Vortrag: Prädikative Faktoren und klinische Hinweise auf vermehrte Gewaltbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen. Erkennen und Intervenieren im Schulalltag 5.Sonderpädagogischer Tag Erlangen Mittwoch 29. März 2006 2006-03-29 http://www.praxis-dr-albert.com Dr. Roland Albert Folie1 Störungen des Sozialverhaltens gemäß ICD-10 2006-03-29 F 91.0 auf den familiären Rahmen beschränkte Störungen des Sozialverhaltens F 91.1 Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen F 91.2 Störungen des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen F 91.3 Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten F 91.8 Sonstige Störungen des Sozialverhaltens F 91.9 nicht näher bezeichnete Störungen des Sozialverhaltens F 92.0 Störungen des Sozialverhaltens mit depressiver Störung F 92.8 Sonstige kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen F 92.9 nicht näher bezeichnete, kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen Vortrag „Prädikative Faktoren“ Dr. Roland Albert Folie 2 Zweidimensionales Modell für Störungen des Sozialverhaltens (in Orientierung an Frick u.a. 1993) Eigentumsverletzungen destruktiv Stehlen Zerstören Brandstiftung Aggression Schlägereien Hänseln Grausamkeit verdeckt offen Regelverstöße Schwänzen Drogenmißbrauch Normverletzungen 2006-03-29 Vortrag „Prädikative Faktoren“ Widersprechen Aufsässigkeit Verweigerung nicht-destruktiv oppositionell Dr. Roland Albert Folie 3 Entwicklungsmodell für Störungen des Sozialverhaltens (in Orientierung an Loeber 1990) Geburt Vorschulalter Schwieriges Temperament Hyperaktivität offene Aggression/ oppositionelles-aufsässiges Verhalten defizitäre Sozialbeziehungen Lernstörungen verdeckte Störungen des Sozialverhaltens Jugendalter Aufnahme in Gruppe dissozialer Jugendlicher Delinquenz frühes Erwachsenenalter 2006-03-29 Vortrag „Prädikative Faktoren“ antisoziale Persönlichkeit/ Kriminalität Dr. Roland Albert Folie 4 Ursachenmodell für Störungen des Sozialverhaltens (nach Steinhausen 2002) Makrosystem - Gesellschaft und Kultur Exosystem - soziale Umwelt Mikrosystem - Familie Störungen des Sozialverhaltens Situationsfaktoren - Kontext - Anreiz - Auslöser Individuum - Persönlichkeit - Temperament - biologische Faktoren 2006-03-29 Vortrag „Prädikative Faktoren“ Dr. Roland Albert Folie 5 Risiko- und Schutzfaktoren im Zusammenhang mit Störungen des Sozialverhaltens (nach Steinhausen 2002) Schutzfaktoren Risikofaktoren Individuum 2006-03-29 Familie Soziale Umwelt Gesellschaft Genetische, neurophysiologische und neurochemische Faktoren Prä- und perinatale Risikofaktoren Schwieriges Temperament Männliches Geschlecht Belastende Lebensereignisse Zeuge von Gewalt Drogenmissbrauch Lernstörungen Niedriges Selbstbewusstsein Disharmonie der Partner Trennung/Scheidung Vernachlässigung/Misshandlung Dysfunktionale Erziehung Mangelnde Problemlösungsfertigkeiten und Kommunikation Psychische Störungen, speziell Alkohol- und Drogenmissbrauch Kriminalität einschließlich Duldung von Delinquenz Ökonomische Belastung Familiengröße/ dichte Geburtenfolge Wohndichte und –qualität Mangel an sozialen Diensten Soziale Desintegration Schlechte Schulen/ niedriges Bildungsangebot Dissoziale Freunde/ Jugendbanden Hohe Kriminalitätsbelastung Verfügbarkeit von Drogen Ökonomische Strukturveränderungen Arbeitslosigkeit Armut Reduzierte Sozialhaushalte Ghettoisierung Unkritische Gewaltdarstellung in den elektronischen Medien Kulturelle Begünstigung von Gewalt Autonomie Soziale Kompetenz Problemlösungsfertigkeiten Reflexivität/ Impulskontrolle Anpassungsfähigkeit Selbstwert Intelligenz Sensibilität/ Empathie Altruismus Höheres Bildungsniveau Stabile Partnerschaft Fürsorge und Unterstützung Emotionale Zuwendung und Disziplin Belastbarkeit und positive Kommunikation Hohe Erwartungen Stabile finanzielle Verhältnisse Familiengröße < 4 Personen Genügend Wohnraum Versorgung und Unterstützung Dichtes Netz sozialer Dienste und Angebote Soziale Integration/ Bürgerbeteiligung Hohe Erwartungen Niedrige Kriminalitätsbelastung, Fehlender Drogenhandel Versorgung und Unterstützung Ökonomische Sicherheit Soziale Integration/ Bürgerbeteiligung Wirksame Sozialpolitik Strikte Gesetzesanwendung Vermittlung von Gewaltlosigkeit (Medien) Vortrag „Prädikative Faktoren“ Dr. Roland Albert Folie 6 Kriterien zur Einschätzung des psychosozialen Risikos (nach Esser u.a. 1994) 1. Niedriges Bildungsniveau der Eltern (keine abgeschlossene Berufsausbildung) 2. Beengte Wohnverhältnisse keine Risikobelastung: Risikoindex = 0 leichte Risikobelastung: Risikoindex = 1 od. 2 schwere Risikobelastung: Risikoindex > 2 (>1,0 Personen/Raum bzw.< 50 qm Gesamtwohnfläche) 3. Psychische Störungen der Eltern (gemäß gesicherter Diagnose) 4. Kriminalität/Herkunft aus zerrütteten familiären Verhältnissen (aus Anamnese der Eltern) 5. Eheliche Disharmonie (häufiger und langanhaltender Streit, Trennung, emotionale Kühle) 6. Frühe Elternschaft (Alter<18 Jahre bei Geburt bzw. Dauer der Partnerschaft <6 Monate bei Konzeption) 7. Ein-Eltern-Familie (bei Geburt des Kindes) 8. Unerwünschte Schwangerschaft (von Seiten der Mutter und/oder des Vaters) 9. Mangelnde soziale Integration und Unterstützung (wenig soziale Kontakte und wenig Hilfe bei der Betreuung des Kindes) 10. Ausgeprägte chronische Schwierigkeiten (mit einer Dauer von mehr als einem Jahr, wie z.B. Arbeitslosigkeit, chronische Krankheit) 11. Mangelnde Bewältigungsfähigkeiten (im Umgang mit den Lebensereignissen des letzten Jahres wie z.B. Verleugnung, Rückzug, Resignation, Dramatisierung) 2006-03-29 Vortrag „Prädikative Faktoren“ Dr. Roland Albert Folie 7 Protektive Faktoren (nach Laucht u.a. 1997) Personale Ressourcen weibliches Geschlecht (nur in der Kindheit) Erstgeburt positives Temperament (flexibel, aktiv, offen) positives Selbstwertgefühl überdurchschnittliche Intelligenz positives Sozialverhalten mit sozialer Attraktivität Familiäre Ressourcen stabile emotionale Beziehung zu einer Bezugsperson offenes und unterstützendes Erziehungsklima familiäre Kohäsion Modelle positiver Bewältigung Extrafamiliäre soziale Ressourcen soziale Unterstützung positive Freundschaftsbeziehungen positive Schulerfahrungen 2006-03-29 Vortrag „Prädikative Faktoren“ Dr. Roland Albert Folie 8 Ein Modell für die Auslösung von Aggression (modifiziert nach Friedman 1991) Schwelle Aggression Y: Auslöser oder Enthemmer: (z.B. Alkohol, Drogen, Wut, Bande) X: Provokation oder Anreiz: (z.B. Herausforderung, Rivalitäten, Streit, Verlangen nach Besitz, Macht oder Kontrolle) Situationsfaktoren individuelle Faktoren W: Umfeldbedingungen: (z.B. Waffenbesitz, Veränderung der Kontrolle oder Überwachung) V: Mißachtung von Konsequenzen: (z.B. Mißachtung von Entdeckung oder Bestrafung) U: direkte aggressive Verhaltensmodelle: (z.B. in der Familie, unter Gleichaltrigen) T: indirekte aggressive Verhaltensmodelle: (z.B. Figuren in Videos, Comics, Filmen) S: persönliche Lebensgeschichte: (z.B. Opfer von Gewalt, Verstärkung von früherer Aggression und Gewalt) frühes Erwachsenenalter 2006-03-29 Vortrag „Prädikative Faktoren“ R: Persönlichkeitsmerkmale: (z.B. Impulsivität,Risiko-Suchender, Temperament) Q:Q: biologische Faktoren biologische Faktoren Dr. Roland Albert Folie 9 Diagnostik der Störungen des Sozialverhaltens (nach Steinhausen 2002) Blatt 1 Anamnese Eigenanamnese prä- und perinatale Risikofaktoren Entwicklung mit Betonung von Temperament, Bindungsstörungen und hyperkinetische Störungen Misshandlung oder sexueller Missbrauch Krankheiten, speziell mit ZNS-Beteiligung Entwicklung der Symptome Familienanamnese Belastungen, Ressourcen und Bewältigung elterliche Erziehungsfertigkeiten Belastung mit Dissozialität Belastung mit psychischen Störungen, speziell HKS, Lernstörungen, Affektstörungen, Persönlichkeitsstörungen 2006-03-29 Vortrag „Prädikative Faktoren“ Dr. Roland Albert Folie 10 Diagnostik der Störungen des Sozialverhaltens (nach Steinhausen 2002) Blatt 2 Untersuchung Psychopathologie Bindung, Vertrauen und Empathie Impulssteuerung Affektkontrolle Schuld- und Verantwortungsgefühl kognitiver Entwicklungsstand Stimmung, Affekte und Selbstwertgefühl Realitätsprüfung Beziehung zu Gleichaltrigen Drogen inklusive Nikotin und Alkohol Leistungsstörungen in der Schule Körperlich (nach Indikation) chronische innere oder neurologische Krankheiten Seh- und Hörvermögen bildgebende Verfahren (Schädel) Drogenscreening (Urin/Blut) 2006-03-29 Vortrag „Prädikative Faktoren“ Dr. Roland Albert Folie 11 Differentialtherapeutischer Entscheidungsbaum für Störungen des Sozialverhaltens im Kindes- und Jugendalter (modifiziert nach Döpfner 1998) ja Therapie der komorbiden Störung ja Elterntraining und Intervention in der Familie ja Intervention im Kindergarten/ in der Schule ja ProblemlöseTraining ja ImpulskontrollTraining komorbide Störung? nein aggressives Verhalten in der Familie und inkonsistentes Erziehungsverhalten/ mangelnde Wärme nein/ja aggressives Verhalten im Kindergarten/ in der Schule nein/ja Defizite in sozial-kognitiver Problemlösung? nein/ja mangelnde Impulskotrolle? nein/ja mangelnde soziale Fertigkeiten? 2006-03-29 Vortrag „Prädikative Faktoren“ ja soziales Kompetenz-Training Dr. Roland Albert Folie 12 Differentialdiagnose der Störungen des Sozialverhaltens zum ADHS (Quelle: Abikoff und Klein 1992, Frick 1994, Lilienfeld und Waldmann 1990, Loeber et al. 1990) Störungen des Sozialverhaltens ADHS -Kriminalität der Eltern/ antisoziales Verhalten -ADHS der Eltern -Substanzmissbrauch der Eltern -niedriges Ausbildungsniveau -uneffektive elterliche Erziehungspraxis - niedrige Testleistungen in neuropsychologischen Untersuchungen im Hinblick auf die Frontalhirnfunktion - sozioökonomische Benachteiligung - niedrige Impulskontrolle 2006-03-29 Vortrag „Prädikative Faktoren“ Dr. Roland Albert Folie 13 Prädiktoren für die Stabilität der Störung des Sozialverhaltens (Quelle: Frick und Loney 1999) • früher Beginn (vor dem 11. Lebensjahr) von ernstzunehmenden schweren dissozialen Verhaltensweisen • hohe Anzahl und große Variation in den dissozialen Verhaltensweisen • aggressive Verhaltensweisen • Komorbidität mit ADHS • niedrige Intelligenz • Familiengeschichte mit chronischem antisozialem Verhalten oder Kriminalität • Dysfunktionales familäres Umfeld (z.B. mangelnde Aufsicht und Führung) • wirtschaftliche, soziale Benachteiligung 2006-03-29 Vortrag „Prädikative Faktoren“ Dr. Roland Albert Folie 14 Verlauf und Fortschreiten der Störungen des Sozialverhaltens mit Beginn der frühen Kindheit (Quelle: Lahey und Loeber 1994 und Loeber, Green, Lahey, Christ und Frick 1992) oppositionelles Verhalten „Aussetzer“, „Koller“ widersetzt sich Erwachsenen Non-compliance Stimmungsschwankungen Eigensinn argumentiert mit Erwachsenen stellt andere bloß boshaft, gehässig ärgerlich 3 4 5 6 frühe Störungen des Sozialverhaltens lügt körperliche Auseinandersetzungen schikanieren, tyrannisieren „bullying“ Brandstiften Fluchen Tiere quälen Regeln überschreiten 7 8 9 schwere Störungen des Sozialverhaltens Grausamkeiten Stehlen Weglaufen von zu hause Schule schwänzen Einbruch, Diebstahl Raub, Vergewaltigung 10 11 12 Alter 2006-03-29 Vortrag „Prädikative Faktoren“ Dr. Roland Albert Folie 15 Häufigkeit antisozialen Verhaltens Typen der antisozialen Entwicklung nach Moffitt (1993) 80 70 60 50 40 Auf die Adoleszenz beschränkte Antisozialität 30 20 Lebenslang persistente Antisozialität 10 5 2006-03-29 10 Vortrag „Prädikative Faktoren“ 15 20 25 30 35 40 45 Alter Dr. Roland Albert Folie 16 Was ist über typische Täter bekannt? (D.Olweus 1997) - 2006-03-29 Eltern billigen gewalttätiges Verhalten Sie sind den Opfern körperlich überlegen In der Tatsituation stehen sie nicht unter Stress, erleben auch keine Frustration vor dem Geschehen. Nur 20 % waren selbst Mobbingopfer. Es gibt Täter, die Freude dabei erleben, andere zu quälen. Durchschnittliche Intelligenz Noten, leicht unterdurchschnittlich 2-3 Freunde (nicht isoliert) sind kräftiger als der Durchschnitt verfügen über ein langfristiges Training aggressiver Selbstbehauptung auffällig hoher Anteil wurde von den Müttern abgelehnt Vortrag „Prädikative Faktoren“ Dr. Roland Albert Folie 17 Merkmale hochaggressiver Kinder •Verzerrte Selbst- und Fremdwahrnehmung •Massive Angespanntheit/Unruhe •Unangemessene Selbstbehauptung •Mängel im Sozialverhalten (Kooperation, Hilfsverhalten) •Mangel an Selbstkontrolle (Schwierigkeiten bei der Handlungsverzögerung) •Mangel an positivem Einfühlungsvermögen (Empathie) 2006-03-29 Vortrag „Prädikative Faktoren“ Dr. Roland Albert Folie 18 Kategorien der abnormen psychosozialen Bedingungen Häufigkeit - Mangel an Wärme in der Eltern-Kind-Beziehung 47 % - Feindliche Ablehnung, Sündenbockzuweisung gegenüber dem Kind - Körperliche Kindesmisshandlung 9% - Unzureichende elterliche Aufsicht und Steuerung 39 % - Erziehung, die eine unzureichende Erfahrung vermittelt 21 % - Feindliche Ablehnung oder Sündenbockzuweisung durch Lehrer oder Ausbilder - Allgemeine Unruhe in der Schule bzw. Arbeitssituation 2006-03-29 Vortrag „Prädikative Faktoren“ 27 % 18 % 13 % Dr. Roland Albert Folie 19 Breitbandförderungsprogramme zur Entwicklung sozialer Kompetenzen: Es geht in der Arbeit mit aggressiven Jugendlichen darum, ihnen mehr soziale Fähigkeiten zu vermitteln, die sich nach Goldstein in 6 Gruppen unterteilen lassen: 1.Grundlegende soziale Fähigkeiten (z.B. zuhören, eine Frage stellen, „Danke“ sagen, loben) 2. Komplexe soziale Fähigkeiten (z.B. nach dem Warum fragen, um Hilfe bitten, sich beteiligen, sich entschuldigen) 3. Fähigkeiten im Umgang mit Gefühlen (z.B. seine Gefühle ausdrücken, die Gefühle anderer verstehen mit Angst umgehen, sich selbst belohnen) 4. Verhaltensalternativen zur Aggression (z.B. um Erlaubnis fragen, etwas mit anderen teilen, anderen helfen, verhandeln, Selbstkontrolle aufbringen, sich für seine Rechte einsetzen, „nein“ sagen, auf Hänseln reagieren) 5. Fähigkeiten im Umgang mit Stress (z.B. nach einer Wettbewerbsituation miteinander sprechen, ein Angebot abschlagen, auf Überredung reagieren, mit Gruppendruck umgehen können) 6. Vertiefen dieser Fähigkeiten (z.B. mit Langeweile umgehen können, sich ein Ziel setzen, Informationen zusammenstellen, Probleme nach Wichtigkeit ordnen). 2006-03-29 Vortrag „Prädikative Faktoren“ Dr. Roland Albert Folie 20 Kinder- und Jugendpsychiatrie 2006-03-29 Vortrag „Prädikative Faktoren“ Dr. Roland Albert Folie 21