SWR2 Musikstunde

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SWR2 Musikstunde
300 Jahre Karlsruhe
Musik einer Stadt (4)
Von Thomas Rübenacker
Sendung: Donnerstag, 18. Juni 2015
Redaktion: Bettina Winkler
9.05 – 10.00 Uhr
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300 Jahre Karlsruhe, Musik einer Stadt – Teil 4
Karlsruhes klassizistische Frontarchitektur verdankt sich einem
genialen Architekten: Friedrich Weinbrenner. Auch das mächtige,
etwas düstere Gebäude an der Kaiser-/Ecke Ritterstraße. Zuletzt
war es das Karlsruher Domizil der Deutschen Bank, dann wurde
auch noch ein Klamottendiscounter mit ins Boot genommen, die
Bank muss sparen. Aber noch immer hängt hier ein Schild, das
jeder Passant lesen kann: „An dieser Stelle errichtete Friedrich
Weinbrenner 1813 bis 1814 das Gebäude der Museumsgesellschaft
Karlsruhe, lange Zeit geistiger Mittelpunkt unserer Stadt. Hier wurde
am 4. November 1876 die Erste Sinfonie von Johannes Brahms
uraufgeführt. 1918 wurde das Haus durch Brand zerstört und später
durch dieses Bankgebäude ersetzt.“ Jawohl, meine Damen und
Herren – die schmerzlich in über 20 Jahren dem „großen Schatten“
Beethovens abgerungene Erste Sinfonie: ließ Brahms im kleinen
Karlsruhe uraufführen, nicht in Hamburg, Berlin, München oder
Wien. Der Grund: außer einem mittlerweile erstklassigen Orchester
wirkte hier als Hofkapellmeister Otto Dessoff, mit Brahms
befreundet und ein ihm kongenialer Dirigent.
MUSIK: BRAHMS, ERSTE SINFONIE, Chicago Symphony Orchestra,
Georg Solti, Decca 430 799-2, 7‘10
Johannes Brahms, Erste Sinfonie c-moll, ein Ausschnitt des
Finalsatzes mit dem berühmten Hornsolo, dem Geburtstagsgruß an
die geliebte Clara, Witwe Robert Schumanns. Gespielt wurde das
vom Chicago Symphony Orchestra, der Dirigent war Georg Solti. In
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einem Brief vom Oktober 1876 schreibt der Komponist: „Es war mir
nämlich immer ein heimlich lieber Gedanke, das Ding -“ (also die
Sinfonie) „- zuerst in der kleinen Stadt, die einen guten Freund,
guten Kapellmeister -“ (gemeint war Otto Dessoff) „- und gutes
Orchester hat, zu hören.“ In Gegenwart des Komponisten wurde
die Uraufführung ein Riesenerfolg, ein Kritiker schrieb: „Es ging zu
wie bei einem Musikfest“ - und so kam Karlsruhe zu Brahms oder
Brahms zu Karlsruhe, wie man will; als Clara dann hierherzog, war
Brahms des öfteren auch „privat“ in den Karlsruher
„Fächer“straßen zu sehen, und natürlich in zwei oder drei urigen
Wirtshäusern.
Angesichts der Tatsache, dass die Musikwelt von damals
gespalten war – auf der einen Seite die Wagnerianer, auf der
andern die Brahminen, und beides schien unvereinbar: Da
verwundert es, dass Karlsruhe den einen wie den andern umarmte.
Hofkapellmeister wie Felix Mottl, Hermann Levi oder Otto Dessoff
hatten zwar deutliche „Vorlieben“, lehnten mehr zum einen, mehr
zum andern, dirigierten aber die Werke beider jeweils mustergültig,
in weit über Karlsruhe hinaus gerühmten Aufführungen. So war
diese Stadt, die gerade ihr 300-jähriges Jubiläum feiert und von
Anfang an als liberal galt, weltoffen und in vielen Bürgerrechten
ihrer Zeit voraus, auch in der Kunst „liberal“.
Wie wohl Brahms sich in Karlsruhe fühlte, sagt ein Brief, in dem er es
das „gemüthliche kleine Nest“ nennt. Zwischen 1865 und 1876
kommt er öfters, bleibt mitunter mehrere Monate und komponiert
auch, neben Liedern vor allem den Schluss des 2. Satzes und den
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dritten bis zur Fuge des „Deutschen Requiems“. Häufig tritt er als
Dirigent bzw. Pianist auf, einmal sogar als Organist, nämlich in
Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“. Und das alles hatte
keineswegs nur mit Clara Schumann zu tun. Brahms schuf sich
einen harten Kern von Freunden in Karlsruhe, in dem sich neben
dem Photographen Julius Allgeyer und dem Direktor des
humanistischen Bismarck-Gymnasiums, Gustav Wendt, auch
Maler, Advokaten und Komponisten fanden. Die Freundschaft
aber mit Levi und Dessoff bescherte der Stadt so viele BrahmsUraufführungen, dass man Karlsruhe schon in einem Atemzug mit
München oder Wien hätte nennen können! Das musste gar nicht
immer Großsymphonisches sein. Am 6. November 1864 erklang
zum ersten Mal in Levis Karlsruher Wohnung Herrenstraße 48 das
Klavierquintett f-moll, mit Clara Schumann am Klavier. Levi war so
begeistert, dass er mit den Ausführenden hinterher in die Kneipe
zog und sich „in Champagner betrank“, wie er dem
ausnahmsweise einmal abwesenden Brahms hinterher schrieb.
MUSIK: BRAHMS, KLAVIERQUINTETT f-moll op. 34, Auryn Quartett,
Peter Orth (Klavier), Tace 120, 7:36
Johannes Brahms, das Scherzo des Klavierquintetts f-moll op. 34,
uraufgeführt in Karlsruhe. Das Auryn Quartet spielte in unserer
Aufnahme zusammen mit dem Pianisten Peter Orth.
Bekanntlich hat Brahms nie eine Oper geschrieben. Aber es war in
Karlsruhe, dass er sich zum ersten Mal zu dem Thema äußerte:
Nach einer wieder mal glanzvollen Aufführung der „Carmen“ am
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Hoftheater sprach er „Wenn ich jemals eine Oper komponieren
sollte, dann müsste es etwas wie die Carmen sein!“ Nun, daraus
wurde nichts, aber im Baden-Badener Lichtental und später in
Karlsruhe schuf er etwas immerhin Opernähnliches – den Reigen
der „Liebeslieder-Walzer“ op. 52 für vier gemischte Stimmen –
Sopran, Mezzo, Tenor und Bariton -, dazu zwei Pianisten an einem
Klavier. In diesem Zyklus auf Texte von Georg Friedrich Daumers
Sammlung „Polydora“ geht es meist um Liebe und Verliebtheit,
entsprechend Brahms' damaliger Lebenssituation – verliebt in
Clara Schumanns Tochter Julie, die dann allerdings einen
italienischen Grafen heiratete und das düstere Gegenstück zu den
„Liebeslieder-Walzern“ provozierte, die „Altrhapsodie“. In den
vorwiegend übermütigen Liedern aber könnte man ein „Così fan
tutte“ entdecken, „Alfonso und Estrella“ des geliebten Schubert,
wohl auch ein wenig „Carmen“: eine Oper von dem Opernlosen.
Am 6. Oktober 1869 wurden sie von Kräften des Hoftheaters
gesungen, mit Clara Schumann und Hermann Levi am Klavier. Am
8. Mai 1875 gab es ein besonderes event: Die komplett in Karlsruhe
komponierten „Neuen Liebeslieder-Walzer“, worin bereits die
Erfahrung der „Alt-Rhapsodie“ den Übermut doch deutlich
dämpft, begleiteten am Klavier Otto Dessoff und Brahms selber!
MUSIK: BRAHMS, NEUE LIEBESLIEDER-WALZER, Barbara Bonney, Anne
Sofie von Otter, Kurt Streit und Olaf Bär (Gesang), Helmut Deutsch
und Bengt Forsberg (Klavier), EMI 55430 2, 4‘19
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Aus den „Neuen Liebeslieder-Walzern“ op. 65 sangen Barbara
Bonney, Anne Sofie von Otter, Kurt Streit und Olaf Bär, am Klavier
begleitet von Helmut Deutsch und Bengt Forsberg.
Völlig uneitel wirkte Brahms in Karlsruhe, spielte mal den Orgelpart
in der „Matthäuspassion“ für seinen Freund Otto Dessoff, mal in
einer Matinee der Museumsgesellschaft den Klavierpart in seinem
Horntrio. Letzteres – am 4. 12. 1865 – ließ den Karlsruher
Gymnasialdirektor Gustav Wendt in die Eloge ausbrechen: „Dieser
große Musiker gibt sich niemals als Brahms, sondern immerzu als
Johannes, der uns mit seiner Musik beglückt, es aber wie unter der
Hand thut, wie im Vorübergehen: Er liefert und schweigt … Nur die
Größten können so von sich selber absehen und aufs
Weltengetöse verzichten, in der Gewissheit, dass ihr großes Talent
nicht übersehen oder -hört werde, ohne dass sie für sich
trommelen müssten.“ Der nämliche Gustav Wendt widmete
Brahms auch alle seine Sophokles-Übersetzungen, die so gut
waren, dass der belesene Brahms in einem Brief an Clara
Schumann einmal schrieb: „Er ist Sophokles!“
Das Klaviertrio mit Waldhorn Es-dur op. 40 ist eines der großen
Vergangenheits-Bewältigungswerke von Brahms. Komponiert in
Lichtental und Karlsruhe, in unmittelbarer Nachbarschaft zum 3.
Satz des „Deutschen Requiems“, ist es ein Versuch, den Schmerz
über den Tod der Mutter zu bewältigen. Das Waldhorn fungiert
dabei als zentrales Instrument der Erinnerung: Es war die Mutter
gewesen, deren sanfter Zwang ihn dazu gebracht hatte, außer
Klavier eben auch dieses weitschwingende, über allem thronende
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und dabei abgründig romantische Instrument zu spielen. Bei der
Karlsruher Aufführung 1865 gab der Komponist allerdings den
Klavier- nicht den Hornpart. Die Karlsruher Zeitung fragte rhetorisch:
„Wer hatte schon das Vergnügen, Mozart selbst am Pianoforte zu
hören? Oder Beethoven? Oder Schubert? Dagegen muss nur
nach Karlsruhe pilgern, wer Johannes Brahms in einem seiner
pianistischen Glanzmomente miterleben will ...“
MUSIK: BRAHMS, HORNTRIO … M0334735 011, 6‘04
Isabelle Faust, Alexander Melnikow und Teunis van der Zwart mit
dem Finale aus dem Horntrio Es-dur op. 40.
Am 9. 3. 1869 erlebt Karlsruhe die Erstaufführung des „Deutschen
Requiems“ mit dem Philharmonischen Verein im „Museum“, Levi
auf dem Rostrum. Auch dieses Werk war Brahms-typisch „lang im
Kommen“, seine Genese erstreckt sich beinahe über ein
Jahrzehnt. Wichtige Teile des 2. und 3. Satzes sind in Karlsruhe
entstanden, bei Julius Allgeyer oder in Levis Garten. Erklärte
Absicht des Komponisten: Weg vom Kanon der katholischen
Liturgie, hin zu einem großen Klage- und Hoffnungsgesang, auf
Texte des Alten und Neuen Testaments, die Brahms selber
zusammensuchte. Eindringlich wird „dem Menschen“ die
Vergeblichkeit seines Tuns vor Aug' und Ohr geführt – doch nicht
etwa dessen Sinnlosigkeit. Am Schluss des siebenteiligen Requiems
heißt es: „Ja, der Geist spricht, dass sie ruhen von ihrer Arbeit; denn
ihre Werke folgen ihnen nach.“
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Im manchmal etwas erzwungenen Rekurs auf „alte Formen“ wie
etwa die Fuge sei das „Deutsche Requiem“ unter allen
Brahmswerken auch etwas akademisch geraten, sagten selbst
Brahminen. Aber hört man einmal den zweiten Satz, „Denn alles
Fleisch, es ist wie Gras“, spielt das keine Rolle mehr. Hier ereignet
sich ein Marsch im Dreivierteltakt, und der ungerade Takt macht
seltsamerweise das Vergehen noch unausweichlicher. Unerbittlich
rollt der Tod heran, vom Pianissimo bis zum „fordernden“ Forte, in
einer typisch romantischen Religiosität: Also keiner Religion mehr
zugehörig, nur noch der nackte Glaube.
MUSIK: BRAHMS, EIN DEUTSCHES REQUIEM, 2. Satz „Denn alles
Fleisch, es ist wie Gras“, Arnold Schönberg Chor, Wiener
Philharmoniker, Nikolaus Harnoncourt, RCA Red Seal 86977 20662,
16‘02
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