Inzidenz von Demenz und Altersdepression Häufigkeit, Determinanten und Konsequenzen psychischer Krankheit im Alter Prävalenz, Schwere und Behandlungshäufigkeit von Angststörungen Prävalenz und Inzidenz psychischer Störungen, Risikofalktoren , 5-Jahres-Verlauf Prävalenz, Inzidenz, Verlauf und Risikofaktoren psychischer Störungen TACOS (John, Dilling) Alexithymie in Deutschland (Brähler) LEILA75+ (Riedel-Heller) Somatoforme Beschwerden in Deutschland (Brähler) Angst und Depression bei über 60jährigen (Brähler) Bundesgesundheitssurvey (Wittchen) 1996 R QS 18-64 1996 N QS (FB) 14-97 1997 R LS 75+ 1998 N QS (FB) 18+ Prävalenz und Inzidenz von Demenzen und leichten kognitiven Störungen, Risikofaktoren Prävalenz somatoformer Beschwerden 1998 N QS (FB) 60+ Prävalenz von Angst und Depression 1998 N QS 18+ Prävalenz psychischer Störungen Prävalenz und psychischer Störungen insbesondere Strg. durch Substanzgebrauch Prävalenz und Korrelate von Alexithymie Bundes-Gesundheitssurvey (GHS-MHS) Wie häufig sind diese gut definierten Störungsbilder? Wie belastend sind sie? Wie werden sie versorgt? Bundes-Gesundheitssurvey (GHS-MHS) Ziele und Methoden (Das Gesundheitswesen 1998,S59-S114) Das Bundesgesundheitssurvey Der Bundes-Gesundheitssurvey (GHS-MHS) Psychische und somatische Morbidität: Nur jeder 4. Bundesbürger war frei von Krankheit! GHD-MHS: Querschnittsuntersuchung Wieviel % der Bevölkerung hat jemals (=lifetime) eine oder mehrere psychische Störung gehabt? Wieviele in den letzten 12 Monaten, bzw den letzten 4 Wochen? Bundesgesundheitssurvey (Jacobi 2004) 4-Wochen-Prävalenz 19.8% 12-Monatsprävalenz 31.3% * Lebenszeitprävalenz 42.6% 0 Die Top-4* 1. Angststörungen: 14.5% 2. Affektive Störungen: 11.9% 3. Somatoforme Störungen: 11.0% 4. Substanzstörungen: 4.5% 20 40 60 80 100 12- Monatsprävalenz nach Diagnose (Wittchen et al 2001) Prävalenz = Behandlungsbedarf? Obwohl die Vergabe einer jeden CIDI/DSM-IV Diagnose klinisch bedeutsames Leiden, symptombedingte Einschränkungen und Behinderungen und Dauer-, Schwere-, Frequenz-Merkmale voraussetzt ist eine derartige Gleichsetzung problematisch! Weitere Faktoren: Motivationales Stadium des Patienten, Psychosoziale Rahmenbedingungen, Verfügbarkeit von Behandlung, Merkmale des Therapeuten/Dienstes, Wirtschaftlichkeitskriterien, etc. Trotzdem kann wissenschaftlich begründet bei jeder der Diagnosen von einem zumindest „niederschwelligen“ Interventionsbedarf in bestimmten Phasen der Erkrankung ausgegangen werden. Versorgung Ungedeckter Versorgungsbedarf Bundesgesundheitssurvey (Wittchen 2000) 100% 71% 64% 42% 50% unversorgt 80% versorgt (Cave: irgendeine Intervention) 60% 40% 20% 0% Substanzstörungen Somatoforme PanikStörungen störungen Affektive Störungen Wer versorgt? Gründe für Unterversorgung Beginn Diagnose bis 1. Intervention vergehen im Mittel 7,4 Jahre! auf Seiten der Betroffenen auf Seiten der Behandler systemimmanente Probleme z.B: Stigma verhindert adäquates Hilfesuchen trotz Hilfesuchverhalten erfolgt keine Intervention (EDSP 1998) Nicht-Kennen, bzw Nicht-Erkennen der Diagnose (GAD-P, 2001) Ablehnung fachspezifischer Dienste (EDSP 1998) Mangelnde Versorgungsdichte und Wartezeiten (Jacobi 2001) Fehlende psychotherapeutische und psychiatrische Dienste... ....... Schwerwiegende Konsequenzen .......für den Einzelnen ......für die Gesellschaft Zusammenfassung GHS-MHS Psychische Störungen sind……….. 1) Häufig - 31% der Bevölkerung hat aktuell psychische Störungen - das Lebenszeitrisiko beträgt 48% - Frauen (37%) häufiger als Männer (25%) - Ausnahme Sucht - ausgeprägte Lebenszeit- und Querschnittskomorbidität psychischer Störungen sowie mit körperlichen Erkrankungen - Ersterkrankungsrisiko: diagnostisch unterschiedlich, am höchsten in den ersten 3 Dekaden 2) Unterversorgt 3) Folgenschwer Psychische Störungen im Alter Heruasforderung alternder Gesellschaften Die Leipziger Langzeitstudie in der Altenbevölkerung (LEILA75+) LEILA75+: Stichprobe/ Studiendesign Zufallsstichprobe, Senioren 75+ n=1692 davon: 1500 aus Privathaushalten 192 Heimbewohner Baseline 1.FUP 1997 2.FUP 2000 3.FUP 2003 2006 LEILA75+ Altersspezifische Prävalenz DSM-III-R LEILA: Prävalenz 75+ = 17.4% (95%CI:15,3-19,5) 60 Ott Boersma Prävalenz % 50 Lobo 40 Leteneur Roelands 30 Rocca 20 LEILA75+ De Ronchi 10 Fratiglioni 0 65-69 70-74 75-79 80-84 85-89 Alter 90+ Incidence of dementia per 1000 person-years 20 200 18 16 14 12 100 10 8 6 4 2 0 0 60-64 65-69 70-74 75-79 80-84 85-89 90-94 95+ Gao 1998* Launer 1999* Jorm 1998 (Europe)* Fratiglioni 2000* AgeCoDe LEILA 75+ * meta-analyses ? Demenzarten Copeland et al. (1992) Liverpool, n = 1070 9 15 Brayne et al. (1995) Cambridge, n = 1171 8 17 76 AD VD sonstige 75 Ott et al. (1995) Rotterdam, n = 7528 12 LEILA75+ (2000) Leipzig, n=1692 11 17,7 16 72 71,3 Population projections: more demented, less caregivers Number of dementia cases in Europe* 2000-2050 Number of persons in workingage per one demented person in Europe* 2000-2050 18 16 70 14 16.2 12 60 10 50 8 40 6 30 4 7.1 2 0 2000 20 Costs per patient & year 10 22.000 - 68.000 USD 0 2050 (Quentin, Riedel-Heller, * Based on population projections of the UN König 2009) (Wancata et al. 2003) 69.4 21.1 2000 2050 Prävention? Risiko- und Chancenmodell für die Entwicklung der kognitiven Leistungsfähigkeit (nach Förstl) Gene Protektive Faktoren Risikofaktoren Soziodemographie ApoE2,3 Bildung ApoE4 Trisomie 21 Alter PäsenilinAPPMutation Co-Faktoren Radikalfänger Östrogene NSAID...... Bluthochdruck Diabetes mell. Cholesterin Homocystein .... Alter MCI Prävention? Primärprävention Sekundärprävention Kognitive Leistung MCI Demenz Alter LEILA75+: Konversion MCI-Demenz MCI RR= 2.68 (95%CI 2.07-3,46) amnestische Typen RR 3.25 (95%CI:2.46-4.30) nicht-amnestische Typen RR 2.05 (95%CI:1.41-2.99) FUP-Zeitraum 6-Jahre ø 4.3 Jahre 100 15% Demenz 19.3 0 40% Demenz LEILA75+: MCI - Outcome 100 0 FUP-Zeitraum 6-Jahre ø 4.3 Jahre 40% Demenz 22% Verstorben ohne Demenz 22% Verbesserung 11% Unbeständiger Verlauf 5% Dauerhaft MCI Fazit & Ausblick ¾ Demenzerkrankungen sind ein drängendes Gesundheitsproblem = Herausforderung für Gesundheits- und Sozialsystem neue Wege in der Versorgung werden erzwungen/ großer Bedarf an Versorgungsforschung ¾ Hoffnung Prävention: Primärpräventionsmöglichkeiten deuten sich an (Kontrolle kardiovaskulärer Risikofaktoren, ausgewogene Ernährung) Sekundärprävention: für die leichten kognitiven Störungen ist noch erheblicher Forschungsbedarf auszumachen, um mögliche Chancen für Frühintervention zu nutzen Depression im Alter EURODEP Meta-Analyse (n = 13,808)1: 12.3% (14.1% Frauen, 8.6% Männer) sehr leicht schwer „Sub-threshold“ up to 20%1 „Minor Depression“ „Major Depression“ 10,2%2 1,8%2 (2,4-14,3) (0,9-10,2) Quelle: 1Copeland et al. 1999 2 Mittelwerte basierend auf der Analyse von 34 Studien (Beekman et al. 1999) Schwerwiegende Konsequenzen .......für den Einzelnen ......für die Gesellschaft Suizid Altersstandardisierte Todesraten pro 100 000 EU Durchschnitt (2000) 20 18 18.8 16 14 12 10 8 6 4 9.2 2 0 0-64 65+ (WHO Health for All Database) Andere psychische Störungen im Alter Störung Substanzstörungen Alkoholismus Medikamentenabhängigkeit Angststörungen Somatoforme Störungen Psychotische Störungen (Schizophrenie 0.1-0.3) Prävalenz 0.3-3.3% 0.5% 2-10% 0.3% up to 10% Fazit Die Größenordnung psychischer Störungen wurde bislang gravierend unterschätzt Ein Charakteristikum ist das hohe Ausmaß von Komorbidität mit bedeutsamen Folgen für Verlauf und Schweregrad Assoziierte Einschränkungen/Behinderungen sowie gesundheits- und volkswirtschaftliche Folgen sind offensichtlich höher als die anderer somatischer Erkrankungen Die Versorgungssituation ist in vielen Bereichen sehr unbefriedigend Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit