Deutsches Ärzteblatt 1995: A-3545

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THEMEN DER ZEIT
BLICK INS AUSLAND/AUFSATZE
und demographischen Verhältnissen
angepaßt werden. Es fehle auch in
diesem Bereich an Kostentransparenz, Kostenbewußtsein und Steuerungselementen. Statt Zentralisierung und Bürokratie zu fördern,
müßten die Deregulierung sowie der
Ausbau der Verantwortung aller Beteiligten im Gesundheitswesen vorangetrieben werden.
Sozialversicherung nicht
mehr zeitgemäß
Für die gesetzliche Krankenversicherung ist nach Ansicht der Kammer das Gesamtangebot medizinischer Leistungen nicht mehr finanzierbar. Undifferenzierte Kostendämpfung oder Ausgabendeckelung
stellten nicht einmal eine mittelfristige Lösung dar, da das Leistungsangebot ständig steige und die Patienten
Leistungen vermehrt in Anspruch
nähmen Die Reformvorschläge der
ÖÄK sehen deshalb vor, die Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung auf die medizinische
Grundversorgung zu beschränken.
Außerdem solle dem Patienten im
Rahmen der Versicherungspflicht das
Recht eingeräumt werden, eigenverantwortlich seine Versicherung zu
wählen. Die ÖÄK plädiert für eine
Einkommensobergrenze, die die Zugehörigkeit zur gesetzlichen Krankenversicherung regelt. Die Repräsentanten der Ärzteschaft setzen sich
zudem für eine obligatorische Freizeit- und Unfallversicherung ein, die
erhöhte Risiken abdeckt und so die
Krankenversicherung entlasten könnte. Zur finanziellen Entlastung der
Kassen würde auch eine eindeutige
gesetzliche Regelung der außervertraglichen ärztlichen Leistungen beitragen. Mehr Kostentransparenz gegenüber dem Patienten habe denselben Effekt und fördere Kostenbewußtsein und Kostenkontrolle.
Auch müsse die Prävention stärker in den Vordergrund rücken. Es gelte, die Primärprävention und die schulärztlichen Leistungen zu fördern. Um
die medizinische Vorsorge vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter kontinuierlich gewährleisten zu können, fordert die ÖÄK die Einführung eines
Gesundheitspasses. Heike Korzilius
Beurteilung c er HIV-Infektion
Zuverlässig und schnell
per Virusquantifizierung
ans Jäger und Ralf Wagner
Leistungsfähige Verfahren der HI-Virusquantifizierung haben zu einem Umdenken in der AIDS-Therapie geführt. Denn mit der pro Milliliter Plasma tatsächlich
vorhandenen Virusmenge wird den Behandlern ein — bezüglich Entwicklung, Prognose und therapeutischen Ansprechens — aussagekräftiger Parameter der HIVInfektion an die Hand gegeben. Als Richtlinie zum klinischen Einsatz des Verfahrens kann ein Konsensus-Meeting (1) dienen, das in Bethesda stattfand.
D
as gegenwärtige Verständnis
der HIV-Pathogenese ist eng
verknüpft mit Beobachtungen zur Replikation des Virus
in vivo. Das Fehlen genügend sensitiver Methoden zum Nachweis freier
Viren in der Zirkulation während der
klinisch unauffälligen Krankheitsstadien hat ursprünglich zur Einordnung
der HIV-Infektion unter die latenten
oder persistierenden Virusinfektionen
geführt. Heute geht man davon aus,
daß die virämische Phase durch einen
dynamischen Prozeß aus kontinuierlicher de-novo-Virusinfektion, Replikation und schnellem Turnover zirkulierender CD4-positiver Lymphozyten aufrechterhalten wird.
Unabhängig vom Krankheitsstadium kann mittlerweile mit Hilfe
moderner molekularbiologischer Methoden virusassoziierte RNA im Plasma nahezu aller HIV-Patienten nachgewiesen werden. Dies ist selbst dann
möglich, wenn das Virus über klassische Kultivierungsversuche nicht angezüchtet werden kann.
Trotz der offensichtlichen Bedeutung der Virusreplikation für die
HIV-Pathogenese ist bis vor kurzem
relativ wenig über die Kinetik der Virusproduktion, die Eliminierung der
Viren und Halbwertszeit der CD4-positiven Lymphozyten in vivo bekannt
gewesen (Tabelle 1). Diese Fragestellungen werden in Veröffentlichungen
der Arbeitsgruppen von Ho und
Shaw (2, 3) angesprochen. Potente In-
hibitoren der HIV-Replikation wurden eingesetzt, um bei 42 HIV-Infizierten, unabhängig von deren individueller Virusbelastung und ihrem
Tabelle 1
Neue pathophysiologische
Entwicklungen
Ca. 1,9 Milliarden CD4-Zellen pro
Tag neu gebildet, Turnover ca. 15 Tage
Zahl der peripher gemessenen CD4Zellen vom Abbau (Virusmenge)
abhängig
Ca. 0,6 Milliarden HI-Viren pro Tag.
Neue plötzliche Virusbelastung von
Neubildungsrate abhängig
Turnover-Rate 2 Tage
Reduktion der Virusmenge um 99%
möglich
Resistenzentwicklung häufig
CD4-Lymphozytenstatus, die Virusvermehrung zu arretieren und dabei
die Balance zwischen Virusproduktion und Eliminierung von
freiem Virus bzw. virusinfizierten Zellen zu stören. Durch die Abnahme
der Virusäquivalente während der antiviralen Therapie konnte die Halbwertszeit der HI-Viren auf 1,2 bis 3,3
Tage festgelegt werden. Dies bedeutet, daß jeden Tag durchschnittlich etwa 50 Prozent der im Plasma zirkulierenden Viren durch das Immunsystem eliminiert und gleichzeitig von
frisch infizierten Zellen neu synthetisiert werden. Die Virusmenge ist
Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 50, 15. Dezember 1995 (25) A-3545
THEMEN DER ZEIT
AUFSÄTZE
1111■111■111
Tabelle 2
Vergleich verschiedener Verfahren zur HI-Virusquantifizierung
QC-PR
NASBA
bDNA
Plasma aus
EDTA-Blut
Plasma ohne
Einschränkung
Plasma aus
EDTA Blut
Probenvol.
Amplifikation
Enzyme
100 ul Plasma
Quelle (vRNA)
Tth-pol,
10 µl Plasma
Quelle (vRNA)
T7-pol; RNase H,
RT
5 ml Plasma
Signal
keine
Standards
Probenzahl
Dauer
„Hands on"
Sensitivität
intern
22
ca. 5-6 H
ca. 2,5 H
< 800 Äquivalente
intern
20
ca. 5-6 H
ca. 3,5 H
< 400 Äquivalente
extern
42
ca. 16-20 H
ca. 3,5 H
< 104 Äquivalente
Erfassung von
Subgruppen
Linearer
Meßbereich
Mittl. Fehler
Handhabung
Geräte
++
++
++++
< 800 -1,2 x 107
< 400 -107
5x 103 -107
0,3-0,8 log
+++
Thermocycler
ELISA Reader
0,3-0,8 log
++
2 Räume
1 sterile
Werkbank
Nasba QR
System
ECL-Meßgerät
0,2-0,4 lo
++++
Ultrazentrifuge
Inkubator
Chemol.
Reader
RNA-Quelle
durch das Ausmaß der Neusynthese,
die CD4-Lymphozytenzahl durch virusbedingte Abbauvorgänge definiert. In einem 10-Jahres-Szenario
der HIV-Infektion sind zu Beginn, das
heißt während der klinisch unauffälligen Phase, deutlich weniger Viren im
Plasma meßbar als zu späteren Zeitpunkten, die auch mit verstärktem
Auftreten opportunistischer Infektionen oder anderer klinischer Komplikationen korreliert sind.
Marker der Infektion
Neu entwickelte und jetzt auch
kommerziell verfügbare Verfahren
beruhen auf dem Nachweis viraler
Nukleinsäuren. Diese Verfahren ermöglichen sowohl die Bestimmung
proviraler DNA aus infizierten peripheren Blutlymphozyten (PBLs) von
HIV-Patienten als auch die Quantifizierung der Plasmavirämie durch
näherungsweise Erfassung der Anzahl viraler RNA-Genome. Dies ist,
unabhängig vom Krankheitsstadium,
selbst dann möglich, wenn das Virus
-
über klassische Kultivierungsversuche nicht angezüchtet werden kann.
Die quantitative Erfassung virusassoziierter RNA (Virusäquivalente) gibt
direkten Aufschluß über die aktuelle
Kontrolle der HIV-Replikation
durch das Immunsystem und gilt als
die derzeit exakteste Möglichkeit zur
Überwachung der antiviralen Therapie.
Die hohe Sensitivität dieser Methoden beruht entweder auf einer
spezifischen Signalverstärkung mittels (Hybridisierung) signalgebender,
markierter Fangsonden wie im Falle
des „QuantiplexTM HIV-RNA Assays" (4, 5, 3, 6) oder auf einer spezifischen In-vitro-Amplifikation des
viralen RNA-Genoms bei der „Quantitativen Kompetitions-QC-PCR"
„Amplicor HIV Monitor" (7) und der
„HIV-NASBA" (8, 9).
Die wichtigsten Parameter der
drei unterschiedlichen Testsysteme
wie zum Beispiel (i) die untere Nachweisgrenze, (ü) der lineare Meßbereich sowie (iii) der mittlere Fehler
sind in Tabelle 2 vergleichend gegenübergestellt.
A-3546 (26) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 50, 15. Dezember 1995
Trotz der offensichtlichen Bedeutung der Plasmavirämie für die
Krankheitsprogression wird die Wertigkeit des neuen Verfahrens gegenüber der klassischen Erhebung zellimmunologischer Surrogatmarker
wie der Bestimmung der CD4-Zellzahlen in Fachkreisen teilweise noch
kontrovers diskutiert. Eine gesteigerte Virusbelastung im Plasma während
des späteren Verlaufs der Erkrankung
korrelliert für gewöhnlich mit einer
Reduktion der Zahl CD4-positiver
Lymphozyten und der Verschlechterung des klinischen Bildes.
Die Depletion der CD4-Helferzellen wird nach neuen Erkenntnissen
im wesentlichen durch eine gesteigerte Vermehrung des Virus in den CD4Helferzellen eingeleitet. Die zunehmende Zerstörung dieser infizierten
Zellen durch das Virus selbst sowie
der Versuch des Immunsystems, die
Infektion durch Zerstörung der infizierten Zellen einzugrenzen, bedingt
letztlich die zunächst kontinuierliche,
gegen Ende der Erkrankung akute
Verminderung des Pools an zirkulierenden CD4-Lymphozyten.
T herapie-Steuerung
In den bisher vorliegenden prospektiven Untersuchungen zur klinischen Bedeutung der Virusload-Bestimmung zeigen sich klare Trends.
Dieser Labortest ist bezüglich der
Einschätzung des natürlichen Verlaufs (Progression versus Nichtprogression) (Mellors, Dewar) und insbesondere bezüglich der Einschätzung des Behandlungserfolges bei antiviraler Therapie anderen Methoden
überlegen.
Sowohl bei kürzerer Beobachtungszeit (11, 12, 13) als auch bei längerer Therapiedauer (zirka zwei Jahre - Ruffault) erweist sich die Bestimmung der Plasmavirämie als. derzeit
offenbar wichtigster Laborparameter
zur Therapiesteuerung. Das Therapieziel, das heißt die Verbesserung
der klinischen Entwicklung des Patienten unter Therapie korreliert zwar
auch mit der Anzahl der CD4-Lymphozyten. Ein Anstieg der Plasmavirämie geht jedoch ganz offenbar in
vielen Fällen einem CD4-Helferzellabfall voraus (Ruffault). In der Tabel-
THEMEN DER ZEIT
AUFSÄTZE
le 3 sind einige klinische Konsequenzen zusammengestellt, die sich aus
der Möglichkeit der Virusquantifizierung ergeben. Grundsätzlich korreliert der bisherige Laborleitparameter, die CD4-Helferzellzahl, mit der
Virusload. In einzelnen Fällen können aber bei sehr niedrigen CD4-Zellen auch geringe Virusmengen festgestellt werden. Eigene Ergebnisse (18)
zeigen, daß im Bereich von mehr als
300 CD4-Zellen, in dem man durchaus eine niedrigere Virusload erwarten würde, durchaus hohe Virusbelastungen zu finden sind, möglicherweise also Behandlungsbedarf besteht.
Interpretation
Als Maßeinheit der Virusmenge
gelten Äquivalente bzw. RNA-Kopien pro ml Plasma. (Diese Zahl entspricht etwa der Anzahl der RNAMoleküle.) Bei weniger als 10 000 Kopien pro ml Plasma ist in der Regel eine Therapie nicht erforderlich. Der
Behandlungsbeginn erscheint, abhängig vom verwendeten Testformat,
derzeit bei 50 000 bis 100 000 Äquivalenten sinnvoll. Statistische Eckdaten
der drei unterschiedlichen zur Verfügung stehenden Methoden, soweit sie
bisher in Deutschland ermittelt werden konnten, sind in der Tabelle 4 zusammengefaßt. Zum Methodenvergleich stellen die Medianwerte den effektivsten Parameter dar.
Tabelle 3
Klinische Konsequenzen der
Virusquantifizierung
Langzeitüberlebende < 10 000 Virusäquivalente/ml Plasma (5)
Schnelle Progression: oft bereits zu
Beginn hohe Virusbelastung
Nichtansprechen auf antivirale Therapie (keine Verminderung der Virusbelastung) mit kürzerer Überlebenszeit
korreliert (16)
Entscheidungsparameter für Beginn,
Wechsel/Kombination, Beendigung
antiviraler Therapie
Mutter-Kind-Übertragung bei
< 100 000 Virusäquivalenten/ml Plasma unwahrscheinlich (17)
Kürzere und kleinere Studien möglich
Tabelle 4
Vergleich statistischer Eckdaten unterschiedlicher Methoden zur Virusquantifizierung
Roche-QC-PRCR Organon Technica
Chiron
Amplicor
NASBA
Quantiplex bDNA
Zahl der
zugrundegelegten
Untersuchungen
248
331
1 112
Anzahl der
Patienten*)
Mittelwert
Kopien/ml
85
253
380
241 000
447 821
420 000
Median
Kopien/ml
84 340
88 000
91 400
Range
Kopien/m1
248-3,5 Mio.
3 900-16 Mio.
210 000-1,3 Mio.
Methode
*) Es handelt sich jeweils um gemischte Gruppen von Patienten mit und ohne antivirale
Behandlung. Die Daten wurden im Zeitraum 10/94 bis 7/95 erhoben und freundlicherweise von Dr. Knechten, Aachen (Amplicor), Dr. Tiller, München (NASBA) sowie Dr. Jäger,
München (bDNA) zur Verfügung gestellt.
Von einem therapiebedingten
Ansprechen kann ausgegangen werden, wenn eine Verringerung der Kopien um mindestens den Faktor 3,
besser um eine Logstufe nach antiviraler Behandlung erfolgt ist. Die therapiebedingte Verminderung der
Plasmavirämie korreliert gut mit einer Verringerung der Virusmenge in
den Lymphknoten (15).
Ein Ansprechen/Nichtansprechen auf die Therapie ist bereits nach
relativ kurzer Zeit — zirka zwei Wochen — feststellbar Bei Nichtansprechen erübrigt sich die Fortsetzung der
Behandlung mit der benutzten Substanz. Ein Wechsel des Medikamentes
oder die Kombination mit einer anderen Substanz ist notwendig. Wie oft in
der Folge Virusquantifizierungen
durchgeführt werden sollen, wird unterschiedlich diskutiert. Die Abstände dürften in etwa der Frequenz entsprechen, mit der CD4-LymphozytenTests durchgeführt werden.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die pro Milliliter Plasma gemessene Menge der Replikationsäquivalente einerseits Rückschlüsse
auf den natürlichen Verlauf, die Progression oder Nichtprogression der
Erkrankung zuläßt, andererseits dem
Behandler jetzt klarere Aussagen zur
Notwendigkeit des Beginns einer antiviralen Therapie und ihrer Fortset-
A - 3548 (28) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 50, 15. Dezember 1995
zung zur Verfügung stehen. Eine antivirale Behandlung, die nicht innerhalb der ersten Wochen zu einer deutlichen Rückbildung (um mindestens
den Faktor 3, besser um eine Logstufe) führt, kann als unwirksam betrachtet werden. Im Bereich der Forschung werden kürzere und kleinere
Studien als bisher durchgeführt. Es ist
eine gegenüber den bisherigen Laborparametern verbesserte Aussagekraft
möglich.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärzteb11995; 92: A-3545-3548
[Heft 50]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf
das Literaturverzeichnis im Sonderdruck,
anzufordern über die Verfasser.
Anschrift der Verfasser:
Dr. med. Hans Jäger,
Kuratorium für Immunschwäche,
Mozartstraße 3,
80336 München
Dr. rer. nat. Ralf Wagner,
Institut für Medizinische
Mikrobiologie und Hygiene,
Universität Regensburg,
Franz-Josef-Strauß-Straße 11,
93053 Regensburg
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