Grundlagen der THEORETISCHEN PHILOSOPHIE

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Philosophische Fakultät
Institut für Philosophie
Lehrstuhl für Theoretische Philosophie
Dr. Holm Bräuer MBA
Grundlagen der
THEORETISCHEN PHILOSOPHIE
Sommersemester 2017
1
Philosophische Fakultät
Institut für Philosophie
Lehrstuhl für Theoretische Philosophie
Dr. Holm Bräuer MBA
4. Wissenschaftstheorie
961
1. Wissenschaftliche Erklärungen
2. Bestätigung wissenschaftlicher Theorien
3. Was ist eigentlich eine Theorie?
970
ZUR BESTÄTIGUNG
WISSENSCHAFTLICHER
THEORIEN
1101
Explanans
Theorie, allgemeine Gesetzmäßigkeiten
Wie müssen Explanans und Explanandum aufeinander bezogen sein,
damit man von einer erfolgreichen Erklärung sprechen kann?
Explanandum
das, was die Theorie erklärt
1102
Explanans
Welt
allgemeine Gesetzmäßigkeiten
In welchem Verhältnis müssen das Explanans und die Welt stehen,
damit es empirisch signifikant und wahr ist?
1103
Wie lassen sich Verallgemeinerungen (Theorien)
bestätigen, deren Wahrheit wir nicht direkt durch
Beobachtung feststellen können?
1104
VERIFIKATIONISMUS
FALSIFIKATIONISMUS
HOLISMUS
KONVENTIONALISMUS
ANYTHING GOES
PARADIGMEN UND REVOLUTIONEN
1105
VERIFIKATIONISMUS
Die Hypothetisch-Deduktive Methode
1106
Eine Hypothese wird durch ihre beobachtbaren
Konsequenzen bestätigt bzw. widerlegt. Wenn die
beobachtbaren Konsequenzen eintreffen, dann gilt
eine Hypothese als (teilweise) bestätigt; sonst als
widerlegt.
1107
Boyles Gasgesetz: P x V = konst. (T = konst.)
1108
Boyles Gesetz: Der Druck eines Gases ist bei konstanter
Temperatur umgekehrt proportional zu seinem Volumen.
Versuchsbedingungen:
Das Anfangsvolumen des beobachteten Gases beträgt 1 Liter.
Der Anfangsdruck beträgt 1 atm.
Der Druck wird auf 2 atm erhöht.
Die Temperatur bleibt konstant.
Beobachtung: Das Volumen verringert sich auf 0,5 Liter.
1109
Testschema (H-D Modell)
H (Hypothese/Theorie)
A (beobachtbare Testbedingungen)
K (beobachtbare Konsequenz)
1110
Problem
Temperaturen und Drücke lassen sich nicht direkt
beobachten. Wir brauchen Thermometer,
Druckmesser, eine zuverlässige Gaskammer usw.
1111
Jedes Testmodell benötigt weitere Hilfshypothesen,
die die „Beobachtbarkeit“ weiterer Bedingungen
betreffen.
1112
Erweitertes Testschema
H (Hypothese/ Theorie)
A (beobachtbare Testbedingungen)
HH (Hilfshypothesen)
K (beobachtbare Konsequenz)
1113
DAS PROBLEM DER
ALTERNATIVHYPOTHESEN
1114
Jede beliebige (aber endliche) Anzahl von Versuchen kann durch
unendlich viele alternative Kurven erklärt werden. Und jede dieser
möglichen Hypothesen wäre angesichts der gemachten Versuche
gleich gut bestätigt!
1115
Immer wenn ein beobachtbares Resultat eines H-DTests eine gegebene Hypothese bestätigt, bestätigt
dieser Test ebenso viele weitere Hypothesen, die mit
der gegebenen Hypothese inkompatibel sind.
1116
Wie können wir sicher sein, dass ein Test als
Bestätigung für eine bestimmte Hypothese gilt, wenn
dieser Test viele weitere, inkompatible Hypothesen
bestätigen würde?
1117
DAS PROBLEM DER
STATISTISCHEN HYPOTHESEN
1118
Angenommen, wir möchten die Hypothese testen,
dass der Gang zur Psychotherapie die
Wahrscheinlichkeit der Genesung im Falle einer
Depression erhöht.
1119
Angenommen, Bruce Brown leidet an Depressionen.
Er geht zur Psychotherapie (Randbedingungen) und
er gesundet (beobachtbare Konsequenz).
1120
Bestätigt dies unsere Hypothese?
1121
Ausnahmen bestätigen die Regel!
Aus einer statistischen Hypothese kann man nicht
ableiten, was tatsächlich passieren wird.
Statistische Gesetzmäßigkeiten lassen sich in einem
H-D-Modell nicht (so einfach) testen!
1122
BESTÄTIGUNGSPARADOXIEN
1123
Das Rabenparadox
1124
Annahmen der Bestätigungstheorie
(1) Eine Hypothese wird durch die Beobachtung seiner
Instanzen (teilweise) bestätigt. (H-D Modell)
(2) Die Bestätigung einer Hypothese hängt von ihrem
Inhalt ab, nicht davon, wie sie formuliert wird.
(Äquivalenzbedingung)
1125
Alle Raben sind schwarz.
ist äquivalent mit/ bedeutet dasselbe wie
Alle nicht-schwarzen Gegenstände sind keine Raben.
1126
Alle nicht-schwarzen Gegenstände sind keine Raben.
1127
Common Sense
Bestätigungstheorie
enthält
impliziert
Die Hypothese „Alle Raben sind schwarz“
Die Hypothese „Alle Raben sind schwarz“
lässt sich nicht durch die Beobachtung
lässt sich durch die Beobachtung von
von weißen Kreidestücken bestätigen …
weißen Kreidestücken bestätigen …
… denn sonst könnten wir Vogelkunde im
… da weiße Kreidestücke nicht-schwarze
Lehnstuhl betreiben.
Gegenstände und keine Raben sind.
1128
REAKTIONEN
1129
Hempel: Der Common-Sense hat Unrecht. Die
Intuition, dass nicht-schwarze Nicht-Raben die
Hypothese „Alle Raben sind schwarz.“ nicht bestätigen
können, beruht auf unserem Vorwissen, welches sehr
viele nicht-schwarze Nicht-Raben enthält.
Jede Beobachtung, die einer Allaussage nicht widerspricht,
bestätigt sie.
1130
Popper: Hypothesen lassen sich gar nicht bestätigen.
Sie lassen sich allenfalls falsifizieren.
Unser Bestreben muss es sein, Hypothesen durch negative
Beispiele zu Fall zu bringen. (Falsifikationismus)
1131
Quine: Gesetze handeln von natürlichen Arten. „NichtRaben" stellen allenfalls ein buntes Sammelsurium,
aber keine natürliche Art dar.
Hypothesen, in denen von „Nicht-Raben“ die Rede ist, stellen
keine Naturgesetze dar, für die es eine Bestätigung geben
könnte.
1132
Bayesianismus: Die Wahrscheinlichkeit für ein
beliebiges Objekt, ein schwarzer Rabe zu sein, ist bei
weitem geringer als ein nicht-schwarzer Nicht-Rabe zu
sein. Deshalb bestätigt die Beobachtung eines
schwarzen Raben die Hypothese stärker als die
Beobachtung von nicht-schwarzen Nicht-Raben.
Die Hypothese wird durch nicht-schwarze Nicht-Raben nur
sehr schwach bestätigt.
1133
GOODMANS NEUES RÄTSEL
DER INDUKTION
1134
Nelson Goodman (1906-1998)
Goodman ist ein führender Vertreter der
analytischen Philosophie. Er arbeitete zu
erkenntnistheoretischen,
wissenschaftstheoretischen,
sprachphilosophischen und ästhetischen
Themenstellungen.
The Structure of Appearance (1951); Fact, Fiction, and Forecast (1955); Languages
of Art (1968); Ways of Worldmaking (1976)
1135
Induktion
Schluss oder „Projektion“ von Beobachtungsdaten auf
andere, noch nicht beobachtete Fälle.
1136
Bisherige Beobachtungen
A ist ein Smaragd und A ist grün.
B ist ein Smaragd und B ist grün.
C ist ein Smaragd und C ist grün.
…
1137
Beobachtungsdaten legen nahe …
Voraussage: Der nächste Smaragd D, den wir finden
werden, wird ebenfalls grün sein.
Übertragung auf eine Menge: Andere Smaragde, die
wir noch nicht untersucht haben, sind ebenfalls grün.
Allgemeines Gesetz: Alle Smaragde sind grün.
1138
Beobachtungsdaten legen nicht nahe …
Voraussage: Der nächste Smaragd D, den wir finden
werden, wird rot sein.
Übertragung auf eine Menge: Andere Smaragde, die
wir noch nicht untersucht haben, sind entweder grün
oder gelb.
Allgemeines Gesetz: Alle Smaragde sind blau.
1139
Die Gültigkeit des induktiven Schließens
Induktive Schlüsse oder Projektionen sind genau dann
gültig (rational), wenn die Daten oder Evidenzen, auf
denen sie gründen, Instanzen der Hypothesen sind,
die wir über noch unbeobachtete Fälle bilden.
1140
Goodmans erste Entdeckung
Nicht immer ist es rational von der Beobachtung
einzelner Fälle auf noch nicht beobachtete Fälle zu
schließen.
1141
Gutartiger Fall
A ist ein Smaragd und A ist grün.
Projektion: Alle Smaragde sind grün.
1142
Gutartiger Fall
Bestätigung: Das Auffinden eines grünen Smaragdes
stützt die Hypothese, dass alle Smaragde grün sind.
Induktion: Es ist rational, aus der Beobachtung von
grünen Smaragden darauf zu schließen, dass alle
Smaragde grün sind.
1143
Nicht Gutartiger Fall
A ist ein Mann in diesem Raum und A hat einen
älteren Bruder.
Projektion: Jeder Mann in diesem Raum hat einen
älteren Bruder.
1144
Nicht Gutartiger Fall
Bestätigung: Die Beobachtung, dass einer der Männer in diesem
Raum einen älteren Bruder hat, stützt die Hypothese, dass jeder
Mann in diesem Raum einen älteren Bruder hat.
Induktion: Es ist jedoch nicht rational, aus der Beobachtung,
dass ein Mann in diesem Raum einen älteren Bruder hat, darauf
zu schließen, dass jeder Mann in diesem Raum einen älteren
Bruder hat.
1145
Terminologie
„Smaragd“ und „grün“ heißen projizierbare
Prädikate.
„Mann in diesem Raum“ und „einen älteren Bruder
haben“ heißen nicht-projizierbare Prädikate.
1146
Goodmans zweite Entdeckung
Nicht-projizierbare Prädikate sind weit verbreitet und
lassen sich leicht konstruieren.
1147
grün
heute
Wir definieren das Prädikat grot, welches eine
Eigenschaft bezeichnen soll, die ein Ding besitzt,
wenn es bis heute grün und ab morgen rot ist.
grot
heute
1148
Nicht Gutartiger Fall
A wurde heute gefunden und A ist ein groter (d.h.
grüner) Smaragd.
Projektion: Jeder Smaragd, den morgen finden
werden, wird ebenfalls grot (d.h. rot) sein.
1149
Nicht Gutartiger Fall
Bestätigung: Die Beobachtung, dass ein Smaragd heute grot ist,
stützt Hypothese, dass ein Smaragd, den wir morgen finden
werden, ebenfalls grot sein wird.
Induktion: Es ist jedoch nicht rational, aus der Beobachtung,
dass ein Smaragd heute grot (d.h. grün) ist, darauf zu schließen,
dass Smaragde, die wir ab morgen finden werden, ebenfalls grot
(d.h. rot) sein werden.
1150
Jetzt definieren wir das Prädikat Smarose, welches
ein Ding bezeichnen soll, das bis heute ein Smaragd
und ab morgen eine Rose ist.
1151
Nicht Gutartiger Fall
A wurde heute gefunden und ist eine grote Smarose
(d.h. ein grüner Smaragd).
Projektion: Jede Smarose (d.h. Rose), die wir ab
morgen finden werden, wird ebenfalls grot (d.h. rot)
sein.
1152
Nicht Gutartiger Fall
Es ist überhaupt nicht rational aufgrund der heutigen
Beobachtung eines grünen Smaragds die Hypothese
zu bilden, dass jede Rose, die wir morgen finden
werden, rot ist.
1153
Fazit
Alles bestätigt alles.
Der Begriff der Bestätigung ist nutzlos.
1154
Lässt sich Goodmans Paradox lösen, indem wir
verlangen, dass in induktiven Hypothesen nur
einfache Prädikate (wie „grün“ oder „Smaragd“) und
keine komplexen, zusammengesetzten Prädikate (wie
„grot“ oder „Smarose“) verwendet werden?
1155
grot
blün
grün (heute grot, ab morgen blün)
heute
Wir können „grün“ unter Zuhilfenahme eines weiteren
Prädikates, nämlich „blün“ definieren. Ein Gegenstand
sei blün, wenn bis heute blau und ab morgen grün ist.
1156
Damit lässt sich das nun komplexe Prädikat grün
definieren als eine Eigenschaft, die ein Gegenstand
dann besitzt, wenn er bis heute grot und ab morgen
blün ist.
1157
Fazit
Welches Prädikat komplex und welches einfach ist,
hängt davon ab, wo wir beginnen! Wir können den Fall
auch so konstruieren, dass „grün“ komplex und „grot“
einfach ist.
1158
GOODMANS LÖSUNG
Entrenchment (Verankerung)
1159
Problemstellung
Manche induktive Projektionen, wie z.B. „Jeder
Smaragd ist grün.“, verhalten sich gutartig, und
andere induktive Projektionen, wie z.B. „Jeder Mann in
diesem Raum hat einen älteren Bruder.“ oder „Jede
Smarose ist grot.“, sind inakzeptabel.
Warum sind manche Hypothesen inakzeptabel und andere
nicht?
1160
Goodmans These
Gutartig sind Projektionen, die Prädikate enthalten, welche in
unserer wissenschaftlichen Praxis gut verankert sind.
Inakzeptabel sind Projektionen, die Prädikate enthalten, welche in
unserer wissenschaftlichen Praxis nicht verankert sind.
1161
Verankerung (entrenchment)
Ein Prädikat gilt in unserer wissenschaftlichen Praxis
genau dann als gut verankert, wenn es in dieser schon
häufig verwendet wurde.
Plausibel?
1162
Die Hypothese „Jeder Smaragd ist grün.“ ist gutartig,
weil die Prädikate „Smaragd“ und „grün“ in unserer
Wissenschaftspraxis gut verankert sind.
Die Hypothese „Jede Smarose ist grot.“ ist
inakzeptabel, weil die Prädikate „Smarose“ und „grot“
nicht in unserer Wissenschaftspraxis verankert sind.
1163
Fazit
Das H-D-Modell der Bestätigung von Hypothesen hat
mit einer Reihe von Paradoxien zu kämpfen.
Gelingt es dem Verifikationismus, die BestätigungsBeziehung angemessen zu charakterisieren?
1164
FALSIFIKATIONISMUS
1165
Karl Popper (1902-1994)
Popper gilt als einer der einflussreichsten Autoren
auf den Gebieten der Wissenschaftstheorie sowie
der politischen Philosophie. Er kritisierte den
Logischen Empirismus und dessen Sichtweise der
wissenschaftlichen Methode. In die politische
Theorie ist er als wichtiger Kritiker des Marxismus
eingegangen. Popper wurde 1965 von der Queen
Elizabeth II geadelt.
Logik der Forschung (1934); The Open Society and Its Enemies (1945); Conjectures
and Refutations (1965); Objective Knowledge (1972); The Self and Its Brain (1977)
1166
DEDUKTION VS. INDUKTION
1167
Deduktive Argument sind
nicht erkenntniserweiternd: Wir
Deduktion
lernen nichts Neues hinzu.
notwendig wahrheitserhaltend:
Wenn die Prämissen wahr sind, dann
muss die Konklusion ebenfalls wahr
sein.
Alle Menschen sind sterblich.
Sokrates ist ein Mensch.
erosionsbeständig:
Zusatzinformationen verändern nicht
die Gültigkeit eines deduktiven
Arguments.
Sokrates ist sterblich.
absolut: Die Gültigkeit eines
deduktiven Arguments kennt keine
Grade.
1168
Induktive Argumente sind
Induktion
erkenntniserweiternd: Wir lernen
etwas Neues hinzu.
nicht notwendig wahrheitserhaltend:
Ein induktives Argument kann trotz
wahrer Prämissen eine falsche
Dieser Rabe ist schwarz.
Jener Rabe ist schwarz.
Konklusion besitzen.
nicht erosionsbeständig: Neue
Prämissen können die Gültigkeit eines
induktiven Arguments unterminieren.
Alle Raben sind schwarz.
graduell: Die Prämissen können die
Konklusion in unterschiedlicher Stärke
stützen.
1169
DAS KLASSISCHE BILD
Hypothesenbildung und Bestätigung
1170
Hypothesenbildung
Bestätigung
Dieser beobachtete Rabe ist schwarz.
Alle Raben sind schwarz.
Jener beobachtete Rabe ist schwarz.
Dies ist ein Rabe.
Alle Raben sind schwarz.
Er ist schwarz.
Das Aufstellen von Hypothesen
Wissenschaftliche Hypothesen
geschieht über induktive
werden deduktiv anhand ihrer
Verallgemeinerungen, die unsere
beobachtbaren Konsequenzen
Beobachtungen zusammenfassen.
(graduell) bestätigt.
1171
Probleme
Probleme
Entdeckungszusammenhang
Rechtfertigungszusammenhang
Humes Induktionsskepsis: Es gibt
Das Problem der alternativen
keinerlei Rechtfertigung für induktive
Hypothesen: Ein und dieselben
Schlüsse.
Beobachtungen rechtfertigen eine
Vielzahl inkompatibler Hypothesen.
Goodmans neues Rätsel der
Induktion: Jede Bestätigung einer
Hempels Rabenparadox: Hypothesen
Hypothese gilt auch als eine
scheinen sich auch durch irrelevante
Bestätigung vieler anderer
Beobachtungen stützen zu lassen.
inkompatibler Hypothesen.
1172
POPPERS
FALSIFIKATIONISMUS
Vermutungen und Widerlegungen
1173
The work of the scientist consists in putting forward
and testing theories. The initial stage, the act of
conceiving or inventing a theory, seems to me neither
to call for logical analysis nor to be susceptible of it.
The question how it happens that a new idea occurs to
a man ... may be of great interest to empirical
psychology; but it is irrelevant to the logical analysis of
scientific knowledge.
Popper, Logic of Inquiry
1174
Hypothesenbildung
Entdeckungszusammenhang
Wissenschaft beginnt nie mit Beobachtungen
(induktiv), sondern immer mit Vermutungen (deduktiv).
1175
Bestätigung
Rechtfertigungszusammenhang
Beobachtungen können nie die Wahrheit
wissenschaftlicher Hypothesen begründen
(Verifikation), wohl aber ihre Falschheit (Falsifikation).
Die Beobachtung eines schwarzen Schwans falsifiziert die
Hypothese, dass alle Schwäne weiß sind, ein für alle mal.
1176
Beispiel: Die Keplerschen Gesetze
1177
Kepler entdeckte, dass sich der Mars in einer
elliptischen Bahn um die Sonne bewegt. Er stellte die
Vermutung an, dass die Bewegung der Planeten
entweder zirkulär oder zusammengesetzt aus wenigen
zirkulären Bewegungen ist.
… und bildete drei Hypothesen.
1178
1 Der Orbit des Mars ist ein Kreis um ein Zentrum C, welches
sich ein wenig von der Sonne entfernt befindet.
2 Der Orbit des Mars setzt sich aus zwei Kreisen zusammen,
deren zusammengesetzte Form eiförmig ist, wobei das spitze
Ende den sonnennächsten Punkt des Mars bildet.
3 Der Orbit des Mars ist eine Ellipse mit der Sonne in einem der
Zentren.
1179
Jede der Hypothesen hat er daraufhin sorgfältig mit
den empirischen Daten verglichen.
1180
Die ersten beiden Vermutungen musste er aufgrund
ihrer Nichtübereinstimmung mit den verfügbaren
Daten verwerfen; nur die dritte Hypothese widerstand
allen ihm verfügbaren Kenntnissen über die
Bewegung des Mars.
1181
Diese ist als das Keplersche Gesetz in die
Wissenschaftsgeschichte eingegangen.
1182
 Kepler hat einfache Vermutungen angestellt.
 Er hat dann diese Vermutungen mit dem
beobachteten Daten verglichen.
 … und diejenigen Hypothesen verworfen, deren
Konsequenzen nicht mit den beobachteten Daten
im Einklang standen.
Hypothesenbildung ist kreativ. Bestätigung ist falsifikatorisch.
1183
PROBLEME
1184
Dr. Falsi
1185
Dr. Falsi stellt zum Zeitpunkt t1 eine Theorie T auf. Zu
t1 gibt es noch keine Evidenzen für T, so dass es sich
um eine reine Vermutung handelt.
1186
Zwischen t1 und t2 jedoch haben Dr. Falsi und seine
Kollegen gezeigt, dass sich mit T eine ganze Reihe
von Beobachtungen erklären lassen. Außerdem haben
sie viele Experimente angestellt, um T zu testen, von
denen sich jedes einzelne als Erfolg herausgestellt
hat.
1187
Intuition
Zu t1 hat es für T keine Evidenzen gegeben, aber zu t2
liegen starke empirische Evidenzen für T vor, die uns
darin rechtfertigen, T als eine gute Theorie in der
Wissenschaftspraxis weiter zu verwenden.
Der epistemische Status von T hat sich verändert.
1188
Falsifikationismus
Am Status der Theorie hat sich nichts geändert. Wenn
nur Widerlegungen eine Rolle spielen, dann ist T zu t2
genauso nur eine Vermutung wie zu t1.
Das ist kontraintuitiv.
1189
Bewährungsgrad
Je häufiger eine Theorie dem Versuch der
Widerlegung widerstanden hat, desto höher ist ihr
Bewährungsgrad.
1190
Der Begriff des Bewährungsgrades entspricht
unserem alten Begriff der (graduellen) Bestätigung
einer Theorie (Hypothese), wodurch wir uns genau die
Probleme wieder einhandeln, die Popper vermeiden
wollte!
1191
Verifikation und Falsifikation sitzen im selben Boot!
1192
Alle Raben sind
Es gibt Higgs Bosonen.
schwarz.
Diese Aussage lässt sich durch die
Diese Aussage lässt sich durch die
Beobachtung von anderen
Beobachtung von schwarzen
Elementarteilchen nur graduell
Raben nur graduell verifizieren.
falsifizieren.
Sie lässt sich jedoch durch die
Sie lässt sich jedoch durch die
Beobachtung eines einzigen
Beobachtung eines einzigen Higgs
nichtschwarzen Raben ein für alle
Bosons ein für alle Mal
Mal falsifizieren.
verifizieren.
1193
Fazit
Ob sich eine Hypothese absolut oder nur graduell
bestätigen bzw. falsifizieren lässt, hängt von ihrer
logischen Form und nicht von der angewandten
Methode ab!
1194
HOLISMUS
1195
Pierre Duhem (1861-1916)
Duhem war ein bedeutender französischer Physiker
und Mathematiker. Er lieferte es sich einen heftigen
Disput mit seinem Kollegen Poincaré. Seine
Entdeckung, dass bei der Bestätigung einer
Hypothese stets ein Gefüge weiterer Annahmen
vorausgesetzt werden muss, ist als Duhem-Quine
These in die Geschichte eingegangen.
The Aim and Structure of Physical Theory (1904/05); The Value of Science (1904/05);
Physics of a Believer (1905); To Save the Phaenomena (1908)
1196
Was auf dem Prüfstand der Erfahrung steht, ist immer
eine ganze Theorie, bzw. eine Theorie zusammen mit
einem ganzen Netz von Zusatzannahmen.
Kein Experiment ist in der Lage, eine einzelne Hypothese zu
falsifizieren.
1197
H-D-Testmodell
(H & A1 & A2 & A2)  O
H ... Hypothese, die überprüft werden soll
A1, A2, A2 ... Zusatzannahmen und Randbedingungen
O ... Beobachtung/ Voraussage
1198
Angenommen, O tritt nicht ein. Dann gilt nicht-O und
das impliziert:
nicht (H & A1 & A2 & A2)
1199
… und das ist äquivalent mit:
Nicht-H oder
Nicht-A1 oder
Nicht-A2 oder
Nicht-A3
1200
Was kann ein fehlgeschlagener Test überhaupt
zeigen?
Kann ein fehlgeschlagenes Experiment eine
Hypothese tatsächlich falsifizieren?
1201
Fazit
Wir können aus dem Fehlschlagen eines empirischen
Tests nur schließen, dass entweder unsere Hypothese
oder eine oder mehrere Zusatzannahmen falsch sind.
Weder die Beobachtung noch die Logik kann uns
zeigen, welche der Annahmen wir verwerfen sollen!
Es steht uns frei zu entscheiden, an welcher Stelle wir
Veränderungen vornehmen.
1202
KONVENTIONALISMUS
1203
Henry Poincaré (1854-1912)
Poincaré ist ein bedeutender Mathematiker,
Physiker und Wissenschaftstheoretiker, welcher in
Paris lehrte. Er interessierte sich für nichtEuklidische Geometrie, entdeckte einen Vorläufer
der speziellen Relativitätstheorie und formulierte
wichtige Gesetze in der Chaostheorie. In
wissenschaftstheoretischer Perspektive gilt er als
Begründer des Konventionalismus.
Science and Hypothesis (1902); The Value of Science (1905); Science and Method
(1908)
1204
WELCHEN STATUS HABEN DIE
AXIOME DER GEOMETRIE?
1205
Kant betrachtete die Axiome der Euklidischen
Geometrie als synthetische Urteile a priori (d.h. als
Urteile, die vor aller Erfahrung liegen und gleichzeitig
als die Bedingung der Möglichkeit der räumlichen
Erfahrung gelten).
1206
Hilbert und Lobachevsky haben die Geometrie
weiterentwickelt und gezeigt, dass sich alternative
Geometrien entwickeln lassen, die dieselbe logische
und mathematische Legitimität wie die Euklidische
Geometrie besitzen.
1207
Die geometrischen Axiome sind ... weder synthetische Urteile a
priori noch experimentelle Tatsachen. Es sind auf
Übereinkommen beruhende Festsetzungen; unter allen
möglichen Festsetzungen wird unsere Wahl von experimentellen
Tatsachen geleitet; aber sie bleibt frei und ist nur durch die
Notwendigkeit begrenzt, jeden Widerspruch zu vermeiden ... Mit
anderen Worten: die geometrischen Axiome ... sind nur
verkleidete Definitionen.
Poincaré, Science and Hypothesis
1208
Poincaré stellte verschiedene geometrische
Axiomensysteme und deren Anwendungen vor und
bezeichnet sie als verschiedene „Sprachen“.
„… unsere Geometrie ist nicht wahr, sondern sie ist
vorteilhaft“
1209
WELCHEN STATUS HABEN
WISSENSCHAFTLICHE
HYPOTHESEN?
1210
1211
Wenn wir ein mathematisches Gesetz finden möchten,
das eine gegebene Serie von Beobachtungen
beschreiben soll, dann interpolieren wir üblicherweise
die einfachste Linie eines gegeben Graphen von
Punkten. Diese Entscheidung beruht nicht „in der
Natur der Sache selbst“, sondern sie geschieht rein
konventionell.
1212
Die tatsächliche Kurve, die wir in unserer Theorie mit
mathematischen Mitteln konstruieren, hängt sowohl
von der Erfahrung als auch von der Einfachheit der
Kurve ab – je einfacher die Kurve, desto mehr Punkte
werden außerhalb dieser liegen.
Einfach aber ungenau, oder kompliziert und genau? Wie
entscheiden wir uns?
1213
Die interpolierte Kurve – das angenommene Gesetz –
ist keine direkte Generalisierung aus der Erfahrung.
Sie korrigiert die Erfahrung! Welche Linie wir wählen
(welche Theorie wir favorisieren), hängt von unseren
Entscheidungen ab! Obwohl wissenschaftliche
Theorien auf Erfahrung beruhen, so sind sie doch
weder verifizier- noch falsifizierbar durch die Erfahrung
allein!
1214
ANYTHING GOES
1215
Paul Feyerabend (1924-1994)
Der österreichische Philosoph Paul Feyerabend
beschäftigte sich vorwiegend mit der
Wissenschaftstheorie, und den sozialen Folgen der
Wissenschaft. In „Wider den Methodenzwang“
behauptete er, dass der Wissenschaftsfortschritt
hauptsächlich durch Irrtümer, Irrationalitäten und
abgelehnte Theorien zustande gekommen ist.
Wider den Methodenzwang (1974); Science in Free Society (1978); Wissenschaft
als Kunst (1984)
1216
Der Gedanke, die Wissenschaft könne und sollte nach
festen und allgemeinen Regeln betrieben werden, ist
sowohl wirklichkeitsfern als auch schädlich. Er ist
wirklichkeitsfern, weil er sich die Fähigkeiten des
Menschen und die Bedingungen ihrer Entwicklung zu
einfach vorstellt. Und er ist schädlich, weil der
Versuch, die Regeln durchzusetzen, zur Erhöhung der
fachlichen Fähigkeiten auf Kosten unserer
Menschlichkeit führen muss.
1217
Außerdem ist der Gedanke für die Wissenschaft selbst
von Nachteil, denn er vernachlässigt die komplizierten
physikalischen und historischen Bedingungen des
Fortschritts. ... Alle Methodologien haben ihre
Grenzen, und die einzige ‚Regel‘, die übrigbleibt, lautet
‚Anything goes‘.
Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang
1218
INKOMMENSURABILITÄT
1219
In einigen Fällen können sich die Prinzipien zweier
rivalisierender Theorien so radikal voneinander
unterscheiden, dass beide Theorien keine einzige
Beobachtungsaussage gemeinsam haben! Dann ist es
nicht möglich, die beiden Theorien sinnvoll
miteinander zu vergleichen. Sie sind daher
inkommensurabel.
1220
Klassische Mechanik
Physikalische Objekte besitzen eine Form, eine Masse
und ein Volumen, und diese Eigenschaften können
durch physikalische Wechselwirkungen verändert
werden.
1221
Relativitätstheorie
Eigenschaften wie Form, Masse oder Volumen
existieren nicht als solche. Sie sind abhängig von
einem Bezugsrahmen und können daher ohne eine
physikalische Wechselwirkung verändert werden,
einfach indem man von einem Bezugsrahmen zu
einem anderen wechselt.
1222
Jeder Beobachtungsaussage über Gegenstände in
der klassischen Mechanik kommt eine grundsätzlich
andere Bedeutung zu als einer ähnlichen
Beobachtungsaussage innerhalb der
Relativitätstheorie! Die beiden Theorien sind
zueinander inkommensurabel.
Wissenschaftlicher Fortschritt ist disruptiv und nicht graduell.
1223
PARADIGMEN UND
REVOLUTIONEN
1224
Thomas Kuhn (1922-1996)
Kuhn gilt als einer der wichtigsten
amerikanischen Wissenschaftstheoretiker. Er
lehrte in Berkeley und später am MIT
Philosophie und Wissenschaftsgeschichte.
Sein wichtigstes Werk „Die Struktur
wissenschaftlicher Revolutionen“ schrieb er
schon als Student. Er gilt als einer der
wichtigsten Kritiker des Falsifikationismus.
The Structure of Scientific Revolutions (1962)
1225
Wissenschaftlicher Fortschritt geschieht nicht graduell,
sondern disruptiv. Er geschieht nicht durch die
Anwendung einer bestimmten Methode, sondern
durch den Niedergang und Zerfall von Paradigmen.
Paradigmen und Revolutionen statt „anything goes“.
1226
Vor-Wissenschaft (keine Prinzipien, keine Methoden)
Normalwissenschaft (Prinzipien, Methoden, Schwierigkeiten)
Krise (Schwierigkeiten nehmen überhand)
Revolution (neue Prinzipien, neue Methoden)
Normalwissenschaft (Prinzipien, Methoden, Schwierigkeiten)
1227
PARADIGMEN UND
NORMALWISSENSCHAFT
1228
Die Probleme und Rätsel eines Paradigmas sind
entweder theoretischer Natur (Beispiel: Berechnung
der Planetenbewegungen) oder instrumenteller Natur
(Beispiel: Präzisierung teleskopischer Betrachtungen).
1229
Das Scheitern bei der Lösung paradigmatischer
Probleme wird als Scheitern des Wissenschaftlers und
nicht als Scheitern des Paradigmas gewertet.
1230
Ein Wissenschaftler steht dem Paradigma, in welchem
er arbeitet, unkritisch gegenüber.
1231
Die Ausbildung eines Wissenschaftlers innerhalb
eines Paradigmas besteht im Lösen von
Standardproblemen, der Anwendung der Theorie auf
Standardsituationen, sowie dem Ausführen von
Standardexperimenten, die ihn mit den Methoden und
Techniken des Paradigmas vertraut machen.
1232
Probleme, die sich einer Lösung widersetzen, werden
eher als Anomalien im Paradigma statt als
Falsifikationen des Paradigmas betrachtet.
1233
Die Normalwissenschaft orientiert sich vorwiegend an
Paradigmen, welche die zentralen Fragestellungen,
Methoden, sowie die zulässigen Lösungswege
vorgeben.
Probleme, die sich einer Lösung widersetzen, werden
in der Regel als Anomalien statt als Falsifikationen
des Paradigmas betrachtet.
1234
Zu einer Krise kommt es, wenn:
… eine Anomalie die Grundlagen eines Paradigmas bedroht,
… sich eine Anomalie nicht länger bagatellisieren lässt,
… es zu viele Anomalien gibt,
… die Zeitspanne der Resistenz einer Anomalie zu groß wird,
… oder sich ein rivalisierendes Paradigma einstellt.
1235
Ein neues Paradigma bringt gewöhnlich ganz andere
Fragestellungen mit sich. Die Problemstellungen des
alten Paradigmas werden als obsolet oder müßig
betrachtet.
Rivalisierende Paradigmen erachten unterschiedliche Fragen als
legitim oder bedeutsam!
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DIE INKOMMENSURABILITÄT
VON WISSENSCHAFTLICHEN
PARADIGMEN
1237
Weil die Fragen, die Problemstellungen und die
Ansicht, was die zu erklärenden die Phänomene sind,
für rivalisierende Paradigmen unterschiedlich sind,
kann es kein logisches oder empirisches Argument
geben, das die Überlegenheit des einen über das
andere Paradigma beweist, oder das einen
Wissenschaftler zwingen könnte, den Wandel zu
vollziehen.
Anhänger rivalisierender Paradigmen leben „in verschiedenen Welten“.
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Wenn zwei Paradigmen keine wissenschaftlichen
Standards miteinander teilen, dann gibt es keine
gemeinsamen Voraussetzungen, vor welchen sich
stringente Argumentationen für und wider eine Theorie
überhaupt entwickeln lassen.
Rivalisierende Paradigmen sind einander inkommensurabel!
1239
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