Philosophische Fakultät Institut für Philosophie Lehrstuhl für Theoretische Philosophie Dr. Holm Bräuer MBA Grundlagen der THEORETISCHEN PHILOSOPHIE Sommersemester 2017 1 Philosophische Fakultät Institut für Philosophie Lehrstuhl für Theoretische Philosophie Dr. Holm Bräuer MBA 4. Wissenschaftstheorie 961 1. Wissenschaftliche Erklärungen 2. Bestätigung wissenschaftlicher Theorien 3. Was ist eigentlich eine Theorie? 970 ZUR BESTÄTIGUNG WISSENSCHAFTLICHER THEORIEN 1101 Explanans Theorie, allgemeine Gesetzmäßigkeiten Wie müssen Explanans und Explanandum aufeinander bezogen sein, damit man von einer erfolgreichen Erklärung sprechen kann? Explanandum das, was die Theorie erklärt 1102 Explanans Welt allgemeine Gesetzmäßigkeiten In welchem Verhältnis müssen das Explanans und die Welt stehen, damit es empirisch signifikant und wahr ist? 1103 Wie lassen sich Verallgemeinerungen (Theorien) bestätigen, deren Wahrheit wir nicht direkt durch Beobachtung feststellen können? 1104 VERIFIKATIONISMUS FALSIFIKATIONISMUS HOLISMUS KONVENTIONALISMUS ANYTHING GOES PARADIGMEN UND REVOLUTIONEN 1105 VERIFIKATIONISMUS Die Hypothetisch-Deduktive Methode 1106 Eine Hypothese wird durch ihre beobachtbaren Konsequenzen bestätigt bzw. widerlegt. Wenn die beobachtbaren Konsequenzen eintreffen, dann gilt eine Hypothese als (teilweise) bestätigt; sonst als widerlegt. 1107 Boyles Gasgesetz: P x V = konst. (T = konst.) 1108 Boyles Gesetz: Der Druck eines Gases ist bei konstanter Temperatur umgekehrt proportional zu seinem Volumen. Versuchsbedingungen: Das Anfangsvolumen des beobachteten Gases beträgt 1 Liter. Der Anfangsdruck beträgt 1 atm. Der Druck wird auf 2 atm erhöht. Die Temperatur bleibt konstant. Beobachtung: Das Volumen verringert sich auf 0,5 Liter. 1109 Testschema (H-D Modell) H (Hypothese/Theorie) A (beobachtbare Testbedingungen) K (beobachtbare Konsequenz) 1110 Problem Temperaturen und Drücke lassen sich nicht direkt beobachten. Wir brauchen Thermometer, Druckmesser, eine zuverlässige Gaskammer usw. 1111 Jedes Testmodell benötigt weitere Hilfshypothesen, die die „Beobachtbarkeit“ weiterer Bedingungen betreffen. 1112 Erweitertes Testschema H (Hypothese/ Theorie) A (beobachtbare Testbedingungen) HH (Hilfshypothesen) K (beobachtbare Konsequenz) 1113 DAS PROBLEM DER ALTERNATIVHYPOTHESEN 1114 Jede beliebige (aber endliche) Anzahl von Versuchen kann durch unendlich viele alternative Kurven erklärt werden. Und jede dieser möglichen Hypothesen wäre angesichts der gemachten Versuche gleich gut bestätigt! 1115 Immer wenn ein beobachtbares Resultat eines H-DTests eine gegebene Hypothese bestätigt, bestätigt dieser Test ebenso viele weitere Hypothesen, die mit der gegebenen Hypothese inkompatibel sind. 1116 Wie können wir sicher sein, dass ein Test als Bestätigung für eine bestimmte Hypothese gilt, wenn dieser Test viele weitere, inkompatible Hypothesen bestätigen würde? 1117 DAS PROBLEM DER STATISTISCHEN HYPOTHESEN 1118 Angenommen, wir möchten die Hypothese testen, dass der Gang zur Psychotherapie die Wahrscheinlichkeit der Genesung im Falle einer Depression erhöht. 1119 Angenommen, Bruce Brown leidet an Depressionen. Er geht zur Psychotherapie (Randbedingungen) und er gesundet (beobachtbare Konsequenz). 1120 Bestätigt dies unsere Hypothese? 1121 Ausnahmen bestätigen die Regel! Aus einer statistischen Hypothese kann man nicht ableiten, was tatsächlich passieren wird. Statistische Gesetzmäßigkeiten lassen sich in einem H-D-Modell nicht (so einfach) testen! 1122 BESTÄTIGUNGSPARADOXIEN 1123 Das Rabenparadox 1124 Annahmen der Bestätigungstheorie (1) Eine Hypothese wird durch die Beobachtung seiner Instanzen (teilweise) bestätigt. (H-D Modell) (2) Die Bestätigung einer Hypothese hängt von ihrem Inhalt ab, nicht davon, wie sie formuliert wird. (Äquivalenzbedingung) 1125 Alle Raben sind schwarz. ist äquivalent mit/ bedeutet dasselbe wie Alle nicht-schwarzen Gegenstände sind keine Raben. 1126 Alle nicht-schwarzen Gegenstände sind keine Raben. 1127 Common Sense Bestätigungstheorie enthält impliziert Die Hypothese „Alle Raben sind schwarz“ Die Hypothese „Alle Raben sind schwarz“ lässt sich nicht durch die Beobachtung lässt sich durch die Beobachtung von von weißen Kreidestücken bestätigen … weißen Kreidestücken bestätigen … … denn sonst könnten wir Vogelkunde im … da weiße Kreidestücke nicht-schwarze Lehnstuhl betreiben. Gegenstände und keine Raben sind. 1128 REAKTIONEN 1129 Hempel: Der Common-Sense hat Unrecht. Die Intuition, dass nicht-schwarze Nicht-Raben die Hypothese „Alle Raben sind schwarz.“ nicht bestätigen können, beruht auf unserem Vorwissen, welches sehr viele nicht-schwarze Nicht-Raben enthält. Jede Beobachtung, die einer Allaussage nicht widerspricht, bestätigt sie. 1130 Popper: Hypothesen lassen sich gar nicht bestätigen. Sie lassen sich allenfalls falsifizieren. Unser Bestreben muss es sein, Hypothesen durch negative Beispiele zu Fall zu bringen. (Falsifikationismus) 1131 Quine: Gesetze handeln von natürlichen Arten. „NichtRaben" stellen allenfalls ein buntes Sammelsurium, aber keine natürliche Art dar. Hypothesen, in denen von „Nicht-Raben“ die Rede ist, stellen keine Naturgesetze dar, für die es eine Bestätigung geben könnte. 1132 Bayesianismus: Die Wahrscheinlichkeit für ein beliebiges Objekt, ein schwarzer Rabe zu sein, ist bei weitem geringer als ein nicht-schwarzer Nicht-Rabe zu sein. Deshalb bestätigt die Beobachtung eines schwarzen Raben die Hypothese stärker als die Beobachtung von nicht-schwarzen Nicht-Raben. Die Hypothese wird durch nicht-schwarze Nicht-Raben nur sehr schwach bestätigt. 1133 GOODMANS NEUES RÄTSEL DER INDUKTION 1134 Nelson Goodman (1906-1998) Goodman ist ein führender Vertreter der analytischen Philosophie. Er arbeitete zu erkenntnistheoretischen, wissenschaftstheoretischen, sprachphilosophischen und ästhetischen Themenstellungen. The Structure of Appearance (1951); Fact, Fiction, and Forecast (1955); Languages of Art (1968); Ways of Worldmaking (1976) 1135 Induktion Schluss oder „Projektion“ von Beobachtungsdaten auf andere, noch nicht beobachtete Fälle. 1136 Bisherige Beobachtungen A ist ein Smaragd und A ist grün. B ist ein Smaragd und B ist grün. C ist ein Smaragd und C ist grün. … 1137 Beobachtungsdaten legen nahe … Voraussage: Der nächste Smaragd D, den wir finden werden, wird ebenfalls grün sein. Übertragung auf eine Menge: Andere Smaragde, die wir noch nicht untersucht haben, sind ebenfalls grün. Allgemeines Gesetz: Alle Smaragde sind grün. 1138 Beobachtungsdaten legen nicht nahe … Voraussage: Der nächste Smaragd D, den wir finden werden, wird rot sein. Übertragung auf eine Menge: Andere Smaragde, die wir noch nicht untersucht haben, sind entweder grün oder gelb. Allgemeines Gesetz: Alle Smaragde sind blau. 1139 Die Gültigkeit des induktiven Schließens Induktive Schlüsse oder Projektionen sind genau dann gültig (rational), wenn die Daten oder Evidenzen, auf denen sie gründen, Instanzen der Hypothesen sind, die wir über noch unbeobachtete Fälle bilden. 1140 Goodmans erste Entdeckung Nicht immer ist es rational von der Beobachtung einzelner Fälle auf noch nicht beobachtete Fälle zu schließen. 1141 Gutartiger Fall A ist ein Smaragd und A ist grün. Projektion: Alle Smaragde sind grün. 1142 Gutartiger Fall Bestätigung: Das Auffinden eines grünen Smaragdes stützt die Hypothese, dass alle Smaragde grün sind. Induktion: Es ist rational, aus der Beobachtung von grünen Smaragden darauf zu schließen, dass alle Smaragde grün sind. 1143 Nicht Gutartiger Fall A ist ein Mann in diesem Raum und A hat einen älteren Bruder. Projektion: Jeder Mann in diesem Raum hat einen älteren Bruder. 1144 Nicht Gutartiger Fall Bestätigung: Die Beobachtung, dass einer der Männer in diesem Raum einen älteren Bruder hat, stützt die Hypothese, dass jeder Mann in diesem Raum einen älteren Bruder hat. Induktion: Es ist jedoch nicht rational, aus der Beobachtung, dass ein Mann in diesem Raum einen älteren Bruder hat, darauf zu schließen, dass jeder Mann in diesem Raum einen älteren Bruder hat. 1145 Terminologie „Smaragd“ und „grün“ heißen projizierbare Prädikate. „Mann in diesem Raum“ und „einen älteren Bruder haben“ heißen nicht-projizierbare Prädikate. 1146 Goodmans zweite Entdeckung Nicht-projizierbare Prädikate sind weit verbreitet und lassen sich leicht konstruieren. 1147 grün heute Wir definieren das Prädikat grot, welches eine Eigenschaft bezeichnen soll, die ein Ding besitzt, wenn es bis heute grün und ab morgen rot ist. grot heute 1148 Nicht Gutartiger Fall A wurde heute gefunden und A ist ein groter (d.h. grüner) Smaragd. Projektion: Jeder Smaragd, den morgen finden werden, wird ebenfalls grot (d.h. rot) sein. 1149 Nicht Gutartiger Fall Bestätigung: Die Beobachtung, dass ein Smaragd heute grot ist, stützt Hypothese, dass ein Smaragd, den wir morgen finden werden, ebenfalls grot sein wird. Induktion: Es ist jedoch nicht rational, aus der Beobachtung, dass ein Smaragd heute grot (d.h. grün) ist, darauf zu schließen, dass Smaragde, die wir ab morgen finden werden, ebenfalls grot (d.h. rot) sein werden. 1150 Jetzt definieren wir das Prädikat Smarose, welches ein Ding bezeichnen soll, das bis heute ein Smaragd und ab morgen eine Rose ist. 1151 Nicht Gutartiger Fall A wurde heute gefunden und ist eine grote Smarose (d.h. ein grüner Smaragd). Projektion: Jede Smarose (d.h. Rose), die wir ab morgen finden werden, wird ebenfalls grot (d.h. rot) sein. 1152 Nicht Gutartiger Fall Es ist überhaupt nicht rational aufgrund der heutigen Beobachtung eines grünen Smaragds die Hypothese zu bilden, dass jede Rose, die wir morgen finden werden, rot ist. 1153 Fazit Alles bestätigt alles. Der Begriff der Bestätigung ist nutzlos. 1154 Lässt sich Goodmans Paradox lösen, indem wir verlangen, dass in induktiven Hypothesen nur einfache Prädikate (wie „grün“ oder „Smaragd“) und keine komplexen, zusammengesetzten Prädikate (wie „grot“ oder „Smarose“) verwendet werden? 1155 grot blün grün (heute grot, ab morgen blün) heute Wir können „grün“ unter Zuhilfenahme eines weiteren Prädikates, nämlich „blün“ definieren. Ein Gegenstand sei blün, wenn bis heute blau und ab morgen grün ist. 1156 Damit lässt sich das nun komplexe Prädikat grün definieren als eine Eigenschaft, die ein Gegenstand dann besitzt, wenn er bis heute grot und ab morgen blün ist. 1157 Fazit Welches Prädikat komplex und welches einfach ist, hängt davon ab, wo wir beginnen! Wir können den Fall auch so konstruieren, dass „grün“ komplex und „grot“ einfach ist. 1158 GOODMANS LÖSUNG Entrenchment (Verankerung) 1159 Problemstellung Manche induktive Projektionen, wie z.B. „Jeder Smaragd ist grün.“, verhalten sich gutartig, und andere induktive Projektionen, wie z.B. „Jeder Mann in diesem Raum hat einen älteren Bruder.“ oder „Jede Smarose ist grot.“, sind inakzeptabel. Warum sind manche Hypothesen inakzeptabel und andere nicht? 1160 Goodmans These Gutartig sind Projektionen, die Prädikate enthalten, welche in unserer wissenschaftlichen Praxis gut verankert sind. Inakzeptabel sind Projektionen, die Prädikate enthalten, welche in unserer wissenschaftlichen Praxis nicht verankert sind. 1161 Verankerung (entrenchment) Ein Prädikat gilt in unserer wissenschaftlichen Praxis genau dann als gut verankert, wenn es in dieser schon häufig verwendet wurde. Plausibel? 1162 Die Hypothese „Jeder Smaragd ist grün.“ ist gutartig, weil die Prädikate „Smaragd“ und „grün“ in unserer Wissenschaftspraxis gut verankert sind. Die Hypothese „Jede Smarose ist grot.“ ist inakzeptabel, weil die Prädikate „Smarose“ und „grot“ nicht in unserer Wissenschaftspraxis verankert sind. 1163 Fazit Das H-D-Modell der Bestätigung von Hypothesen hat mit einer Reihe von Paradoxien zu kämpfen. Gelingt es dem Verifikationismus, die BestätigungsBeziehung angemessen zu charakterisieren? 1164 FALSIFIKATIONISMUS 1165 Karl Popper (1902-1994) Popper gilt als einer der einflussreichsten Autoren auf den Gebieten der Wissenschaftstheorie sowie der politischen Philosophie. Er kritisierte den Logischen Empirismus und dessen Sichtweise der wissenschaftlichen Methode. In die politische Theorie ist er als wichtiger Kritiker des Marxismus eingegangen. Popper wurde 1965 von der Queen Elizabeth II geadelt. Logik der Forschung (1934); The Open Society and Its Enemies (1945); Conjectures and Refutations (1965); Objective Knowledge (1972); The Self and Its Brain (1977) 1166 DEDUKTION VS. INDUKTION 1167 Deduktive Argument sind nicht erkenntniserweiternd: Wir Deduktion lernen nichts Neues hinzu. notwendig wahrheitserhaltend: Wenn die Prämissen wahr sind, dann muss die Konklusion ebenfalls wahr sein. Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. erosionsbeständig: Zusatzinformationen verändern nicht die Gültigkeit eines deduktiven Arguments. Sokrates ist sterblich. absolut: Die Gültigkeit eines deduktiven Arguments kennt keine Grade. 1168 Induktive Argumente sind Induktion erkenntniserweiternd: Wir lernen etwas Neues hinzu. nicht notwendig wahrheitserhaltend: Ein induktives Argument kann trotz wahrer Prämissen eine falsche Dieser Rabe ist schwarz. Jener Rabe ist schwarz. Konklusion besitzen. nicht erosionsbeständig: Neue Prämissen können die Gültigkeit eines induktiven Arguments unterminieren. Alle Raben sind schwarz. graduell: Die Prämissen können die Konklusion in unterschiedlicher Stärke stützen. 1169 DAS KLASSISCHE BILD Hypothesenbildung und Bestätigung 1170 Hypothesenbildung Bestätigung Dieser beobachtete Rabe ist schwarz. Alle Raben sind schwarz. Jener beobachtete Rabe ist schwarz. Dies ist ein Rabe. Alle Raben sind schwarz. Er ist schwarz. Das Aufstellen von Hypothesen Wissenschaftliche Hypothesen geschieht über induktive werden deduktiv anhand ihrer Verallgemeinerungen, die unsere beobachtbaren Konsequenzen Beobachtungen zusammenfassen. (graduell) bestätigt. 1171 Probleme Probleme Entdeckungszusammenhang Rechtfertigungszusammenhang Humes Induktionsskepsis: Es gibt Das Problem der alternativen keinerlei Rechtfertigung für induktive Hypothesen: Ein und dieselben Schlüsse. Beobachtungen rechtfertigen eine Vielzahl inkompatibler Hypothesen. Goodmans neues Rätsel der Induktion: Jede Bestätigung einer Hempels Rabenparadox: Hypothesen Hypothese gilt auch als eine scheinen sich auch durch irrelevante Bestätigung vieler anderer Beobachtungen stützen zu lassen. inkompatibler Hypothesen. 1172 POPPERS FALSIFIKATIONISMUS Vermutungen und Widerlegungen 1173 The work of the scientist consists in putting forward and testing theories. The initial stage, the act of conceiving or inventing a theory, seems to me neither to call for logical analysis nor to be susceptible of it. The question how it happens that a new idea occurs to a man ... may be of great interest to empirical psychology; but it is irrelevant to the logical analysis of scientific knowledge. Popper, Logic of Inquiry 1174 Hypothesenbildung Entdeckungszusammenhang Wissenschaft beginnt nie mit Beobachtungen (induktiv), sondern immer mit Vermutungen (deduktiv). 1175 Bestätigung Rechtfertigungszusammenhang Beobachtungen können nie die Wahrheit wissenschaftlicher Hypothesen begründen (Verifikation), wohl aber ihre Falschheit (Falsifikation). Die Beobachtung eines schwarzen Schwans falsifiziert die Hypothese, dass alle Schwäne weiß sind, ein für alle mal. 1176 Beispiel: Die Keplerschen Gesetze 1177 Kepler entdeckte, dass sich der Mars in einer elliptischen Bahn um die Sonne bewegt. Er stellte die Vermutung an, dass die Bewegung der Planeten entweder zirkulär oder zusammengesetzt aus wenigen zirkulären Bewegungen ist. … und bildete drei Hypothesen. 1178 1 Der Orbit des Mars ist ein Kreis um ein Zentrum C, welches sich ein wenig von der Sonne entfernt befindet. 2 Der Orbit des Mars setzt sich aus zwei Kreisen zusammen, deren zusammengesetzte Form eiförmig ist, wobei das spitze Ende den sonnennächsten Punkt des Mars bildet. 3 Der Orbit des Mars ist eine Ellipse mit der Sonne in einem der Zentren. 1179 Jede der Hypothesen hat er daraufhin sorgfältig mit den empirischen Daten verglichen. 1180 Die ersten beiden Vermutungen musste er aufgrund ihrer Nichtübereinstimmung mit den verfügbaren Daten verwerfen; nur die dritte Hypothese widerstand allen ihm verfügbaren Kenntnissen über die Bewegung des Mars. 1181 Diese ist als das Keplersche Gesetz in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen. 1182 Kepler hat einfache Vermutungen angestellt. Er hat dann diese Vermutungen mit dem beobachteten Daten verglichen. … und diejenigen Hypothesen verworfen, deren Konsequenzen nicht mit den beobachteten Daten im Einklang standen. Hypothesenbildung ist kreativ. Bestätigung ist falsifikatorisch. 1183 PROBLEME 1184 Dr. Falsi 1185 Dr. Falsi stellt zum Zeitpunkt t1 eine Theorie T auf. Zu t1 gibt es noch keine Evidenzen für T, so dass es sich um eine reine Vermutung handelt. 1186 Zwischen t1 und t2 jedoch haben Dr. Falsi und seine Kollegen gezeigt, dass sich mit T eine ganze Reihe von Beobachtungen erklären lassen. Außerdem haben sie viele Experimente angestellt, um T zu testen, von denen sich jedes einzelne als Erfolg herausgestellt hat. 1187 Intuition Zu t1 hat es für T keine Evidenzen gegeben, aber zu t2 liegen starke empirische Evidenzen für T vor, die uns darin rechtfertigen, T als eine gute Theorie in der Wissenschaftspraxis weiter zu verwenden. Der epistemische Status von T hat sich verändert. 1188 Falsifikationismus Am Status der Theorie hat sich nichts geändert. Wenn nur Widerlegungen eine Rolle spielen, dann ist T zu t2 genauso nur eine Vermutung wie zu t1. Das ist kontraintuitiv. 1189 Bewährungsgrad Je häufiger eine Theorie dem Versuch der Widerlegung widerstanden hat, desto höher ist ihr Bewährungsgrad. 1190 Der Begriff des Bewährungsgrades entspricht unserem alten Begriff der (graduellen) Bestätigung einer Theorie (Hypothese), wodurch wir uns genau die Probleme wieder einhandeln, die Popper vermeiden wollte! 1191 Verifikation und Falsifikation sitzen im selben Boot! 1192 Alle Raben sind Es gibt Higgs Bosonen. schwarz. Diese Aussage lässt sich durch die Diese Aussage lässt sich durch die Beobachtung von anderen Beobachtung von schwarzen Elementarteilchen nur graduell Raben nur graduell verifizieren. falsifizieren. Sie lässt sich jedoch durch die Sie lässt sich jedoch durch die Beobachtung eines einzigen Beobachtung eines einzigen Higgs nichtschwarzen Raben ein für alle Bosons ein für alle Mal Mal falsifizieren. verifizieren. 1193 Fazit Ob sich eine Hypothese absolut oder nur graduell bestätigen bzw. falsifizieren lässt, hängt von ihrer logischen Form und nicht von der angewandten Methode ab! 1194 HOLISMUS 1195 Pierre Duhem (1861-1916) Duhem war ein bedeutender französischer Physiker und Mathematiker. Er lieferte es sich einen heftigen Disput mit seinem Kollegen Poincaré. Seine Entdeckung, dass bei der Bestätigung einer Hypothese stets ein Gefüge weiterer Annahmen vorausgesetzt werden muss, ist als Duhem-Quine These in die Geschichte eingegangen. The Aim and Structure of Physical Theory (1904/05); The Value of Science (1904/05); Physics of a Believer (1905); To Save the Phaenomena (1908) 1196 Was auf dem Prüfstand der Erfahrung steht, ist immer eine ganze Theorie, bzw. eine Theorie zusammen mit einem ganzen Netz von Zusatzannahmen. Kein Experiment ist in der Lage, eine einzelne Hypothese zu falsifizieren. 1197 H-D-Testmodell (H & A1 & A2 & A2) O H ... Hypothese, die überprüft werden soll A1, A2, A2 ... Zusatzannahmen und Randbedingungen O ... Beobachtung/ Voraussage 1198 Angenommen, O tritt nicht ein. Dann gilt nicht-O und das impliziert: nicht (H & A1 & A2 & A2) 1199 … und das ist äquivalent mit: Nicht-H oder Nicht-A1 oder Nicht-A2 oder Nicht-A3 1200 Was kann ein fehlgeschlagener Test überhaupt zeigen? Kann ein fehlgeschlagenes Experiment eine Hypothese tatsächlich falsifizieren? 1201 Fazit Wir können aus dem Fehlschlagen eines empirischen Tests nur schließen, dass entweder unsere Hypothese oder eine oder mehrere Zusatzannahmen falsch sind. Weder die Beobachtung noch die Logik kann uns zeigen, welche der Annahmen wir verwerfen sollen! Es steht uns frei zu entscheiden, an welcher Stelle wir Veränderungen vornehmen. 1202 KONVENTIONALISMUS 1203 Henry Poincaré (1854-1912) Poincaré ist ein bedeutender Mathematiker, Physiker und Wissenschaftstheoretiker, welcher in Paris lehrte. Er interessierte sich für nichtEuklidische Geometrie, entdeckte einen Vorläufer der speziellen Relativitätstheorie und formulierte wichtige Gesetze in der Chaostheorie. In wissenschaftstheoretischer Perspektive gilt er als Begründer des Konventionalismus. Science and Hypothesis (1902); The Value of Science (1905); Science and Method (1908) 1204 WELCHEN STATUS HABEN DIE AXIOME DER GEOMETRIE? 1205 Kant betrachtete die Axiome der Euklidischen Geometrie als synthetische Urteile a priori (d.h. als Urteile, die vor aller Erfahrung liegen und gleichzeitig als die Bedingung der Möglichkeit der räumlichen Erfahrung gelten). 1206 Hilbert und Lobachevsky haben die Geometrie weiterentwickelt und gezeigt, dass sich alternative Geometrien entwickeln lassen, die dieselbe logische und mathematische Legitimität wie die Euklidische Geometrie besitzen. 1207 Die geometrischen Axiome sind ... weder synthetische Urteile a priori noch experimentelle Tatsachen. Es sind auf Übereinkommen beruhende Festsetzungen; unter allen möglichen Festsetzungen wird unsere Wahl von experimentellen Tatsachen geleitet; aber sie bleibt frei und ist nur durch die Notwendigkeit begrenzt, jeden Widerspruch zu vermeiden ... Mit anderen Worten: die geometrischen Axiome ... sind nur verkleidete Definitionen. Poincaré, Science and Hypothesis 1208 Poincaré stellte verschiedene geometrische Axiomensysteme und deren Anwendungen vor und bezeichnet sie als verschiedene „Sprachen“. „… unsere Geometrie ist nicht wahr, sondern sie ist vorteilhaft“ 1209 WELCHEN STATUS HABEN WISSENSCHAFTLICHE HYPOTHESEN? 1210 1211 Wenn wir ein mathematisches Gesetz finden möchten, das eine gegebene Serie von Beobachtungen beschreiben soll, dann interpolieren wir üblicherweise die einfachste Linie eines gegeben Graphen von Punkten. Diese Entscheidung beruht nicht „in der Natur der Sache selbst“, sondern sie geschieht rein konventionell. 1212 Die tatsächliche Kurve, die wir in unserer Theorie mit mathematischen Mitteln konstruieren, hängt sowohl von der Erfahrung als auch von der Einfachheit der Kurve ab – je einfacher die Kurve, desto mehr Punkte werden außerhalb dieser liegen. Einfach aber ungenau, oder kompliziert und genau? Wie entscheiden wir uns? 1213 Die interpolierte Kurve – das angenommene Gesetz – ist keine direkte Generalisierung aus der Erfahrung. Sie korrigiert die Erfahrung! Welche Linie wir wählen (welche Theorie wir favorisieren), hängt von unseren Entscheidungen ab! Obwohl wissenschaftliche Theorien auf Erfahrung beruhen, so sind sie doch weder verifizier- noch falsifizierbar durch die Erfahrung allein! 1214 ANYTHING GOES 1215 Paul Feyerabend (1924-1994) Der österreichische Philosoph Paul Feyerabend beschäftigte sich vorwiegend mit der Wissenschaftstheorie, und den sozialen Folgen der Wissenschaft. In „Wider den Methodenzwang“ behauptete er, dass der Wissenschaftsfortschritt hauptsächlich durch Irrtümer, Irrationalitäten und abgelehnte Theorien zustande gekommen ist. Wider den Methodenzwang (1974); Science in Free Society (1978); Wissenschaft als Kunst (1984) 1216 Der Gedanke, die Wissenschaft könne und sollte nach festen und allgemeinen Regeln betrieben werden, ist sowohl wirklichkeitsfern als auch schädlich. Er ist wirklichkeitsfern, weil er sich die Fähigkeiten des Menschen und die Bedingungen ihrer Entwicklung zu einfach vorstellt. Und er ist schädlich, weil der Versuch, die Regeln durchzusetzen, zur Erhöhung der fachlichen Fähigkeiten auf Kosten unserer Menschlichkeit führen muss. 1217 Außerdem ist der Gedanke für die Wissenschaft selbst von Nachteil, denn er vernachlässigt die komplizierten physikalischen und historischen Bedingungen des Fortschritts. ... Alle Methodologien haben ihre Grenzen, und die einzige ‚Regel‘, die übrigbleibt, lautet ‚Anything goes‘. Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang 1218 INKOMMENSURABILITÄT 1219 In einigen Fällen können sich die Prinzipien zweier rivalisierender Theorien so radikal voneinander unterscheiden, dass beide Theorien keine einzige Beobachtungsaussage gemeinsam haben! Dann ist es nicht möglich, die beiden Theorien sinnvoll miteinander zu vergleichen. Sie sind daher inkommensurabel. 1220 Klassische Mechanik Physikalische Objekte besitzen eine Form, eine Masse und ein Volumen, und diese Eigenschaften können durch physikalische Wechselwirkungen verändert werden. 1221 Relativitätstheorie Eigenschaften wie Form, Masse oder Volumen existieren nicht als solche. Sie sind abhängig von einem Bezugsrahmen und können daher ohne eine physikalische Wechselwirkung verändert werden, einfach indem man von einem Bezugsrahmen zu einem anderen wechselt. 1222 Jeder Beobachtungsaussage über Gegenstände in der klassischen Mechanik kommt eine grundsätzlich andere Bedeutung zu als einer ähnlichen Beobachtungsaussage innerhalb der Relativitätstheorie! Die beiden Theorien sind zueinander inkommensurabel. Wissenschaftlicher Fortschritt ist disruptiv und nicht graduell. 1223 PARADIGMEN UND REVOLUTIONEN 1224 Thomas Kuhn (1922-1996) Kuhn gilt als einer der wichtigsten amerikanischen Wissenschaftstheoretiker. Er lehrte in Berkeley und später am MIT Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Sein wichtigstes Werk „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ schrieb er schon als Student. Er gilt als einer der wichtigsten Kritiker des Falsifikationismus. The Structure of Scientific Revolutions (1962) 1225 Wissenschaftlicher Fortschritt geschieht nicht graduell, sondern disruptiv. Er geschieht nicht durch die Anwendung einer bestimmten Methode, sondern durch den Niedergang und Zerfall von Paradigmen. Paradigmen und Revolutionen statt „anything goes“. 1226 Vor-Wissenschaft (keine Prinzipien, keine Methoden) Normalwissenschaft (Prinzipien, Methoden, Schwierigkeiten) Krise (Schwierigkeiten nehmen überhand) Revolution (neue Prinzipien, neue Methoden) Normalwissenschaft (Prinzipien, Methoden, Schwierigkeiten) 1227 PARADIGMEN UND NORMALWISSENSCHAFT 1228 Die Probleme und Rätsel eines Paradigmas sind entweder theoretischer Natur (Beispiel: Berechnung der Planetenbewegungen) oder instrumenteller Natur (Beispiel: Präzisierung teleskopischer Betrachtungen). 1229 Das Scheitern bei der Lösung paradigmatischer Probleme wird als Scheitern des Wissenschaftlers und nicht als Scheitern des Paradigmas gewertet. 1230 Ein Wissenschaftler steht dem Paradigma, in welchem er arbeitet, unkritisch gegenüber. 1231 Die Ausbildung eines Wissenschaftlers innerhalb eines Paradigmas besteht im Lösen von Standardproblemen, der Anwendung der Theorie auf Standardsituationen, sowie dem Ausführen von Standardexperimenten, die ihn mit den Methoden und Techniken des Paradigmas vertraut machen. 1232 Probleme, die sich einer Lösung widersetzen, werden eher als Anomalien im Paradigma statt als Falsifikationen des Paradigmas betrachtet. 1233 Die Normalwissenschaft orientiert sich vorwiegend an Paradigmen, welche die zentralen Fragestellungen, Methoden, sowie die zulässigen Lösungswege vorgeben. Probleme, die sich einer Lösung widersetzen, werden in der Regel als Anomalien statt als Falsifikationen des Paradigmas betrachtet. 1234 Zu einer Krise kommt es, wenn: … eine Anomalie die Grundlagen eines Paradigmas bedroht, … sich eine Anomalie nicht länger bagatellisieren lässt, … es zu viele Anomalien gibt, … die Zeitspanne der Resistenz einer Anomalie zu groß wird, … oder sich ein rivalisierendes Paradigma einstellt. 1235 Ein neues Paradigma bringt gewöhnlich ganz andere Fragestellungen mit sich. Die Problemstellungen des alten Paradigmas werden als obsolet oder müßig betrachtet. Rivalisierende Paradigmen erachten unterschiedliche Fragen als legitim oder bedeutsam! 1236 DIE INKOMMENSURABILITÄT VON WISSENSCHAFTLICHEN PARADIGMEN 1237 Weil die Fragen, die Problemstellungen und die Ansicht, was die zu erklärenden die Phänomene sind, für rivalisierende Paradigmen unterschiedlich sind, kann es kein logisches oder empirisches Argument geben, das die Überlegenheit des einen über das andere Paradigma beweist, oder das einen Wissenschaftler zwingen könnte, den Wandel zu vollziehen. Anhänger rivalisierender Paradigmen leben „in verschiedenen Welten“. 1238 Wenn zwei Paradigmen keine wissenschaftlichen Standards miteinander teilen, dann gibt es keine gemeinsamen Voraussetzungen, vor welchen sich stringente Argumentationen für und wider eine Theorie überhaupt entwickeln lassen. Rivalisierende Paradigmen sind einander inkommensurabel! 1239