SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde 300 Jahre Karlsruhe Musik einer Stadt (4) Von Thomas Rübenacker Sendung: Donnerstag, 18. Juni 2015 Redaktion: Bettina Winkler 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 1 300 Jahre Karlsruhe, Musik einer Stadt – Teil 4 Karlsruhes klassizistische Frontarchitektur verdankt sich einem genialen Architekten: Friedrich Weinbrenner. Auch das mächtige, etwas düstere Gebäude an der Kaiser-/Ecke Ritterstraße. Zuletzt war es das Karlsruher Domizil der Deutschen Bank, dann wurde auch noch ein Klamottendiscounter mit ins Boot genommen, die Bank muss sparen. Aber noch immer hängt hier ein Schild, das jeder Passant lesen kann: „An dieser Stelle errichtete Friedrich Weinbrenner 1813 bis 1814 das Gebäude der Museumsgesellschaft Karlsruhe, lange Zeit geistiger Mittelpunkt unserer Stadt. Hier wurde am 4. November 1876 die Erste Sinfonie von Johannes Brahms uraufgeführt. 1918 wurde das Haus durch Brand zerstört und später durch dieses Bankgebäude ersetzt.“ Jawohl, meine Damen und Herren – die schmerzlich in über 20 Jahren dem „großen Schatten“ Beethovens abgerungene Erste Sinfonie: ließ Brahms im kleinen Karlsruhe uraufführen, nicht in Hamburg, Berlin, München oder Wien. Der Grund: außer einem mittlerweile erstklassigen Orchester wirkte hier als Hofkapellmeister Otto Dessoff, mit Brahms befreundet und ein ihm kongenialer Dirigent. MUSIK: BRAHMS, ERSTE SINFONIE, Chicago Symphony Orchestra, Georg Solti, Decca 430 799-2, 7‘10 Johannes Brahms, Erste Sinfonie c-moll, ein Ausschnitt des Finalsatzes mit dem berühmten Hornsolo, dem Geburtstagsgruß an die geliebte Clara, Witwe Robert Schumanns. Gespielt wurde das vom Chicago Symphony Orchestra, der Dirigent war Georg Solti. In 2 einem Brief vom Oktober 1876 schreibt der Komponist: „Es war mir nämlich immer ein heimlich lieber Gedanke, das Ding -“ (also die Sinfonie) „- zuerst in der kleinen Stadt, die einen guten Freund, guten Kapellmeister -“ (gemeint war Otto Dessoff) „- und gutes Orchester hat, zu hören.“ In Gegenwart des Komponisten wurde die Uraufführung ein Riesenerfolg, ein Kritiker schrieb: „Es ging zu wie bei einem Musikfest“ - und so kam Karlsruhe zu Brahms oder Brahms zu Karlsruhe, wie man will; als Clara dann hierherzog, war Brahms des öfteren auch „privat“ in den Karlsruher „Fächer“straßen zu sehen, und natürlich in zwei oder drei urigen Wirtshäusern. Angesichts der Tatsache, dass die Musikwelt von damals gespalten war – auf der einen Seite die Wagnerianer, auf der andern die Brahminen, und beides schien unvereinbar: Da verwundert es, dass Karlsruhe den einen wie den andern umarmte. Hofkapellmeister wie Felix Mottl, Hermann Levi oder Otto Dessoff hatten zwar deutliche „Vorlieben“, lehnten mehr zum einen, mehr zum andern, dirigierten aber die Werke beider jeweils mustergültig, in weit über Karlsruhe hinaus gerühmten Aufführungen. So war diese Stadt, die gerade ihr 300-jähriges Jubiläum feiert und von Anfang an als liberal galt, weltoffen und in vielen Bürgerrechten ihrer Zeit voraus, auch in der Kunst „liberal“. Wie wohl Brahms sich in Karlsruhe fühlte, sagt ein Brief, in dem er es das „gemüthliche kleine Nest“ nennt. Zwischen 1865 und 1876 kommt er öfters, bleibt mitunter mehrere Monate und komponiert auch, neben Liedern vor allem den Schluss des 2. Satzes und den 3 dritten bis zur Fuge des „Deutschen Requiems“. Häufig tritt er als Dirigent bzw. Pianist auf, einmal sogar als Organist, nämlich in Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“. Und das alles hatte keineswegs nur mit Clara Schumann zu tun. Brahms schuf sich einen harten Kern von Freunden in Karlsruhe, in dem sich neben dem Photographen Julius Allgeyer und dem Direktor des humanistischen Bismarck-Gymnasiums, Gustav Wendt, auch Maler, Advokaten und Komponisten fanden. Die Freundschaft aber mit Levi und Dessoff bescherte der Stadt so viele BrahmsUraufführungen, dass man Karlsruhe schon in einem Atemzug mit München oder Wien hätte nennen können! Das musste gar nicht immer Großsymphonisches sein. Am 6. November 1864 erklang zum ersten Mal in Levis Karlsruher Wohnung Herrenstraße 48 das Klavierquintett f-moll, mit Clara Schumann am Klavier. Levi war so begeistert, dass er mit den Ausführenden hinterher in die Kneipe zog und sich „in Champagner betrank“, wie er dem ausnahmsweise einmal abwesenden Brahms hinterher schrieb. MUSIK: BRAHMS, KLAVIERQUINTETT f-moll op. 34, Auryn Quartett, Peter Orth (Klavier), Tace 120, 7:36 Johannes Brahms, das Scherzo des Klavierquintetts f-moll op. 34, uraufgeführt in Karlsruhe. Das Auryn Quartet spielte in unserer Aufnahme zusammen mit dem Pianisten Peter Orth. Bekanntlich hat Brahms nie eine Oper geschrieben. Aber es war in Karlsruhe, dass er sich zum ersten Mal zu dem Thema äußerte: Nach einer wieder mal glanzvollen Aufführung der „Carmen“ am 4 Hoftheater sprach er „Wenn ich jemals eine Oper komponieren sollte, dann müsste es etwas wie die Carmen sein!“ Nun, daraus wurde nichts, aber im Baden-Badener Lichtental und später in Karlsruhe schuf er etwas immerhin Opernähnliches – den Reigen der „Liebeslieder-Walzer“ op. 52 für vier gemischte Stimmen – Sopran, Mezzo, Tenor und Bariton -, dazu zwei Pianisten an einem Klavier. In diesem Zyklus auf Texte von Georg Friedrich Daumers Sammlung „Polydora“ geht es meist um Liebe und Verliebtheit, entsprechend Brahms' damaliger Lebenssituation – verliebt in Clara Schumanns Tochter Julie, die dann allerdings einen italienischen Grafen heiratete und das düstere Gegenstück zu den „Liebeslieder-Walzern“ provozierte, die „Altrhapsodie“. In den vorwiegend übermütigen Liedern aber könnte man ein „Così fan tutte“ entdecken, „Alfonso und Estrella“ des geliebten Schubert, wohl auch ein wenig „Carmen“: eine Oper von dem Opernlosen. Am 6. Oktober 1869 wurden sie von Kräften des Hoftheaters gesungen, mit Clara Schumann und Hermann Levi am Klavier. Am 8. Mai 1875 gab es ein besonderes event: Die komplett in Karlsruhe komponierten „Neuen Liebeslieder-Walzer“, worin bereits die Erfahrung der „Alt-Rhapsodie“ den Übermut doch deutlich dämpft, begleiteten am Klavier Otto Dessoff und Brahms selber! MUSIK: BRAHMS, NEUE LIEBESLIEDER-WALZER, Barbara Bonney, Anne Sofie von Otter, Kurt Streit und Olaf Bär (Gesang), Helmut Deutsch und Bengt Forsberg (Klavier), EMI 55430 2, 4‘19 5 Aus den „Neuen Liebeslieder-Walzern“ op. 65 sangen Barbara Bonney, Anne Sofie von Otter, Kurt Streit und Olaf Bär, am Klavier begleitet von Helmut Deutsch und Bengt Forsberg. Völlig uneitel wirkte Brahms in Karlsruhe, spielte mal den Orgelpart in der „Matthäuspassion“ für seinen Freund Otto Dessoff, mal in einer Matinee der Museumsgesellschaft den Klavierpart in seinem Horntrio. Letzteres – am 4. 12. 1865 – ließ den Karlsruher Gymnasialdirektor Gustav Wendt in die Eloge ausbrechen: „Dieser große Musiker gibt sich niemals als Brahms, sondern immerzu als Johannes, der uns mit seiner Musik beglückt, es aber wie unter der Hand thut, wie im Vorübergehen: Er liefert und schweigt … Nur die Größten können so von sich selber absehen und aufs Weltengetöse verzichten, in der Gewissheit, dass ihr großes Talent nicht übersehen oder -hört werde, ohne dass sie für sich trommelen müssten.“ Der nämliche Gustav Wendt widmete Brahms auch alle seine Sophokles-Übersetzungen, die so gut waren, dass der belesene Brahms in einem Brief an Clara Schumann einmal schrieb: „Er ist Sophokles!“ Das Klaviertrio mit Waldhorn Es-dur op. 40 ist eines der großen Vergangenheits-Bewältigungswerke von Brahms. Komponiert in Lichtental und Karlsruhe, in unmittelbarer Nachbarschaft zum 3. Satz des „Deutschen Requiems“, ist es ein Versuch, den Schmerz über den Tod der Mutter zu bewältigen. Das Waldhorn fungiert dabei als zentrales Instrument der Erinnerung: Es war die Mutter gewesen, deren sanfter Zwang ihn dazu gebracht hatte, außer Klavier eben auch dieses weitschwingende, über allem thronende 6 und dabei abgründig romantische Instrument zu spielen. Bei der Karlsruher Aufführung 1865 gab der Komponist allerdings den Klavier- nicht den Hornpart. Die Karlsruher Zeitung fragte rhetorisch: „Wer hatte schon das Vergnügen, Mozart selbst am Pianoforte zu hören? Oder Beethoven? Oder Schubert? Dagegen muss nur nach Karlsruhe pilgern, wer Johannes Brahms in einem seiner pianistischen Glanzmomente miterleben will ...“ MUSIK: BRAHMS, HORNTRIO … M0334735 011, 6‘04 Isabelle Faust, Alexander Melnikow und Teunis van der Zwart mit dem Finale aus dem Horntrio Es-dur op. 40. Am 9. 3. 1869 erlebt Karlsruhe die Erstaufführung des „Deutschen Requiems“ mit dem Philharmonischen Verein im „Museum“, Levi auf dem Rostrum. Auch dieses Werk war Brahms-typisch „lang im Kommen“, seine Genese erstreckt sich beinahe über ein Jahrzehnt. Wichtige Teile des 2. und 3. Satzes sind in Karlsruhe entstanden, bei Julius Allgeyer oder in Levis Garten. Erklärte Absicht des Komponisten: Weg vom Kanon der katholischen Liturgie, hin zu einem großen Klage- und Hoffnungsgesang, auf Texte des Alten und Neuen Testaments, die Brahms selber zusammensuchte. Eindringlich wird „dem Menschen“ die Vergeblichkeit seines Tuns vor Aug' und Ohr geführt – doch nicht etwa dessen Sinnlosigkeit. Am Schluss des siebenteiligen Requiems heißt es: „Ja, der Geist spricht, dass sie ruhen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach.“ 7 Im manchmal etwas erzwungenen Rekurs auf „alte Formen“ wie etwa die Fuge sei das „Deutsche Requiem“ unter allen Brahmswerken auch etwas akademisch geraten, sagten selbst Brahminen. Aber hört man einmal den zweiten Satz, „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“, spielt das keine Rolle mehr. Hier ereignet sich ein Marsch im Dreivierteltakt, und der ungerade Takt macht seltsamerweise das Vergehen noch unausweichlicher. Unerbittlich rollt der Tod heran, vom Pianissimo bis zum „fordernden“ Forte, in einer typisch romantischen Religiosität: Also keiner Religion mehr zugehörig, nur noch der nackte Glaube. MUSIK: BRAHMS, EIN DEUTSCHES REQUIEM, 2. Satz „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“, Arnold Schönberg Chor, Wiener Philharmoniker, Nikolaus Harnoncourt, RCA Red Seal 86977 20662, 16‘02 8