THEMEN DER ZEIT BLICK INS AUSLAND/AUFSATZE und demographischen Verhältnissen angepaßt werden. Es fehle auch in diesem Bereich an Kostentransparenz, Kostenbewußtsein und Steuerungselementen. Statt Zentralisierung und Bürokratie zu fördern, müßten die Deregulierung sowie der Ausbau der Verantwortung aller Beteiligten im Gesundheitswesen vorangetrieben werden. Sozialversicherung nicht mehr zeitgemäß Für die gesetzliche Krankenversicherung ist nach Ansicht der Kammer das Gesamtangebot medizinischer Leistungen nicht mehr finanzierbar. Undifferenzierte Kostendämpfung oder Ausgabendeckelung stellten nicht einmal eine mittelfristige Lösung dar, da das Leistungsangebot ständig steige und die Patienten Leistungen vermehrt in Anspruch nähmen Die Reformvorschläge der ÖÄK sehen deshalb vor, die Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung auf die medizinische Grundversorgung zu beschränken. Außerdem solle dem Patienten im Rahmen der Versicherungspflicht das Recht eingeräumt werden, eigenverantwortlich seine Versicherung zu wählen. Die ÖÄK plädiert für eine Einkommensobergrenze, die die Zugehörigkeit zur gesetzlichen Krankenversicherung regelt. Die Repräsentanten der Ärzteschaft setzen sich zudem für eine obligatorische Freizeit- und Unfallversicherung ein, die erhöhte Risiken abdeckt und so die Krankenversicherung entlasten könnte. Zur finanziellen Entlastung der Kassen würde auch eine eindeutige gesetzliche Regelung der außervertraglichen ärztlichen Leistungen beitragen. Mehr Kostentransparenz gegenüber dem Patienten habe denselben Effekt und fördere Kostenbewußtsein und Kostenkontrolle. Auch müsse die Prävention stärker in den Vordergrund rücken. Es gelte, die Primärprävention und die schulärztlichen Leistungen zu fördern. Um die medizinische Vorsorge vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter kontinuierlich gewährleisten zu können, fordert die ÖÄK die Einführung eines Gesundheitspasses. Heike Korzilius Beurteilung c er HIV-Infektion Zuverlässig und schnell per Virusquantifizierung ans Jäger und Ralf Wagner Leistungsfähige Verfahren der HI-Virusquantifizierung haben zu einem Umdenken in der AIDS-Therapie geführt. Denn mit der pro Milliliter Plasma tatsächlich vorhandenen Virusmenge wird den Behandlern ein — bezüglich Entwicklung, Prognose und therapeutischen Ansprechens — aussagekräftiger Parameter der HIVInfektion an die Hand gegeben. Als Richtlinie zum klinischen Einsatz des Verfahrens kann ein Konsensus-Meeting (1) dienen, das in Bethesda stattfand. D as gegenwärtige Verständnis der HIV-Pathogenese ist eng verknüpft mit Beobachtungen zur Replikation des Virus in vivo. Das Fehlen genügend sensitiver Methoden zum Nachweis freier Viren in der Zirkulation während der klinisch unauffälligen Krankheitsstadien hat ursprünglich zur Einordnung der HIV-Infektion unter die latenten oder persistierenden Virusinfektionen geführt. Heute geht man davon aus, daß die virämische Phase durch einen dynamischen Prozeß aus kontinuierlicher de-novo-Virusinfektion, Replikation und schnellem Turnover zirkulierender CD4-positiver Lymphozyten aufrechterhalten wird. Unabhängig vom Krankheitsstadium kann mittlerweile mit Hilfe moderner molekularbiologischer Methoden virusassoziierte RNA im Plasma nahezu aller HIV-Patienten nachgewiesen werden. Dies ist selbst dann möglich, wenn das Virus über klassische Kultivierungsversuche nicht angezüchtet werden kann. Trotz der offensichtlichen Bedeutung der Virusreplikation für die HIV-Pathogenese ist bis vor kurzem relativ wenig über die Kinetik der Virusproduktion, die Eliminierung der Viren und Halbwertszeit der CD4-positiven Lymphozyten in vivo bekannt gewesen (Tabelle 1). Diese Fragestellungen werden in Veröffentlichungen der Arbeitsgruppen von Ho und Shaw (2, 3) angesprochen. Potente In- hibitoren der HIV-Replikation wurden eingesetzt, um bei 42 HIV-Infizierten, unabhängig von deren individueller Virusbelastung und ihrem Tabelle 1 Neue pathophysiologische Entwicklungen Ca. 1,9 Milliarden CD4-Zellen pro Tag neu gebildet, Turnover ca. 15 Tage Zahl der peripher gemessenen CD4Zellen vom Abbau (Virusmenge) abhängig Ca. 0,6 Milliarden HI-Viren pro Tag. Neue plötzliche Virusbelastung von Neubildungsrate abhängig Turnover-Rate 2 Tage Reduktion der Virusmenge um 99% möglich Resistenzentwicklung häufig CD4-Lymphozytenstatus, die Virusvermehrung zu arretieren und dabei die Balance zwischen Virusproduktion und Eliminierung von freiem Virus bzw. virusinfizierten Zellen zu stören. Durch die Abnahme der Virusäquivalente während der antiviralen Therapie konnte die Halbwertszeit der HI-Viren auf 1,2 bis 3,3 Tage festgelegt werden. Dies bedeutet, daß jeden Tag durchschnittlich etwa 50 Prozent der im Plasma zirkulierenden Viren durch das Immunsystem eliminiert und gleichzeitig von frisch infizierten Zellen neu synthetisiert werden. Die Virusmenge ist Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 50, 15. Dezember 1995 (25) A-3545 THEMEN DER ZEIT AUFSÄTZE 1111■111■111 Tabelle 2 Vergleich verschiedener Verfahren zur HI-Virusquantifizierung QC-PR NASBA bDNA Plasma aus EDTA-Blut Plasma ohne Einschränkung Plasma aus EDTA Blut Probenvol. Amplifikation Enzyme 100 ul Plasma Quelle (vRNA) Tth-pol, 10 µl Plasma Quelle (vRNA) T7-pol; RNase H, RT 5 ml Plasma Signal keine Standards Probenzahl Dauer „Hands on" Sensitivität intern 22 ca. 5-6 H ca. 2,5 H < 800 Äquivalente intern 20 ca. 5-6 H ca. 3,5 H < 400 Äquivalente extern 42 ca. 16-20 H ca. 3,5 H < 104 Äquivalente Erfassung von Subgruppen Linearer Meßbereich Mittl. Fehler Handhabung Geräte ++ ++ ++++ < 800 -1,2 x 107 < 400 -107 5x 103 -107 0,3-0,8 log +++ Thermocycler ELISA Reader 0,3-0,8 log ++ 2 Räume 1 sterile Werkbank Nasba QR System ECL-Meßgerät 0,2-0,4 lo ++++ Ultrazentrifuge Inkubator Chemol. Reader RNA-Quelle durch das Ausmaß der Neusynthese, die CD4-Lymphozytenzahl durch virusbedingte Abbauvorgänge definiert. In einem 10-Jahres-Szenario der HIV-Infektion sind zu Beginn, das heißt während der klinisch unauffälligen Phase, deutlich weniger Viren im Plasma meßbar als zu späteren Zeitpunkten, die auch mit verstärktem Auftreten opportunistischer Infektionen oder anderer klinischer Komplikationen korreliert sind. Marker der Infektion Neu entwickelte und jetzt auch kommerziell verfügbare Verfahren beruhen auf dem Nachweis viraler Nukleinsäuren. Diese Verfahren ermöglichen sowohl die Bestimmung proviraler DNA aus infizierten peripheren Blutlymphozyten (PBLs) von HIV-Patienten als auch die Quantifizierung der Plasmavirämie durch näherungsweise Erfassung der Anzahl viraler RNA-Genome. Dies ist, unabhängig vom Krankheitsstadium, selbst dann möglich, wenn das Virus - über klassische Kultivierungsversuche nicht angezüchtet werden kann. Die quantitative Erfassung virusassoziierter RNA (Virusäquivalente) gibt direkten Aufschluß über die aktuelle Kontrolle der HIV-Replikation durch das Immunsystem und gilt als die derzeit exakteste Möglichkeit zur Überwachung der antiviralen Therapie. Die hohe Sensitivität dieser Methoden beruht entweder auf einer spezifischen Signalverstärkung mittels (Hybridisierung) signalgebender, markierter Fangsonden wie im Falle des „QuantiplexTM HIV-RNA Assays" (4, 5, 3, 6) oder auf einer spezifischen In-vitro-Amplifikation des viralen RNA-Genoms bei der „Quantitativen Kompetitions-QC-PCR" „Amplicor HIV Monitor" (7) und der „HIV-NASBA" (8, 9). Die wichtigsten Parameter der drei unterschiedlichen Testsysteme wie zum Beispiel (i) die untere Nachweisgrenze, (ü) der lineare Meßbereich sowie (iii) der mittlere Fehler sind in Tabelle 2 vergleichend gegenübergestellt. A-3546 (26) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 50, 15. Dezember 1995 Trotz der offensichtlichen Bedeutung der Plasmavirämie für die Krankheitsprogression wird die Wertigkeit des neuen Verfahrens gegenüber der klassischen Erhebung zellimmunologischer Surrogatmarker wie der Bestimmung der CD4-Zellzahlen in Fachkreisen teilweise noch kontrovers diskutiert. Eine gesteigerte Virusbelastung im Plasma während des späteren Verlaufs der Erkrankung korrelliert für gewöhnlich mit einer Reduktion der Zahl CD4-positiver Lymphozyten und der Verschlechterung des klinischen Bildes. Die Depletion der CD4-Helferzellen wird nach neuen Erkenntnissen im wesentlichen durch eine gesteigerte Vermehrung des Virus in den CD4Helferzellen eingeleitet. Die zunehmende Zerstörung dieser infizierten Zellen durch das Virus selbst sowie der Versuch des Immunsystems, die Infektion durch Zerstörung der infizierten Zellen einzugrenzen, bedingt letztlich die zunächst kontinuierliche, gegen Ende der Erkrankung akute Verminderung des Pools an zirkulierenden CD4-Lymphozyten. T herapie-Steuerung In den bisher vorliegenden prospektiven Untersuchungen zur klinischen Bedeutung der Virusload-Bestimmung zeigen sich klare Trends. Dieser Labortest ist bezüglich der Einschätzung des natürlichen Verlaufs (Progression versus Nichtprogression) (Mellors, Dewar) und insbesondere bezüglich der Einschätzung des Behandlungserfolges bei antiviraler Therapie anderen Methoden überlegen. Sowohl bei kürzerer Beobachtungszeit (11, 12, 13) als auch bei längerer Therapiedauer (zirka zwei Jahre - Ruffault) erweist sich die Bestimmung der Plasmavirämie als. derzeit offenbar wichtigster Laborparameter zur Therapiesteuerung. Das Therapieziel, das heißt die Verbesserung der klinischen Entwicklung des Patienten unter Therapie korreliert zwar auch mit der Anzahl der CD4-Lymphozyten. Ein Anstieg der Plasmavirämie geht jedoch ganz offenbar in vielen Fällen einem CD4-Helferzellabfall voraus (Ruffault). In der Tabel- THEMEN DER ZEIT AUFSÄTZE le 3 sind einige klinische Konsequenzen zusammengestellt, die sich aus der Möglichkeit der Virusquantifizierung ergeben. Grundsätzlich korreliert der bisherige Laborleitparameter, die CD4-Helferzellzahl, mit der Virusload. In einzelnen Fällen können aber bei sehr niedrigen CD4-Zellen auch geringe Virusmengen festgestellt werden. Eigene Ergebnisse (18) zeigen, daß im Bereich von mehr als 300 CD4-Zellen, in dem man durchaus eine niedrigere Virusload erwarten würde, durchaus hohe Virusbelastungen zu finden sind, möglicherweise also Behandlungsbedarf besteht. Interpretation Als Maßeinheit der Virusmenge gelten Äquivalente bzw. RNA-Kopien pro ml Plasma. (Diese Zahl entspricht etwa der Anzahl der RNAMoleküle.) Bei weniger als 10 000 Kopien pro ml Plasma ist in der Regel eine Therapie nicht erforderlich. Der Behandlungsbeginn erscheint, abhängig vom verwendeten Testformat, derzeit bei 50 000 bis 100 000 Äquivalenten sinnvoll. Statistische Eckdaten der drei unterschiedlichen zur Verfügung stehenden Methoden, soweit sie bisher in Deutschland ermittelt werden konnten, sind in der Tabelle 4 zusammengefaßt. Zum Methodenvergleich stellen die Medianwerte den effektivsten Parameter dar. Tabelle 3 Klinische Konsequenzen der Virusquantifizierung Langzeitüberlebende < 10 000 Virusäquivalente/ml Plasma (5) Schnelle Progression: oft bereits zu Beginn hohe Virusbelastung Nichtansprechen auf antivirale Therapie (keine Verminderung der Virusbelastung) mit kürzerer Überlebenszeit korreliert (16) Entscheidungsparameter für Beginn, Wechsel/Kombination, Beendigung antiviraler Therapie Mutter-Kind-Übertragung bei < 100 000 Virusäquivalenten/ml Plasma unwahrscheinlich (17) Kürzere und kleinere Studien möglich Tabelle 4 Vergleich statistischer Eckdaten unterschiedlicher Methoden zur Virusquantifizierung Roche-QC-PRCR Organon Technica Chiron Amplicor NASBA Quantiplex bDNA Zahl der zugrundegelegten Untersuchungen 248 331 1 112 Anzahl der Patienten*) Mittelwert Kopien/ml 85 253 380 241 000 447 821 420 000 Median Kopien/ml 84 340 88 000 91 400 Range Kopien/m1 248-3,5 Mio. 3 900-16 Mio. 210 000-1,3 Mio. Methode *) Es handelt sich jeweils um gemischte Gruppen von Patienten mit und ohne antivirale Behandlung. Die Daten wurden im Zeitraum 10/94 bis 7/95 erhoben und freundlicherweise von Dr. Knechten, Aachen (Amplicor), Dr. Tiller, München (NASBA) sowie Dr. Jäger, München (bDNA) zur Verfügung gestellt. Von einem therapiebedingten Ansprechen kann ausgegangen werden, wenn eine Verringerung der Kopien um mindestens den Faktor 3, besser um eine Logstufe nach antiviraler Behandlung erfolgt ist. Die therapiebedingte Verminderung der Plasmavirämie korreliert gut mit einer Verringerung der Virusmenge in den Lymphknoten (15). Ein Ansprechen/Nichtansprechen auf die Therapie ist bereits nach relativ kurzer Zeit — zirka zwei Wochen — feststellbar Bei Nichtansprechen erübrigt sich die Fortsetzung der Behandlung mit der benutzten Substanz. Ein Wechsel des Medikamentes oder die Kombination mit einer anderen Substanz ist notwendig. Wie oft in der Folge Virusquantifizierungen durchgeführt werden sollen, wird unterschiedlich diskutiert. Die Abstände dürften in etwa der Frequenz entsprechen, mit der CD4-LymphozytenTests durchgeführt werden. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die pro Milliliter Plasma gemessene Menge der Replikationsäquivalente einerseits Rückschlüsse auf den natürlichen Verlauf, die Progression oder Nichtprogression der Erkrankung zuläßt, andererseits dem Behandler jetzt klarere Aussagen zur Notwendigkeit des Beginns einer antiviralen Therapie und ihrer Fortset- A - 3548 (28) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 50, 15. Dezember 1995 zung zur Verfügung stehen. Eine antivirale Behandlung, die nicht innerhalb der ersten Wochen zu einer deutlichen Rückbildung (um mindestens den Faktor 3, besser um eine Logstufe) führt, kann als unwirksam betrachtet werden. Im Bereich der Forschung werden kürzere und kleinere Studien als bisher durchgeführt. Es ist eine gegenüber den bisherigen Laborparametern verbesserte Aussagekraft möglich. Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärzteb11995; 92: A-3545-3548 [Heft 50] Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über die Verfasser. Anschrift der Verfasser: Dr. med. Hans Jäger, Kuratorium für Immunschwäche, Mozartstraße 3, 80336 München Dr. rer. nat. Ralf Wagner, Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene, Universität Regensburg, Franz-Josef-Strauß-Straße 11, 93053 Regensburg