PDF 2006-4 Autoren pdf.indb - Arbeitsgruppe Alternative

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Berliner Debatte Initial ist ein geistes- und sozialwissenschaftliches
Journal. Seit 1990 erscheinen jedes Jahr sechs Hefte mit
einem thematischen Schwerpunkt und Artikeln zu aktuellen
sozialwissenschaftlichen, wirtschaftswissenschaftlichen und
philosophoshischen Themen. Regelmäßig werden Beiträge
zum sozioökonomischen Umbruch in Ostdeutschland
und Rezensionen zu wichtigen Neuerscheinungen publiziert.
Berliner Debatte
Initial
4
17. Jg. 2006
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Neuer
Keynesianismus
Heine
„... we simply
do not know.“
Deutschmann
Keynes und
die Rentiers
Einzelne Artikel als pdf-Dateien
per E-Mail: [email protected],
siehe auch unter www.berlinerdebatte.de
Busch
Staatsverschuldung
Reuter
Arbeitslosigkeit
Preise: Einzelheft 10 €, Doppelheft 20 €
Einzelhefte werden per Post mit Rechnung verschickt.
Jahresabo 37 €, Ausland zuzüglich Porto.
Studenten, Rentner und Arbeitslose 20 €.
bei Keynes
Ahbe, Gries
Generationen der DDR
und Ostdeutschlands
08.07.2006 10:08:04
Neuer Keynesianismus
Paradigmenwechsel in der Gesellschaftspolitik?
– Zusammengestellt von Ulrich Busch –
Editorial
2
www.berlinerdebatte.de
Heft 4/2006
Schwerpunkt
Neuer Keynesianismus
Kehrt der Keynesianismus zurück?
Mit Claus Noé sprachen
Ulrich Busch und Rainer Land
4
Michael Heine
„… we simply do not know“ (J.M. Keynes).
Systemische Unsicherheit
in Wirtschaftstheorie und -politik
11
Christoph Deutschmann
Keynes und die Rentiers.
Warum die Überflußgesellschaft
bis heute auf sich warten läßt
22
Arne Heise
Neuere keynesianische Ansätze
zur Geldtheorie und -politik
37
Ulrich Busch
Über Wohl und Wehe
der Staatsverschuldung.
Ostdeutsche Länder und Kommunen
vor dem Haushaltsnotstand
Norbert Reuter
Arbeitslosigkeit bei Keynes.
Eine systemimmanente Folge
unregulierter Wirtschaftsexpansion
70
Klaus Dräger
Erneuerter Keynesianismus –
Richtschnur für die Strategiedebatte
der Linken?
80
Systemumbruch und
Generationswechsel
Thomas Ahbe, Rainer Gries
Die Generationen der
DDR und Ostdeutschlands
90
Rezension
Gerd Held:
Territorium und Großstadt
Rezensiert von Robert Kaltenbrunner
49
110
2
Berliner Debatte Initial 17 (2006) 4
Editorial
Als Milton Friedman Anfang der 1970er Jahre
erklärte: „Wir sind heute alle Keynesianer, keiner
ist mehr ein Keynesianer“, markierte er damit
einen Wendepunkt in der Wirtschaftstheorie.
John Maynard Keynes (1883–1946) war in aller
Munde, seine Analysen und die auf ihn zurückgehende Terminologie waren Allgemeingut,
seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen
jedoch galten als obsolet. Dies betraf die Finanzpolitik und die Globalsteuerung ebenso
wie die Geld- und Währungspolitik samt den
dafür geschaffenen Institutionen IWF und
Weltbank sowie das System fester Wechselkurse
von Bretton Woods. War Keynes, der bedeutendste Theoretiker des Fordismus, damit tot
und ein und für allemal erledigt?
Zunächst schien es so. Die neoklassische
und neoliberale Lehre beherrschte das Feld, im
akademischen Diskurs wie in der Wirtschaftspolitik. Für Deutschland gilt dies in besonderem
Maße, weit mehr noch als für die angelsächsischen Länder. Insbesondere für die Zeit nach
1989/90, als sich die neoliberale Angebotspolitik
den Sieg des marktwirtschaftlichen Kapitalismus über den Staatssozialismus allein auf die
Fahnen heftete. Heute ist die Situation jedoch
eine andere: Wachstumsschwäche, Massenarbeitslosigkeit, Haushaltskrisen und volkswirtschaftliche Ungleichgewichte führen zur Kritik
am Neoliberalismus. In der Wirtschaftspolitik
zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab, der
zur Wiederentdeckung der gesamtwirtschaftlichen Vernunft führt und vielleicht bald auch
zu einer neuen Geld-, Finanz- und Lohnpolitik.
Schon heute, sagt Claus Noé, verbreitet sich
die „Einsicht, daß die Politik der permanenten
Lohnzurückhaltung falsch war“. Auch gibt es
inzwischen heftige Debatten über die Geldpolitik, worin die keynesianische Position, den
Realzins unter die reale Wachstumsrate zu
drücken, um Sachinvestitionen zu fördern, an
Boden gewinnt. Angesichts der Unmöglichkeit,
die anstehenden Probleme mit dem herkömmlichen Instrumentarium zu lösen, stellt sich die
Frage des Rückgriffs auf Keynes. Keynes war
immer an Lösungen für praktische Probleme
interessiert. Dies unterscheidet ihn von den
ökonometrischen „Glasperlenspielern“ in der
Gegenwart. Kommt es zu einer Renaissance
des Keynesianismus? Wie würde dieser neue
Keynesianismus wirtschaftspolitisch aussehen,
und wie würde er funktionieren? Eine Wiederbelebung gesamtwirtschaftlichen Denkens und
Handelns ist wünschenswert, reicht aber nicht
aus, um die Wirtschaft aus der Stagnationsfalle
herauszuführen. Aber wie würde eine keynesianische Geld-, Finanz-, Verteilungs- und
Beschäftigungspolitik heute konkret beschaffen
sein? Und wie steht es mit zentralen Thesen
Keynesschen Denkens in diesem Kontext,
etwa der „Unsicherheit“, der „Euthanasie“ des
Rentiers, der Vermögenspolarisierung, der
Nichtneutralität des Geldes und der aktiven
Beschäftigungspolitik? Einige dieser Themen
finden in diesem Heft ihren Niederschlag. So
geht Michael Heine der Frage nach, inwieweit
sich der Keynessche Unsicherheitsbegriff von
der neoklassischen „Wahrscheinlichkeit“ unterscheidet und welche Konsequenzen dies mit
sich bringt. Christoph Deutschmann analysiert
die sich verändernden Existenzbedingungen
des Rentiers in der Gegenwart. Arne Heise stellt
neuere keynesianische Ansätze der Geldtheorie
und -politik vor. Ulrich Busch diskutiert die
Editorial
Vor- und Nachteile einer wachsenden Staatsverschuldung am Beispiel der neuen Bundesländer
und Berlins. Norbert Reuter setzt sich mit den
systemimmanenten Folgen einer unregulierten
Wirtschaftsexpansion für die Beschäftigung
auseinander. Und Klaus Dräger fragt, ob ein
erneuerter Keynesianismus eine Richtschur
für die Strategiedebatte der Linken in Europa
sein könnte. Alle hier versammelten Aufsätze
stellen Kommentare zum Werk von Keynes
dar, zugleich aber auch Beiträge innerhalb des
aktuellen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Diskurses.
Der 60. Todestag von Keynes am 21. April
diesen Jahres war Anlaß für diese Schwerpunktsetzung. Ebenso aber auch die Suche nach einem
neuen Ansatz in der Gesellschaftspolitik.
Vier Jahrzehnte Wirtschaftspolitik unter neomonetaristischem Vorzeichen haben
gezeigt, daß Geldwertstabilität kein „Ersatz“
für Wachstum und Beschäftigung ist, daß
einzelwirtschaftliche Rationalität zu gesamtwirtschaftlicher Irrationalität führen kann,
daß die Vergrößerung des gesellschaftlichen
Reichtums mit einer Zunahme von Armut
einhergeht und die Rückführung des Staates
mit Krisen und Stagnation. Dies fördert den
Ruf nach Alternativen, nach Konzepten, worin
die gesamtwirtschaftliche Vernunft dominiert
und der Staat wieder eine aktive Rolle in
3
der Wirtschaft spielt. Nicht wenige Ökonomen – N. G. Mankiw, J. Stiglitz, P. Krugman,
D. Romer, L. Thurow, O. J. Blanchard – denken
bereits darüber nach und formulieren Ansätze
für eine neue Makroökonomie, worin sich
nicht zuletzt auch Ideen von John Maynard
Keynes finden. Keynes ist also wieder en vogue.
In bestimmtem Maße gilt dies auch für den
„Rüstungskeynesianismus“ der Bush-Administration in den USA.
Noch wäre es verfrüht, aber vielleicht greift
bald schon ein renommierter Wirtschaftstheoretiker die eingangs zitierte Sentenz von Milton
Friedman auf und verkündet: „Wir sind heute
alle Monetaristen, keiner ist mehr ein Monetarist.“ – Dies wäre dann in der Tat die Stunde
der Wiedergeburt des Keynesianismus.
***
Mit dem Aufsatz von Thomas Ahbe und Rainer Gries über „Die Generationen der DDR
und Ostdeutschlands“ publizieren wir einen
ersten Text, der aus dem Workshop „Generationen im Osten Deutschlands und Europas
nach dem 89er Systemumbruch und Generationswechsel“ hervorgegangen ist. Weitere
Beiträge liegen vor und werden in den nächsten
Heften erscheinen.
Ulrich Busch
Berliner Debatte Initial 17 (2006) 4
49
Ulrich Busch
Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung
Ostdeutsche Länder und Kommunen
vor dem Haushaltsnotstand
„Ein Staat ohne Staatsschuld thut entweder
zu wenig für die Zukunft oder er fordert zu
viel von seiner Gegenwart.“
(Lorenz von Stein, 1878)
Neben der doppelten Buchführung und der
Kreditschöpfung verkörpert die Staatsverschuldung die dritte geniale Erfindung unserer Zeit
auf ökonomischem Gebiet.
Dies scheint übertrieben und angesichts
der Spar- und Konsolidierungswut in der
Gegenwart geradezu provozierend, ist jedoch
vollkommen ernst gemeint. Denn es gibt keine
bessere Lösung, um Zukunftsinvestitionen aus
öffentlichen Kassen zu finanzieren und die dabei
anfallenden Kosten auf mehrere Generationen
zu verteilen. Die Kreditaufnahme des Staates
ermöglicht nicht nur die Ausführung großer
Bauten und weitreichender Infrastrukturprojekte, aufwendiger Verkehrslösungen und
langfristiger Investitionen im Energiesektor,
in der Raumfahrt, bei der Erschließung neuer
Rohstoffvorkommen, in Bildung und Forschung, sondern sie sorgt auch dafür, daß die
Finanzierungskosten für derartige generationsübergreifende Vorhaben nicht nur von einer,
sondern von mehreren Generationen getragen
werden. Damit ist sie nicht nur aus ökonomischen Gründen, sondern gleichermaßen auch
unter dem Aspekt der Gerechtigkeit1 anderen
Lösungen vorzuziehen. Gleichwohl aber ist sie
umstritten und seit Jahrzehnten Gegenstand
kontroverser Debatten.
Dabei betrachtet die eine, gegenwärtig den
Mainstream dominierende Position Kredite
und Schulden in guter hausväterlicher Manier
generell als ein Übel, das nur in Ausnahmefäl-
len und nur vorübergehend zu tolerieren sei2,
während die andere, sich auf John Maynard
Keynes berufende Position in der Staatsschuld
weit mehr als nur eine „Notlösung“ zur Überwindung temporärer Liquiditätsprobleme
sieht. Vielmehr wird diese hier als „wichtigstes
Interventionsinstrument“ zur Beeinflussung
der Wirtschaftstätigkeit begriffen (Napoleoni 1968: 71f.). Vom Einsatz des öffentlichen
Kredits wird nicht weniger als die Lösung des
Beschäftigungs- und Konjunkturproblems
sowie die Überwindung des Krisenzyklus und
der wirtschaftlichen Stagnation erwartet.
Die finanzwirtschaftliche Praxis laviert
zwischen beiden Positionen: Verbal orientiert
sie sich an Sparmaßnahmen, Kreditbegrenzung,
Haushaltskonsolidierung und Schuldenabbau.
De facto aber nehmen Bund und Länder jedes
Jahr höhere Kredite auf, steigt die Neuverschuldung und wächst der Schuldenberg.
Durch die Finanzierung von Zukunftsinvestitionen3 erfüllt die Staatsverschuldung,
bezogen auf die Kosten, eine Verschiebungsfunktion in der Zeit. Darüber hinaus besitzt sie
eine Stabilisierungsfunktion, indem sie durch
ihre Höhe und deren Variation die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und Liquidität beeinflußt
und so ausgleichend auf den Konjunkturverlauf
wirkt. Beide Bestimmungsmomente gehen
vor allem auf Keynes zurück und spielen in
der keynesianischen Wirtschaftstheorie und
-politik eine zentrale Rolle. Dabei basiert die
Verschiebungsfunktion auf der Definition des
Geldes als „Verbindungsglied zwischen der Gegenwart und der Zukunft“ (Keynes 1983/1936:
248), die Stabilisierungsfunktion auf dem Konzept einer budgetgesteuerten Nachfragepolitik
50
als Instrument konjunktureller Stabilisierung
und Belebung.4
Die Funktionalität der Staatsverschuldung
steht im Zusammenhang mit dem Wesen des
modernen Geldes, insbesondere mit dessen
Forderungscharakter und Bestimmung als
Kreditgeld. Hieraus erklärt sich denn auch
die „illusorische“ Form der Staatsschulden,
ihre Eigenschaft als „fiktives Kapital“ (Marx
1969: 483f.), ferner ihre Konkretisierung in
besonderen Schuldformen (Anleihen, Obligationen, Schatzbriefe, Schatzanweisungen,
Schuldscheindarlehen, Schatzwechsel usw.)
sowie die definitionsgemäße Summengleichheit
von Schulden (Verbindlichkeiten) und Vermögen (Forderungen). Ohne diese, historisch erst
mit dem Kreditgeld und den Möglichkeiten
der Kreditschöpfung gegebenen, Eigenheiten
wäre die Staatsverschuldung heute nicht das,
was sie ist, und würden jene Effekte, die sie als
großartige Erfindung der Moderne auszeichnen
und sie zu einem unverzichtbaren Instrument
der Wirtschaftspolitik machen, gar nicht (oder
nur sehr eingeschränkt) auftreten.5
Das Prinzip
Durch die Aufnahme eines Kredits am Finanzmarkt ist es einer Gebietskörperschaft (Bund,
Land, Gemeinde) möglich, ein Budgetdefizit
– das heißt, einen Überschuß der Ausgaben
über die Einnahmen – zu finanzieren.6 Die
Kreditaufnahme (Neuverschuldung) versteht
sich dabei als „außerordentliche Einnahme“
der öffentlichen Hand, die deren Aktionsradius
erweitert: Ausgaben können früher getätigt
und Investitionen zeitlich vorgezogen, die
damit verbundenen Kosten aber in die Zukunft
verschoben werden. Innerhalb bestimmter
Grenzen ist die „kreditfinanzierte Inanspruchnahme des Produktionspotentials“ durch den
Staat „völlig normal“ und volkswirtschaftlich
„unproblematisch“ (SVR 1978: 304; 1979: 229f.;
Pätzold 1991: 159).
Kumuliert und bereinigt um die fälligen
Tilgungszahlungen, bilden die jährlich aufgenommenen Kredite der öffentlichen Hand
die Staatsschuld. Deren fortwährender Anstieg ist, sofern er mit einem Wachstum des
Ulrich Busch
Wirtschaftspotentials und einer Zunahme
des gesellschaftlichen Reichtums einhergeht,
volkswirtschaftlich unbedenklich. Es handelt
sich dabei weder um eine Fehlentwicklung der
staatlichen Finanzen noch um die Vorboten
eines unausweichlichen Crashs oder Finanzdesasters, wie immer wieder behauptet wird.7
Vielmehr erweist sich die Staatsschuld gerade
„durch ihre fortwährende Vergrößerung“ als
geeignetes Mittel, „um die Volkswirtschaft
immer mehr zu erweitern, fortwährend neue
Gütermassen zu produzieren, und die so entstandenen disponiblen Kapitale zur Produktion
[...] anzulegen“, schrieb bereits 1855 Carl A.
Dietzel. Da in der Verschuldung des Staates „das
Grundprinzip der Gesamtwirtschaft, [...] das
Zusammenwirken aller, am stärksten zu Tage
tritt“, erweise diese sich „von größtem Nutzen
[...] für die Entwicklung der Volkswirtschaft“
und darüber hinaus als „Grundpfeiler des modernen Kulturlebens“ (zitiert bei Diehl/Mompert 1923: 249f.). – Dies gilt heute wie damals,
so daß gegenwärtig nicht die absolute Höhe der
Staatsschuld das wirkliche Problem darstellt,
sondern eher „die Begrenzung der öffentlichen
Kreditaufnahme“ durch die restriktiven Vorgaben des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts, welcher sich als die „schwerste
Bremse“ für die Wirtschaftsentwicklung erweist
(Memorandum 2005: 148ff.). Ein vernünftig
dosierter Einsatz der Staatsverschuldung
ermöglicht eine antizyklische Finanzpolitik
und trägt durch öffentliche Investitionen dazu
bei, lang andauernde Rezessionsphasen zu
vermeiden bzw. abzukürzen sowie Wachstum
und Konjunktur zu beleben.
Neben der konjunktur- und stabilitätspolitischen Aufgabe erfüllt die staatliche Kreditaufnahme eine allokative Funktion, indem sie
über die Finanzierung öffentlicher Investitionen
darauf hinwirkt, die ökonomische und ökologische Entwicklungsqualität nachhaltig zu
verbessern. Zugleich wird auf diese Weise die
Nutzung der Investitionen und die Anlastung
der Kosten zeitlich harmonisiert, wodurch
eine gerechtere Lastenverteilung zwischen den
Generationen erreicht wird. So können selbst
die ungeborenen Kinder und Enkel, wenn sie
später die heute vorgenommenen Investitionen
in Anspruch nehmen, an deren Kosten parti-
Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung
zipieren, indem sie den Schuldendienst dafür
leisten. Hinzu kommt die Rolle der Staatsverschuldung, wie sie sich saldenmechanisch aus
der gesamtwirtschaftlichen Finanzierungsrechnung ergibt. Ihr Gewicht hat sich in den
letzten Jahren erheblich verstärkt.8
Öffentliche Kreditaufnahme und Verschuldung erweisen sich somit in mehrfacher Hinsicht als ein rationales wirtschaftspolitisches
Instrumentarium, auf dessen Einsatz keine
Gebietskörperschaft verzichten kann. Zugleich
aber sind sie auch ein „süßes Gift“, das zum politischen Mißbrauch verlockt und wovor deshalb
nicht zu Unrecht gewarnt wird. Die Tatsache,
daß gegenwärtig elf der sechzehn Bundesländer
und auch der Bund keine verfassungsgemäßen Haushalte vorweisen können, zeugt vom
Mißbrauch und ist Indiz für eine „Finanzkrise
im Bundesstaat“ (Konrad/Jochimsen 2006).
Trotzdem ist zwischen Mißbrauch und Prinzip
sorgfältig zu unterscheiden. Einige Kritiker tun
dies nicht genügend und verwerfen mit dem
Mißbrauch zugleich das Prinzip. So wird von
Gegnern der Staatsverschuldung eingewandt,
die mit der Kreditfinanzierung verbundene
Kostenverschiebung in die Zukunft würde
eine einseitige „Lastverschiebung“ bedeuten
und damit zu einer ungebührlichen Entlastung
der gegenwärtigen und Belastung zukünftiger
Generationen führen. Dies aber ist „eindeutig
falsch“ (Oberhauser 1995: 363). Denn hier wird
übersehen, daß im Falle einer kreditfinanzierten
Investition mit den Kosten zugleich erhebliche
Nutzen in die Zukunft verschoben werden,
letztlich also „nach dem Prinzip der zeitlichen
Äquivalenz“ (Gandenberger 1981: 28) bzw.
dem Grundsatz „Pay as you use“ (Musgrave)
verfahren wird.
Außerdem unterstellen derartige Einwände
zumeist eine einzelwirtschaftliche Betrachtung, welche sich nicht ohne weiteres auf eine
Volkswirtschaft übertragen läßt. So bedeutet
die Kreditaufnahme eines Unternehmens
oder eines privaten Haushalts in der Regel
eine externe Verschuldung desselben gegenüber anderen Wirtschaftseinheiten. Beim
öffentlichen Kredit hingegen haben wir es,
sofern es sich um eine Inlandsverschuldung
handelt9, mit einer internen Verschuldung zu
tun, einer Verschuldung des Staates bzw. der
51
Volkswirtschaft gegenüber sich selbst: In ihrer
Eigenschaft als Eigner von Staatspapieren, als
Sparer, sind die Wirtschaftssubjekte Gläubiger
des Staates, also ihrer selbst. Ebenso bringen
sie in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler die
für die Bedienung der Kapitalansprüche gegen
den Staat erforderlichen Mittel selbst auf. Das
heißt: „Was bei den Privaten an Forderungen
gegen den Staat zuwächst, erhöht gleichzeitig
die Aufbringungsverpflichtung der Privaten
um genau den gleichen Betrag.“ (Donner
1942: 213f.) Eine Volkswirtschaft wird mithin
durch die Bildung von Geldkapital in Form von
Staatstiteln nicht reicher, noch wird sie durch
die Zunahme der Staatsschuld, die ja nur die
Kehrseite der Ersparnis bildet, ärmer. Zudem
gehören Schuldner und Gläubiger demselben
ökonomischen System an, so daß auch bei den
Zinszahlungen Zahler und Empfänger jeweils
Mitglieder derselben Volkswirtschaft sind und
die Zahlungen in derselben Periode aufgebracht
wie empfangen werden. Eine „Rückzahlung“
späterer Generationen an die heutige, wie von
einigen Kritikern unterstellt, findet dabei nicht
statt: Vielmehr zahlt jede „in ihrem jeweiligen
HIER UND JETZT lebende Generation [...]
immer nur an die je HIER UND JETZT Lebenden“ (Scheunemann 2004: 4).
In diesem Zusammenhang gibt es also
keine intertemporale oder intergenerative
Umverteilung; unter Umständen aber eine
intragenerative und interpersonelle – sofern
nämlich Zahler und Empfänger nicht dieselben
Personen sind. Und eine intersoziale, da sich
Zahler und Empfänger nicht proportional auf
die Klassen und Schichten einer Gesellschaft
verteilen. Indem durch die Staatsverschuldung
und deren Verzinsung die Sparer gegenüber
den Steuerzahlern in bestimmtem Maße (in
Abhängigkeit von der Höhe der Verzinsung, der
Inflationsrate und der konkreten Ausgestaltung
des Steuersystems) präferiert werden, befördert diese möglicherweise eine Umverteilung
„von unten nach oben“. Statistisch nachweisen
läßt sich dies bisher jedoch nicht (vgl. Reuter
2000: 552).
Im Unterschied zur Steuerfinanzierung öffentlicher Ausgaben, bei welcher dem privaten
Sektor zwangsläufig Kaufkraft entzogen wird,
kommt es bei einer Kreditfinanzierung nicht
52
zu einer Belastung der Gegenwart im Sinne
eines Ressourcenentzugs. Vielmehr wird das
Geldkapital, das der Kreditaufnahme dient,
dem Staat freiwillig und gegen Entgelt (Zins)
zur Verfügung gestellt; nicht selten mangels
anderweitiger lukrativer Anlagemöglichkeiten.
Dabei entsprechen Vermögen und Schulden
einander bilanziell, ebenso wie Aktiva und
Passiva einer Bilanz einander entsprechen. In
der Betrachtungsweise der doppelten Buchführung stellen die (Geld-)Schulden lediglich
die Gegenbuchung zum Geldvermögen dar.
Für sich allein, isoliert betrachtet, wären sie
ebensowenig existent wie jene. Es handelt sich
hierbei um aufeinander bezogene und voneinander abhängige finanzielle Bestandsgrößen.
Als solche repräsentieren sie fiktives Kapital.
Das heißt, sie begründen Zinsansprüche und
-verpflichtungen, lösen Zahlungsvorgänge aus
und bewegen materielle Werte, existieren selbst
aber nicht als reale Größen. Dies unterscheidet
sie vom Sachvermögen in Gestalt von Immobilien und Produktivkapital. Geldschulden
und Geldvermögen sind zwei Seiten ein und
derselben Medaille: Der „öffentlichen Armut“
in Form staatlicher Schulden entspricht ein
nicht-öffentlicher „Reichtum“ in Form privater
Geldvermögen. Und die Vermögensansprüche
decken sich vollständig mit den Tilgungs- und
Zinsverpflichtungen. Will man die Schulden
reduzieren, so tangiert dies zwangsläufig auch
die andere Seite der Bilanz, die Vermögen.
Wachsen diese aber mit dem allgemeinen
Wohlstand, so erhöht sich zwangsläufig auch
der Schuldenstand – wenn nicht beim Staat,
so bei den Unternehmen oder im Ausland.
Vermögenspolitik ist daher immer zugleich
auch Schuldenpolitik, und umgekehrt.
Aus dem Gesagten folgt, daß die Staatsschuld mit der Zeit wächst und jede Generation von der vorangegangenen nicht nur
die Schulden erbt, sondern diese immer auch
fortschreibt und vergrößert – ebenso wie deren
Pendant, die Finanzvermögen. Weder können
die Gläubiger dem Schuldner (Staat) in toto
den Kredit aufkündigen, noch kann dieser den
geborgten Kapitalwert jemals zurückzahlen,
denn – „das Kapital […] ist aufgegessen, verausgabt vom Staat. Es existiert nicht mehr“
(Marx 1969: 482)! Dies wollen jedoch viele
Ulrich Busch
nicht wahrhaben10 und fordern deshalb die
Rückzahlung der Schulden durch den Staat. So
sorgt sich Johannes Meier, ob der Staat angesichts des immensen Schuldenbergs überhaupt
jemals in der Lage sein wird, „diese Schulden
zu begleichen“ (2006: 29). – Selbstverständlich
nicht! Die Forderung nach einer Rückführung
der Staatsschuld oder gar deren vollständigem
Abbau ist gänzlich unrealistisch, ja, geradezu
irrational.11 Das einzige, was vernünftigerweise
gefordert werden kann, ist die „Bedienung“
der Schuld, das heißt, die pünktliche Leistung
des Schuldendienstes. Im Unterschied zum
konjunkturbedingten oder strukturellen Defizit, das sich auf außerordentliche Umstände
zurückführen läßt, gibt es für die „normale“,
über Jahrzehnte akkumulierte Staatsschuld
definitiv „keinen Konsolidierungsbedarf “
(Pätzold 1991: 159).
Eine andere Frage ist jedoch die regelmäßig
vorzunehmende Rückzahlung der aufgenommenen Kredite. Denn diese geht in der Regel
mit einer größeren Neuverschuldung einher,
so daß die Staatsschuld insgesamt wächst. Ein
Problem der Tilgung steht praktisch also nicht.
Es erledigt sich mit der jährlichen Kreditaufnahme, sofern diese netto größer ist als Null.
Anders verhält es sich dagegen mit den Zinsen,
denn diese stellen eine wirkliche Last dar, wofür
Steuern aufzubringen oder Vermögenswerte
zu veräußern sind. Da die privaten Haushalte
sowohl Zinsempfänger als auch Steuerzahler
sind, kommt es im Ergebnis der staatlichen
Verschuldung gleichzeitig zu einem Ansteigen
der privaten Einkommens- und Vermögensbildung und zu einer steigenden Steuerlast.
Beides impliziert Verteilungswirkungen, die sich
sektoral aber ausgleichen. Eine intergenerative
Lastenverschiebung findet indes nicht statt, da
die künftige von der gegenwärtigen Generation
nicht nur Schulden und Zahlungsverpflichtungen erbt, sondern eben auch die Vermögen und
die Zinsansprüche. Letztlich erbt sie „alles“,
wie Egbert Scheunemann zutreffend feststellt
(2004: 4); die materiellen Vermögenswerte
ebenso wie die Geldvermögen und die Schulden
sowie alle daraus resultierenden Ansprüche
und Verpflichtungen.
Volkswirtschaftlich ist es unerheblich, welches absolute Niveau Schulden und Vermögen
Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung
aufweisen: Beide Größen wachsen mit dem
Wohlstand. Was zählt, ist allein ihre relative
Höhe, ihr Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt
(BIP) bzw. Bruttonationaleinkommen (BNE)
und die Relation der Zinsen zu den Gesamtausgaben (Zinslastquote) bzw. Steuereinnahmen
(Zins-Steuer-Quote) des Staates. Denn hiervon
hängt die Tragfähigkeit der Verschuldung einer
Volkswirtschaft ab. Steigen die Zinsaufwendungen rascher, als das BNE wächst, so erhöht sich
die relative Zinslast und damit die steuerliche
Belastung der Bürger. Zugleich würde sich der
finanzpolitische Spielraum des Staates verengen, da die Steuerquote nicht unbegrenzt erhöht
werden kann, die steigenden Zinsausgaben
aber immer mehr Mittel absorbieren. Steigen
die Zinsen dagegen proportional zum BIP
oder langsamer als dieses, so bleibt die relative
Zinslast konstant oder geht sogar zurück. Dies
beweist, daß eine Finanzpolitik, welche die
immerwährende Zunahme der Staatsschuld
zur Folge hat, volkswirtschaftlich durchaus
möglich ist: „Sie wirft [...] keine Probleme auf,
wenn sie die Wachstumsrate des Sozialprodukts
stärker erhöht als den Zinssatz“ (Kromphardt
1987: 170).
Deshalb ist auch eine unbegrenzt fortlaufende Neuverschuldung in konstanter Relation zum
BIP bei konstanter, von der Höhe der Staatsverschuldung unbeeinflußter Wachstumsrate
53
des BIP unbedenklich. Denn die Relation von
Staatsschuld und BIP, die Schuldenquote, steigt
unter diesen Bedingungen nicht ins Unermeßliche, sondern strebt einem festen Grenzwert
zu. Evsey Domar (1944) bezeichnete diesen
Wert als „Gleichgewichtsniveau der öffentlichen
Schuld“ (vgl. Gandenberger 1981: 46). Er ist
umso höher, je größer die Neuverschuldung
im Verhältnis zum BIP ist, und umso geringer,
je rascher das BIP wächst. Ein Wachstum des
BIP von beispielsweise 3% würde bei einer
jährlichen Neuverschuldung von 2% zu einer
Annäherung an eine Schuldenquote von 66%
führen.
Was für den Quotienten aus Schuldenstand
und BIP gilt, trifft auch für die Relation aus
Zinsbelastung und BIP, die Zinslastquote, zu.
Das heißt, entspricht der Zinssatz – in einer inflationsfreien Wirtschaft – der Wachstumsrate
des BIP, so nähert sich die Höhe der Zinsverpflichtungen derjenigen der Neuverschuldung
an. Ist der Zinssatz geringer als die Wachstumsrate, so liegt das Gleichgewichtsniveau
unter der Neuverschuldung; ist er höher, so
liegt es darüber.
Unter den Bedingungen einer inflationären
Wirtschaft sind die Wirkungen andere: Da die
nominale Wachstumsrate des BIP hier um die
Inflationsrate höher ist als bei konstantem
Preisniveau, reduziert sich der Grenzwert
Tabelle 1: Finanzen des Staates in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (in Mrd. €)
Position
Einnahmen
darunter:
Steuern
Sozialbeiträge
1991
664,9
1993
760,9
1995
834,0
1997
856,3
1999
945,0
2001
952,6
2003
963,7
2005
975,9
352,4
262,3
395,2
304,9
428,9
343,9
420,5
373,3
490,5
375,4
488,3
383,7
489,6
394,4
497,6
397,0
Ausgaben
darunter:
Zinsen
Sozialleist.
Bruttoinvest.
713,3
818,1
895,6
908,2
974,3
1012,2
1050,3
1050,4
39,2
329,5
38,3
53,3
405,1
44,4
67,0
461,4
42,2
69,5
502,5
35,5
63,2
523,1
37,6
64,5
551,2
36,8
64,6
588,1
32,9
63,4
598,1
29,1
Finanzierungssaldo
in % d. BIP1
Schuldenstand
1n % des BIP1
-48,4
3,1
600,2
41,4
-60,3
3,2
770,2
48,0
-61,6
3,3
1019,2
58,3
-51,8
2,7
1133,0
61,5
-29,3
1,5
1224,3
61,9
-59,6
2,9
1241,5
59,6
-86,6
4,0
1381,0
63,8
-74,5
3,3
1520,7
67,7
1) ab 1999 in der Maastricht-Abgrenzung
Quelle: Dt. Bundesbank, diverse Monatsberichte
54
Ulrich Busch
des Schuldenquotienten entsprechend. Die
Inflation vermindert so das reale Gewicht der
Verschuldung. Es erfolgt quasi eine „passive
Tilgung“. Eine ähnliche, den Schuldner (Staat)
merklich begünstigende Wirkung ergibt sich
hinsichtlich der Zinsbelastung, sofern die
Geldentwertung nicht voll antizipiert wird.
Unter der Voraussetzung der keynesianischen
Annahme von „Geldillusion“, also dem Glauben
an die Stabilität des Geldwertes bei tatsächlicher inflationärer Aushöhlung desselben, ist
dies gängige Praxis (vgl. Schmölders 1982:
166ff.).
Keine Entlastung für den Schuldner tritt
hingegen ein, wenn sich die Inflation voll in der
Höhe der Zinsen reflektiert. Selbst dann aber
entspricht die reale Last der Zinszahlungen
den Zinseinnahmen der privaten Haushalte, so
daß die dafür erforderlichen Steuereinnahmen
keine zusätzliche Belastung des privaten Sektors
darstellen, sondern lediglich eine Umverteilung
innerhalb desselben sowie zwischen diesem
und dem Staat.
Das Problem der Tragfähigkeit
Die finanzielle Lage der öffentliche Haushalte,
einschließlich ihrer Verschuldung, gilt dann
als tragfähig, „wenn die gegenwärtig und die
auf der Grundlage des geltenden Rechts fortgeschriebenen und zukünftig erzielten staatlichen Einnahmen ausreichen, um sämtliche
staatliche Zahlungs- und andere Ausgabenverpflichtungen abzudecken“ (SVR 2003: 438ff.).
Einfluß hierauf haben neben demographischen
Faktoren, der Erwerbstätigkeit und dem Wirtschaftswachstum vor allem die Steuerpolitik,
die Ausgabendynamik, das Zinsniveau und
der Schuldenstand. Je nachdem, wie sich
diese Parameter verändern, ergeben sich für
die öffentlichen Finanzen ganz unterschiedliche Entwicklungsszenarien.12 Die sensibelste
Rolle spielen dabei der Schuldenstand und das
Zinsniveau. Dies stellt sich jedoch unter den
Bedingungen einer wachsenden Wirtschaft
sichtlich anders dar als in einer stagnierenden
oder gar schrumpfenden Volkswirtschaft.
Tabelle 2: Nettokreditaufnahme der Gebietskörperschaften und Sondervermögen 1991–2005
(in Mrd. €)
1991
1995
2000
2001
Bund
22,7
22,9
1,8
-14,9
Sondervermögen 19,1
0,6
2,7
0
Länder West
9,5
15,1
8,2
23,4
Länder Ost
2,5
6,9
2,5
3,1
Gemeinden W.
3,3
2,0
0,7
2,5
Gemeinden Ost
4,4
2,3
0,1
0,1
Quelle: Dt. Bundesbank, diverse Monatsberichte
2002
24,3
0,1
22,6
5,0
2,6
-0,2
2003
42,3
-0,4
27,2
4,3
6,6
0,3
Tabelle 3: Verschuldung der öffentlichen Haushalte 1991–2005 (in Mrd. €)
Öff. Haushalte
Bund
Länder West
Länder Ost
Gemeinden W.
Gemeinden O.
ERP-Vermögen
FDE
1991
600,2
299,9
177,6
2,5
67,5
4,4
8,4
25,8
1993
771,6
350,4
201,2
20,6
76,3
12,1
14,5
44,8
1995
1020,5
387,0
226,3
35,4
81,6
18,9
17,5
44,6
1997
1133,0
463,1
258,4
46,1
81,9
19,8
17,2
40,7
1999
1200,0
714,1
274,2
53,2
81,5
20,7
16,0
40,1
2001
1223,9
701,1
305,8
58,8
82,2
17,0
19,2
39,6
Quelle: Dt. Bundesbank, diverse Monatsberichte; eigene Berechnungen
1) Zum 1.1.2005 erfolgte die Mitübernahme der Schulden des Fonds durch den Bund
2004
44,4
-1,6
21,0
3,9
4,8
0,4
2005
35,5
-3,2
19,1
3,3
4,4
0
2003
1358,1
767,7
355,7
68,1
90,9
17,0
19,3
39,1
2005
1488,3
886,3
395,8
75,2
98,3
17,3
15,1
0,01
Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung
In einer wachsenden Wirtschaft ist ein
steigender Schuldenstand grundsätzlich kein
Problem. Die Zunahme der Staatsschuld unterliegt hier aber insofern einer Beschränkung,
als die Schulden auf Dauer nicht schneller
wachsen dürfen, als die Wirtschaftsleistung
zunimmt. Die Grenze der Verschuldung hängt
vom Zuwachs des BIP und vom Zinsniveau ab.
Solange sich die jährliche Neuverschuldung
aus dem Zuwachs des BIP finanzieren läßt,
ist die Schuld tragbar und die Grenze der Verschuldung noch nicht erreicht. Die Bedingung
dafür lautet: dD = D/Y x dY/Y; wobei dD den
differentiellen Zuwachs der Verschuldung bezeichnet, D/Y die Schulden(stands)quote und
dY/Y die Wachstumsrate des BIP.13
Da die Bruttokreditaufnahme des Staates die
laufende Schuldentilgung einschließt, wächst
der Schuldenberg in dem Umfange, in dem die
Kreditaufnahme die Kredittilgung übersteigt.14
Das Maß des Schuldenwachstums ist also die
jährliche Nettokreditaufnahme (vgl. Tabelle 2).
Läge diese bei Null, so würde der Schuldenberg
nicht weiter wachsen, und es wären nur die
Zinszahlungen zu leisten. Hierbei handelt es
sich jedoch um echte Aufwendungen, so daß
ein Ponzi-Spiel15 wie bei der Kredittilgung als
seriöse Finanzierungsmethode ausscheidet.
Unter der Prämisse der Tragfähigkeit besteht zwischen Wirtschaftswachstum und
Zins ein Zusammenhang dergestalt, daß bei
ausgeglichenem Primärbudget, also einem
Primärdefizit von Null, die Wachstumsrate
mindestens gleich der Zinsrate sein muß,
damit die Schuld sich selbst trägt und die
Schuldenquote konstant bleibt. Bei einem
Primärbudgetüberschuß gilt, daß die Zinsrate
durchaus über der Wachstumsrate liegen kann;
bei einem Primärbudgetdefizit dagegen muß sie
darunter liegen (Blankart 2003: 370f.). Darüber
hinaus bewirken Inflationseffekte, daß sich
die bestehende Schuld real vermindert und
mit der Ausdehnung der Geldmenge zudem
ein Kreditschöpfungsgewinn anfällt, welcher
zur Verringerung der Nettoneuverschuldung
eingesetzt werden kann. Außerdem konnte
der Staat in den zurückliegenden Jahren nicht
unerheblich von dem niedrigen Zinsniveau profitieren. Lag die Emissionsrendite öffentlicher
Anleihen 1991 noch bei 8,5%, so verringerte
55
sich diese bis auf aktuell 3,5%. Fällige Schulden
mit einer hohen Verzinsung konnten so im
Zeitablauf durch niedrig verzinste Titel ersetzt
werden. Dieser positive Refinanzierungseffekt
hatte zur Folge, daß sich die Zinsausgaben
des Bundes (einschließlich der Zuschüsse für
nicht integrierte Sondervermögen) in den
letzten zwölf Jahren nicht erhöht haben und
die Zinslastquote seit 1999 um mehr als zwei
Prozentpunkte, auf 14,5% in 2006, gesunken
ist (BMF 2006/4: 101).
Dies berücksichtigend, läßt sich resümieren: Normal für eine wachsende Wirtschaft ist
eine Zunahme der Staatsschuld bei konstanter
Schuldenquote und eine Finanzierung der
Zinszahlungen aus dem jährlichen Zuwachs des
BIP. Dies würde zugleich dem Kriterium der
Nachhaltigkeit entsprechen und die Stabilität
der Staatsfinanzen in der Zukunft sichern.16
Die Bedingungen ändern sich jedoch grundlegend, wenn, wie derzeit in den ostdeutschen
Bundesländern, über längere Zeit statt Wachstum Stagnation herrscht und statt Inflation
relative Preisniveaustabilität. Hinzu kommt eine
Prekarisierung der Haushalte, wenn den Ländern künftig weniger Einnahmen zur Verfügung
stehen, die Ausgaben aber nicht in gleichem
Umfang reduzierbar sind (Kostenremanenzeffekt), was steigende Finanzierungsdefizite
zur Folge hat. Unter diesen Bedingungen führt
selbst eine niedrige Anfangsverschuldung, wie
sie 1990 gegeben war, zu einem exponentiell
wachsenden Schuldenstand mit deutlich steigenden Zinsquoten (vgl. Tabellen 4 und 5). Hier
finanziert sich die Schuld nicht mehr selbst, wie
im Falle einer wachsenden Wirtschaft, sondern
muß aus den laufenden Einnahmen bedient
werden. Zudem lastet die wachsende Schuld
immer schwerer auf dem Budget. Sofern dieses
im Primärbereich keinen Überschuß aufweist,
bleibt nur die Kürzung der Investitionen und
der laufenden Ausgaben für Personal und
Konsum sowie die Umverteilung dieser Mittel
für den Schuldendienst, oder der Weg einer
kumulativen Neuverschuldung, wobei die
Zinsausgaben vollständig über neue Kredite
finanziert werden. Beides aber ist auf Dauer
nicht tragbar.
56
Ulrich Busch
Tabelle 4: Zins-Ausgaben-Quoten (Zinslastquoten) 1991–2005
1991
1993
Bund
10,3
11,6
Länder West
7,4
7,4
Länder Ost
0,2
1,8
Gemeinden W
3,7
3,8
Gemeinden O
0,4
1,5
Öff. Gesamthaushalt 7,9
9,1
Quelle: BMF 1999; 2001; 2004
1995
10,7
7,6
3,4
3,6
2,5
10,7
1997
12,1
8,0
5,1
3,7
3,2
11,0
1999
16,6
8,1
6,0
3,5
3,4
11,7
2001
15,5
8,0
6,5
3,5
3,5
11,0
2003
14,4
8,5
7,5
3,5
3,5
10,6
1997
16,1
10,8
12,1
11,4
25,4
16,5
1999
21,4
10,8
13,1
9,3
21,5
15,4
2001
19,4
11,0
14,5
9,0
21,0
15,0
2003
19,2
}
}
2005
15,3
8,5
3,5
11,0
Tabelle 5: Zins-Steuer-Quoten 1991–2005
1991
Bund
12,5
Länder West
11,0
Länder Ost
0,8
Gemeinden W
11,3
Gemeinden O
7,9
Öff. Gesamthaushalt 11,6
Quelle: BMF 1999; 2001; 2004
1993
12,9
10,8
7,3
12,1
19,5
13,5
1995
13,6
10,6
8,2
12,3
20,5
15,8
Expansion der Verschuldung
durch die deutsche Einheit
In den zurückliegenden Jahrzehnten hat sich
die Staatsverschuldung in der Bundesrepublik
Deutschland sichtlich erhöht. Lag ihr Umfang
1985 noch bei 431,0 Mrd. €, so waren es 1992
schon 742,4 Mrd. € und 2000 bereits 1.211,5
Mrd. €. Ende 2005 betrug die Gesamtverschuldung der Gebietskörperschaften 1.488,3 Mrd.
€ (Bundesbank 2006/4: 55).17
In der Literatur wird dieser „sprunghafte“
Anstieg der Verschuldung häufig mit der deutschen Vereinigung erklärt (Kitterer 1993: 71;
Cezanne 1996: 95). Zumeist bleibt dabei jedoch
ausgeblendet, daß mit der Wiedervereinigung
eine Gebietsstandsveränderung verbunden war
und daß sich die größere Staatsschuld nun auf
ein größeres Staatsgebiet und eine um 16,6
Millionen gewachsene Bevölkerung bezieht.
Da die Staatsverschuldung der DDR (110,8
Mrd. €), pro Kopf gerechnet, geringer war als
die der Bundesrepublik, bedeutete der Beitritt
zunächst keinen Anstieg der Verschuldung.
Die Schuldenquote ging folgerichtig 1990
sogar leicht zurück. Gleichwohl kam es aber
im Verlauf des Einigungsprozesses zu einem
deutlichen Anstieg der Staatsschuld. Dieser re-
}
}
11,2
10,7
14,8
}
}
2005
20,5
12,0
10,0
15,0
sultierte aber weniger aus dem Beitritt der neuen
Länder und deren finanzieller „Erblast“ (173,8
Mrd. €) als aus der Vereinigungspolitik und der
wirtschaftlichen Entwicklung Ostdeutschlands
nach 1990 (vgl. Busch 2002: 231ff.).
Da Steuererhöhungen als kontraproduktiv
angesehen wurden und Einsparungen sowie
Umschichtungen im Haushalt kaum durchzusetzen waren, wurde die Kreditaufnahme zum Hauptfinanzierungsinstrument der
deutschen Einheit. Dabei bediente man sich
auf Bundesebene vorzugsweise eigens dafür
geschaffener Sondervermögen wie des Fonds
„Deutsche Einheit“, des Kreditabwicklungsfonds, des Erblastentilgungsfonds usw. Trotz
gestiegener Steuereinnahmen infolge der guten
Konjunktur betrug die Nettokreditaufnahme
des Bundes einschließlich der Sondervermögen 1991 bereits 41,8 Mrd. €. Diese Politik
einer rasanten Verschuldung wurde in den
Folgejahren fortgesetzt und auf die Haushalte
der Länder und Kommunen ausgedehnt (vgl.
Tabelle 2). 1997 schätzte die Bundesbank ein,
daß von der Zunahme der Verschuldung der
Gebietskörperschaften seit 1989 im Umfange
von rund 600 Mrd. € „mehr als die Hälfte“ auf
die Wiedervereinigung zurückzuführen sei
(Dt. Bundesbank 1997: 19). Dies entspräche
Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung
etwa 28% der Gesamtschulden. Da zu diesem
Zeitpunkt die Erfassung der vereinigungsbedingten Altschulden nahezu abgeschlossen war,
erhöhte sich diese Quote in den Folgejahren
nicht weiter, sondern nähert sich allmählich
dem Anteil der ostdeutschen Bevölkerung
an der Gesamtbevölkerung an18, womit das
Argument, die Wiedervereinigung sei die entscheidende Ursache für den Anstieg der Staatsverschuldung, zumindest teilweise entkräftet
wäre. Dieses Argument überzeugt aber auch
deshalb nicht, weil sich die Staatsverschuldung
seit 1990 in vielen Ländern erhöht hat und
sich in Europa die Schuldenquoten durchaus
parallel entwickeln (vgl. Tabelle 8). Die anderen
Länder hatten aber keine Wiedervereinigung
zu finanzieren, so daß für die Ausweitung
der Staatsverschuldung offensichtlich (noch)
andere Faktoren, politische und ökonomische,
ausschlaggebend sind.
Die neuen Bundesländer
und Gemeinden
Um die aktuelle Lage der ostdeutschen Bundesländer und Gemeinden zu verstehen, ist es
hilfreich, sich die Grundzüge der Finanzpolitik
seit 1990 vor Augen zu führen: Die neuen Länder (und Gemeinden) erhielten – gemäß den
Verträgen zur deutschen Einheit (StVertr: Art.
28 und EVertr: Art. 7) – zunächst übergangsweise (bis 1994) Zuweisungen aus dem Fonds
„Deutsche Einheit“, insgesamt 82,2 Mrd. €.
Dies war weniger, als vergleichbare westdeut-
57
sche Länder aus dem Länderfinanzausgleich
erhielten, aber erheblich mehr, als die neuen
Länder selbst an Steuern einnahmen. Es begann
eine rege Bau- und Investitionstätigkeit, so
daß die Ausgaben schon bald die Einnahmen
überstiegen. Frühzeitig zeichnete sich ab,
daß die Finanzierungsdefizite in Kürze einen
Umfang erreichen würden, der – pro Kopf
gerechnet – „alle bisher in den alten Ländern
bekannten Dimensionen sprengt“ (Vesper
1992: 22). Anfangs sollten die Defizite durch
Zahlungen aus dem Fonds „Deutsche Einheit“
gedeckt werden, ab 1995 durch Leistungen
aus dem Länderfinanzausgleich und Sonderbedarfsergänzungszuweisungen des Bundes
(BEZ). Daneben bot sich eine Finanzierung
über Kredite an, wovon die Länder – getrieben
von dem Argument, ihr Verschuldungspotential sei noch nicht ausgeschöpft – regen
Gebrauch machten. Dabei ist zu beachten, daß
die ostdeutschen Länder (außer Berlin) 1990
mit einem Schuldenstand von Null starteten,
der Spielraum für eine Kreditfinanzierung
also vergleichsweise groß war. Getragen von
der Hoffnung, der Aufbau Ost würde rasch zu
einem selbsttragenden Aufschwung führen und
die Steuereinnahmen daraufhin steigen, war
die Finanzpolitik der ersten Jahre durch eine
extreme Ausgaben- und Schuldenexpansion
gekennzeichnet: Innerhalb von nur drei Jahren
verzehnfachte sich die Verschuldung der neuen
Länder und überstieg schon bald das westdeutsche Niveau. Nicht viel anders war es bei den
Gemeinden (vgl. Tabelle 2 und 3).
Da das „zweite deutsche Wirtschafts-
Abbildung 1: Schuldenstandsquoten der Bundesländer (2005) in %
80
70
60
50
40
30
20
10
0
Schuldenstand
Durchschnitt
BY BW HE SN HH NW NI RP SH SL BB TH MV ST HB BE
Quelle: Senatsverwaltung 2006: 25, Abkürzungen siehe Abb. 2 und 3, S. 63
58
wunder“ ausblieb und der Aufbau Ost sein
Ziel, im Beitrittsgebiet einen selbsttragenden
Aufschwung zu generieren, weitgehend verfehlte (Busch 2005), geriet die eingeschlagene
Finanzstrategie zum Desaster. Besonders
schwer wiegt dabei, daß sich ein Teil der über
Kredite finanzierten Vorhaben als Fehlinvestition erwies, also die Wachstumseffekte,
die man sich davon versprochen hatte, nicht
eintraten. So lasten die Finanzierungskosten für
Gewerbegebiete, Freizeitparks und Infrastrukturanlagen auf den Ländern und Kommunen,
ohne daß ein entsprechender Nutzen in Form
steigender Einnahmen wirksam geworden
wäre. 1995 betrug der Schuldenstand der
ostdeutschen Länder 35,4 Mrd. €, die ZinsSteuer-Quote lag bei 8,2%. Die Schulden der
Kommunen erreichten mit 18,9 Mrd. € hier
bereits ihren historischen Höchststand. Die
Zins-Steuer-Quote betrug 1996 erstaunliche
26,7%. Teilweise überstiegen die Zins- und
Tilgungsverpflichtungen die wirtschaftlichen
Möglichkeiten der Gebietskörperschaften: Die
erste Finanzkrise zog herauf.
Mit dem Föderalen Konsolidierungsprogramm (FKPG) und dem ersten Solidarpakt
(1995–2004) wurde die Finanzausstattung der
neuen Länder und Kommunen 1995 auf eine
neue Basis gestellt. Grundlage dafür waren
(a) die vertikale Umsatzsteuerverteilung; (b)
die horizontale Umsatzsteuerverteilung, der
sog. Umsatzsteuervorwegausgleich; (c) der
Länderfinanzausgleich; (d) die Bundesergänzungszuweisungen (Fehlbetrags-BEZ, Sonderbedarfs-BEZ und BEZ für Kosten politischer
Führung); und (e) die Investitionszulagen
gemäß Investitionsfördergesetz (IfG). Insgesamt flossen den neuen Ländern im Rahmen
des Solidarpakts I rund 153 Mrd. € zu. Im Jahr
2000 waren dies 45,4% der Gesamteinnahmen
(Busch 2002: 189f.). Die originäre Steuerbasis
der ostdeutschen Länder und Kommunen aber
blieb weiterhin gering; sie erreicht nur gut ein
Drittel der westdeutschen Werte.
Mit den Maßnahmen des FKPG wurde dem
„Stocken“ des Aufbau Ost und der Finanzkrise der ostdeutschen Gebietskörperschaften
Rechnung getragen. In der Folge verbesserte
sich die Situation der Länder und wurde der
Schuldenaufbau bei den Kommunen gestoppt.
Ulrich Busch
Als problematisch erwies sich jedoch, daß
die Konsolidierung ausschließlich über eine
Ausgabenkürzung erfolgte und der Rotstift
vor allem bei den öffentlichen Investitionen
angesetzt wurde (Vesper 2004a: 373). Dadurch
verringerten sich die Chancen der Länder,
durch eine wirtschaftliche Belebung in der
Zukunft mehr Steuern einzunehmen und
damit selbst zu einer Konsolidierung ihrer
Finanzen beizutragen. Nicht viel anders sah
dies bei den Kommunen aus. Auch hier waren
die Haushalte bis Mitte der 1990er Jahre hoch
defizitär. Vor allem, weil der infrastrukturelle
Nachholbedarf zu einem erheblichen Teil über
Kredite finanziert worden war. Nach dem
Stopp des Ausgabenanstiegs 1995 begann ein
radikaler Konsolidierungsprozeß. Gleichzeitig
wurden die Gemeinden bei der Sozialhilfe und
durch die Einführung der Pflegeversicherung
entlastet. Auch trug die Belebung im Verarbeitenden Gewerbe zu einer relativen Erholung
bei, da die Steuerneinnahmen stiegen (Vesper
2004b: 42f.).
Diese positive Entwicklung fand jedoch
infolge der Steuerpolitik der rot-grünen Koalition bald ein Ende: Trotz moderater Ausgaben stiegen die Defizite seit 2001 wieder
an. Gleichzeitig sanken die Investitionen
auf einen historischen Tiefstand. Ausschlaggebend für diese zweite Finanzkrise waren
neben steigenden Sozialhilfeausgaben infolge
zunehmender Langzeitarbeitslosigkeit für die
Kommunen vor allem die enormen Einbußen
bei den Steuereinnahmen, teils als Folge der
wirtschaftlichen Stagnation, teils als Folge der
Steuerpolitik.
Mit der Reform des Länderfinanzausgleichs
und dem Solidarpakt II (2005–2019) wurde die
Weiterführung der finanziellen Unterstützung
der ostdeutschen Länder beschlossen; zunächst
in gleicher Höhe wie in den Vorjahren, von
2009 an aber degressiv fallend, so daß ab 2020
kein Geld mehr fließt. Insgesamt umfaßt der
Solidarpakt II 156 Mrd. €, im Jahresdurchschnitt
also rund ein Drittel weniger Mittel als der
Solidarpakt I. Da der Pakt keine Anpassung
an die Inflation vorsieht, ist der reale Umfang
noch einmal merklich geringer (Ragnitz 2004).
Die hierin zum Ausdruck kommende Mittelreduzierung muß, um richtig gewürdigt werden
Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung
zu können, als Ausdruck eines wirtschaftspolitischen Strategiewechsels interpretiert
werden: Seit Ende der 1990er Jahre, nachdem
das Scheitern des Aufbau Ost offensichtlich
geworden war, wird im Osten keine Strategie des
aktiven Aufbaus und Aufholens mehr verfolgt,
sondern eine Strategie der passiven Sanierung
(Priewe 2001; Memorandum 2002: 146f.; 2006:
167f.). Ostdeutschland wurde in großen Teilen als aktives Integrationsgebiet aufgegeben
und dient seither vor allem als Absatzmarkt,
Arbeitskräftereservoir und Experimentierfeld
für Sozialabbau und Niedriglöhne. Die Arbeitsmarktprobleme sollen sich durch den demographischen Wandel und die Abwanderung
„überschüssiger“ Arbeitskräfte von selbst lösen.
In diesem Zusammenhang ist auch die heftig
kritisierte, letztlich aber nicht unterbundene
Zweckentfremdung der Mittel des Aufbau Ost
zu sehen: Die ursprünglich für Investitionen
gedachten Mittel werden von den Ländern
und Kommunen teilweise zur Verhinderung
von Haushaltsnotlagen eingesetzt und damit
zweckentfremdet verwendet. Dies hat zur Folge,
daß sich die Lage der ostdeutschen Länder
nicht verbessert: Trotz Ausgabenbeschränkungen steigen die Finanzierungsdefizite und
droht die Verschuldung zu eskalieren. Sofern
nicht umgehend Gegenmaßnahmen ergriffen
werden, steuern die ostdeutschen Länder auf
einen „Haushaltsnotlagenflächenbrand zu, der
die Eigenständigkeit dieser Länder gefährdet
und Gesamtdeutschland an die Grenzen der
Belastbarkeit des Solidaritätsgedankens treiben
wird“ (Seitz 2005: 27).
Es liegt auf der Hand, daß die geplante
Reduzierung der Transferzahlungen, verbunden mit einer restriktiven Ausgaben- und
einer das öffentliche Vermögen der Länder
und Kommunen definitiv vermindernden
Privatisierungspolitik, die ökonomische und
fiskalische Lage der ostdeutschen Länder
nicht verbessern wird. Daß diese sich in den
nächsten Jahren aber drastisch verschlechtern wird, ist zudem demographisch bedingt:
Der Rückgang der Bevölkerung seit 1989
um mehr als 12% und bis 2020 um weitere
12–14% hinterläßt in den Haushalten der
neuen Länder erhebliche Löcher. Wirtschaft
und Gesellschaft müssen sich von Wachstum
59
auf „Schrumpfung“ umstellen. Dieser Prozeß ist mit Strukturverschiebungen größten
Ausmaßes verbunden: So sinkt die Zahl der
Erwerbsfähigen fast doppelt so schnell wie
die der Einwohner. Dementsprechend wächst
der Anteil der nicht (mehr) Erwerbstätigen,
der Rentner und Bedürftigen. Aber das BIP
stagniert ebenso wie die Steuereinnahmen,
während die Zahlungen aus dem Länderfinanzausgleich und dem EU-Strukturfonds
zurückgehen. Während den ostdeutschen
Ländern heute noch Einnahmen in Höhe von
143% des westdeutschen Niveaus zustehen,
werden es künftig weniger als 100% sein. Da
sich die Ausgaben aber nicht in gleichem
Umfange verringern, sondern sie teilweise
sogar noch ansteigen – man spricht hier von
einem Kostenremanenzeffekt (Ragnitz 2005:
73ff.) – kommt es beinahe zwangsläufig zu
einem Anstieg der Finanzierungsdefizite und
einem weiteren Anwachsen der Verschuldung. Diese Entwicklung führt irgendwann
notwendigerweise zum Kollaps. Ein Vergleich
der Pro-Kopf-Verschuldung der Länder unterstreicht dies: 2005 betrug diese im Durchschnitt aller Flächenländer 5.660 €. Während
ein Großteil der westdeutschen Länder diese
Größe aber unterschreitet (Bayern: 1.852 €,
Baden-Württemberg: 3.685 €, Hessen: 4.962
€), liegen alle ostdeutschen Länder bis auf
Sachsen signifikant darüber: Sachsen-Anhalt:
7.747 €, Brandenburg: 6.636 €, Thüringen:
6.418 €, Mecklenburg-Vorpommern: 6.290 €
(Seitz 2006b: 22). Von den Stadtstaaten weist
Bremen die höchsten Schulden je Einwohner
auf, dicht gefolgt von Berlin.
Fazit: Im Osten sind die Schulden höher,
die Wirtschaftsleistung und damit die Fähigkeit
zum Schuldendienst und zur Konsolidierung
aber ist deutlich geringer (vgl. Abb. 1). Damit
stellt sich das Problem hier wesentlich schärfer
als im übrigen Bundesgebiet. Die öffentlichen
Haushalte Ostdeutschlands stehen gleich
mehrfach unter Druck:
Erstens wächst die Wirtschaft im Osten
kaum, mittelfristig höchstens um ein Prozent
pro Jahr, so daß die Steuereinnahmen der
öffentlichen Haushalte kaum steigen und der
Anteil des Schuldendienstes am Budget tendenziell zunimmt.
60
Ulrich Busch
Zweitens schrumpft die Bevölkerung, und
mehr noch die Zahl der Erwerbstätigen, wodurch sich die Schulden pro Kopf automatisch
erhöhen, die Zuführungen im Rahmen des
Finanzausgleichs und die Steuereinnahmen
aber sinken.
Drittens führen die Steuersenkungspolitik
des Staates, die Rückführung der Staatsquote und der Wettbewerbsföderalismus der
Bundesländer dazu, daß die Einnahmen der
Gebietskörperschaften tendenziell zurückgehen. Zudem sehen der Solidarpakt II und
der EU-Vertrag eine schrittweise Senkung der
Zahlungen vor, was für die Länder bis 2020
ein Einnahmeminus von mindestens einem
Drittel bedeutet.
Viertens engen steigende Zins- und Tilgungszahlungen den finanzpolitischen Spielraum der Länder und Kommunen zunehmend
ein, was eine Begrenzung der Kreditaufnahme
(Neuverschuldung) erforderlich macht. 2003
betrug die Zins-Ausgaben-Quote der ostdeutschen Länder 7,5%, die der Gemeinden
3,5%. Damit ist die Tragfähigkeit der Finanzen
zwar noch gegeben, die Belastungsgrenze
aber bereits evident. Die Konsequenz lautet,
daß für die meisten Länder in den nächsten
Jahren eher ein strikter Konsolidierungskurs
angesagt ist als eine expansive Finanzpolitik.
Auf das Instrument der Staatsverschuldung
muß deshalb aber nicht gänzlich verzichtet
werden. Worauf es ankommt, ist das richtige
Maß, das die Nachhaltigkeit der Finanzpolitik
und die Tragfähigkeit der Verschuldung langfristig sichert.
Berlin – „die Spitze von’s Janze“
Die Entwicklung der Verschuldung Berlins stellt
Tabelle 6: Kreditfinanzierungsquoten Neue Länder und Berlin 1991–2003 in %
BB
MV
SN
ST
TH
BE
Alle Länder
1991
18,6
9,4
12,7
11,0
8,9
9,2
7,4
1993
24,0
16,3
11,5
18,3
17,0
13,9
8,7
1995
15,4
14,9
7,7
16,6
8,9
13,8
7,9
1997
8,9
10,4
4,6
14,7
10,4
13,0
8,5
1999
6,8
6,5
1,6
8,7
9,5
9,9
4,8
2001
5,7
4,7
1,3
6,9
7,8
21,7
8,2
2003
10,8
11,3
2,3
8,1
7,7
19,7
9,1
Quelle: BMF (2004), Tabellen und Übersichten: 30
Tabelle 7: Verschuldung der neuen Länder 2004
Verschuldung absolut in Mill. €
Pro-Kopf-Verschuldung in €
1a
1b
1c
2a
2b
2c
BB
18.806
16.968
1.838
7.372
6.656
716
MV
12.673
10.283
2.391
7.329
5.944
1.385
SN
17.036
11.843
5.194
3.954
2.748
1.206
ST
21.387
18.006
3.381
8.492
7.145
1.347
TH
16.959
14.060
2.900
7.158
5.932
1.226
1a Gebietskörperschaften insgesamt (ohne Zweckverbände)
1b Land
1c Gemeinden / Gemeindeverbände
2a Pro-Kopf-Verschuldung insgesamt
2b Pro-Kopf-Verschuldung Land
2c Pro-Kopf-Verschuldung Gemeinden
Quelle: Landesrechnungshof Sachsen-Anhalt 2004: 9
Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung
alle anderen Bundesländer in den Schatten, die
ostdeutschen ebenso wie die westdeutschen.
Mit einer Schuldensumme von 58,6 Mrd. €
(2005), einer Pro-Kopf-Verschuldung von
17.275 € und einer Schuldenquote von 73,0%
rangiert die deutsche Hauptstadt weit über
dem Bundesdurchschnitt (Senatsverwaltung
2006: 21). Im Unterschied zu den anderen ostdeutschen Ländern startete Berlin 1990 nicht
mit einem Schuldenstand von Null, sondern
mit den in Berlin-West seit 1948 aufgehäuften
Schulden. 1990 betrug der Schuldenstand 6,4
Mrd. €, was pro Kopf (2.993 €) in etwa dem
Niveau der westdeutschen Flächenländer
entsprach, aber weniger war als in Bremen,
Hamburg und dem Saarland. Seitdem hat sich
dieser Wert jedoch beinahe verzehnfacht und
ist damit weit schneller angestiegen als die
Durchschnittsverschuldung der Bundesländer
(vgl. Abb. 1).
Der Entwicklungsverlauf der Verschuldung
Berlins seit der Wiedervereinigung ist imposant: Bis 1990 lagen die Pro-Kopf-Ausgaben
in Berlin-West über denen der westdeutschen
Bundesländer, die Verschuldung aber war geringer, was auf eine komfortable Finanzausstattung
des „Schaufensters des Westens“ schließen
läßt. Dies ermöglichte die Aufrechterhaltung
einer atypischen Wirtschaftsstruktur und den
Unterhalt einer großzügig subventionierten
Bildungs- und Kulturlandschaft. Analoges galt
für Berlin-Ost, das als Hauptstadt der DDR
nicht weniger privilegiert war.
Als sich die Situation nach 1990 radikal
veränderte, die Wirtschaft kollabierte und die
Finanzhilfen zurückgeführt wurden, erhöhten
sich die jährliche Nettokreditaufnahme und damit der Schuldenstand rasant. Da die Wirtschaft
nicht mitwuchs, stiegen die Schuldenquote und
die Zinslastquote sprunghaft an, bis zur Gefahr
der Überschuldung. Dabei entstand der größte
Teil der Schulden zwischen 1991 und 1994, als
Berlin davon träumte, zu einer europäischen
Metropole aufzusteigen und Zentrum eines
„zweiten deutschen Wirtschaftswunders“ zu
werden. Eine ähnliche Entwicklung vollzog
sich in anderen ostdeutschen Ländern. In der
Pro-Kopf-Verschuldung übertreffen diese
die westdeutschen Flächenländer seit 1998.
Im gleichen Jahr überholte Berlin Hamburg.
61
Seitdem ist Berlin neben Bremen hier unangefochtener Spitzenreiter. Seit Jahren bewegt sich
die Verschuldung Berlins auf „Haushaltsnotlagenniveau“ (Seitz 2003). Ob es sich dabei aber
um eine „extreme“ Haushaltsnotlage handelt,
was einen Anspruch auf Sanierungshilfen
des Bundes bedeuten würde, ist strittig. Ausschlaggebend hierfür ist die Beurteilung der
Höhe der Kreditfinanzierung und der Zinsverpflichtungen in Relation zu den Ausgaben
bzw. Steuereinnahmen des Landes. So liegt die
Zins-Steuer-Quote mit 21,1% zwar erheblich
über dem Länderdurchschnitt (11,5%), aber
immer noch unter dem Niveau Bremens und
des Saarlandes zu Anfang der 1990er Jahre.
Dagegen übertrifft die Kreditfinanzierungsquote bereits seit 1993 die Werte aller anderen
Länder. Zudem verstößt Berlin seit Jahren
gegen die verfassungsrechtlichen Regeln für
die Nettokreditaufnahme bei der Finanzierung
des Budgets (vgl. Seitz 2006c: 25ff.).
Die Erklärung für diese desaströse Entwicklung ist zunächst im Fiskalischen, im
Verhältnis der Einnahmen zu den Ausgaben, zu
suchen. Seit Mitte der 1990er Jahre stagnieren
die Steuereinnahmen Berlins bei ca. 8,1 Mrd.
€, während die Einnahmen aus Bundeshilfen
und dem Länderfinanzausgleich drastisch zurückgeführt wurden, von 7,4 Mrd. € (1991) auf
5,2 Mrd. € (2006). Letztere bilden heute noch
etwa 30% der bereinigten Gesamteinnahmen
Berlins, werden mit dem Abbau der Mittel des
Solidarpakts II in den nächsten Jahren aber
weiter zurückgehen, so daß der Konsolidierungsdruck wächst. Demgegenüber belaufen
sich die Ausgaben derzeit auf 20,2 Mrd. €.
Sie sind seit Mitte der 90er Jahre kaum mehr
gestiegen. Berlin hat als einziges Bundesland
seine konsumtiven Primärausgaben sogar
gesenkt, seit 1995 um 4,5%, während diese
bei den anderen Ländern um durchschnittlich
11% gestiegen sind. So konnte das Defizit des
Primärhaushalts (Einnahmen und Ausgaben
ohne Schuldendienst) kontinuierlich verringert
werden: 1995 betrug es 5,1 Mrd. €, 2001 3,8 Mrd.
€, zuletzt nur noch 0,9 Mrd. €. Für 2007 wird
ein ausgeglichener Primärhaushalt angestrebt
(Senatsverwaltung 2006: 10, 13).
Was jedoch kontinuierlich angestiegen ist
und auch weiterhin steigen wird, sind die Zins-
62
zahlungen. 1991 betrugen die Zinsausgaben
Berlins 537 Mio €, 1999 waren es 1.915 Mio €,
2005 2.396 Mio €; 2009 werden es knapp 3.000
Mio € sein (ebd.: 26). Parallel dazu erhöhte
sich die Zins-Steuer-Quote, also der Anteil
der Zinszahlungen an den Steuereinnahmen.
Derzeit liegt diese fast doppelt so hoch wie in
den anderen Bundesländern und mehr als 50%
über dem Niveau der neuen Länder (Abb. 2).
Am 05.11.2002 stellte der Senat von Berlin
fest, daß sich das Land „seit längerem in einer
extremen Haushaltsnotlage befindet, aus der
es sich aus eigener Kraft nicht befreien kann“
(ebd.: 20). Aus dieser Feststellung ergibt sich
gem. Art. 107, Abs. 2 GG ein Anspruch auf
Haushaltssanierungshilfen des Bundes, wie sie
Bremen und das Saarland seit 1994 erhalten.
Bedingung dafür ist jedoch, daß das Land durch
entsprechende Konsolidierungsmaßnahmen
das Primärdefizit vollständig abbaut und einen
Primärüberschuß erwirtschaftet.
Wie der Entwicklungsverlauf seit Mitte
der 1990er Jahre zeigt, reichen die normalen
Mechanismen des Länderfinanzausgleichs und
der Bundesergänzungszuweisungen nicht aus,
um Berlin vor einem weiteren Schuldenanstieg
zu bewahren. Selbst die für 2007 angestrebte
Erwirtschaftung eines Primärüberschusses
wird nicht verhindern, daß das Land immer
tiefer in die „Schuldenfalle“ gerät. Die dafür
vorgelegten Prognosen sind erschreckend: Bis
2030 soll sich der Schuldenstand verdoppeln
und dann je Einwohner mehr als das Fünffache
des Länderdurchschnitts betragen (Färber 2006:
97f.). Eine partielle Entschuldung durch den
Bund könnte hier Abhilfe schaffen, weshalb
Berlin 2003 einen Normenkontrollantrag beim
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eingereicht
hat. Das Verfahren dauert derzeit noch an.19 Die
Entscheidung hierüber, wie immer diese auch
ausfällt, wird Modellcharakter besitzen, denn
wie anhand der vorliegenden Daten zu ersehen
ist, stehen andere Länder vor einer ähnlichen
Situation. Die Rückführung der SonderbedarfsBEZ ab 2009 wird diesen Prozeß zusätzlich
beschleunigen, denn die wirtschaftliche Lage
und Perspektive der neuen Länder bietet kaum
Anhaltspunkte dafür, daß die Einnahmeausfälle
durch zusätzliche Steuereinnahmen ausgeglichen werden könnten. Hinzu kommt, daß
Ulrich Busch
eine Konsolidierungspolitik auf Länderebene
primär auf der Ausgabenseite ansetzen muß,
da die Länder auf der Einnahmenseite kaum
Spielräume dafür besitzen. Einsparungen bei
den Ausgaben haben jedoch zur Folge, wie zuletzt in Berlin evident geworden, daß letztlich
auch die Einnahmen sinken und sich mithin
die Gesamtsituation keineswegs verbessert. So
hat Berlin seit 1991 rund 37% aller Stellen im
unmittelbaren Landesdienst gestrichen. Die
Primärausgaben je Einwohner wurden seit 1995
um 10,8% verringert. Die Sachinvestitionen für
Bauten und Ausrüstungen lagen 2003 nur noch
bei einem Drittel jener, die Mitte der 1990er
Jahre getätigt worden sind. Mehr kann man
kaum sparen! Das alles nützt aber nur wenig,
da sich im gleichen Zeitraum die Steuereinnahmen kaum erhöht haben (8,1 Mrd. € 2005
gegenüber 8,0 Mrd. € 1995), die Einnahmen aus
Bundeshilfen und dem Länderfinanzausgleich
aber gesunken sind. Dafür steigen (ungewollt)
bestimmte Ausgaben im Sozialbereich und
haben sich die Zinsausgaben kräftig erhöht,
seit 1991 auf das Fünffache. Mithin vergrößerte
sich der Finanzierungssaldo und erhöhte sich
die jährliche Nettokreditaufnahme. Die Folge ist ein stetiger Anstieg der Verschuldung
– absolut, aber auch relativ, wie die Entwicklung der Schuldenquote (2005: 73,0%) zeigt.
Die in diesem Zusammenhang zuletzt vom
rot-roten Senat praktizierten Maßnahmen
gleichen einem Verzweiflungsakt, der „aus
den Notverordnungen Brünings abgeschrieben sein könnte“ (Heine 2004: 17): Nachdem
sich die Investitionen kaum mehr absenken
lassen, die Reduzierung des Personals an ihre
Grenzen stößt und die Privatisierung landeseigener Einrichtungen keine nennenswerten
Einnahmeeffekte mehr bringt, versucht der
Senat die „notwendigen“ Mitteleinsparungen
über Lohn- und Gehaltskürzungen zu erreichen. Die Folge ist eine weitere Drehung der
Abwärtsspirale, aber nicht eine Befreiung aus
der Schuldenfalle!
Der eigentliche Grund für die fiskalische
Misere Berlins ist ökonomischer Natur: Berlin
ist eine wirtschaftsschwache Metropole, der es
politisch nicht gelungen ist, den Übergang von
einer hochsubventionierten Sonderzone und
veralteten Industriestadt zu einer modernen
Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung
63
Abbildung 2: Zins-Steuer-Quoten der Länder in % (2005)
25
20
15
10
5
0
BY BW SN HE NW RP MV NI TH SH BB HH SL ST
BE HB
Quelle: Senatsverwaltung 2006: 27
Abbildung 3: Schulden der Länder je Einwohner Ende 2005 in €
BY:
BW:
SN:
HE:
NW:
RP:
MV:
NI:
TH:
SH:
BB:
HH:
SL:
ST:
BE:
HB:
HH
HB
BE
BY
SN
BW
HE
NI
Bayern
Baden-Württemberg
Sachsen
Hessen
Nordrhein-Westfalen
Rheinland-Pfalz
Mecklenburg-Vorpommern
Niedersachsen
Thüringen
Schleswig-Holstein
Brandenburg
Hamburg
Saarland
Sachsen-Anhalt
Berlin
Bremen
Pro-Kopf-Schulden
NW
RP
MV
TH
BB
SH
SL
ST
0
5.000
10.000
Quelle: BMF 2006/4; Seitz 2006b: 22
15.000
20.000
64
Dienstleistungsmetropole zu vollziehen. Die
Wirtschaftsleistung je Einwohner beträgt in
Berlin kaum die Hälfte derjenigen Hamburgs
und nur ein Drittel derjenigen Münchens. Der
Anteil der Beschäftigten liegt in allen Bereichen
außer im öffentlichen Sektor deutlich unter
dem Durchschnitt anderer Großstädte. Hinzu
kommt, daß Berlin relativ gering in überregionale Wirtschaftskreisläufe eingebunden ist und die
Wirtschaftskontakte mit dem Brandenburger
Umland unterentwickelt sind. Zudem fehlte es
Berlin bislang an einem realistischen visionären
Leitbild für die Zukunft.20 Da die Finanzkrise
die Handlungsmöglichkeiten Berlins bereits
jetzt stark einschränkt, ist zu befürchten, daß
die anstehende weitere Konsolidierung des
Haushalts die Zukunft der Stadt und der Region
als Wirtschaftsstandort ernsthaft gefährdet
(vgl. DIW 2002), so daß die prekäre Finanzlage
nicht nur fortbestehen, sondern sich sogar noch
weiter verschärfen wird.
Sachsen-Anhalt in der Schuldenfalle
Die krasseste Problemlage unter den neuen
Bundesländern weist Sachsen-Anhalt auf. Hier
kreuzen sich schwierige demographische und
strukturelle Probleme mit schwerwiegenden
wirtschaftlichen Fehlentwicklungen. Das Ergebnis ist heute eine beinahe ausweglose finanzielle
Situation und eine absehbare Finanzkrise in
der nahen Zukunft.
Die Einwohnerzahl Sachsen-Anhalts verringerte sich zwischen 1990 und 2004 überproportional, um 13,2%. Bis 2020 wird ein
weiterer Rückgang von 17,6% erwartet. Von
einst rund drei Millionen Einwohnern hat
das Land dann nur noch zwei Millionen. Aber
selbst auf diesem Niveau ist nicht mit einer
Stabilisierung zu rechnen: Bis 2050 wird die
Bevölkerungszahl auf 1,4 Millionen fallen,
was gegenüber 1990 mehr als eine Halbierung
bedeutet und gegenüber 1950 einen Rückgang
um fast zwei Drittel. Ursache dafür ist neben
der niedrigen Geburtenrate vor allem die
anhaltende Abwanderung junger Menschen,
die in der Region für sich keine hinreichende
Lebensperspektive mehr sehen. Betroffen sind
hiervon alle Landkreise und Städte, auch die
Ulrich Busch
größeren Zentren wie Halle (-48,5%), Magdeburg21 (-46,4%) und Dessau (-58,4%)22. Mit
dem Rückgang der Einwohnerzahl verändert
sich die Altersstruktur der Bevölkerung: Der
Anteil der Jugendlichen sinkt und der Anteil
der Älteren erhöht sich. Konsequenzen dieser
Entwicklung sind der dramatische Rückgang
des Erwerbstätigenpotentials, der Kaufkraft
und der Nachfrage, mit entsprechenden Folgen
für Produktion und Beschäftigung, wodurch
sich die Abwärtsspirale verstärkt.
Einst geprägt durch große Industrieansiedlungen, vor allem im Maschinenbau, in
der Chemie- und der Lebensmittelindustrie,
wurde das Land nach 1990 einem radikalen
Deindustrialisierungsprozeß und wirtschaftlichen Umbau unterworfen. Als Ergebnis dieses
Um- und Restrukturierungsprozesses entstand
eine Dependenz- und Transferökonomie, gekennzeichnet durch eine klein- und kleinstbetriebliche Unternehmensstruktur mit schmaler
Forschungsbasis und geringer überregionaler
Marktpräsenz. Es fehlt an leistungsstarken
Groß- und Mittelbetrieben, an „industriellen
Kernen“, innovativen Forschungseinrichtungen,
„Leuchttürmen“ und Produktionsclustern.
Trotz Wirtschaftsförderung und externer
Investitionen stagniert die Wirtschaft SachsenAnhalts seit 1995: Das BIP-Wachstum betrug
im Jahresdurchschnitt kaum1%. 2000–2005 lag
das Wachstum insgesamt bei 4,6% und damit
unter den Werten für Sachsen und Thüringen
(Arbeitskreis VGR 2006). Die Prognosen für
die nächsten Jahre geben wenig Hoffnung
auf eine durchgreifende Besserung der Lage.
Beide Prozesse, der demographische und der
wirtschaftliche, sind für den aktuellen Zustand
und die Perspektiven der öffentlichen Finanzen von eminenter Bedeutung. So decken die
originären Steuereinnahmen derzeit kaum 40%
der Ausgaben, und selbst bei Berücksichtigung
aller Umverteilungsvorgänge und Zahlungen
des Bundes ist das Land nicht in der Lage, seine
Ausgaben zu finanzieren, so daß regelmäßig
ein Defizit verbleibt. Die Nettokreditaufnahme
resp. Nettoneuverschuldung betrug 2004 1,3
Mrd. €; 2005 1,1 Mrd. €. Kumuliert ergibt sich
aktuell für das Land ein Schuldenstand von 19,4
Mrd. €. Pro Kopf gerechnet sind das 7.684 €,
womit Sachsen-Anhalt die Rangliste aller Flä-
Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung
chenländer anführt – und das seit Jahren. 2004
betrugen die Zinsausgaben dafür 852 Mio €,
2006 werden es 989 Mio € sein, rund 22% der
Steuereinnahmen. Kurzfristig läßt sich damit
leben, langfristig aber wird der hiervon ausgehende finanzielle Druck für die öffentlichen
Haushalte auf Grund sinkender Einnahmen immer größer, wodurch der Handlungsspielraum
der Politik unverhältnismäßig stark eingeengt
wird (Landesrechnungshof 2004: 6f.).
Prognosen zufolge werden in den nächsten
Jahren sowohl die Zahlungen der Europäischen
Union als auch die Bundeszuweisungen zurückgehen; letztere mit dem Auslaufen des
Solidarpakts II (2019) bis auf das Niveau der
alten Länder, wodurch Sachsen-Anhalt, da die
Ausgaben nicht in gleichem Maße reduzierbar
sind, unweigerlich in eine „Finanzklemme“
gerät. Die erste und naheliegende Reaktion
darauf wäre eine höhere Neuverschuldung.
Dafür aber gibt es ökonomische Grenzen,
wie sie in der Zinslast-Quote und Zins-Steuer-Quote zum Ausdruck kommen – und die
sind hier fast erreicht. Was in einigen alten
Ländern und in Sachsen noch möglich wäre,
eine zusätzliche Kreditaufnahme, scheidet in
Sachsen-Anhalt aus. Aber selbst eine Beibehaltung des jetzigen Kurses führt zwangsläufig
„zur Zahlungsunfähigkeit“ (Bullerjahn/Erben
2005: 8) – wenn nicht heute, so doch morgen
oder übermorgen. Es bleibt daher nur der Weg,
dem demographischen und wirtschaftlichen
Schrumpfungsprozeß finanzpolitisch durch
einen Konsolidierungskurs zu entsprechen
bzw. zu begegnen. Ob hierfür jedoch der Weg
einer „echten Konsolidierung“ – das heißt, des
vollständigen Verzichts auf neue Kredite und
der allmählichen Tilgung der Schuld – gangbar
ist, bleibt zu bezweifeln. Realistischer scheint
eine vorsichtige Zurückführung der Kreditaufnahme, kombiniert mit einer partiellen
Entschuldung des Landes durch den Bund und
einem Solidarpakt III zur Finanzierung eines
Investitionsprogramms, um die Produktionsbasis zu stärken und die Steuereinnahmen
langfristig zu verbessern. Gelingt dies nicht, so
steuert Sachsen-Anhalt unaufhaltsam auf eine
extreme Haushaltsnotlage zu, wie bereits das
Saarland, Bremen und Berlin, wofür der Bund
und die anderen Länder dann einzustehen
65
hätten. Dies hätte jedoch unabsehbare Folgen
für die föderale Verfassung der Bundesrepublik
Deutschland und für die Existenz Sachsen-Anhalts als eigenständigem Bundesland.
Schluß und Ausblick
Die Analyse der Staatsfinanzen der Bundesrepublik Deutschland dokumentiert für die
zurückliegenden Jahrzehnte einen signifikanten
Anstieg der jährlichen Nettokreditaufnahme und des Schuldenstandes. Parallel dazu
verändert sich die Gläubigerposition, indem
insbesondere die privaten Geldvermögen und
die Forderungen des Auslands hier signifikante
Zuwächse verzeichnen.23 Die zuerst genannte
Größe signalisiert eine Zunahme des privaten
Reichtums bei Haushalten und Unternehmen
als Kehrseite der staatlichen Verschuldung. Die
zweite Größe ist Ausdruck der zunehmenden
globalen Finanzverflechtung und wird durch
Forderungen inländischer Gläubiger gegenüber
dem Ausland mehr als kompensiert, so daß netto
für Deutschland keine Verschuldung besteht.
Auch zeigt ein internationaler Vergleich, daß
die Staatsverschuldung Deutschlands in Relation zur jährlichen Wertschöpfung bisher
keineswegs dramatische Ausmaße besitzt.
Mit einer Schuldenquote von 68,6% (2005)
liegt Deutschland hier eher im Mittelfeld (vgl.
Tabelle 8).
Weil es für die Staatsverschuldung kein
theoretisch hinreichend bestimmtes und exakt
quantifizierbares Maß gibt, dieses vielmehr nur
im Hinblick auf wirtschaftspolitische Ziele formuliert werden kann, und auch dann nur relativ,
weil von der wirtschaftlichen Leistung und Dynamik, dem Zinsniveau, der Steuerkraft u.a.m.
abhängend, sind weder die undifferenzierte
„Verteufelung“ jeglichen Schuldenmachens
noch der allseits anzutreffende Konsolidierungsfanatismus wirklich zu begreifen. Es sei
denn, diese lassen sich politisch interpretieren:
als probates Mittel zur Beschneidung der Staatsaktivität und zum Rückbau des Sozialstaates.
Dann jedoch wären sie weniger ökonomisch
denn ideologisch motiviert und folglich mit
finanzwissenschaftlichen Argumenten kaum
zu widerlegen!
66
Ulrich Busch
Im Kontext eines anderen Paradigmas, etwa
der keynesianischen nachfrageinduzierten Erklärung konjunktureller Dynamik, erscheinen
öffentliche Kreditaufnahme (deficit spending)
und Staatsverschuldung mithin weniger besorgniserregend und insgesamt ungleich positiver
bewertet als im gegenwärtigen Mainstream.
Aber auch unter solcherart veränderten Prämissen gilt die Tragfähigkeit der Verschuldung
als Grenze für dieselbe, wenn auch als eine
sehr elastische, und ist die Nachhaltigkeit der
Finanzpolitik eine unerläßliche Bedingung für
ökonomische Stabilität. Dabei ist die Verschuldungsgrenze desto höher anzusetzen, je höher
die Wachstumsrate des BIP, je niedriger das reale
Zinsniveau und je geringer das primäre Defizit
der öffentlichen Haushalte sind. Erstere Größe
gilt als nachfrageinduziert und daher partiell
abhängig von der Kreditaufnahme des Staates.
Das Zinsniveau ist marktbestimmt bzw. wird
von der Europäischen Zentralbank vorgegeben.
Dies gilt faktisch auch für die Inflationsrate. Der
Primärhaushalt hingegen bildet eine abhängige
Variabel. Er wird durch die Steuerpolitik und
die Ausgabengestaltung bestimmt, liegt also in
der Hand des Staates, wobei Bund, Länder und
Gemeinden hier über sehr unterschiedliche
Spielräume verfügen.
Bisher ist, bezogen auf den Gesamthaushalt
der Bundesrepublik Deutschland, noch keine
wirklich dramatische Situation entstanden. Die
im Anstieg der Zins-Steuer-Quote insbesondere
des Bundes auszumachende Zuspitzung der
Lage in den letzten fünf Jahren ist vor allem
der Steuerpolitik der Regierung anzulasten
und insofern hausgemacht und korrigierbar.
Mittelfristig muß die Fiskalpolitik jedoch stärker den veränderten Wachstumsbedingungen
und dem demographischen Wandel Rechnung
tragen, um auch in Zukunft noch tragfähig zu
sein. Da künftig weniger Zuwächse als Kürzungen und Belastungen zur Verteilung anstehen,
bedeutet dies für die Finanzpolitik eine nicht
einfach zu bewältigende Herausforderung.
Die größten Probleme entstehen dabei auf
Länderebene, wo sich die Lage differenzierter
und problematischer darstellt als auf der Ebene
des Bundes. Insbesondere in Ostdeutschland,
wo sich die Rahmenbedingungen durch den
Bevölkerungsrückgang und die wirtschaftliche
Stagnation, aber auch durch die Rückführung
der Finanzzuweisungen des Bundes und der
Europäischen Union rapide verschlechtern,
kommt es schon bald zu finanziellen Engpässen, Krisen und Notlagen. Einige Länder
sind hiervon stärker betroffen als andere,
besonders prekär ist die Lage in Berlin und in
Sachsen-Anhalt, nicht weniger problematisch
aber auch in Brandenburg, Thüringen und
Mecklenburg-Vorpommern. Da diese Länder
sich zudem in der Vergangenheit überproportional verschuldet haben, stecken sie heute in
einer Schuldenklemme. Mittelfristig steuern
alle ostdeutschen Bundesländer außer Sachsen
Tabelle 8: Schuldenstandsquoten von 1980 bis 2006 im internationalen Vergleich (in %)
Deutschland
Euro-Zone
EU 15
EU 25
Belgien
Griechenland
Frankreich
Italien
Niederlande
Österreich
GB
USA
Japan
1980
31,2
33,9
74,1
25,0
20,8
58,2
44,0
35,4
53,2
45,7
55,0
1990
42,3
57,3
125,7
79,6
35,3
97,2
73,7
56,1
34,0
67,2
68,6
Quelle: BMF 2006/4: 110; EU-Kommission
2000
59,9
70,1
63,9
62,7
109,3
114,0
57,2
111,4
54,4
66,7
41,9
58,6
134,0
2005
68,6
71,7
65,1
64,1
94,9
107,9
66,5
108,6
54,0
64,3
43,1
66,6
161,9
2006
70,0
71,7
65,2
64,2
91,9
106,8
67,1
108,3
54,2
64,2
44,3
69,0
165,2
Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung
auf eine Haushaltsnotlage zu. In einigen Fällen
wird selbst der finanzielle Bankrott nicht auszuschließen sein, sofern sich die wirtschaftlichen
und finanziellen Bedingungen in den nächsten
Jahren nicht grundlegend verbessern oder der
Bund und die finanziell besser dastehenden
Länder nicht einspringen und im Rahmen
des föderalen Finanzverbunds solidarische
Hilfe leisten.
Anmerkungen
1
2
3
4
5
Diese Aussage korrespondiert mit moralphilosophischen Überlegungen von John Rawls zum „gerechten
Sparprinzip“. Danach sei die jetzige Generation nicht
dazu verpflichtet, „die Ansprüche späterer Generationen zu respektieren“, so daß die Kurve der realen
Ersparnisse langfristig durchaus „auf Null fallen“ kann
(2003: 245f.).
So meint Michael Grömling, daß „kreditfinanzierte
Ausgabenprogramme dem Staat zwar zunächst zusätzliche Gestaltungsoptionen verschaffen, diese sich
jedoch im Zeitablauf wegen der anteilig steigenden
Zinsausgaben in ihr Gegenteil“ verkehrten, woraus
die Gefahr einer „Überschuldung“ und „dauerhaften
Tragfähigkeitslücke“ erwachse. Hieraus leitet er „eine
grundsätzliche Kritik an einer kreditfinanzierten
Stabilisierungspolitik“ ab (2005: 46f.).
Für die Bundesrepublik Deutschland ist generell geregelt: „Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe
der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für
Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen sind
nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.“ (Art. 115, Abs. 1
GG) Für die Länder gelten analoge Regelungen in
den jeweiligen Landesverfassungen.
„Mit der Keynesianischen Theorie gewann die Idee
an Boden, Konjunkturschwankungen seien kein unvermeidbares Schicksal und könnten durch staatliche
Maßnahmen gemildert oder gar behoben werden. [...]
Die Keynesianische Empfehlung lautete demnach,
über eine vernünftige Handhabung des Budgets (lies:
durch Inkaufnahme zeitweiliger Defizite und Überschüsse) den Entwicklungspfad der Volkswirtschaft
zu stabilisieren und dadurch den schwerwiegenden
Problemen der Arbeitslosigkeit und Inflation zu
begegnen.“ (Felderer/Homburg 1989: 179ff.)
So ist die Staatsverschuldung früherer Zeiten, in der
Antike oder im Mittelalter, wo eine Kreditaufnahme
bloß temporär, zum Beispiel im Krieg, und komplementär zur Schatzbildung erfolgte, nicht vergleichbar
mit der dauerhaften Verschuldung moderner Staaten.
Freilich gab es Ausnahmen; so z.B. die römischen Kaiser
seit Augustus, die italienischen Stadtstaaten und einige
deutsche Fürsten im ausgehenden Mittelalter, wo die
Staatsschuld bereits zu einer regelmäßigen Einrichtung
geworden war. Am Ende stand hier jedoch immer die
Rückzahlung oder der Staatsbankrott. In den bürgerlichen Staaten des 18. und 19. Jahrhunderts galt ein
ausgeglichener Haushalt als Prinzip. Defizite waren
67
nur in Kriegs- und Notzeiten erlaubt (Kaemmel 1966:
90ff., 323ff.; Diehl/Mompert 1923; Gaettens 1957).
6 Eine weitere Möglichkeit der Defizitfinanzierung stellt
die Geldschöpfung der Zentralbank dar: durch die
Finanzierung von Staatsausgaben „über die Notenpresse“, also die Emission zusätzlichen Zentralbankgeldes,
oder über die Auflösung von Rücklagen öffentlicher
Stellen bei der Notenbank. In den meisten Ländern
jedoch, so auch in Deutschland, sind dieser Form der
Finanzierung des Staates durch die Verfassung sowie
durch die Notenbankgesetzgebung sehr enge Grenzen
gesetzt.
7 Es gibt eine kaum zu überblickende Fülle an Literatur,
die sich mit derartigen Prognosen und Prophezeiungen
befaßt. So sieht zum Beispiel Paul C. Martin in der
Zunahme der Staatsverschuldung ein unwiderlegbares
Indiz für einen baldigen Crash, für das Heraufziehen
des Staatsbankrotts, ja, für „das Ende“ der Welt (Martin/Lüftl 1984: 15). Ähnlich argumentieren Günther
Moewes (2004), Helmut Creutz (1995) und Bernd
Senf (1996).
8 Grundlage hierfür ist die Einteilung der Volkswirtschaft
in vier Sektoren: private Haushalte, Unternehmen,
Staat und Ausland. Diese Sektoren verzeichnen in
unterschiedlichem Maße Finanzierungsüberschüsse
bzw. -defizite, die sich saldenmechanisch ausgleichen.
Da in letzter Zeit neben den privaten Haushalten auch
der Unternehmenssektor Finanzierungsüberschüsse
verzeichnet, also netto Vermögen bildet, ist der Staat
gezwungen, stärker als Kreditnehmer aufzutreten.
Täte er dies nicht in gebotenem Umfange, käme es
zu einer tiefen Rezession mit unabsehbaren Folgen
für die Gesamtwirtschaft (vgl. Dt. Bundesbank 2005a;
Memorandum 2006: 65f.)
9 Anders verhält sich dies bei einer Verschuldung
im Ausland. Von der Tatsache, daß Schuldtitel von
ausländischen Gläubigern gehalten werden und der
Anteil ausländischer Gläubiger an den öffentlichen
Schulden bei 47,4% (2005) liegt, ist jedoch nicht
auf eine externe Verschuldung zu schließen. Insbesondere dann nicht, wenn Inländer in hohem Maße
selbst Gläubiger gegenüber dem Ausland sind, wie
im Falle Deutschlands: Die Auslandsforderungen
des deutschen Bankensystems betragen 2.600 Mrd.
€, die Verbindlichkeiten des Staates gegenüber dem
Ausland 705,4 Mrd. €. (Dt. Bundesbank 2005b: 13;
2006/4: 57*). Mithin bezieht Deutschland auch mehr
Vermögens- und Kapitaleinkünfte aus dem Ausland,
als es dorthin leistet (FAZ vom 13.01.2006).
10 „Lange Zeit wiegten sich die Bürger in der Illusion,
der Staat könne durch Schuldenmachen Wohlstand
schaffen. Dankbar erfreuten sie sich an vielfältigen
Formen staatlicher Hilfe und Betreuung, an schmukken Parkanlagen und plätschernden Springbrunnen.
Zugleich verzeichneten sie mit Wohlgefallen, wie ihre
Sparkonten immer runder, ihre Rücklagen immer
stattlicher wurden. Dabei merkten sie nicht, daß sie
viele jener öffentlichen Leistungen just mit diesen
ihren privaten Ersparnissen finanzierten.“ (Miegel
1996)
11 Dies wußte bereits Ferdinando Galiani, der berühmte
Abbé, als er in seiner Schrift Della moneta – libri cinque (1751) scharfsinnig bemerkte, daß die Tilgung der
Staatsschulden, sofern das Geld dafür „ausschließlich
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Ulrich Busch
durch neue Steuern oder neue Anleihen aufgebracht
werden kann“ und „die Sache damit wieder zum
Ausgang zurückkommt“, auch unterbleiben könne.
Denn, „wenn der Staat eine Staatsanleihe mit neuem
Geld von genau demjenigen zurückzahlt, der das zurückzuzahlende Darlehen ursprünglich gegeben hat,
so könne er das Darlehen ebensogut überhaupt nicht
zurückzahlen.“ Im übrigen „sind sein Vermögen [...]
die Beiträge der Bürger, die der Fürst [Staat – U.B.] zu
deren eigenem Wohl ausgibt; sobald er also von den
Bürgern geliehenes Geld ausgibt, hat er es damit bereits
an diese zurückgegeben.“ (Tabarelli 1999: 398f.)
Vgl. hierzu die Sensibilitätsanalysen des ifo-Instituts
München für den Bericht zur Tragfähigkeit öffentlicher
Finanzen (BMF 2005: 23ff.). Auffällig ist dabei die außerordentliche Variabilität der Situation, insbesondere
der Tragfähigkeitslücken, sofern einzelne Parameter
(Erwerbsbeteiligung, Produktivität, Lebenserwartung,
Zinsniveau usw.) sich ändern.
Eine mathematische Herleitung dafür findet sich in
der Literatur; vgl. zum Beispiel Kitterer 2006: 81f.
So betrug zum Beispiel die Bruttokreditaufnahme
des Bundes im Jahr 2005 (Soll) 199,6 Mrd. €. Davon
dienten 80,2% der Tilgung laufender Kredite und
19,8% (39,5 Mrd. €) der Neuverschuldung, wodurch
sich die Gesamtschuld entsprechend erhöhte (vgl.
BMF 2005/1: 91).
Unter einem Ponzi-Spiel versteht man ein Schneeballsystem, benannt nach dem amerikanischen Finanzjongleur Charles Ponzi, wobei fällige Zahlungen jeweils
aus neuen Verbindlichkeiten beglichen werden, so
daß die Gesamtschuld ständig wächst.
In der Literatur wird daher diejenige Defizitquote als
„nachhaltig“ definiert, die eingehalten werden muß,
um die Schuldenquote stabil zu halten. Im Falle eines
nominalen Wirtschaftswachstums von 5% und eines
gewünschten Schuldenstandes in Höhe von 60% des
BIP läge diese bei 3%, was den Maastricht-Kriterien
entspricht (Kitterer 2006: 53f.).
In diesen Zahlen widerspiegelt sich nur die explizite
Staatsverschuldung. Zusätzlich läßt sich eine implizite
Verschuldung (Rentenversicherungs- und Pensionszusagen u.ä.) ermitteln, welche 2002 rund 270% des
BIP entsprochen hat. Zusammen ergibt sich so eine
Gesamtverschuldung des Staates von 7.100 Mrd. € bzw.
330% des BIP (SVR 2003: 276). Gegen eine derartige
Aufrechnung gibt es ernsthafte Einwände (vgl. Müller
2006: 252f.), so daß sie hier ausgeklammert wird.
2003 betrug der Anteil der ostdeutschen Länder (ohne
Berlin) an der Gesamtverschuldung der Bundesländer
12,9%. Der Bevölkerungsanteil lag bei 16,4%. Demgegenüber ist der Anteil „Ost“ im Budget des Bundes
etwas höher zu veranschlagen, so daß die Quote
insgesamt vielleicht 18%, auf keinen Fall aber mehr
als 20%, beträgt.
Ein Urteil wurde vom BVerfG für August 2006 in
Aussicht gestellt.
Seit 2006 gibt es das Leitbild: „Metropolregion BerlinBrandenburg“.
Für Magdeburg, die Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt, bedeutet diese Entwicklung den größten
Bevölkerungsverlust seit 1631, als die Stadt von den
Truppen Tillys erobert und eingeäschert worden war.
Der Wiederaufbau- und Vitalisierungsprozeß dauerte
viele Jahrzehnte: 1900 betrug die Einwohnerzahl 229.667;
1939: 326.000; 1981: 287.362; 1989: 288.355; 1999 waren
es 235.073; 2002: 228.170. 2020 wird die Einwohnerzahl
unter 200.000 fallen, auf 197.258; 2050 auf 150.499.
Gegenüber 1989 ist dies ein Rückgang um 48%.
22 Bevölkerungsprognose für 2050 gegenüber Ist 1990
(Bullerjahn 2004: 31).
23 Ende 2003 belief sich das Bruttogeldvermögen der
privaten Haushalte in Deutschland auf 3.922 Mrd. €,
wovon 1.306 Mrd. € in Wertpapieren angelegt waren.
1990 waren es 1.585 Mrd. € bzw. 343 Mrd. €. Dies
entspricht einer Steigerung um 147,4% bzw. 280,8%
(Dt. Bundesbank 1993/10: 22; 2005/6: 54). Dagegen
betrugen die Forderungen des Auslands 705,4 Mrd.
€ (Dt. Bundesbank 2006: 57*).
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Thomas Ahbe, Dr.,
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Arne Heise, Prof. Dr.,
Wirtschaftswissenschaftler,
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Christoph Deutschmann, Prof. Dr.,
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Rainer Land, Dr. sc.,
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