Berliner Debatte Initial ist ein geistes- und sozialwissenschaftliches Journal. Seit 1990 erscheinen jedes Jahr sechs Hefte mit einem thematischen Schwerpunkt und Artikeln zu aktuellen sozialwissenschaftlichen, wirtschaftswissenschaftlichen und philosophoshischen Themen. Regelmäßig werden Beiträge zum sozioökonomischen Umbruch in Ostdeutschland und Rezensionen zu wichtigen Neuerscheinungen publiziert. Berliner Debatte Initial 4 17. Jg. 2006 Bestellungen: als Einzelheft im Buchhandel oder Einzelhefte und Abonnement bei der GSFPmbH per Mail: [email protected] Tel.: +49-39931-54726, Fax ...-54727 Post: GSFPmbH, Dudel 1, 17207 Bollewick Neuer Keynesianismus Heine „... we simply do not know.“ Deutschmann Keynes und die Rentiers Einzelne Artikel als pdf-Dateien per E-Mail: [email protected], siehe auch unter www.berlinerdebatte.de Busch Staatsverschuldung Reuter Arbeitslosigkeit Preise: Einzelheft 10 €, Doppelheft 20 € Einzelhefte werden per Post mit Rechnung verschickt. Jahresabo 37 €, Ausland zuzüglich Porto. Studenten, Rentner und Arbeitslose 20 €. bei Keynes Ahbe, Gries Generationen der DDR und Ostdeutschlands 08.07.2006 10:08:04 Neuer Keynesianismus Paradigmenwechsel in der Gesellschaftspolitik? – Zusammengestellt von Ulrich Busch – Editorial 2 www.berlinerdebatte.de Heft 4/2006 Schwerpunkt Neuer Keynesianismus Kehrt der Keynesianismus zurück? Mit Claus Noé sprachen Ulrich Busch und Rainer Land 4 Michael Heine „… we simply do not know“ (J.M. Keynes). Systemische Unsicherheit in Wirtschaftstheorie und -politik 11 Christoph Deutschmann Keynes und die Rentiers. Warum die Überflußgesellschaft bis heute auf sich warten läßt 22 Arne Heise Neuere keynesianische Ansätze zur Geldtheorie und -politik 37 Ulrich Busch Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung. Ostdeutsche Länder und Kommunen vor dem Haushaltsnotstand Norbert Reuter Arbeitslosigkeit bei Keynes. Eine systemimmanente Folge unregulierter Wirtschaftsexpansion 70 Klaus Dräger Erneuerter Keynesianismus – Richtschnur für die Strategiedebatte der Linken? 80 Systemumbruch und Generationswechsel Thomas Ahbe, Rainer Gries Die Generationen der DDR und Ostdeutschlands 90 Rezension Gerd Held: Territorium und Großstadt Rezensiert von Robert Kaltenbrunner 49 110 2 Berliner Debatte Initial 17 (2006) 4 Editorial Als Milton Friedman Anfang der 1970er Jahre erklärte: „Wir sind heute alle Keynesianer, keiner ist mehr ein Keynesianer“, markierte er damit einen Wendepunkt in der Wirtschaftstheorie. John Maynard Keynes (1883–1946) war in aller Munde, seine Analysen und die auf ihn zurückgehende Terminologie waren Allgemeingut, seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen jedoch galten als obsolet. Dies betraf die Finanzpolitik und die Globalsteuerung ebenso wie die Geld- und Währungspolitik samt den dafür geschaffenen Institutionen IWF und Weltbank sowie das System fester Wechselkurse von Bretton Woods. War Keynes, der bedeutendste Theoretiker des Fordismus, damit tot und ein und für allemal erledigt? Zunächst schien es so. Die neoklassische und neoliberale Lehre beherrschte das Feld, im akademischen Diskurs wie in der Wirtschaftspolitik. Für Deutschland gilt dies in besonderem Maße, weit mehr noch als für die angelsächsischen Länder. Insbesondere für die Zeit nach 1989/90, als sich die neoliberale Angebotspolitik den Sieg des marktwirtschaftlichen Kapitalismus über den Staatssozialismus allein auf die Fahnen heftete. Heute ist die Situation jedoch eine andere: Wachstumsschwäche, Massenarbeitslosigkeit, Haushaltskrisen und volkswirtschaftliche Ungleichgewichte führen zur Kritik am Neoliberalismus. In der Wirtschaftspolitik zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab, der zur Wiederentdeckung der gesamtwirtschaftlichen Vernunft führt und vielleicht bald auch zu einer neuen Geld-, Finanz- und Lohnpolitik. Schon heute, sagt Claus Noé, verbreitet sich die „Einsicht, daß die Politik der permanenten Lohnzurückhaltung falsch war“. Auch gibt es inzwischen heftige Debatten über die Geldpolitik, worin die keynesianische Position, den Realzins unter die reale Wachstumsrate zu drücken, um Sachinvestitionen zu fördern, an Boden gewinnt. Angesichts der Unmöglichkeit, die anstehenden Probleme mit dem herkömmlichen Instrumentarium zu lösen, stellt sich die Frage des Rückgriffs auf Keynes. Keynes war immer an Lösungen für praktische Probleme interessiert. Dies unterscheidet ihn von den ökonometrischen „Glasperlenspielern“ in der Gegenwart. Kommt es zu einer Renaissance des Keynesianismus? Wie würde dieser neue Keynesianismus wirtschaftspolitisch aussehen, und wie würde er funktionieren? Eine Wiederbelebung gesamtwirtschaftlichen Denkens und Handelns ist wünschenswert, reicht aber nicht aus, um die Wirtschaft aus der Stagnationsfalle herauszuführen. Aber wie würde eine keynesianische Geld-, Finanz-, Verteilungs- und Beschäftigungspolitik heute konkret beschaffen sein? Und wie steht es mit zentralen Thesen Keynesschen Denkens in diesem Kontext, etwa der „Unsicherheit“, der „Euthanasie“ des Rentiers, der Vermögenspolarisierung, der Nichtneutralität des Geldes und der aktiven Beschäftigungspolitik? Einige dieser Themen finden in diesem Heft ihren Niederschlag. So geht Michael Heine der Frage nach, inwieweit sich der Keynessche Unsicherheitsbegriff von der neoklassischen „Wahrscheinlichkeit“ unterscheidet und welche Konsequenzen dies mit sich bringt. Christoph Deutschmann analysiert die sich verändernden Existenzbedingungen des Rentiers in der Gegenwart. Arne Heise stellt neuere keynesianische Ansätze der Geldtheorie und -politik vor. Ulrich Busch diskutiert die Editorial Vor- und Nachteile einer wachsenden Staatsverschuldung am Beispiel der neuen Bundesländer und Berlins. Norbert Reuter setzt sich mit den systemimmanenten Folgen einer unregulierten Wirtschaftsexpansion für die Beschäftigung auseinander. Und Klaus Dräger fragt, ob ein erneuerter Keynesianismus eine Richtschur für die Strategiedebatte der Linken in Europa sein könnte. Alle hier versammelten Aufsätze stellen Kommentare zum Werk von Keynes dar, zugleich aber auch Beiträge innerhalb des aktuellen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Diskurses. Der 60. Todestag von Keynes am 21. April diesen Jahres war Anlaß für diese Schwerpunktsetzung. Ebenso aber auch die Suche nach einem neuen Ansatz in der Gesellschaftspolitik. Vier Jahrzehnte Wirtschaftspolitik unter neomonetaristischem Vorzeichen haben gezeigt, daß Geldwertstabilität kein „Ersatz“ für Wachstum und Beschäftigung ist, daß einzelwirtschaftliche Rationalität zu gesamtwirtschaftlicher Irrationalität führen kann, daß die Vergrößerung des gesellschaftlichen Reichtums mit einer Zunahme von Armut einhergeht und die Rückführung des Staates mit Krisen und Stagnation. Dies fördert den Ruf nach Alternativen, nach Konzepten, worin die gesamtwirtschaftliche Vernunft dominiert und der Staat wieder eine aktive Rolle in 3 der Wirtschaft spielt. Nicht wenige Ökonomen – N. G. Mankiw, J. Stiglitz, P. Krugman, D. Romer, L. Thurow, O. J. Blanchard – denken bereits darüber nach und formulieren Ansätze für eine neue Makroökonomie, worin sich nicht zuletzt auch Ideen von John Maynard Keynes finden. Keynes ist also wieder en vogue. In bestimmtem Maße gilt dies auch für den „Rüstungskeynesianismus“ der Bush-Administration in den USA. Noch wäre es verfrüht, aber vielleicht greift bald schon ein renommierter Wirtschaftstheoretiker die eingangs zitierte Sentenz von Milton Friedman auf und verkündet: „Wir sind heute alle Monetaristen, keiner ist mehr ein Monetarist.“ – Dies wäre dann in der Tat die Stunde der Wiedergeburt des Keynesianismus. *** Mit dem Aufsatz von Thomas Ahbe und Rainer Gries über „Die Generationen der DDR und Ostdeutschlands“ publizieren wir einen ersten Text, der aus dem Workshop „Generationen im Osten Deutschlands und Europas nach dem 89er Systemumbruch und Generationswechsel“ hervorgegangen ist. Weitere Beiträge liegen vor und werden in den nächsten Heften erscheinen. Ulrich Busch Berliner Debatte Initial 17 (2006) 4 49 Ulrich Busch Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung Ostdeutsche Länder und Kommunen vor dem Haushaltsnotstand „Ein Staat ohne Staatsschuld thut entweder zu wenig für die Zukunft oder er fordert zu viel von seiner Gegenwart.“ (Lorenz von Stein, 1878) Neben der doppelten Buchführung und der Kreditschöpfung verkörpert die Staatsverschuldung die dritte geniale Erfindung unserer Zeit auf ökonomischem Gebiet. Dies scheint übertrieben und angesichts der Spar- und Konsolidierungswut in der Gegenwart geradezu provozierend, ist jedoch vollkommen ernst gemeint. Denn es gibt keine bessere Lösung, um Zukunftsinvestitionen aus öffentlichen Kassen zu finanzieren und die dabei anfallenden Kosten auf mehrere Generationen zu verteilen. Die Kreditaufnahme des Staates ermöglicht nicht nur die Ausführung großer Bauten und weitreichender Infrastrukturprojekte, aufwendiger Verkehrslösungen und langfristiger Investitionen im Energiesektor, in der Raumfahrt, bei der Erschließung neuer Rohstoffvorkommen, in Bildung und Forschung, sondern sie sorgt auch dafür, daß die Finanzierungskosten für derartige generationsübergreifende Vorhaben nicht nur von einer, sondern von mehreren Generationen getragen werden. Damit ist sie nicht nur aus ökonomischen Gründen, sondern gleichermaßen auch unter dem Aspekt der Gerechtigkeit1 anderen Lösungen vorzuziehen. Gleichwohl aber ist sie umstritten und seit Jahrzehnten Gegenstand kontroverser Debatten. Dabei betrachtet die eine, gegenwärtig den Mainstream dominierende Position Kredite und Schulden in guter hausväterlicher Manier generell als ein Übel, das nur in Ausnahmefäl- len und nur vorübergehend zu tolerieren sei2, während die andere, sich auf John Maynard Keynes berufende Position in der Staatsschuld weit mehr als nur eine „Notlösung“ zur Überwindung temporärer Liquiditätsprobleme sieht. Vielmehr wird diese hier als „wichtigstes Interventionsinstrument“ zur Beeinflussung der Wirtschaftstätigkeit begriffen (Napoleoni 1968: 71f.). Vom Einsatz des öffentlichen Kredits wird nicht weniger als die Lösung des Beschäftigungs- und Konjunkturproblems sowie die Überwindung des Krisenzyklus und der wirtschaftlichen Stagnation erwartet. Die finanzwirtschaftliche Praxis laviert zwischen beiden Positionen: Verbal orientiert sie sich an Sparmaßnahmen, Kreditbegrenzung, Haushaltskonsolidierung und Schuldenabbau. De facto aber nehmen Bund und Länder jedes Jahr höhere Kredite auf, steigt die Neuverschuldung und wächst der Schuldenberg. Durch die Finanzierung von Zukunftsinvestitionen3 erfüllt die Staatsverschuldung, bezogen auf die Kosten, eine Verschiebungsfunktion in der Zeit. Darüber hinaus besitzt sie eine Stabilisierungsfunktion, indem sie durch ihre Höhe und deren Variation die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und Liquidität beeinflußt und so ausgleichend auf den Konjunkturverlauf wirkt. Beide Bestimmungsmomente gehen vor allem auf Keynes zurück und spielen in der keynesianischen Wirtschaftstheorie und -politik eine zentrale Rolle. Dabei basiert die Verschiebungsfunktion auf der Definition des Geldes als „Verbindungsglied zwischen der Gegenwart und der Zukunft“ (Keynes 1983/1936: 248), die Stabilisierungsfunktion auf dem Konzept einer budgetgesteuerten Nachfragepolitik 50 als Instrument konjunktureller Stabilisierung und Belebung.4 Die Funktionalität der Staatsverschuldung steht im Zusammenhang mit dem Wesen des modernen Geldes, insbesondere mit dessen Forderungscharakter und Bestimmung als Kreditgeld. Hieraus erklärt sich denn auch die „illusorische“ Form der Staatsschulden, ihre Eigenschaft als „fiktives Kapital“ (Marx 1969: 483f.), ferner ihre Konkretisierung in besonderen Schuldformen (Anleihen, Obligationen, Schatzbriefe, Schatzanweisungen, Schuldscheindarlehen, Schatzwechsel usw.) sowie die definitionsgemäße Summengleichheit von Schulden (Verbindlichkeiten) und Vermögen (Forderungen). Ohne diese, historisch erst mit dem Kreditgeld und den Möglichkeiten der Kreditschöpfung gegebenen, Eigenheiten wäre die Staatsverschuldung heute nicht das, was sie ist, und würden jene Effekte, die sie als großartige Erfindung der Moderne auszeichnen und sie zu einem unverzichtbaren Instrument der Wirtschaftspolitik machen, gar nicht (oder nur sehr eingeschränkt) auftreten.5 Das Prinzip Durch die Aufnahme eines Kredits am Finanzmarkt ist es einer Gebietskörperschaft (Bund, Land, Gemeinde) möglich, ein Budgetdefizit – das heißt, einen Überschuß der Ausgaben über die Einnahmen – zu finanzieren.6 Die Kreditaufnahme (Neuverschuldung) versteht sich dabei als „außerordentliche Einnahme“ der öffentlichen Hand, die deren Aktionsradius erweitert: Ausgaben können früher getätigt und Investitionen zeitlich vorgezogen, die damit verbundenen Kosten aber in die Zukunft verschoben werden. Innerhalb bestimmter Grenzen ist die „kreditfinanzierte Inanspruchnahme des Produktionspotentials“ durch den Staat „völlig normal“ und volkswirtschaftlich „unproblematisch“ (SVR 1978: 304; 1979: 229f.; Pätzold 1991: 159). Kumuliert und bereinigt um die fälligen Tilgungszahlungen, bilden die jährlich aufgenommenen Kredite der öffentlichen Hand die Staatsschuld. Deren fortwährender Anstieg ist, sofern er mit einem Wachstum des Ulrich Busch Wirtschaftspotentials und einer Zunahme des gesellschaftlichen Reichtums einhergeht, volkswirtschaftlich unbedenklich. Es handelt sich dabei weder um eine Fehlentwicklung der staatlichen Finanzen noch um die Vorboten eines unausweichlichen Crashs oder Finanzdesasters, wie immer wieder behauptet wird.7 Vielmehr erweist sich die Staatsschuld gerade „durch ihre fortwährende Vergrößerung“ als geeignetes Mittel, „um die Volkswirtschaft immer mehr zu erweitern, fortwährend neue Gütermassen zu produzieren, und die so entstandenen disponiblen Kapitale zur Produktion [...] anzulegen“, schrieb bereits 1855 Carl A. Dietzel. Da in der Verschuldung des Staates „das Grundprinzip der Gesamtwirtschaft, [...] das Zusammenwirken aller, am stärksten zu Tage tritt“, erweise diese sich „von größtem Nutzen [...] für die Entwicklung der Volkswirtschaft“ und darüber hinaus als „Grundpfeiler des modernen Kulturlebens“ (zitiert bei Diehl/Mompert 1923: 249f.). – Dies gilt heute wie damals, so daß gegenwärtig nicht die absolute Höhe der Staatsschuld das wirkliche Problem darstellt, sondern eher „die Begrenzung der öffentlichen Kreditaufnahme“ durch die restriktiven Vorgaben des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts, welcher sich als die „schwerste Bremse“ für die Wirtschaftsentwicklung erweist (Memorandum 2005: 148ff.). Ein vernünftig dosierter Einsatz der Staatsverschuldung ermöglicht eine antizyklische Finanzpolitik und trägt durch öffentliche Investitionen dazu bei, lang andauernde Rezessionsphasen zu vermeiden bzw. abzukürzen sowie Wachstum und Konjunktur zu beleben. Neben der konjunktur- und stabilitätspolitischen Aufgabe erfüllt die staatliche Kreditaufnahme eine allokative Funktion, indem sie über die Finanzierung öffentlicher Investitionen darauf hinwirkt, die ökonomische und ökologische Entwicklungsqualität nachhaltig zu verbessern. Zugleich wird auf diese Weise die Nutzung der Investitionen und die Anlastung der Kosten zeitlich harmonisiert, wodurch eine gerechtere Lastenverteilung zwischen den Generationen erreicht wird. So können selbst die ungeborenen Kinder und Enkel, wenn sie später die heute vorgenommenen Investitionen in Anspruch nehmen, an deren Kosten parti- Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung zipieren, indem sie den Schuldendienst dafür leisten. Hinzu kommt die Rolle der Staatsverschuldung, wie sie sich saldenmechanisch aus der gesamtwirtschaftlichen Finanzierungsrechnung ergibt. Ihr Gewicht hat sich in den letzten Jahren erheblich verstärkt.8 Öffentliche Kreditaufnahme und Verschuldung erweisen sich somit in mehrfacher Hinsicht als ein rationales wirtschaftspolitisches Instrumentarium, auf dessen Einsatz keine Gebietskörperschaft verzichten kann. Zugleich aber sind sie auch ein „süßes Gift“, das zum politischen Mißbrauch verlockt und wovor deshalb nicht zu Unrecht gewarnt wird. Die Tatsache, daß gegenwärtig elf der sechzehn Bundesländer und auch der Bund keine verfassungsgemäßen Haushalte vorweisen können, zeugt vom Mißbrauch und ist Indiz für eine „Finanzkrise im Bundesstaat“ (Konrad/Jochimsen 2006). Trotzdem ist zwischen Mißbrauch und Prinzip sorgfältig zu unterscheiden. Einige Kritiker tun dies nicht genügend und verwerfen mit dem Mißbrauch zugleich das Prinzip. So wird von Gegnern der Staatsverschuldung eingewandt, die mit der Kreditfinanzierung verbundene Kostenverschiebung in die Zukunft würde eine einseitige „Lastverschiebung“ bedeuten und damit zu einer ungebührlichen Entlastung der gegenwärtigen und Belastung zukünftiger Generationen führen. Dies aber ist „eindeutig falsch“ (Oberhauser 1995: 363). Denn hier wird übersehen, daß im Falle einer kreditfinanzierten Investition mit den Kosten zugleich erhebliche Nutzen in die Zukunft verschoben werden, letztlich also „nach dem Prinzip der zeitlichen Äquivalenz“ (Gandenberger 1981: 28) bzw. dem Grundsatz „Pay as you use“ (Musgrave) verfahren wird. Außerdem unterstellen derartige Einwände zumeist eine einzelwirtschaftliche Betrachtung, welche sich nicht ohne weiteres auf eine Volkswirtschaft übertragen läßt. So bedeutet die Kreditaufnahme eines Unternehmens oder eines privaten Haushalts in der Regel eine externe Verschuldung desselben gegenüber anderen Wirtschaftseinheiten. Beim öffentlichen Kredit hingegen haben wir es, sofern es sich um eine Inlandsverschuldung handelt9, mit einer internen Verschuldung zu tun, einer Verschuldung des Staates bzw. der 51 Volkswirtschaft gegenüber sich selbst: In ihrer Eigenschaft als Eigner von Staatspapieren, als Sparer, sind die Wirtschaftssubjekte Gläubiger des Staates, also ihrer selbst. Ebenso bringen sie in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler die für die Bedienung der Kapitalansprüche gegen den Staat erforderlichen Mittel selbst auf. Das heißt: „Was bei den Privaten an Forderungen gegen den Staat zuwächst, erhöht gleichzeitig die Aufbringungsverpflichtung der Privaten um genau den gleichen Betrag.“ (Donner 1942: 213f.) Eine Volkswirtschaft wird mithin durch die Bildung von Geldkapital in Form von Staatstiteln nicht reicher, noch wird sie durch die Zunahme der Staatsschuld, die ja nur die Kehrseite der Ersparnis bildet, ärmer. Zudem gehören Schuldner und Gläubiger demselben ökonomischen System an, so daß auch bei den Zinszahlungen Zahler und Empfänger jeweils Mitglieder derselben Volkswirtschaft sind und die Zahlungen in derselben Periode aufgebracht wie empfangen werden. Eine „Rückzahlung“ späterer Generationen an die heutige, wie von einigen Kritikern unterstellt, findet dabei nicht statt: Vielmehr zahlt jede „in ihrem jeweiligen HIER UND JETZT lebende Generation [...] immer nur an die je HIER UND JETZT Lebenden“ (Scheunemann 2004: 4). In diesem Zusammenhang gibt es also keine intertemporale oder intergenerative Umverteilung; unter Umständen aber eine intragenerative und interpersonelle – sofern nämlich Zahler und Empfänger nicht dieselben Personen sind. Und eine intersoziale, da sich Zahler und Empfänger nicht proportional auf die Klassen und Schichten einer Gesellschaft verteilen. Indem durch die Staatsverschuldung und deren Verzinsung die Sparer gegenüber den Steuerzahlern in bestimmtem Maße (in Abhängigkeit von der Höhe der Verzinsung, der Inflationsrate und der konkreten Ausgestaltung des Steuersystems) präferiert werden, befördert diese möglicherweise eine Umverteilung „von unten nach oben“. Statistisch nachweisen läßt sich dies bisher jedoch nicht (vgl. Reuter 2000: 552). Im Unterschied zur Steuerfinanzierung öffentlicher Ausgaben, bei welcher dem privaten Sektor zwangsläufig Kaufkraft entzogen wird, kommt es bei einer Kreditfinanzierung nicht 52 zu einer Belastung der Gegenwart im Sinne eines Ressourcenentzugs. Vielmehr wird das Geldkapital, das der Kreditaufnahme dient, dem Staat freiwillig und gegen Entgelt (Zins) zur Verfügung gestellt; nicht selten mangels anderweitiger lukrativer Anlagemöglichkeiten. Dabei entsprechen Vermögen und Schulden einander bilanziell, ebenso wie Aktiva und Passiva einer Bilanz einander entsprechen. In der Betrachtungsweise der doppelten Buchführung stellen die (Geld-)Schulden lediglich die Gegenbuchung zum Geldvermögen dar. Für sich allein, isoliert betrachtet, wären sie ebensowenig existent wie jene. Es handelt sich hierbei um aufeinander bezogene und voneinander abhängige finanzielle Bestandsgrößen. Als solche repräsentieren sie fiktives Kapital. Das heißt, sie begründen Zinsansprüche und -verpflichtungen, lösen Zahlungsvorgänge aus und bewegen materielle Werte, existieren selbst aber nicht als reale Größen. Dies unterscheidet sie vom Sachvermögen in Gestalt von Immobilien und Produktivkapital. Geldschulden und Geldvermögen sind zwei Seiten ein und derselben Medaille: Der „öffentlichen Armut“ in Form staatlicher Schulden entspricht ein nicht-öffentlicher „Reichtum“ in Form privater Geldvermögen. Und die Vermögensansprüche decken sich vollständig mit den Tilgungs- und Zinsverpflichtungen. Will man die Schulden reduzieren, so tangiert dies zwangsläufig auch die andere Seite der Bilanz, die Vermögen. Wachsen diese aber mit dem allgemeinen Wohlstand, so erhöht sich zwangsläufig auch der Schuldenstand – wenn nicht beim Staat, so bei den Unternehmen oder im Ausland. Vermögenspolitik ist daher immer zugleich auch Schuldenpolitik, und umgekehrt. Aus dem Gesagten folgt, daß die Staatsschuld mit der Zeit wächst und jede Generation von der vorangegangenen nicht nur die Schulden erbt, sondern diese immer auch fortschreibt und vergrößert – ebenso wie deren Pendant, die Finanzvermögen. Weder können die Gläubiger dem Schuldner (Staat) in toto den Kredit aufkündigen, noch kann dieser den geborgten Kapitalwert jemals zurückzahlen, denn – „das Kapital […] ist aufgegessen, verausgabt vom Staat. Es existiert nicht mehr“ (Marx 1969: 482)! Dies wollen jedoch viele Ulrich Busch nicht wahrhaben10 und fordern deshalb die Rückzahlung der Schulden durch den Staat. So sorgt sich Johannes Meier, ob der Staat angesichts des immensen Schuldenbergs überhaupt jemals in der Lage sein wird, „diese Schulden zu begleichen“ (2006: 29). – Selbstverständlich nicht! Die Forderung nach einer Rückführung der Staatsschuld oder gar deren vollständigem Abbau ist gänzlich unrealistisch, ja, geradezu irrational.11 Das einzige, was vernünftigerweise gefordert werden kann, ist die „Bedienung“ der Schuld, das heißt, die pünktliche Leistung des Schuldendienstes. Im Unterschied zum konjunkturbedingten oder strukturellen Defizit, das sich auf außerordentliche Umstände zurückführen läßt, gibt es für die „normale“, über Jahrzehnte akkumulierte Staatsschuld definitiv „keinen Konsolidierungsbedarf “ (Pätzold 1991: 159). Eine andere Frage ist jedoch die regelmäßig vorzunehmende Rückzahlung der aufgenommenen Kredite. Denn diese geht in der Regel mit einer größeren Neuverschuldung einher, so daß die Staatsschuld insgesamt wächst. Ein Problem der Tilgung steht praktisch also nicht. Es erledigt sich mit der jährlichen Kreditaufnahme, sofern diese netto größer ist als Null. Anders verhält es sich dagegen mit den Zinsen, denn diese stellen eine wirkliche Last dar, wofür Steuern aufzubringen oder Vermögenswerte zu veräußern sind. Da die privaten Haushalte sowohl Zinsempfänger als auch Steuerzahler sind, kommt es im Ergebnis der staatlichen Verschuldung gleichzeitig zu einem Ansteigen der privaten Einkommens- und Vermögensbildung und zu einer steigenden Steuerlast. Beides impliziert Verteilungswirkungen, die sich sektoral aber ausgleichen. Eine intergenerative Lastenverschiebung findet indes nicht statt, da die künftige von der gegenwärtigen Generation nicht nur Schulden und Zahlungsverpflichtungen erbt, sondern eben auch die Vermögen und die Zinsansprüche. Letztlich erbt sie „alles“, wie Egbert Scheunemann zutreffend feststellt (2004: 4); die materiellen Vermögenswerte ebenso wie die Geldvermögen und die Schulden sowie alle daraus resultierenden Ansprüche und Verpflichtungen. Volkswirtschaftlich ist es unerheblich, welches absolute Niveau Schulden und Vermögen Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung aufweisen: Beide Größen wachsen mit dem Wohlstand. Was zählt, ist allein ihre relative Höhe, ihr Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bzw. Bruttonationaleinkommen (BNE) und die Relation der Zinsen zu den Gesamtausgaben (Zinslastquote) bzw. Steuereinnahmen (Zins-Steuer-Quote) des Staates. Denn hiervon hängt die Tragfähigkeit der Verschuldung einer Volkswirtschaft ab. Steigen die Zinsaufwendungen rascher, als das BNE wächst, so erhöht sich die relative Zinslast und damit die steuerliche Belastung der Bürger. Zugleich würde sich der finanzpolitische Spielraum des Staates verengen, da die Steuerquote nicht unbegrenzt erhöht werden kann, die steigenden Zinsausgaben aber immer mehr Mittel absorbieren. Steigen die Zinsen dagegen proportional zum BIP oder langsamer als dieses, so bleibt die relative Zinslast konstant oder geht sogar zurück. Dies beweist, daß eine Finanzpolitik, welche die immerwährende Zunahme der Staatsschuld zur Folge hat, volkswirtschaftlich durchaus möglich ist: „Sie wirft [...] keine Probleme auf, wenn sie die Wachstumsrate des Sozialprodukts stärker erhöht als den Zinssatz“ (Kromphardt 1987: 170). Deshalb ist auch eine unbegrenzt fortlaufende Neuverschuldung in konstanter Relation zum BIP bei konstanter, von der Höhe der Staatsverschuldung unbeeinflußter Wachstumsrate 53 des BIP unbedenklich. Denn die Relation von Staatsschuld und BIP, die Schuldenquote, steigt unter diesen Bedingungen nicht ins Unermeßliche, sondern strebt einem festen Grenzwert zu. Evsey Domar (1944) bezeichnete diesen Wert als „Gleichgewichtsniveau der öffentlichen Schuld“ (vgl. Gandenberger 1981: 46). Er ist umso höher, je größer die Neuverschuldung im Verhältnis zum BIP ist, und umso geringer, je rascher das BIP wächst. Ein Wachstum des BIP von beispielsweise 3% würde bei einer jährlichen Neuverschuldung von 2% zu einer Annäherung an eine Schuldenquote von 66% führen. Was für den Quotienten aus Schuldenstand und BIP gilt, trifft auch für die Relation aus Zinsbelastung und BIP, die Zinslastquote, zu. Das heißt, entspricht der Zinssatz – in einer inflationsfreien Wirtschaft – der Wachstumsrate des BIP, so nähert sich die Höhe der Zinsverpflichtungen derjenigen der Neuverschuldung an. Ist der Zinssatz geringer als die Wachstumsrate, so liegt das Gleichgewichtsniveau unter der Neuverschuldung; ist er höher, so liegt es darüber. Unter den Bedingungen einer inflationären Wirtschaft sind die Wirkungen andere: Da die nominale Wachstumsrate des BIP hier um die Inflationsrate höher ist als bei konstantem Preisniveau, reduziert sich der Grenzwert Tabelle 1: Finanzen des Staates in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (in Mrd. €) Position Einnahmen darunter: Steuern Sozialbeiträge 1991 664,9 1993 760,9 1995 834,0 1997 856,3 1999 945,0 2001 952,6 2003 963,7 2005 975,9 352,4 262,3 395,2 304,9 428,9 343,9 420,5 373,3 490,5 375,4 488,3 383,7 489,6 394,4 497,6 397,0 Ausgaben darunter: Zinsen Sozialleist. Bruttoinvest. 713,3 818,1 895,6 908,2 974,3 1012,2 1050,3 1050,4 39,2 329,5 38,3 53,3 405,1 44,4 67,0 461,4 42,2 69,5 502,5 35,5 63,2 523,1 37,6 64,5 551,2 36,8 64,6 588,1 32,9 63,4 598,1 29,1 Finanzierungssaldo in % d. BIP1 Schuldenstand 1n % des BIP1 -48,4 3,1 600,2 41,4 -60,3 3,2 770,2 48,0 -61,6 3,3 1019,2 58,3 -51,8 2,7 1133,0 61,5 -29,3 1,5 1224,3 61,9 -59,6 2,9 1241,5 59,6 -86,6 4,0 1381,0 63,8 -74,5 3,3 1520,7 67,7 1) ab 1999 in der Maastricht-Abgrenzung Quelle: Dt. Bundesbank, diverse Monatsberichte 54 Ulrich Busch des Schuldenquotienten entsprechend. Die Inflation vermindert so das reale Gewicht der Verschuldung. Es erfolgt quasi eine „passive Tilgung“. Eine ähnliche, den Schuldner (Staat) merklich begünstigende Wirkung ergibt sich hinsichtlich der Zinsbelastung, sofern die Geldentwertung nicht voll antizipiert wird. Unter der Voraussetzung der keynesianischen Annahme von „Geldillusion“, also dem Glauben an die Stabilität des Geldwertes bei tatsächlicher inflationärer Aushöhlung desselben, ist dies gängige Praxis (vgl. Schmölders 1982: 166ff.). Keine Entlastung für den Schuldner tritt hingegen ein, wenn sich die Inflation voll in der Höhe der Zinsen reflektiert. Selbst dann aber entspricht die reale Last der Zinszahlungen den Zinseinnahmen der privaten Haushalte, so daß die dafür erforderlichen Steuereinnahmen keine zusätzliche Belastung des privaten Sektors darstellen, sondern lediglich eine Umverteilung innerhalb desselben sowie zwischen diesem und dem Staat. Das Problem der Tragfähigkeit Die finanzielle Lage der öffentliche Haushalte, einschließlich ihrer Verschuldung, gilt dann als tragfähig, „wenn die gegenwärtig und die auf der Grundlage des geltenden Rechts fortgeschriebenen und zukünftig erzielten staatlichen Einnahmen ausreichen, um sämtliche staatliche Zahlungs- und andere Ausgabenverpflichtungen abzudecken“ (SVR 2003: 438ff.). Einfluß hierauf haben neben demographischen Faktoren, der Erwerbstätigkeit und dem Wirtschaftswachstum vor allem die Steuerpolitik, die Ausgabendynamik, das Zinsniveau und der Schuldenstand. Je nachdem, wie sich diese Parameter verändern, ergeben sich für die öffentlichen Finanzen ganz unterschiedliche Entwicklungsszenarien.12 Die sensibelste Rolle spielen dabei der Schuldenstand und das Zinsniveau. Dies stellt sich jedoch unter den Bedingungen einer wachsenden Wirtschaft sichtlich anders dar als in einer stagnierenden oder gar schrumpfenden Volkswirtschaft. Tabelle 2: Nettokreditaufnahme der Gebietskörperschaften und Sondervermögen 1991–2005 (in Mrd. €) 1991 1995 2000 2001 Bund 22,7 22,9 1,8 -14,9 Sondervermögen 19,1 0,6 2,7 0 Länder West 9,5 15,1 8,2 23,4 Länder Ost 2,5 6,9 2,5 3,1 Gemeinden W. 3,3 2,0 0,7 2,5 Gemeinden Ost 4,4 2,3 0,1 0,1 Quelle: Dt. Bundesbank, diverse Monatsberichte 2002 24,3 0,1 22,6 5,0 2,6 -0,2 2003 42,3 -0,4 27,2 4,3 6,6 0,3 Tabelle 3: Verschuldung der öffentlichen Haushalte 1991–2005 (in Mrd. €) Öff. Haushalte Bund Länder West Länder Ost Gemeinden W. Gemeinden O. ERP-Vermögen FDE 1991 600,2 299,9 177,6 2,5 67,5 4,4 8,4 25,8 1993 771,6 350,4 201,2 20,6 76,3 12,1 14,5 44,8 1995 1020,5 387,0 226,3 35,4 81,6 18,9 17,5 44,6 1997 1133,0 463,1 258,4 46,1 81,9 19,8 17,2 40,7 1999 1200,0 714,1 274,2 53,2 81,5 20,7 16,0 40,1 2001 1223,9 701,1 305,8 58,8 82,2 17,0 19,2 39,6 Quelle: Dt. Bundesbank, diverse Monatsberichte; eigene Berechnungen 1) Zum 1.1.2005 erfolgte die Mitübernahme der Schulden des Fonds durch den Bund 2004 44,4 -1,6 21,0 3,9 4,8 0,4 2005 35,5 -3,2 19,1 3,3 4,4 0 2003 1358,1 767,7 355,7 68,1 90,9 17,0 19,3 39,1 2005 1488,3 886,3 395,8 75,2 98,3 17,3 15,1 0,01 Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung In einer wachsenden Wirtschaft ist ein steigender Schuldenstand grundsätzlich kein Problem. Die Zunahme der Staatsschuld unterliegt hier aber insofern einer Beschränkung, als die Schulden auf Dauer nicht schneller wachsen dürfen, als die Wirtschaftsleistung zunimmt. Die Grenze der Verschuldung hängt vom Zuwachs des BIP und vom Zinsniveau ab. Solange sich die jährliche Neuverschuldung aus dem Zuwachs des BIP finanzieren läßt, ist die Schuld tragbar und die Grenze der Verschuldung noch nicht erreicht. Die Bedingung dafür lautet: dD = D/Y x dY/Y; wobei dD den differentiellen Zuwachs der Verschuldung bezeichnet, D/Y die Schulden(stands)quote und dY/Y die Wachstumsrate des BIP.13 Da die Bruttokreditaufnahme des Staates die laufende Schuldentilgung einschließt, wächst der Schuldenberg in dem Umfange, in dem die Kreditaufnahme die Kredittilgung übersteigt.14 Das Maß des Schuldenwachstums ist also die jährliche Nettokreditaufnahme (vgl. Tabelle 2). Läge diese bei Null, so würde der Schuldenberg nicht weiter wachsen, und es wären nur die Zinszahlungen zu leisten. Hierbei handelt es sich jedoch um echte Aufwendungen, so daß ein Ponzi-Spiel15 wie bei der Kredittilgung als seriöse Finanzierungsmethode ausscheidet. Unter der Prämisse der Tragfähigkeit besteht zwischen Wirtschaftswachstum und Zins ein Zusammenhang dergestalt, daß bei ausgeglichenem Primärbudget, also einem Primärdefizit von Null, die Wachstumsrate mindestens gleich der Zinsrate sein muß, damit die Schuld sich selbst trägt und die Schuldenquote konstant bleibt. Bei einem Primärbudgetüberschuß gilt, daß die Zinsrate durchaus über der Wachstumsrate liegen kann; bei einem Primärbudgetdefizit dagegen muß sie darunter liegen (Blankart 2003: 370f.). Darüber hinaus bewirken Inflationseffekte, daß sich die bestehende Schuld real vermindert und mit der Ausdehnung der Geldmenge zudem ein Kreditschöpfungsgewinn anfällt, welcher zur Verringerung der Nettoneuverschuldung eingesetzt werden kann. Außerdem konnte der Staat in den zurückliegenden Jahren nicht unerheblich von dem niedrigen Zinsniveau profitieren. Lag die Emissionsrendite öffentlicher Anleihen 1991 noch bei 8,5%, so verringerte 55 sich diese bis auf aktuell 3,5%. Fällige Schulden mit einer hohen Verzinsung konnten so im Zeitablauf durch niedrig verzinste Titel ersetzt werden. Dieser positive Refinanzierungseffekt hatte zur Folge, daß sich die Zinsausgaben des Bundes (einschließlich der Zuschüsse für nicht integrierte Sondervermögen) in den letzten zwölf Jahren nicht erhöht haben und die Zinslastquote seit 1999 um mehr als zwei Prozentpunkte, auf 14,5% in 2006, gesunken ist (BMF 2006/4: 101). Dies berücksichtigend, läßt sich resümieren: Normal für eine wachsende Wirtschaft ist eine Zunahme der Staatsschuld bei konstanter Schuldenquote und eine Finanzierung der Zinszahlungen aus dem jährlichen Zuwachs des BIP. Dies würde zugleich dem Kriterium der Nachhaltigkeit entsprechen und die Stabilität der Staatsfinanzen in der Zukunft sichern.16 Die Bedingungen ändern sich jedoch grundlegend, wenn, wie derzeit in den ostdeutschen Bundesländern, über längere Zeit statt Wachstum Stagnation herrscht und statt Inflation relative Preisniveaustabilität. Hinzu kommt eine Prekarisierung der Haushalte, wenn den Ländern künftig weniger Einnahmen zur Verfügung stehen, die Ausgaben aber nicht in gleichem Umfang reduzierbar sind (Kostenremanenzeffekt), was steigende Finanzierungsdefizite zur Folge hat. Unter diesen Bedingungen führt selbst eine niedrige Anfangsverschuldung, wie sie 1990 gegeben war, zu einem exponentiell wachsenden Schuldenstand mit deutlich steigenden Zinsquoten (vgl. Tabellen 4 und 5). Hier finanziert sich die Schuld nicht mehr selbst, wie im Falle einer wachsenden Wirtschaft, sondern muß aus den laufenden Einnahmen bedient werden. Zudem lastet die wachsende Schuld immer schwerer auf dem Budget. Sofern dieses im Primärbereich keinen Überschuß aufweist, bleibt nur die Kürzung der Investitionen und der laufenden Ausgaben für Personal und Konsum sowie die Umverteilung dieser Mittel für den Schuldendienst, oder der Weg einer kumulativen Neuverschuldung, wobei die Zinsausgaben vollständig über neue Kredite finanziert werden. Beides aber ist auf Dauer nicht tragbar. 56 Ulrich Busch Tabelle 4: Zins-Ausgaben-Quoten (Zinslastquoten) 1991–2005 1991 1993 Bund 10,3 11,6 Länder West 7,4 7,4 Länder Ost 0,2 1,8 Gemeinden W 3,7 3,8 Gemeinden O 0,4 1,5 Öff. Gesamthaushalt 7,9 9,1 Quelle: BMF 1999; 2001; 2004 1995 10,7 7,6 3,4 3,6 2,5 10,7 1997 12,1 8,0 5,1 3,7 3,2 11,0 1999 16,6 8,1 6,0 3,5 3,4 11,7 2001 15,5 8,0 6,5 3,5 3,5 11,0 2003 14,4 8,5 7,5 3,5 3,5 10,6 1997 16,1 10,8 12,1 11,4 25,4 16,5 1999 21,4 10,8 13,1 9,3 21,5 15,4 2001 19,4 11,0 14,5 9,0 21,0 15,0 2003 19,2 } } 2005 15,3 8,5 3,5 11,0 Tabelle 5: Zins-Steuer-Quoten 1991–2005 1991 Bund 12,5 Länder West 11,0 Länder Ost 0,8 Gemeinden W 11,3 Gemeinden O 7,9 Öff. Gesamthaushalt 11,6 Quelle: BMF 1999; 2001; 2004 1993 12,9 10,8 7,3 12,1 19,5 13,5 1995 13,6 10,6 8,2 12,3 20,5 15,8 Expansion der Verschuldung durch die deutsche Einheit In den zurückliegenden Jahrzehnten hat sich die Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland sichtlich erhöht. Lag ihr Umfang 1985 noch bei 431,0 Mrd. €, so waren es 1992 schon 742,4 Mrd. € und 2000 bereits 1.211,5 Mrd. €. Ende 2005 betrug die Gesamtverschuldung der Gebietskörperschaften 1.488,3 Mrd. € (Bundesbank 2006/4: 55).17 In der Literatur wird dieser „sprunghafte“ Anstieg der Verschuldung häufig mit der deutschen Vereinigung erklärt (Kitterer 1993: 71; Cezanne 1996: 95). Zumeist bleibt dabei jedoch ausgeblendet, daß mit der Wiedervereinigung eine Gebietsstandsveränderung verbunden war und daß sich die größere Staatsschuld nun auf ein größeres Staatsgebiet und eine um 16,6 Millionen gewachsene Bevölkerung bezieht. Da die Staatsverschuldung der DDR (110,8 Mrd. €), pro Kopf gerechnet, geringer war als die der Bundesrepublik, bedeutete der Beitritt zunächst keinen Anstieg der Verschuldung. Die Schuldenquote ging folgerichtig 1990 sogar leicht zurück. Gleichwohl kam es aber im Verlauf des Einigungsprozesses zu einem deutlichen Anstieg der Staatsschuld. Dieser re- } } 11,2 10,7 14,8 } } 2005 20,5 12,0 10,0 15,0 sultierte aber weniger aus dem Beitritt der neuen Länder und deren finanzieller „Erblast“ (173,8 Mrd. €) als aus der Vereinigungspolitik und der wirtschaftlichen Entwicklung Ostdeutschlands nach 1990 (vgl. Busch 2002: 231ff.). Da Steuererhöhungen als kontraproduktiv angesehen wurden und Einsparungen sowie Umschichtungen im Haushalt kaum durchzusetzen waren, wurde die Kreditaufnahme zum Hauptfinanzierungsinstrument der deutschen Einheit. Dabei bediente man sich auf Bundesebene vorzugsweise eigens dafür geschaffener Sondervermögen wie des Fonds „Deutsche Einheit“, des Kreditabwicklungsfonds, des Erblastentilgungsfonds usw. Trotz gestiegener Steuereinnahmen infolge der guten Konjunktur betrug die Nettokreditaufnahme des Bundes einschließlich der Sondervermögen 1991 bereits 41,8 Mrd. €. Diese Politik einer rasanten Verschuldung wurde in den Folgejahren fortgesetzt und auf die Haushalte der Länder und Kommunen ausgedehnt (vgl. Tabelle 2). 1997 schätzte die Bundesbank ein, daß von der Zunahme der Verschuldung der Gebietskörperschaften seit 1989 im Umfange von rund 600 Mrd. € „mehr als die Hälfte“ auf die Wiedervereinigung zurückzuführen sei (Dt. Bundesbank 1997: 19). Dies entspräche Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung etwa 28% der Gesamtschulden. Da zu diesem Zeitpunkt die Erfassung der vereinigungsbedingten Altschulden nahezu abgeschlossen war, erhöhte sich diese Quote in den Folgejahren nicht weiter, sondern nähert sich allmählich dem Anteil der ostdeutschen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung an18, womit das Argument, die Wiedervereinigung sei die entscheidende Ursache für den Anstieg der Staatsverschuldung, zumindest teilweise entkräftet wäre. Dieses Argument überzeugt aber auch deshalb nicht, weil sich die Staatsverschuldung seit 1990 in vielen Ländern erhöht hat und sich in Europa die Schuldenquoten durchaus parallel entwickeln (vgl. Tabelle 8). Die anderen Länder hatten aber keine Wiedervereinigung zu finanzieren, so daß für die Ausweitung der Staatsverschuldung offensichtlich (noch) andere Faktoren, politische und ökonomische, ausschlaggebend sind. Die neuen Bundesländer und Gemeinden Um die aktuelle Lage der ostdeutschen Bundesländer und Gemeinden zu verstehen, ist es hilfreich, sich die Grundzüge der Finanzpolitik seit 1990 vor Augen zu führen: Die neuen Länder (und Gemeinden) erhielten – gemäß den Verträgen zur deutschen Einheit (StVertr: Art. 28 und EVertr: Art. 7) – zunächst übergangsweise (bis 1994) Zuweisungen aus dem Fonds „Deutsche Einheit“, insgesamt 82,2 Mrd. €. Dies war weniger, als vergleichbare westdeut- 57 sche Länder aus dem Länderfinanzausgleich erhielten, aber erheblich mehr, als die neuen Länder selbst an Steuern einnahmen. Es begann eine rege Bau- und Investitionstätigkeit, so daß die Ausgaben schon bald die Einnahmen überstiegen. Frühzeitig zeichnete sich ab, daß die Finanzierungsdefizite in Kürze einen Umfang erreichen würden, der – pro Kopf gerechnet – „alle bisher in den alten Ländern bekannten Dimensionen sprengt“ (Vesper 1992: 22). Anfangs sollten die Defizite durch Zahlungen aus dem Fonds „Deutsche Einheit“ gedeckt werden, ab 1995 durch Leistungen aus dem Länderfinanzausgleich und Sonderbedarfsergänzungszuweisungen des Bundes (BEZ). Daneben bot sich eine Finanzierung über Kredite an, wovon die Länder – getrieben von dem Argument, ihr Verschuldungspotential sei noch nicht ausgeschöpft – regen Gebrauch machten. Dabei ist zu beachten, daß die ostdeutschen Länder (außer Berlin) 1990 mit einem Schuldenstand von Null starteten, der Spielraum für eine Kreditfinanzierung also vergleichsweise groß war. Getragen von der Hoffnung, der Aufbau Ost würde rasch zu einem selbsttragenden Aufschwung führen und die Steuereinnahmen daraufhin steigen, war die Finanzpolitik der ersten Jahre durch eine extreme Ausgaben- und Schuldenexpansion gekennzeichnet: Innerhalb von nur drei Jahren verzehnfachte sich die Verschuldung der neuen Länder und überstieg schon bald das westdeutsche Niveau. Nicht viel anders war es bei den Gemeinden (vgl. Tabelle 2 und 3). Da das „zweite deutsche Wirtschafts- Abbildung 1: Schuldenstandsquoten der Bundesländer (2005) in % 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Schuldenstand Durchschnitt BY BW HE SN HH NW NI RP SH SL BB TH MV ST HB BE Quelle: Senatsverwaltung 2006: 25, Abkürzungen siehe Abb. 2 und 3, S. 63 58 wunder“ ausblieb und der Aufbau Ost sein Ziel, im Beitrittsgebiet einen selbsttragenden Aufschwung zu generieren, weitgehend verfehlte (Busch 2005), geriet die eingeschlagene Finanzstrategie zum Desaster. Besonders schwer wiegt dabei, daß sich ein Teil der über Kredite finanzierten Vorhaben als Fehlinvestition erwies, also die Wachstumseffekte, die man sich davon versprochen hatte, nicht eintraten. So lasten die Finanzierungskosten für Gewerbegebiete, Freizeitparks und Infrastrukturanlagen auf den Ländern und Kommunen, ohne daß ein entsprechender Nutzen in Form steigender Einnahmen wirksam geworden wäre. 1995 betrug der Schuldenstand der ostdeutschen Länder 35,4 Mrd. €, die ZinsSteuer-Quote lag bei 8,2%. Die Schulden der Kommunen erreichten mit 18,9 Mrd. € hier bereits ihren historischen Höchststand. Die Zins-Steuer-Quote betrug 1996 erstaunliche 26,7%. Teilweise überstiegen die Zins- und Tilgungsverpflichtungen die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Gebietskörperschaften: Die erste Finanzkrise zog herauf. Mit dem Föderalen Konsolidierungsprogramm (FKPG) und dem ersten Solidarpakt (1995–2004) wurde die Finanzausstattung der neuen Länder und Kommunen 1995 auf eine neue Basis gestellt. Grundlage dafür waren (a) die vertikale Umsatzsteuerverteilung; (b) die horizontale Umsatzsteuerverteilung, der sog. Umsatzsteuervorwegausgleich; (c) der Länderfinanzausgleich; (d) die Bundesergänzungszuweisungen (Fehlbetrags-BEZ, Sonderbedarfs-BEZ und BEZ für Kosten politischer Führung); und (e) die Investitionszulagen gemäß Investitionsfördergesetz (IfG). Insgesamt flossen den neuen Ländern im Rahmen des Solidarpakts I rund 153 Mrd. € zu. Im Jahr 2000 waren dies 45,4% der Gesamteinnahmen (Busch 2002: 189f.). Die originäre Steuerbasis der ostdeutschen Länder und Kommunen aber blieb weiterhin gering; sie erreicht nur gut ein Drittel der westdeutschen Werte. Mit den Maßnahmen des FKPG wurde dem „Stocken“ des Aufbau Ost und der Finanzkrise der ostdeutschen Gebietskörperschaften Rechnung getragen. In der Folge verbesserte sich die Situation der Länder und wurde der Schuldenaufbau bei den Kommunen gestoppt. Ulrich Busch Als problematisch erwies sich jedoch, daß die Konsolidierung ausschließlich über eine Ausgabenkürzung erfolgte und der Rotstift vor allem bei den öffentlichen Investitionen angesetzt wurde (Vesper 2004a: 373). Dadurch verringerten sich die Chancen der Länder, durch eine wirtschaftliche Belebung in der Zukunft mehr Steuern einzunehmen und damit selbst zu einer Konsolidierung ihrer Finanzen beizutragen. Nicht viel anders sah dies bei den Kommunen aus. Auch hier waren die Haushalte bis Mitte der 1990er Jahre hoch defizitär. Vor allem, weil der infrastrukturelle Nachholbedarf zu einem erheblichen Teil über Kredite finanziert worden war. Nach dem Stopp des Ausgabenanstiegs 1995 begann ein radikaler Konsolidierungsprozeß. Gleichzeitig wurden die Gemeinden bei der Sozialhilfe und durch die Einführung der Pflegeversicherung entlastet. Auch trug die Belebung im Verarbeitenden Gewerbe zu einer relativen Erholung bei, da die Steuerneinnahmen stiegen (Vesper 2004b: 42f.). Diese positive Entwicklung fand jedoch infolge der Steuerpolitik der rot-grünen Koalition bald ein Ende: Trotz moderater Ausgaben stiegen die Defizite seit 2001 wieder an. Gleichzeitig sanken die Investitionen auf einen historischen Tiefstand. Ausschlaggebend für diese zweite Finanzkrise waren neben steigenden Sozialhilfeausgaben infolge zunehmender Langzeitarbeitslosigkeit für die Kommunen vor allem die enormen Einbußen bei den Steuereinnahmen, teils als Folge der wirtschaftlichen Stagnation, teils als Folge der Steuerpolitik. Mit der Reform des Länderfinanzausgleichs und dem Solidarpakt II (2005–2019) wurde die Weiterführung der finanziellen Unterstützung der ostdeutschen Länder beschlossen; zunächst in gleicher Höhe wie in den Vorjahren, von 2009 an aber degressiv fallend, so daß ab 2020 kein Geld mehr fließt. Insgesamt umfaßt der Solidarpakt II 156 Mrd. €, im Jahresdurchschnitt also rund ein Drittel weniger Mittel als der Solidarpakt I. Da der Pakt keine Anpassung an die Inflation vorsieht, ist der reale Umfang noch einmal merklich geringer (Ragnitz 2004). Die hierin zum Ausdruck kommende Mittelreduzierung muß, um richtig gewürdigt werden Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung zu können, als Ausdruck eines wirtschaftspolitischen Strategiewechsels interpretiert werden: Seit Ende der 1990er Jahre, nachdem das Scheitern des Aufbau Ost offensichtlich geworden war, wird im Osten keine Strategie des aktiven Aufbaus und Aufholens mehr verfolgt, sondern eine Strategie der passiven Sanierung (Priewe 2001; Memorandum 2002: 146f.; 2006: 167f.). Ostdeutschland wurde in großen Teilen als aktives Integrationsgebiet aufgegeben und dient seither vor allem als Absatzmarkt, Arbeitskräftereservoir und Experimentierfeld für Sozialabbau und Niedriglöhne. Die Arbeitsmarktprobleme sollen sich durch den demographischen Wandel und die Abwanderung „überschüssiger“ Arbeitskräfte von selbst lösen. In diesem Zusammenhang ist auch die heftig kritisierte, letztlich aber nicht unterbundene Zweckentfremdung der Mittel des Aufbau Ost zu sehen: Die ursprünglich für Investitionen gedachten Mittel werden von den Ländern und Kommunen teilweise zur Verhinderung von Haushaltsnotlagen eingesetzt und damit zweckentfremdet verwendet. Dies hat zur Folge, daß sich die Lage der ostdeutschen Länder nicht verbessert: Trotz Ausgabenbeschränkungen steigen die Finanzierungsdefizite und droht die Verschuldung zu eskalieren. Sofern nicht umgehend Gegenmaßnahmen ergriffen werden, steuern die ostdeutschen Länder auf einen „Haushaltsnotlagenflächenbrand zu, der die Eigenständigkeit dieser Länder gefährdet und Gesamtdeutschland an die Grenzen der Belastbarkeit des Solidaritätsgedankens treiben wird“ (Seitz 2005: 27). Es liegt auf der Hand, daß die geplante Reduzierung der Transferzahlungen, verbunden mit einer restriktiven Ausgaben- und einer das öffentliche Vermögen der Länder und Kommunen definitiv vermindernden Privatisierungspolitik, die ökonomische und fiskalische Lage der ostdeutschen Länder nicht verbessern wird. Daß diese sich in den nächsten Jahren aber drastisch verschlechtern wird, ist zudem demographisch bedingt: Der Rückgang der Bevölkerung seit 1989 um mehr als 12% und bis 2020 um weitere 12–14% hinterläßt in den Haushalten der neuen Länder erhebliche Löcher. Wirtschaft und Gesellschaft müssen sich von Wachstum 59 auf „Schrumpfung“ umstellen. Dieser Prozeß ist mit Strukturverschiebungen größten Ausmaßes verbunden: So sinkt die Zahl der Erwerbsfähigen fast doppelt so schnell wie die der Einwohner. Dementsprechend wächst der Anteil der nicht (mehr) Erwerbstätigen, der Rentner und Bedürftigen. Aber das BIP stagniert ebenso wie die Steuereinnahmen, während die Zahlungen aus dem Länderfinanzausgleich und dem EU-Strukturfonds zurückgehen. Während den ostdeutschen Ländern heute noch Einnahmen in Höhe von 143% des westdeutschen Niveaus zustehen, werden es künftig weniger als 100% sein. Da sich die Ausgaben aber nicht in gleichem Umfange verringern, sondern sie teilweise sogar noch ansteigen – man spricht hier von einem Kostenremanenzeffekt (Ragnitz 2005: 73ff.) – kommt es beinahe zwangsläufig zu einem Anstieg der Finanzierungsdefizite und einem weiteren Anwachsen der Verschuldung. Diese Entwicklung führt irgendwann notwendigerweise zum Kollaps. Ein Vergleich der Pro-Kopf-Verschuldung der Länder unterstreicht dies: 2005 betrug diese im Durchschnitt aller Flächenländer 5.660 €. Während ein Großteil der westdeutschen Länder diese Größe aber unterschreitet (Bayern: 1.852 €, Baden-Württemberg: 3.685 €, Hessen: 4.962 €), liegen alle ostdeutschen Länder bis auf Sachsen signifikant darüber: Sachsen-Anhalt: 7.747 €, Brandenburg: 6.636 €, Thüringen: 6.418 €, Mecklenburg-Vorpommern: 6.290 € (Seitz 2006b: 22). Von den Stadtstaaten weist Bremen die höchsten Schulden je Einwohner auf, dicht gefolgt von Berlin. Fazit: Im Osten sind die Schulden höher, die Wirtschaftsleistung und damit die Fähigkeit zum Schuldendienst und zur Konsolidierung aber ist deutlich geringer (vgl. Abb. 1). Damit stellt sich das Problem hier wesentlich schärfer als im übrigen Bundesgebiet. Die öffentlichen Haushalte Ostdeutschlands stehen gleich mehrfach unter Druck: Erstens wächst die Wirtschaft im Osten kaum, mittelfristig höchstens um ein Prozent pro Jahr, so daß die Steuereinnahmen der öffentlichen Haushalte kaum steigen und der Anteil des Schuldendienstes am Budget tendenziell zunimmt. 60 Ulrich Busch Zweitens schrumpft die Bevölkerung, und mehr noch die Zahl der Erwerbstätigen, wodurch sich die Schulden pro Kopf automatisch erhöhen, die Zuführungen im Rahmen des Finanzausgleichs und die Steuereinnahmen aber sinken. Drittens führen die Steuersenkungspolitik des Staates, die Rückführung der Staatsquote und der Wettbewerbsföderalismus der Bundesländer dazu, daß die Einnahmen der Gebietskörperschaften tendenziell zurückgehen. Zudem sehen der Solidarpakt II und der EU-Vertrag eine schrittweise Senkung der Zahlungen vor, was für die Länder bis 2020 ein Einnahmeminus von mindestens einem Drittel bedeutet. Viertens engen steigende Zins- und Tilgungszahlungen den finanzpolitischen Spielraum der Länder und Kommunen zunehmend ein, was eine Begrenzung der Kreditaufnahme (Neuverschuldung) erforderlich macht. 2003 betrug die Zins-Ausgaben-Quote der ostdeutschen Länder 7,5%, die der Gemeinden 3,5%. Damit ist die Tragfähigkeit der Finanzen zwar noch gegeben, die Belastungsgrenze aber bereits evident. Die Konsequenz lautet, daß für die meisten Länder in den nächsten Jahren eher ein strikter Konsolidierungskurs angesagt ist als eine expansive Finanzpolitik. Auf das Instrument der Staatsverschuldung muß deshalb aber nicht gänzlich verzichtet werden. Worauf es ankommt, ist das richtige Maß, das die Nachhaltigkeit der Finanzpolitik und die Tragfähigkeit der Verschuldung langfristig sichert. Berlin – „die Spitze von’s Janze“ Die Entwicklung der Verschuldung Berlins stellt Tabelle 6: Kreditfinanzierungsquoten Neue Länder und Berlin 1991–2003 in % BB MV SN ST TH BE Alle Länder 1991 18,6 9,4 12,7 11,0 8,9 9,2 7,4 1993 24,0 16,3 11,5 18,3 17,0 13,9 8,7 1995 15,4 14,9 7,7 16,6 8,9 13,8 7,9 1997 8,9 10,4 4,6 14,7 10,4 13,0 8,5 1999 6,8 6,5 1,6 8,7 9,5 9,9 4,8 2001 5,7 4,7 1,3 6,9 7,8 21,7 8,2 2003 10,8 11,3 2,3 8,1 7,7 19,7 9,1 Quelle: BMF (2004), Tabellen und Übersichten: 30 Tabelle 7: Verschuldung der neuen Länder 2004 Verschuldung absolut in Mill. € Pro-Kopf-Verschuldung in € 1a 1b 1c 2a 2b 2c BB 18.806 16.968 1.838 7.372 6.656 716 MV 12.673 10.283 2.391 7.329 5.944 1.385 SN 17.036 11.843 5.194 3.954 2.748 1.206 ST 21.387 18.006 3.381 8.492 7.145 1.347 TH 16.959 14.060 2.900 7.158 5.932 1.226 1a Gebietskörperschaften insgesamt (ohne Zweckverbände) 1b Land 1c Gemeinden / Gemeindeverbände 2a Pro-Kopf-Verschuldung insgesamt 2b Pro-Kopf-Verschuldung Land 2c Pro-Kopf-Verschuldung Gemeinden Quelle: Landesrechnungshof Sachsen-Anhalt 2004: 9 Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung alle anderen Bundesländer in den Schatten, die ostdeutschen ebenso wie die westdeutschen. Mit einer Schuldensumme von 58,6 Mrd. € (2005), einer Pro-Kopf-Verschuldung von 17.275 € und einer Schuldenquote von 73,0% rangiert die deutsche Hauptstadt weit über dem Bundesdurchschnitt (Senatsverwaltung 2006: 21). Im Unterschied zu den anderen ostdeutschen Ländern startete Berlin 1990 nicht mit einem Schuldenstand von Null, sondern mit den in Berlin-West seit 1948 aufgehäuften Schulden. 1990 betrug der Schuldenstand 6,4 Mrd. €, was pro Kopf (2.993 €) in etwa dem Niveau der westdeutschen Flächenländer entsprach, aber weniger war als in Bremen, Hamburg und dem Saarland. Seitdem hat sich dieser Wert jedoch beinahe verzehnfacht und ist damit weit schneller angestiegen als die Durchschnittsverschuldung der Bundesländer (vgl. Abb. 1). Der Entwicklungsverlauf der Verschuldung Berlins seit der Wiedervereinigung ist imposant: Bis 1990 lagen die Pro-Kopf-Ausgaben in Berlin-West über denen der westdeutschen Bundesländer, die Verschuldung aber war geringer, was auf eine komfortable Finanzausstattung des „Schaufensters des Westens“ schließen läßt. Dies ermöglichte die Aufrechterhaltung einer atypischen Wirtschaftsstruktur und den Unterhalt einer großzügig subventionierten Bildungs- und Kulturlandschaft. Analoges galt für Berlin-Ost, das als Hauptstadt der DDR nicht weniger privilegiert war. Als sich die Situation nach 1990 radikal veränderte, die Wirtschaft kollabierte und die Finanzhilfen zurückgeführt wurden, erhöhten sich die jährliche Nettokreditaufnahme und damit der Schuldenstand rasant. Da die Wirtschaft nicht mitwuchs, stiegen die Schuldenquote und die Zinslastquote sprunghaft an, bis zur Gefahr der Überschuldung. Dabei entstand der größte Teil der Schulden zwischen 1991 und 1994, als Berlin davon träumte, zu einer europäischen Metropole aufzusteigen und Zentrum eines „zweiten deutschen Wirtschaftswunders“ zu werden. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in anderen ostdeutschen Ländern. In der Pro-Kopf-Verschuldung übertreffen diese die westdeutschen Flächenländer seit 1998. Im gleichen Jahr überholte Berlin Hamburg. 61 Seitdem ist Berlin neben Bremen hier unangefochtener Spitzenreiter. Seit Jahren bewegt sich die Verschuldung Berlins auf „Haushaltsnotlagenniveau“ (Seitz 2003). Ob es sich dabei aber um eine „extreme“ Haushaltsnotlage handelt, was einen Anspruch auf Sanierungshilfen des Bundes bedeuten würde, ist strittig. Ausschlaggebend hierfür ist die Beurteilung der Höhe der Kreditfinanzierung und der Zinsverpflichtungen in Relation zu den Ausgaben bzw. Steuereinnahmen des Landes. So liegt die Zins-Steuer-Quote mit 21,1% zwar erheblich über dem Länderdurchschnitt (11,5%), aber immer noch unter dem Niveau Bremens und des Saarlandes zu Anfang der 1990er Jahre. Dagegen übertrifft die Kreditfinanzierungsquote bereits seit 1993 die Werte aller anderen Länder. Zudem verstößt Berlin seit Jahren gegen die verfassungsrechtlichen Regeln für die Nettokreditaufnahme bei der Finanzierung des Budgets (vgl. Seitz 2006c: 25ff.). Die Erklärung für diese desaströse Entwicklung ist zunächst im Fiskalischen, im Verhältnis der Einnahmen zu den Ausgaben, zu suchen. Seit Mitte der 1990er Jahre stagnieren die Steuereinnahmen Berlins bei ca. 8,1 Mrd. €, während die Einnahmen aus Bundeshilfen und dem Länderfinanzausgleich drastisch zurückgeführt wurden, von 7,4 Mrd. € (1991) auf 5,2 Mrd. € (2006). Letztere bilden heute noch etwa 30% der bereinigten Gesamteinnahmen Berlins, werden mit dem Abbau der Mittel des Solidarpakts II in den nächsten Jahren aber weiter zurückgehen, so daß der Konsolidierungsdruck wächst. Demgegenüber belaufen sich die Ausgaben derzeit auf 20,2 Mrd. €. Sie sind seit Mitte der 90er Jahre kaum mehr gestiegen. Berlin hat als einziges Bundesland seine konsumtiven Primärausgaben sogar gesenkt, seit 1995 um 4,5%, während diese bei den anderen Ländern um durchschnittlich 11% gestiegen sind. So konnte das Defizit des Primärhaushalts (Einnahmen und Ausgaben ohne Schuldendienst) kontinuierlich verringert werden: 1995 betrug es 5,1 Mrd. €, 2001 3,8 Mrd. €, zuletzt nur noch 0,9 Mrd. €. Für 2007 wird ein ausgeglichener Primärhaushalt angestrebt (Senatsverwaltung 2006: 10, 13). Was jedoch kontinuierlich angestiegen ist und auch weiterhin steigen wird, sind die Zins- 62 zahlungen. 1991 betrugen die Zinsausgaben Berlins 537 Mio €, 1999 waren es 1.915 Mio €, 2005 2.396 Mio €; 2009 werden es knapp 3.000 Mio € sein (ebd.: 26). Parallel dazu erhöhte sich die Zins-Steuer-Quote, also der Anteil der Zinszahlungen an den Steuereinnahmen. Derzeit liegt diese fast doppelt so hoch wie in den anderen Bundesländern und mehr als 50% über dem Niveau der neuen Länder (Abb. 2). Am 05.11.2002 stellte der Senat von Berlin fest, daß sich das Land „seit längerem in einer extremen Haushaltsnotlage befindet, aus der es sich aus eigener Kraft nicht befreien kann“ (ebd.: 20). Aus dieser Feststellung ergibt sich gem. Art. 107, Abs. 2 GG ein Anspruch auf Haushaltssanierungshilfen des Bundes, wie sie Bremen und das Saarland seit 1994 erhalten. Bedingung dafür ist jedoch, daß das Land durch entsprechende Konsolidierungsmaßnahmen das Primärdefizit vollständig abbaut und einen Primärüberschuß erwirtschaftet. Wie der Entwicklungsverlauf seit Mitte der 1990er Jahre zeigt, reichen die normalen Mechanismen des Länderfinanzausgleichs und der Bundesergänzungszuweisungen nicht aus, um Berlin vor einem weiteren Schuldenanstieg zu bewahren. Selbst die für 2007 angestrebte Erwirtschaftung eines Primärüberschusses wird nicht verhindern, daß das Land immer tiefer in die „Schuldenfalle“ gerät. Die dafür vorgelegten Prognosen sind erschreckend: Bis 2030 soll sich der Schuldenstand verdoppeln und dann je Einwohner mehr als das Fünffache des Länderdurchschnitts betragen (Färber 2006: 97f.). Eine partielle Entschuldung durch den Bund könnte hier Abhilfe schaffen, weshalb Berlin 2003 einen Normenkontrollantrag beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eingereicht hat. Das Verfahren dauert derzeit noch an.19 Die Entscheidung hierüber, wie immer diese auch ausfällt, wird Modellcharakter besitzen, denn wie anhand der vorliegenden Daten zu ersehen ist, stehen andere Länder vor einer ähnlichen Situation. Die Rückführung der SonderbedarfsBEZ ab 2009 wird diesen Prozeß zusätzlich beschleunigen, denn die wirtschaftliche Lage und Perspektive der neuen Länder bietet kaum Anhaltspunkte dafür, daß die Einnahmeausfälle durch zusätzliche Steuereinnahmen ausgeglichen werden könnten. Hinzu kommt, daß Ulrich Busch eine Konsolidierungspolitik auf Länderebene primär auf der Ausgabenseite ansetzen muß, da die Länder auf der Einnahmenseite kaum Spielräume dafür besitzen. Einsparungen bei den Ausgaben haben jedoch zur Folge, wie zuletzt in Berlin evident geworden, daß letztlich auch die Einnahmen sinken und sich mithin die Gesamtsituation keineswegs verbessert. So hat Berlin seit 1991 rund 37% aller Stellen im unmittelbaren Landesdienst gestrichen. Die Primärausgaben je Einwohner wurden seit 1995 um 10,8% verringert. Die Sachinvestitionen für Bauten und Ausrüstungen lagen 2003 nur noch bei einem Drittel jener, die Mitte der 1990er Jahre getätigt worden sind. Mehr kann man kaum sparen! Das alles nützt aber nur wenig, da sich im gleichen Zeitraum die Steuereinnahmen kaum erhöht haben (8,1 Mrd. € 2005 gegenüber 8,0 Mrd. € 1995), die Einnahmen aus Bundeshilfen und dem Länderfinanzausgleich aber gesunken sind. Dafür steigen (ungewollt) bestimmte Ausgaben im Sozialbereich und haben sich die Zinsausgaben kräftig erhöht, seit 1991 auf das Fünffache. Mithin vergrößerte sich der Finanzierungssaldo und erhöhte sich die jährliche Nettokreditaufnahme. Die Folge ist ein stetiger Anstieg der Verschuldung – absolut, aber auch relativ, wie die Entwicklung der Schuldenquote (2005: 73,0%) zeigt. Die in diesem Zusammenhang zuletzt vom rot-roten Senat praktizierten Maßnahmen gleichen einem Verzweiflungsakt, der „aus den Notverordnungen Brünings abgeschrieben sein könnte“ (Heine 2004: 17): Nachdem sich die Investitionen kaum mehr absenken lassen, die Reduzierung des Personals an ihre Grenzen stößt und die Privatisierung landeseigener Einrichtungen keine nennenswerten Einnahmeeffekte mehr bringt, versucht der Senat die „notwendigen“ Mitteleinsparungen über Lohn- und Gehaltskürzungen zu erreichen. Die Folge ist eine weitere Drehung der Abwärtsspirale, aber nicht eine Befreiung aus der Schuldenfalle! Der eigentliche Grund für die fiskalische Misere Berlins ist ökonomischer Natur: Berlin ist eine wirtschaftsschwache Metropole, der es politisch nicht gelungen ist, den Übergang von einer hochsubventionierten Sonderzone und veralteten Industriestadt zu einer modernen Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung 63 Abbildung 2: Zins-Steuer-Quoten der Länder in % (2005) 25 20 15 10 5 0 BY BW SN HE NW RP MV NI TH SH BB HH SL ST BE HB Quelle: Senatsverwaltung 2006: 27 Abbildung 3: Schulden der Länder je Einwohner Ende 2005 in € BY: BW: SN: HE: NW: RP: MV: NI: TH: SH: BB: HH: SL: ST: BE: HB: HH HB BE BY SN BW HE NI Bayern Baden-Württemberg Sachsen Hessen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen Thüringen Schleswig-Holstein Brandenburg Hamburg Saarland Sachsen-Anhalt Berlin Bremen Pro-Kopf-Schulden NW RP MV TH BB SH SL ST 0 5.000 10.000 Quelle: BMF 2006/4; Seitz 2006b: 22 15.000 20.000 64 Dienstleistungsmetropole zu vollziehen. Die Wirtschaftsleistung je Einwohner beträgt in Berlin kaum die Hälfte derjenigen Hamburgs und nur ein Drittel derjenigen Münchens. Der Anteil der Beschäftigten liegt in allen Bereichen außer im öffentlichen Sektor deutlich unter dem Durchschnitt anderer Großstädte. Hinzu kommt, daß Berlin relativ gering in überregionale Wirtschaftskreisläufe eingebunden ist und die Wirtschaftskontakte mit dem Brandenburger Umland unterentwickelt sind. Zudem fehlte es Berlin bislang an einem realistischen visionären Leitbild für die Zukunft.20 Da die Finanzkrise die Handlungsmöglichkeiten Berlins bereits jetzt stark einschränkt, ist zu befürchten, daß die anstehende weitere Konsolidierung des Haushalts die Zukunft der Stadt und der Region als Wirtschaftsstandort ernsthaft gefährdet (vgl. DIW 2002), so daß die prekäre Finanzlage nicht nur fortbestehen, sondern sich sogar noch weiter verschärfen wird. Sachsen-Anhalt in der Schuldenfalle Die krasseste Problemlage unter den neuen Bundesländern weist Sachsen-Anhalt auf. Hier kreuzen sich schwierige demographische und strukturelle Probleme mit schwerwiegenden wirtschaftlichen Fehlentwicklungen. Das Ergebnis ist heute eine beinahe ausweglose finanzielle Situation und eine absehbare Finanzkrise in der nahen Zukunft. Die Einwohnerzahl Sachsen-Anhalts verringerte sich zwischen 1990 und 2004 überproportional, um 13,2%. Bis 2020 wird ein weiterer Rückgang von 17,6% erwartet. Von einst rund drei Millionen Einwohnern hat das Land dann nur noch zwei Millionen. Aber selbst auf diesem Niveau ist nicht mit einer Stabilisierung zu rechnen: Bis 2050 wird die Bevölkerungszahl auf 1,4 Millionen fallen, was gegenüber 1990 mehr als eine Halbierung bedeutet und gegenüber 1950 einen Rückgang um fast zwei Drittel. Ursache dafür ist neben der niedrigen Geburtenrate vor allem die anhaltende Abwanderung junger Menschen, die in der Region für sich keine hinreichende Lebensperspektive mehr sehen. Betroffen sind hiervon alle Landkreise und Städte, auch die Ulrich Busch größeren Zentren wie Halle (-48,5%), Magdeburg21 (-46,4%) und Dessau (-58,4%)22. Mit dem Rückgang der Einwohnerzahl verändert sich die Altersstruktur der Bevölkerung: Der Anteil der Jugendlichen sinkt und der Anteil der Älteren erhöht sich. Konsequenzen dieser Entwicklung sind der dramatische Rückgang des Erwerbstätigenpotentials, der Kaufkraft und der Nachfrage, mit entsprechenden Folgen für Produktion und Beschäftigung, wodurch sich die Abwärtsspirale verstärkt. Einst geprägt durch große Industrieansiedlungen, vor allem im Maschinenbau, in der Chemie- und der Lebensmittelindustrie, wurde das Land nach 1990 einem radikalen Deindustrialisierungsprozeß und wirtschaftlichen Umbau unterworfen. Als Ergebnis dieses Um- und Restrukturierungsprozesses entstand eine Dependenz- und Transferökonomie, gekennzeichnet durch eine klein- und kleinstbetriebliche Unternehmensstruktur mit schmaler Forschungsbasis und geringer überregionaler Marktpräsenz. Es fehlt an leistungsstarken Groß- und Mittelbetrieben, an „industriellen Kernen“, innovativen Forschungseinrichtungen, „Leuchttürmen“ und Produktionsclustern. Trotz Wirtschaftsförderung und externer Investitionen stagniert die Wirtschaft SachsenAnhalts seit 1995: Das BIP-Wachstum betrug im Jahresdurchschnitt kaum1%. 2000–2005 lag das Wachstum insgesamt bei 4,6% und damit unter den Werten für Sachsen und Thüringen (Arbeitskreis VGR 2006). Die Prognosen für die nächsten Jahre geben wenig Hoffnung auf eine durchgreifende Besserung der Lage. Beide Prozesse, der demographische und der wirtschaftliche, sind für den aktuellen Zustand und die Perspektiven der öffentlichen Finanzen von eminenter Bedeutung. So decken die originären Steuereinnahmen derzeit kaum 40% der Ausgaben, und selbst bei Berücksichtigung aller Umverteilungsvorgänge und Zahlungen des Bundes ist das Land nicht in der Lage, seine Ausgaben zu finanzieren, so daß regelmäßig ein Defizit verbleibt. Die Nettokreditaufnahme resp. Nettoneuverschuldung betrug 2004 1,3 Mrd. €; 2005 1,1 Mrd. €. Kumuliert ergibt sich aktuell für das Land ein Schuldenstand von 19,4 Mrd. €. Pro Kopf gerechnet sind das 7.684 €, womit Sachsen-Anhalt die Rangliste aller Flä- Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung chenländer anführt – und das seit Jahren. 2004 betrugen die Zinsausgaben dafür 852 Mio €, 2006 werden es 989 Mio € sein, rund 22% der Steuereinnahmen. Kurzfristig läßt sich damit leben, langfristig aber wird der hiervon ausgehende finanzielle Druck für die öffentlichen Haushalte auf Grund sinkender Einnahmen immer größer, wodurch der Handlungsspielraum der Politik unverhältnismäßig stark eingeengt wird (Landesrechnungshof 2004: 6f.). Prognosen zufolge werden in den nächsten Jahren sowohl die Zahlungen der Europäischen Union als auch die Bundeszuweisungen zurückgehen; letztere mit dem Auslaufen des Solidarpakts II (2019) bis auf das Niveau der alten Länder, wodurch Sachsen-Anhalt, da die Ausgaben nicht in gleichem Maße reduzierbar sind, unweigerlich in eine „Finanzklemme“ gerät. Die erste und naheliegende Reaktion darauf wäre eine höhere Neuverschuldung. Dafür aber gibt es ökonomische Grenzen, wie sie in der Zinslast-Quote und Zins-Steuer-Quote zum Ausdruck kommen – und die sind hier fast erreicht. Was in einigen alten Ländern und in Sachsen noch möglich wäre, eine zusätzliche Kreditaufnahme, scheidet in Sachsen-Anhalt aus. Aber selbst eine Beibehaltung des jetzigen Kurses führt zwangsläufig „zur Zahlungsunfähigkeit“ (Bullerjahn/Erben 2005: 8) – wenn nicht heute, so doch morgen oder übermorgen. Es bleibt daher nur der Weg, dem demographischen und wirtschaftlichen Schrumpfungsprozeß finanzpolitisch durch einen Konsolidierungskurs zu entsprechen bzw. zu begegnen. Ob hierfür jedoch der Weg einer „echten Konsolidierung“ – das heißt, des vollständigen Verzichts auf neue Kredite und der allmählichen Tilgung der Schuld – gangbar ist, bleibt zu bezweifeln. Realistischer scheint eine vorsichtige Zurückführung der Kreditaufnahme, kombiniert mit einer partiellen Entschuldung des Landes durch den Bund und einem Solidarpakt III zur Finanzierung eines Investitionsprogramms, um die Produktionsbasis zu stärken und die Steuereinnahmen langfristig zu verbessern. Gelingt dies nicht, so steuert Sachsen-Anhalt unaufhaltsam auf eine extreme Haushaltsnotlage zu, wie bereits das Saarland, Bremen und Berlin, wofür der Bund und die anderen Länder dann einzustehen 65 hätten. Dies hätte jedoch unabsehbare Folgen für die föderale Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und für die Existenz Sachsen-Anhalts als eigenständigem Bundesland. Schluß und Ausblick Die Analyse der Staatsfinanzen der Bundesrepublik Deutschland dokumentiert für die zurückliegenden Jahrzehnte einen signifikanten Anstieg der jährlichen Nettokreditaufnahme und des Schuldenstandes. Parallel dazu verändert sich die Gläubigerposition, indem insbesondere die privaten Geldvermögen und die Forderungen des Auslands hier signifikante Zuwächse verzeichnen.23 Die zuerst genannte Größe signalisiert eine Zunahme des privaten Reichtums bei Haushalten und Unternehmen als Kehrseite der staatlichen Verschuldung. Die zweite Größe ist Ausdruck der zunehmenden globalen Finanzverflechtung und wird durch Forderungen inländischer Gläubiger gegenüber dem Ausland mehr als kompensiert, so daß netto für Deutschland keine Verschuldung besteht. Auch zeigt ein internationaler Vergleich, daß die Staatsverschuldung Deutschlands in Relation zur jährlichen Wertschöpfung bisher keineswegs dramatische Ausmaße besitzt. Mit einer Schuldenquote von 68,6% (2005) liegt Deutschland hier eher im Mittelfeld (vgl. Tabelle 8). Weil es für die Staatsverschuldung kein theoretisch hinreichend bestimmtes und exakt quantifizierbares Maß gibt, dieses vielmehr nur im Hinblick auf wirtschaftspolitische Ziele formuliert werden kann, und auch dann nur relativ, weil von der wirtschaftlichen Leistung und Dynamik, dem Zinsniveau, der Steuerkraft u.a.m. abhängend, sind weder die undifferenzierte „Verteufelung“ jeglichen Schuldenmachens noch der allseits anzutreffende Konsolidierungsfanatismus wirklich zu begreifen. Es sei denn, diese lassen sich politisch interpretieren: als probates Mittel zur Beschneidung der Staatsaktivität und zum Rückbau des Sozialstaates. Dann jedoch wären sie weniger ökonomisch denn ideologisch motiviert und folglich mit finanzwissenschaftlichen Argumenten kaum zu widerlegen! 66 Ulrich Busch Im Kontext eines anderen Paradigmas, etwa der keynesianischen nachfrageinduzierten Erklärung konjunktureller Dynamik, erscheinen öffentliche Kreditaufnahme (deficit spending) und Staatsverschuldung mithin weniger besorgniserregend und insgesamt ungleich positiver bewertet als im gegenwärtigen Mainstream. Aber auch unter solcherart veränderten Prämissen gilt die Tragfähigkeit der Verschuldung als Grenze für dieselbe, wenn auch als eine sehr elastische, und ist die Nachhaltigkeit der Finanzpolitik eine unerläßliche Bedingung für ökonomische Stabilität. Dabei ist die Verschuldungsgrenze desto höher anzusetzen, je höher die Wachstumsrate des BIP, je niedriger das reale Zinsniveau und je geringer das primäre Defizit der öffentlichen Haushalte sind. Erstere Größe gilt als nachfrageinduziert und daher partiell abhängig von der Kreditaufnahme des Staates. Das Zinsniveau ist marktbestimmt bzw. wird von der Europäischen Zentralbank vorgegeben. Dies gilt faktisch auch für die Inflationsrate. Der Primärhaushalt hingegen bildet eine abhängige Variabel. Er wird durch die Steuerpolitik und die Ausgabengestaltung bestimmt, liegt also in der Hand des Staates, wobei Bund, Länder und Gemeinden hier über sehr unterschiedliche Spielräume verfügen. Bisher ist, bezogen auf den Gesamthaushalt der Bundesrepublik Deutschland, noch keine wirklich dramatische Situation entstanden. Die im Anstieg der Zins-Steuer-Quote insbesondere des Bundes auszumachende Zuspitzung der Lage in den letzten fünf Jahren ist vor allem der Steuerpolitik der Regierung anzulasten und insofern hausgemacht und korrigierbar. Mittelfristig muß die Fiskalpolitik jedoch stärker den veränderten Wachstumsbedingungen und dem demographischen Wandel Rechnung tragen, um auch in Zukunft noch tragfähig zu sein. Da künftig weniger Zuwächse als Kürzungen und Belastungen zur Verteilung anstehen, bedeutet dies für die Finanzpolitik eine nicht einfach zu bewältigende Herausforderung. Die größten Probleme entstehen dabei auf Länderebene, wo sich die Lage differenzierter und problematischer darstellt als auf der Ebene des Bundes. Insbesondere in Ostdeutschland, wo sich die Rahmenbedingungen durch den Bevölkerungsrückgang und die wirtschaftliche Stagnation, aber auch durch die Rückführung der Finanzzuweisungen des Bundes und der Europäischen Union rapide verschlechtern, kommt es schon bald zu finanziellen Engpässen, Krisen und Notlagen. Einige Länder sind hiervon stärker betroffen als andere, besonders prekär ist die Lage in Berlin und in Sachsen-Anhalt, nicht weniger problematisch aber auch in Brandenburg, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern. Da diese Länder sich zudem in der Vergangenheit überproportional verschuldet haben, stecken sie heute in einer Schuldenklemme. Mittelfristig steuern alle ostdeutschen Bundesländer außer Sachsen Tabelle 8: Schuldenstandsquoten von 1980 bis 2006 im internationalen Vergleich (in %) Deutschland Euro-Zone EU 15 EU 25 Belgien Griechenland Frankreich Italien Niederlande Österreich GB USA Japan 1980 31,2 33,9 74,1 25,0 20,8 58,2 44,0 35,4 53,2 45,7 55,0 1990 42,3 57,3 125,7 79,6 35,3 97,2 73,7 56,1 34,0 67,2 68,6 Quelle: BMF 2006/4: 110; EU-Kommission 2000 59,9 70,1 63,9 62,7 109,3 114,0 57,2 111,4 54,4 66,7 41,9 58,6 134,0 2005 68,6 71,7 65,1 64,1 94,9 107,9 66,5 108,6 54,0 64,3 43,1 66,6 161,9 2006 70,0 71,7 65,2 64,2 91,9 106,8 67,1 108,3 54,2 64,2 44,3 69,0 165,2 Über Wohl und Wehe der Staatsverschuldung auf eine Haushaltsnotlage zu. In einigen Fällen wird selbst der finanzielle Bankrott nicht auszuschließen sein, sofern sich die wirtschaftlichen und finanziellen Bedingungen in den nächsten Jahren nicht grundlegend verbessern oder der Bund und die finanziell besser dastehenden Länder nicht einspringen und im Rahmen des föderalen Finanzverbunds solidarische Hilfe leisten. Anmerkungen 1 2 3 4 5 Diese Aussage korrespondiert mit moralphilosophischen Überlegungen von John Rawls zum „gerechten Sparprinzip“. Danach sei die jetzige Generation nicht dazu verpflichtet, „die Ansprüche späterer Generationen zu respektieren“, so daß die Kurve der realen Ersparnisse langfristig durchaus „auf Null fallen“ kann (2003: 245f.). So meint Michael Grömling, daß „kreditfinanzierte Ausgabenprogramme dem Staat zwar zunächst zusätzliche Gestaltungsoptionen verschaffen, diese sich jedoch im Zeitablauf wegen der anteilig steigenden Zinsausgaben in ihr Gegenteil“ verkehrten, woraus die Gefahr einer „Überschuldung“ und „dauerhaften Tragfähigkeitslücke“ erwachse. Hieraus leitet er „eine grundsätzliche Kritik an einer kreditfinanzierten Stabilisierungspolitik“ ab (2005: 46f.). Für die Bundesrepublik Deutschland ist generell geregelt: „Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.“ (Art. 115, Abs. 1 GG) Für die Länder gelten analoge Regelungen in den jeweiligen Landesverfassungen. „Mit der Keynesianischen Theorie gewann die Idee an Boden, Konjunkturschwankungen seien kein unvermeidbares Schicksal und könnten durch staatliche Maßnahmen gemildert oder gar behoben werden. [...] Die Keynesianische Empfehlung lautete demnach, über eine vernünftige Handhabung des Budgets (lies: durch Inkaufnahme zeitweiliger Defizite und Überschüsse) den Entwicklungspfad der Volkswirtschaft zu stabilisieren und dadurch den schwerwiegenden Problemen der Arbeitslosigkeit und Inflation zu begegnen.“ (Felderer/Homburg 1989: 179ff.) So ist die Staatsverschuldung früherer Zeiten, in der Antike oder im Mittelalter, wo eine Kreditaufnahme bloß temporär, zum Beispiel im Krieg, und komplementär zur Schatzbildung erfolgte, nicht vergleichbar mit der dauerhaften Verschuldung moderner Staaten. Freilich gab es Ausnahmen; so z.B. die römischen Kaiser seit Augustus, die italienischen Stadtstaaten und einige deutsche Fürsten im ausgehenden Mittelalter, wo die Staatsschuld bereits zu einer regelmäßigen Einrichtung geworden war. Am Ende stand hier jedoch immer die Rückzahlung oder der Staatsbankrott. In den bürgerlichen Staaten des 18. und 19. Jahrhunderts galt ein ausgeglichener Haushalt als Prinzip. Defizite waren 67 nur in Kriegs- und Notzeiten erlaubt (Kaemmel 1966: 90ff., 323ff.; Diehl/Mompert 1923; Gaettens 1957). 6 Eine weitere Möglichkeit der Defizitfinanzierung stellt die Geldschöpfung der Zentralbank dar: durch die Finanzierung von Staatsausgaben „über die Notenpresse“, also die Emission zusätzlichen Zentralbankgeldes, oder über die Auflösung von Rücklagen öffentlicher Stellen bei der Notenbank. In den meisten Ländern jedoch, so auch in Deutschland, sind dieser Form der Finanzierung des Staates durch die Verfassung sowie durch die Notenbankgesetzgebung sehr enge Grenzen gesetzt. 7 Es gibt eine kaum zu überblickende Fülle an Literatur, die sich mit derartigen Prognosen und Prophezeiungen befaßt. So sieht zum Beispiel Paul C. Martin in der Zunahme der Staatsverschuldung ein unwiderlegbares Indiz für einen baldigen Crash, für das Heraufziehen des Staatsbankrotts, ja, für „das Ende“ der Welt (Martin/Lüftl 1984: 15). Ähnlich argumentieren Günther Moewes (2004), Helmut Creutz (1995) und Bernd Senf (1996). 8 Grundlage hierfür ist die Einteilung der Volkswirtschaft in vier Sektoren: private Haushalte, Unternehmen, Staat und Ausland. Diese Sektoren verzeichnen in unterschiedlichem Maße Finanzierungsüberschüsse bzw. -defizite, die sich saldenmechanisch ausgleichen. Da in letzter Zeit neben den privaten Haushalten auch der Unternehmenssektor Finanzierungsüberschüsse verzeichnet, also netto Vermögen bildet, ist der Staat gezwungen, stärker als Kreditnehmer aufzutreten. Täte er dies nicht in gebotenem Umfange, käme es zu einer tiefen Rezession mit unabsehbaren Folgen für die Gesamtwirtschaft (vgl. Dt. Bundesbank 2005a; Memorandum 2006: 65f.) 9 Anders verhält sich dies bei einer Verschuldung im Ausland. Von der Tatsache, daß Schuldtitel von ausländischen Gläubigern gehalten werden und der Anteil ausländischer Gläubiger an den öffentlichen Schulden bei 47,4% (2005) liegt, ist jedoch nicht auf eine externe Verschuldung zu schließen. Insbesondere dann nicht, wenn Inländer in hohem Maße selbst Gläubiger gegenüber dem Ausland sind, wie im Falle Deutschlands: Die Auslandsforderungen des deutschen Bankensystems betragen 2.600 Mrd. €, die Verbindlichkeiten des Staates gegenüber dem Ausland 705,4 Mrd. €. (Dt. Bundesbank 2005b: 13; 2006/4: 57*). Mithin bezieht Deutschland auch mehr Vermögens- und Kapitaleinkünfte aus dem Ausland, als es dorthin leistet (FAZ vom 13.01.2006). 10 „Lange Zeit wiegten sich die Bürger in der Illusion, der Staat könne durch Schuldenmachen Wohlstand schaffen. Dankbar erfreuten sie sich an vielfältigen Formen staatlicher Hilfe und Betreuung, an schmukken Parkanlagen und plätschernden Springbrunnen. Zugleich verzeichneten sie mit Wohlgefallen, wie ihre Sparkonten immer runder, ihre Rücklagen immer stattlicher wurden. Dabei merkten sie nicht, daß sie viele jener öffentlichen Leistungen just mit diesen ihren privaten Ersparnissen finanzierten.“ (Miegel 1996) 11 Dies wußte bereits Ferdinando Galiani, der berühmte Abbé, als er in seiner Schrift Della moneta – libri cinque (1751) scharfsinnig bemerkte, daß die Tilgung der Staatsschulden, sofern das Geld dafür „ausschließlich 68 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 Ulrich Busch durch neue Steuern oder neue Anleihen aufgebracht werden kann“ und „die Sache damit wieder zum Ausgang zurückkommt“, auch unterbleiben könne. Denn, „wenn der Staat eine Staatsanleihe mit neuem Geld von genau demjenigen zurückzahlt, der das zurückzuzahlende Darlehen ursprünglich gegeben hat, so könne er das Darlehen ebensogut überhaupt nicht zurückzahlen.“ Im übrigen „sind sein Vermögen [...] die Beiträge der Bürger, die der Fürst [Staat – U.B.] zu deren eigenem Wohl ausgibt; sobald er also von den Bürgern geliehenes Geld ausgibt, hat er es damit bereits an diese zurückgegeben.“ (Tabarelli 1999: 398f.) Vgl. hierzu die Sensibilitätsanalysen des ifo-Instituts München für den Bericht zur Tragfähigkeit öffentlicher Finanzen (BMF 2005: 23ff.). Auffällig ist dabei die außerordentliche Variabilität der Situation, insbesondere der Tragfähigkeitslücken, sofern einzelne Parameter (Erwerbsbeteiligung, Produktivität, Lebenserwartung, Zinsniveau usw.) sich ändern. Eine mathematische Herleitung dafür findet sich in der Literatur; vgl. zum Beispiel Kitterer 2006: 81f. So betrug zum Beispiel die Bruttokreditaufnahme des Bundes im Jahr 2005 (Soll) 199,6 Mrd. €. Davon dienten 80,2% der Tilgung laufender Kredite und 19,8% (39,5 Mrd. €) der Neuverschuldung, wodurch sich die Gesamtschuld entsprechend erhöhte (vgl. BMF 2005/1: 91). Unter einem Ponzi-Spiel versteht man ein Schneeballsystem, benannt nach dem amerikanischen Finanzjongleur Charles Ponzi, wobei fällige Zahlungen jeweils aus neuen Verbindlichkeiten beglichen werden, so daß die Gesamtschuld ständig wächst. In der Literatur wird daher diejenige Defizitquote als „nachhaltig“ definiert, die eingehalten werden muß, um die Schuldenquote stabil zu halten. Im Falle eines nominalen Wirtschaftswachstums von 5% und eines gewünschten Schuldenstandes in Höhe von 60% des BIP läge diese bei 3%, was den Maastricht-Kriterien entspricht (Kitterer 2006: 53f.). In diesen Zahlen widerspiegelt sich nur die explizite Staatsverschuldung. Zusätzlich läßt sich eine implizite Verschuldung (Rentenversicherungs- und Pensionszusagen u.ä.) ermitteln, welche 2002 rund 270% des BIP entsprochen hat. Zusammen ergibt sich so eine Gesamtverschuldung des Staates von 7.100 Mrd. € bzw. 330% des BIP (SVR 2003: 276). Gegen eine derartige Aufrechnung gibt es ernsthafte Einwände (vgl. Müller 2006: 252f.), so daß sie hier ausgeklammert wird. 2003 betrug der Anteil der ostdeutschen Länder (ohne Berlin) an der Gesamtverschuldung der Bundesländer 12,9%. Der Bevölkerungsanteil lag bei 16,4%. Demgegenüber ist der Anteil „Ost“ im Budget des Bundes etwas höher zu veranschlagen, so daß die Quote insgesamt vielleicht 18%, auf keinen Fall aber mehr als 20%, beträgt. Ein Urteil wurde vom BVerfG für August 2006 in Aussicht gestellt. Seit 2006 gibt es das Leitbild: „Metropolregion BerlinBrandenburg“. Für Magdeburg, die Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt, bedeutet diese Entwicklung den größten Bevölkerungsverlust seit 1631, als die Stadt von den Truppen Tillys erobert und eingeäschert worden war. Der Wiederaufbau- und Vitalisierungsprozeß dauerte viele Jahrzehnte: 1900 betrug die Einwohnerzahl 229.667; 1939: 326.000; 1981: 287.362; 1989: 288.355; 1999 waren es 235.073; 2002: 228.170. 2020 wird die Einwohnerzahl unter 200.000 fallen, auf 197.258; 2050 auf 150.499. Gegenüber 1989 ist dies ein Rückgang um 48%. 22 Bevölkerungsprognose für 2050 gegenüber Ist 1990 (Bullerjahn 2004: 31). 23 Ende 2003 belief sich das Bruttogeldvermögen der privaten Haushalte in Deutschland auf 3.922 Mrd. €, wovon 1.306 Mrd. € in Wertpapieren angelegt waren. 1990 waren es 1.585 Mrd. € bzw. 343 Mrd. €. Dies entspricht einer Steigerung um 147,4% bzw. 280,8% (Dt. Bundesbank 1993/10: 22; 2005/6: 54). Dagegen betrugen die Forderungen des Auslands 705,4 Mrd. € (Dt. Bundesbank 2006: 57*). 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Redaktion: Henri Band, Harald Bluhm, Ulrich Busch, Erhard Crome, Scott Gissendanner, Birgit Glock, Wladislaw Hedeler, Wolf-Dietrich Junghanns, Cathleen Kantner, Lutz Kirschner, Rainer Land, Ingrid Oswald, Hartwig Schmidt, Udo Tietz, Jan Wielgohs, Andreas Willisch, Rudolf Woderich; Redaktionelle Mitarbeit: Karsten Malowitz, Thomas Müller; Lektorat: Gudrun Richter; Verantwortlich für dieses Heft: Ulrich Busch (V.i.S.P.) Preise: Einzelheft 10 €, Doppelheft 20 € Copyright für einzelne Beiträge ist bei der Redaktion zu erfragen. E-Mail: [email protected] Internet: www.berlinerdebatte.de Abonnement: Jahresabo 37 € Ausland zuzüglich Porto. Studenten, Rentner und Arbeitslose 20 €, Nachweis beilegen. Ermäßigte Abos bitte nur direkt bei Berliner Debatte Initial per Post oder per Fax bestellen. Einzelhefte werden per Post mit Rechnung verschickt. 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Dr., Finanzwissenschaftler, Technische Universität Berlin Robert Kaltenbrunner, Dr., Dipl.-Ing., Architekt und Stadtplaner, Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Bonn/Berlin Christoph Deutschmann, Prof. Dr., Soziologe, Universität Tübingen Rainer Land, Dr. sc., Sozialwissenschaftler, Thünen-Institut Bollewick Klaus Dräger, Mitarbeiter der Fraktion Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke im Europäischen Parlament Rainer Gries, PD Dr., Historiker, Universität Wien Michael Heine, Prof. Dr., Wirtschaftswissenschaftler, Fachhochschule für Technik und Wirtschaft (FHTW) Berlin Claus Noé, Dr. Staatssekretär a.D., Berlin Norbert Reuter, Dr., Wirtschaftswissenschaftler, Berlin Ausdrucken oder kopieren, ausfüllen, falten und als Postkarte abschicken! Berliner Debatte Initial Bestellung: Ich bestelle ein Abonnement der Berliner Debatte INITIAL ab Heft O O O O Das Abonnement soll für ein Jahr befristet werden. Das Abonnement soll gelten, bis ich es abbestelle. Abbestellung jederzeit. 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