Diagnostische Bedeutung frei zirkulierender Nukleinsäuren

Werbung
M E D I Z I N
Editorial
Diagnostische Bedeutung frei
zirkulierender Nukleinsäuren
Uwe Reinhold1, Claus H. Schröder2
D
ie Existenz von freien Nukleinsäuren im menschlichen Plasma wurde 1948 von Mandel und
Métais (23) erstmalig beschrieben. Allerdings geriet diese Beobachtung
über viele Jahre hin in Vergessenheit
und wurde erst in den 60er-Jahren
durch den Nachweis von zirkulierender DNA bei Patienten mit systemischem Lupus erythematodes (SLE)
wieder aufgegriffen. In den folgenden
Jahren wurde erkannt, dass freie nicht
zell- oder virusgebundene PlasmaDNA nicht nur bei SLE-Patienten,
sondern auch bei Patienten mit anderen Erkrankungen sowie bei gesunden
Menschen vorkommt (14). In den
70er-Jahren wurde beobachtet, dass
bei Patienten mit malignen Tumoren
tendenziell eine höhere DNA-Konzentration vorliegt als bei Patienten
mit benignen Erkrankungen. Heute
geht man davon aus, dass ein signifikanter Anteil der zirkulierenden
DNA im Serum/Plasma von Patienten
mit malignen Erkrankungen aus Tumorzellen stammt (33).
Tumorerkrankungen
Die Diagnostik des frühen Metastasierungsstadiums ist ein wesentliches
Problem in der Nachsorge von
Tumorpatienten, da insbesondere bei
Patienten in fortgeschrittenen Stadien
der Erkrankung die Prognose durch
eine drohende Fernmetastasierung
drastisch verschlechtert ist. In der Vergangenheit sind daher zahlreiche Laboruntersuchungen für die Verlaufsdiagnostik von Tumorpatienten evaluiert worden. Viele der dabei eingesetzten Serumtests erwiesen sich jedoch als ungeeignet. Nach neueren
Forschungsergebnissen kann aus Serum/Plasma von Tumorpatienten ge-
A 1224
netisches Material extrahiert werden,
das Charakteristika der DNA aus Tumorzellen aufweist (33). Insbesondere
können Mutationen von Onkogenen
und Tumorsuppressorgenen (32),
Gen-Rearrangements (7) und Genamplifikationen, Mikrosatellitenalterationen (24) sowie tumorassoziierte
Hypermethylierungen regulatorischer
Gensequenzen in DNA-Material aus
zellfreiem Serum/Plasma analysiert
werden. Beispielsweise gelang im
Plasma von Patienten mit malignem
Melanom im Stadium der regionären
Metastasierung (Stadium III) der
Nachweis tumorassoziierter Mikrosatelliten-DNA. Eine amerikanische
Studie hat kürzlich gezeigt, dass die
Präsenz solcher Mikrosatelliten-DNA
im Plasma mit einer signifikant erhöhten Rezidivrate und einer verminderten Gesamtüberlebensrate einhergeht
(27). Weiter gelang an Plasma-DNA
von Patienten mit Prostatakarzinomen bei über 70 Prozent der Fälle der
Nachweis einer tumorassoziierten Hypermethylierung spezifischer Gensequenzen. Vergleichbar hohe Anteile
ergaben sich auch bei anderen soliden
Tumoren. Bei einem Großteil der untersuchten Blutproben wurden kritische Mutationen in Bereichen klassischer Onkogene und Tumorsuppressorgene (K-ras, N-ras, p53) gefunden
(1, 3, 25, 26).
Weitere potenzielle Anwendungsgebiete einer extrazellulären Nukleinsäurendiagnostik ergäben sich für
die Transplantationsmedizin über den
Nachweis spenderspezifischer Nukle-
1
Universitäts-Hautklinik und Poliklinik (Direktor: Prof.
Dr. med. Wolfgang Tilgen), Universitätskliniken des
Saarlandes, Homburg/Saar
2 Abteilung Virus-Wirtszell-Wechselwirkungen (Leiter:
Prof. Dr. rer. nat. Claus H. Schröder) Deutsches Krebsforschungszentrum, Heidelberg
insäuren in Serum/Plasma von Organtransplantierten im Verlauf von
akuten und chronischen Abstoßungsreaktionen (22).
Virusassoziierte
Tumorerkrankungen
Bei der Entstehung bestimmter Neoplasien spielen offensichtlich Viren eine zentrale Rolle. Zu diesen Erkrankungen zählt das in Südostasien gehäuft vorkommende Nasopharynxkarzinom, das ätiologisch mit einer Epstein-Barr-Virus-(EBV-)Infektion assoziiert ist. Kürzlich wurde von einer
chinesischen Arbeitsgruppe gezeigt,
dass bei einem Großteil der Patienten
mit Nasopharynxkarzinom im Serum/Plasma freie EBV-DNA zirkuliert (20). Eine hohe Serumkonzentration dieser freien EBV-DNA war
den Untersuchungen nach mit einem
schwereren Krankheitsverlauf assoziiert und erwies sich damit als ein unabhängiger prognostischer Faktor. Kontrollierte Verlaufsstudien zeigten, dass
klinische Vollremissionen mit einer
Elimination der extrazellulären EBVDNA einhergingen und dass ein erneuter Nachweis von zirkulierender
EBV-DNA sehr frühzeitig ein beginnendes Rezidiv anzeigte.
Vergleichbare Resultate wurden
auch bei Patientinnen mit Zervixkarzinomen erzielt. Bei der Entstehung
dieser Tumorentität sind humane Papillomviren (HPV) beteiligt. So kann
bei über 95 Prozent aller invasiven
Zervixkarzinome integrierte HPVDNA im Tumormaterial nachgewiesen werden. Bei einem hohen Prozentsatz der Zervixkarzinomzellen ist dies
HPV-16-DNA. Nach neueren Forschungsergebnissen ist zirkulierende
HPV-DNA bei bis zu 70 Prozent der
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 99½ Heft 18½ 3. Mai 2002
M E D I Z I N
Patientinnen mit Zervixkarzinomen
nachweisbar (5). Die Präsenz von
HPV-DNA im Plasma korrelierte jedoch nicht mit dem Tumorstadium.
Allerdings war in erfolgreich behandelten Fällen mit nachfolgender Vollremission bei vorher HPV-DNA-positiven Fällen anschließend im Plasma
keine HPV-DNA mehr nachweisbar,
während Frührezidive und progrediente Erkrankungsstadien mit erneut
oder persistierend positiven HPVDNA-Befunden einhergingen.
Pränatale Diagnostik
Im Jahre 1997 gelang erstmalig der
Nachweis fetaler DNA im Plasma von
Schwangeren. Im Vergleich zur DNA
aus zirkulierenden Fetalzellen ist die
Menge von fetaler DNA im zellfreien
Plasma/Serum deutlich höher (13, 18,
36). Während im ersten Trimenon der
Anteil zirkulierender Fetalzellen etwa
0,001 Prozent der Blutzellfraktion beträgt, wird in dieser Schwangerschaftsphase bereits circa 3,4 Prozent der zirkulierenden Gesamt-DNA im Plasma
durch fetale DNA repräsentiert. Im
dritten Trimenon steigt dieser Anteil
auf circa 6,2 Prozent an, während der
Anteil fetaler Zellen im Blut der
Schwangeren etwa 0,01 Prozent beträgt.
Es ist davon auszugehen, dass sich,
basierend auf diesen Befunden, ein
neues Anwendungsgebiet für die pränatale DNA-Diagnostik entwickeln
wird (21, 28). Das einfache und
nichtinvasive Verfahren, die DNA aus
maternalem Plasma zu gewinnen, ist
eine attraktive Alternative zu den
bisherigen invasiven Methoden der
DNA-Gewinnung, beispielsweise zur
Amniozentese. Die derzeit am weitesten entwickelte Anwendungsmöglichkeit betrifft die nichtinvasive Bestimmung des fetalen Rhesus-D-Status in maternalem Plasma (38). Weitere potenzielle Anwendungsmöglichkeiten für die pränatale Diagnostik
betreffen die Früherkennung genetischer Erkrankungen, wie bei der myotonen Dystrophie (2) und der Achondroplasie (31) bereits gezeigt werden
konnte. Nach neuen Untersuchungsergebnissen könnte die quantitative
A 1226
Bestimmung des fetalen DNA-Gehaltes im Plasma eventuell auch eine diagnostische Bedeutung bei schwangerschaftsassoziierten Erkrankungen, wie
zum Beispiel der Präeklampsie (12,
16) und bei drohenden Frühgeburten erlangen (17). Im Serum von
Schwangeren mit klinisch manifester
Präeklampsie wurden im Vergleich
zu schwangeren Kontrollpersonen bis
zu fünffach erhöhte Konzentrationen an fetaler DNA beobachtet (19).
Erste Verlaufsstudien haben ergeben,
dass der Anstieg der fetalen DNAKonzentration im Serum zeitlich der
klinischen Manifestation der Präeklampsie vorausgeht und als diagnostischer Parameter bei Risikopatientinnen genutzt werden kann (16).
RNA zellulären und
viralen Ursprungs
Einer makroskopisch nachweisbaren
Fernmetastasierung geht eine zeitlich
variable Phase voraus, in der bereits
Tumorzellen im peripheren Blut vorhanden sind. Die frühzeitige Detektion von Tumorzellen im peripheren
Blut könnte daher bei klinisch tumorfreien Patienten eine beginnende
Fernmetastasierung anzeigen (11).
Die derzeit untersuchten Verfahren
zum Nachweis von zirkulierenden Tumorzellen beruhen im Wesentlichen
auf der Identifizierung tumor- oder
gewebeassoziierter RNA aus Blutzellmaterial.
Beispielsweise gelingt über den
Nachweis von spezifischer mRNA für
Tyrosinase, einem Schlüsselenzym bei
der Melaninsynthese, der Nachweis
von Tumorzellen im peripheren Blut
von Melanompatienten. Verfahren
zum molekulargenetischen Nachweis
von
zirkulierenden
Tumorzellen
konnten allerdings bisher nicht standardisiert werden und sind selbst bei
positiven Reaktionen hinsichtlich ihrer diagnostischen Relevanz umstritten. Erschwerend kommt hinzu, dass
zirkulierende Tumorzellen offensichtlich nur passager und nicht permanent
nachweisbar vorhanden sind (30).
Zellfreie RNA konnte bereits 1972
(14) bei gesunden Individuen, später
auch bei Krebspatienten (37) nachge-
wiesen werden. Neue Perspektiven
zur Fernmetastasierung ergeben sich
aus dem erstmals 1998 geführten
Nachweis von tumorassoziierter extrazellulärer RNA im Serum/Plasma
von Patienten mit malignem Melanom
(9, 15). Diese Beobachtung erschien
zunächst unglaubwürdig, da im Serum/Plasma in hoher Konzentration
RNA-abbauende Enzyme (RNasen)
vorhanden sind. Allerdings gibt es
Hinweise dafür, dass zirkulierende
RNA über assoziierte Moleküle (zum
Beispiel als RNA-Proteolipidkomplexe) vor dem Angriff von SerumRNasen geschützt sein könnten (37).
Eigene Untersuchungen bei Melanompatienten deuten darauf hin,
dass extrazelluläre RNA im Serum innerhalb von Apoptosekörperchen
vorliegt und damit vor einem Angriff
RNA-abbauender Enzyme geschützt
ist (10). Nachfolgende Studien haben
die Präsenz tumorassoziierter RNA
im Serum/Plasma auch bei Patienten
mit anderen Tumorentitäten (Bronchial-, Pankreas-, Mammakarzinom)
bestätigt (4, 6, 8).
Kürzlich wurde die Präsenz fetaler
mRNA
im
Serum/Plasma
von
Schwangeren nachgewiesen (29). Ihre
Identifizierung
erlaubt
daher
grundsätzlich auch eine Analyse der
fetalen beziehungsweise einer aberranten Genexpression.
Die Präsenz zellfreier RNA im Blut
ist auch für die Infektion mit DNA-Viren belegt. Beispiele sind EBV-RNA
bei Patienten mit Nasopharynxkarzinom (20) und HPV-E6-mRNA bei Patientinnen mit Zervixkarzinom (35).
Untersuchungen der Autoren von
RNA des Hepatitis-B-Virus (HBV) in
Gewebe und Blut ermöglichen die Bestimmung verschiedener Stadien der
chronischen Infektion und insbesondere auch der okkulten Infektion (34).
Ein hierfür entwickeltes RT-PCR-Verfahren unterscheidet Transkripte voller Länge von verkürzten Transkripten,
denen ein für die HBV-Replikation essenzieller Bereich fehlt. Eine Studie
mit Gewebeproben von HBV-Trägern
mit hepatozellulärem Karzinom belegte einen zunehmenden Anteil verkürzter RNA-Transkripte mit steigendem Alter der Patienten und mit der
Progression hin zu nichtreplikativen
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 99½ Heft 18½ 3. Mai 2002
M E D I Z I N
Infektionsstadien. Bei der Untersuchung zirkulierender viraler RNA aus
Serum ergab sich ein ähnliches Bild
der Infektionsprogression. Die unterscheidbaren Formen viraler SerumRNA gestatteten somit, im Zusammenwirken mit der konventionellen
Serologie, Infektionsstadien differenzierter als bisher anzusprechen. Ein
diagnostisches Potenzial liegt insbesondere in der Anwendung eines noch
zu etablierenden automatisierten
Nachweisverfahrens auf okkulte Infektionen, die bisher vielfach nur über
Leberbiopsien erfassbar sind.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass im menschlichen Serum/Plasma nachweisbare Mengen an
freien Nukleinsäuren vorliegen, die
potenziell für die nichtinvasive medizinische Diagnostik genutzt werden
können. Über die Herkunft und biochemische Struktur der frei zirkulierenden Nukleinsäuren ist bisher nur
sehr wenig bekannt. Die vorliegenden
Studienergebnisse deuten jedoch an,
dass über den spezifischen Nachweis
freier DNA und RNA neue diagnostische Ansätze entwickelt werden können, deren zukünftige Anwendung in
der Frühdiagnostik, Therapieeffizienzkontrolle und im Patientenmonitoring nach erfolgter Therapie liegen
könnte. Weitere Forschungsanstrengungen zur Etablierung und Optimierung der Methodik und zur Standardisierung der Technik sind erforderlich,
um den klinischen Wert dieses neuen
diagnostischen Ansatzes sicher beurteilen zu können.
Manuskript eingereicht: 26. 3. 2001; revidierte Fassung
angenommen: 16. 1. 2002
Kongressbericht
Medizinische Konsequenzen
des Humangenomprojektes
Karl-Friedrich Sewing
U
nter dem Titel „Das Genomprojekt und seine Konsequenzen für
die Medizin“ berichtete Prof. Dr.
H.-Hilger Ropers vom Max-PlanckInstitut für Molekulare Genetik, Berlin, auf dem 26. Interdisziplinären
Forum der Bundesärztekammer über
die bisherigen Erfolge des weltweit
operierenden Forschungsvorhabens
zur Entschlüsselung des menschlichen
Genoms. Das Forum fand vom 10. bis
zum 12. Januar 2002 statt. Er betonte,
dass die nahezu abgeschlossene Sequenzierung des menschlichen Genoms einen wichtigen ersten Schritt
zur Aufklärung der Funktion aller Gene und für das Verständnis der Lebensprozesse darstellt. Jedoch liegt die
Aufklärung der Funktion aller Gene
noch in weiter Ferne.
Besonders hervorzuheben ist, so
Ropers, die Erarbeitung der Identität
und Funktion der genetischen Varianten, die bei vielen Krankheiten wie
zum Beispiel beim Diabetes mellitus,
bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen und
beim Krebs eine Rolle spielen. Erst in
vielen Jahren werde sich herausstellen, ob sich aus diesen Kenntnissen
therapeutische oder präventive Maßnahmen ableiten lassen.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
zu glauben, dass man in absehbarer
Zeit nahezu alle genetisch bedingten
Krankheiten mithilfe einer Gentherapie heilen könne. Damit dies erreicht werden kann, sei noch sehr viel
Grundlagenarbeit erforderlich, um die
Verfahren zur Korrektur von Gendefekten in bestimmten Körperzellen
und Organen effektiver und vor allem
sicherer zu machen.
Molekularbiologische
Untersuchung
Ein wichtiges Element bei der Einbindung genetischer Faktoren in die
Kenntnisse von Krankheitsgeschehen
und -ursachen ist nach Ropers auch
die spezifische molekularbiologische
Untersuchung von Personen und Familien.
In dem Zusammenhang machte
Prof. Ropers auch einen Exkurs in die
Berufspolitik, in dem er die Zentrierung humangenetischer Versorgung in
Deutschland anmahnte. Diese ist sicher für extrem schwierige Fragen bedenkenswert, kann aber wohl die derzeitig vorhandene Struktur der humangenetischen Beratung kaum ersetzen.
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 1224–1228 [Heft 18]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser
und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschrift der Verfasser:
Prof. Dr. med. Uwe Reinhold
Universitäts-Hautklinik und Poliklinik
Universitätskliniken des Saarlandes
66421 Homburg/Saar
Prof. Dr. rer. nat. Claus H. Schröder
Abteilung Virus-Wirtszell-Wechselwirkungen
Deutsches Krebsforschungszentrum
Im Neuenheimer Feld 280
69120 Heidelberg
A 1228
Keine voreilige Euphorie
Ropers verwies auf die bisherigen Erfolge bei der Klassifikation und Therapie maligner Tumoren unter Einbeziehung der genetischen Faktoren sowie bei der Aufklärung von Wirkungen von Antibiotika auf der Basis der
Kenntnisse über dreidimensionale
Strukturen von Proteinen und Zellorganellen.
Gleichzeitig warnte er vor einer unbegründeten Euphorie. Es wäre falsch
Prof. Dr. med. Karl-Friedirch Sewing
Wissenschaftlicher Beirat
der Bundesärztekammer
Berliner Allee 20
30175 Hannover
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 99½ Heft 18½ 3. Mai 2002
Herunterladen